Herzschlag I von DieJESSYcA (Miss Paine) ================================================================================ 026 – Herzschlag ---------------- Sanft strich lauer Wind über meine Haut. Um mich war Dunkelheit und das Zirpen von Grillen zwischen raschelndem Gras. Ich blinzelte und fand mich inmitten der silbrig glänzenden Halme im weichen Mondlicht. Es roch nach Lindenblüten und Getreide. Erdig und vertraut. Über mir funkelte ein prächtiger Sternenteppich, endlos weit und wunderschön. Eine makellose Sommernacht. Das Rascheln im Gras wurde lauter, es knackte und näherte sich eilig. Hastig wurde die Luft eingesaugt und ausgeblasen. Jemand hatte mich entdeckt und bahnte sich seinen Weg zu mir. Eine neugierige Hundenase drängte durchs hohe Gras und blies entsetzt die Luft aus, als sie mich anstieß. Ich streckte meine Hand nach dem Tier aus und grub meine Finger in sein weiches, lockiges Fell. "Hallo Sam." Er begann freudig mit dem Schwanz zu wedeln, kaum hatte ich seinen Namen gesagt, und fuhr mit der feuchten Zunge über mein Gesicht. "Oh Sam, nein, lass das!" Ich setzte mich notgedrungen auf, um ihn abzuwehren. Er quietschte vor Freude und drängte sich unabbringlich weiter an mich. Wie lange hatte ich diesen kleinen, liebenswerten Teufel nicht gesehen? Lange. Zu lange. Er war stürmisch und nicht zu beruhigen, anders als das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte. "Sam! Wo steckst du?", rief eine tiefe, bärige Stimme. "Komm hierher!" Ich kannte diese Stimme. Sie hatte mich viele Male vor Dummheiten bewahrt. Aufmerksam sah ich mich um und erkannte ihren Ursprung einige Fuß entfernt. Joseph? Mein Großvater stand dort und wartete auf seinen Hund. Sam, der kurz nach meinem fünften Geburtstag verstorben war, spitze die Ohren und riss sich los, um seinem Herrn zu gehorchen. Er sprang davon und mein Großvater hob die Hand zum Gruß. Joseph winkte mir und ich starrte zurück, bis Sam bei ihm angekommen war und beide gemeinsam im Schatten verschwanden. Ich rieb mein Gesicht und streckte meine Glieder, die, zu meiner Überraschung, völlig unbekleidet waren. Ich trug nichts als meine Haut. Eigenartig frei fühlte es sich an, als ich aufstand. Ich war leicht und ließ mich vom Wind durch die Nacht führen. Er wusste, wohin ich gehen sollte und ich folgte seinem Willen unbeirrt. Eine Daunenfeder für sein Spiel. Es waren nicht die Wiesen meiner alten Heimat, doch ganz ähnlich. Unendlich weit und lebendig in ihrer nächtlichen Verschlafenheit. Ich trieb dahin und das Licht des Mondes schien heller zu werden, je weiter ich ging. Der Wind frischte auf und fegte durch die Zweige über meinem Kopf. Stürmisch ließ er sie rascheln, in seiner eigenwilligen Melodie. Ich schloss meine Augen und lauschte dem nächtlichen Konzert, dem wilden Kanon von Wald und Wiese, von Gesträuch und Getier. Vielleicht durfte ich eine Weile bleiben. Für immer, ich würde es nicht bedauern. Unter allen Geräuschen der Wildnis erkannte ich eines, das mir die Nackenhaare aufstellte. Es war der einzigartige Klang meiner Kindheit, den ich unter Tausenden wiedererkennen konnte. Das dumpfe Schlagen auf weichem Boden. Er bebte unter Ninas Hufen. Sie galoppierte übermütig auf mich zu und ich konnte nicht erwarten, meine Arme um ihren Hals zu schlingen. Endlich. Nach all den Jahren durfte ich sie noch einmal berühren. Die Wärme, der Geruch von früher, ich würde sie nie wieder loslassen, doch Nina hatte andere Pläne. Ein leiser Pfiff und sie entriss sich meiner Umarmung. Ich konnte sie nicht halten. "Warte!", rief ich ihr nach und beeilte mich, hinterherzukommen. Sie war schnell und ihr Galopp dröhnte laut in meinen Ohren. Was hatte sie aufgeschreckt? Meine Beine wurden schwer. Meine Leichtigkeit war mir geraubt und ich kam kaum voran. Nina wurde langsamer, sie hatte ihr Ziel erreicht: eine junge Frau in einem weißen Kleid – sie lächelte vergnügt, als mein Pferd sie begrüßte. Mühsam versuchte ich näher heranzukommen. Der Boden hielt mich gefangen, wie Moor, und zwang mich in die Knie. Ich blickte zu meinen Füßen, dort war nichts. Kein Moor, keine Fessel, nur Gras und trockene Erde, doch so sehr ich mich auch bemühte, ich kam nicht weiter. "Du bist groß geworden", sagte die Frau. Sie war plötzlich herübergekommen und ich glaubte, in einen Spiegel zu blicken. Sie sah mir gespenstisch ähnlich. Je näher sie kam, desto klarer konnte ich sie sehen. Ihre Augen waren meinen gleich. Oder ... meine den ihren. Die Nase, die Wangenknochen, ein genaues Ebenbild. Nur die Partie um ihren Mund war ein wenig anders – wie mein Vater es erzählt hatte. Sie fuhr fort und ihre Stimme war seidenweich, wie Balsam umhüllte mich ihr Klang: "Komm, steh auf." Maryann reichte mir ihre Hand. Ich hob die meine vom Boden und wurde erschüttert, als mein eigenes Herz mit all seiner Kraft gegen meine Rippen schlug. Immer wieder. Es schmerzte in meiner Brust und überschallte den heftigen Wind, der laut um mich pfiff. Ich wollte zugreifen, wollte ihre Hand fassen, ein einziges Mal, doch mit jedem Schlag sank ich tiefer. "Es ist Zeit aufzuwachen", klang Sofias Stimme durch all den Lärm in mir. Mir blieb nichts, als ein Blick hinauf zu meiner Mutter, ein letztes Sträuben gegen den Sog, der mich von diesem Ort holen wollte. Sie beugte sich herab, die Hand noch immer ausgestreckt, und strich über meine Wange, bevor sie vom nächsten Windhauch hinfort getragen wurde und ihre Berührung nicht mehr als eine blasse Erinnerung war. Der Boden tat sich auf, kleine Steine und Erde flogen durch die Luft, umkreisten mich, der Mond versank und Sterne fielen brennend aus dem Firmament. Um mich herrschte Chaos, als ich tiefer sank und von der friedlichen Weite nichts übrig blieb als wilder Sturm und das unbändige Schlagen in meiner Brust. "Megan? Hörst du mich? Mach deine Augen auf." Wie? Wenn doch alles um mich herum unter lautem Getöse zusammenbrach? Ich wollte nicht sehen, was geschah. "Du musst ruhiger atmen. Langsam, dann wird es besser." Ich versuchte es, atmete bewusst und der Sturm legte sich. Das tiefe Schwarz wich flackerndem Kerzenschein, als ich Sofias Aufforderung nachkam und die Augen öffnete. Ich lag friedlich in meinem Bett und es war ruhig in meinem Zimmer. Nur der Stoff von Sofias Kleid knisterte leise, als sie sich nach vorne beugte. "Wie geht es dir?", fragte sie. "Ich habe meine Mutter gesehen ...", gab ich zur Antwort. "Hat sie etwas gesagt?" "Dass ich groß geworden bin ... und dass ich aufstehen soll." Sofia lächelte. "Eine weise Frau." Sie erhob sich aus dem Stuhl neben meinem Bett und entfernte sich aus meinem Sichtfeld. Ich wusste, wo sie stehen geblieben war: neben meinem Kleiderschrank. "Ich schlage vor, du folgst ihrem Rat, ziehst dir etwas Passenderes an und wir gehen nach draußen." "Ich war tot, nicht wahr?" Ein Gedanke, der mir nicht aus dem Kopf gehen mochte. Ich hatte meine Mutter gesehen, Nina, meinen Großvater und Sam. Sofia kam mit einem Bündel Kleidung zurück an mein Bett und nahm darauf Platz. Ihre Bewegungen lösten leichte Wellen aus, die mich erfassten, es fühlte sich merkwürdig an. "Für einen Moment warst du das, ja." "Dann habe ich das Jenseits gesehen?" Ein sanfter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, als sie antwortete: "Das zu beurteilen, vermag ich nicht." Wie sollte sie auch, wenn selbst ich mir nicht sicher war. Vielleicht war es ein Traum gewesen, vielleicht mehr. Berührt hatte es mich in jedem Fall. "Möchtest du noch einen Moment alleine sein?" "Nein. Ich ..." Ich setzte mich vorsichtig auf und versuchte mir über meine Situation klar zu werden. Das Gefühl des Stoffes, der über meine Haut streifte, war anders. Detailreicher als zuvor. Ich spürte jede kleine Unebenheit in den Fasern, wenn ich meine Finger darübergleiten ließ. Auf meinem Handrücken zeichnete sich eine feine, rosafarbene Linie ab – fast verheilt. Ich schloss noch einmal meine Augen. Es knarzte leise in den Wänden und im Boden, der Wind strich ums Haus und ich hörte ein zweites Herz schlagen, eine zweite Lunge atmen und das Rauschen des Blutes in Sofias Adern. "Ich kann es hören." "Was hörst du?" "Alles. Den Wind, das Holz, mich, dich ..." Ich lauschte nochmals auf die Geräusche, die mich umgaben. "Ich höre die Uhr im Salon und die Hunde. Sie schlafen unten, der Ofen ist noch nicht aus und draußen im Apfelbaum schreit ein Kauz." Sofia nickte. "Es sind zwei." Ich hörte noch einmal genauer hin. Sofia hatte recht – natürlich hatte sie das. Es war eigenartig, die Dinge in solchem Maße klar wahrzunehmen. Sie alle waren bisher unbemerkt an mir vorbeigegangen. Selbst der Geruch meines Bettes – es roch nach Staub und Seife, ich selbst roch nach Seife, mein Nachthemd am allermeisten. "Ich habe dich gebadet und frisch eingekleidet", erklärte mir Sofia diesen Umstand, ehe ich fragen konnte. Irgendetwas zwischen all der Seife roch süßlich, herber als Karamell, leichter als Rosen, eine feine Note, die ich nicht zuordnen konnte. "Bist du das?", fragte ich Sofia. "Dieser süße Geruch?" Sie lachte. "Schon möglich. Ich rieche das selbst nicht." "Das ist mir vorher nie aufgefallen ... ich habe immer nur die Zigarren gerochen." "Ein Mensch kann auch nichts anderes wahrnehmen. Wir haben keinen sehr ausgeprägten Eigengeruch, das wäre von Nachteil bei der Jagd." "... weil Menschen unterschiedliche Präferenzen haben?" "Ja." "Verstehe." "Du hast mir noch nicht verraten, wie es dir geht." Gut. Eigentlich gut. Ich fühlte mich zerbrechlich, was ich nicht erwartet hatte. In meiner Fantasie hatte mich ein Gefühl von Unbesiegbarkeit durchströmt, doch so war es nicht, im Gegenteil. "Es ist anders. Ich hatte nicht gedacht, mich so verletzlich zu fühlen." "Nun, in gewisser Weise bist du das auch, aber es wird sich legen, hab keine Sorge. Du musst dich noch daran gewöhnen, wie scharf deine Sinne sind." "Wie lange wird das dauern?" "Ein paar Tage, vermutlich. Es geht recht schnell." Sie reichte mir die Kleidung, die sie bisher auf ihrem Schoß verwahrt hatte. "Zieh dich an." Ich verharrte kurz, dann griff ich nach dem Bündel und rutschte aus dem Bett, um mich umzuziehen. Ich beeilte mich, um es hinter mich zu bringen. Der Stoff verursachte eine unangenehme Gänsehaut, es schüttelte mich kurz, dann war ich fertig und wir verließen mein Zimmer. Jeder meiner Schritte erschien mir trampelnd, sie waren lauter als Sofias Schritte. Kein Wunder, dass Ezra auch blind genau wusste, wo ich war. Ich gab mir Mühe, etwas leiser zu laufen und folgte Sofia die Treppe hinunter. Das Schnaufen der Hunde wurde lauter. Das Feuer im Salon knisterte noch, die Uhr tickte leise und jetzt konnte ich auch Magdalena hören. Sie schlief ruhig in ihrem Zimmer neben dem Salon. Ich hörte ihren Atem, ihr Herz, ihr Blut, dann öffnete Sofia die Haustür und die kühle Winterluft verdrängte den rauchigen, holzigen Geruch des Hauses. "Komm." Ich folgte ihr hinaus, ohne Jacke, so kalt kam es mir nicht vor, und sog die kalte Luft tief in meine Lungen. Ein herrliches Gefühl. Sofia hatte sich mir zugewandt, sie lächelte zufrieden. "Ich möchte dir etwas zeigen. Ich denke, es wird dir gefallen." Ich sah mich kurz um. Wir standen im vorderen Garten, ich konnte nichts Außergewöhnliches erkennen. Alles lag in gewohntem Winterschlaf. "Was?" "Wie schnell du bist." Dann gab sie mir mit ihrem Zeigefinger zu verstehen, dass ich ihr folgen sollte, und bewegte sich von mir fort. Erst langsam, dann immer schneller, geschmeidig, wie eine Katze. Ich nahm die Verfolgung auf. Sofia war mir weit voraus, sie was schneller, sehr viel schneller. Ich versuchte, mehr Geschwindigkeit aufzunehmen. Vergeblich. Wohl eine Sache der Übung nahm ich an. "Du rennst wie ein Mensch!", rief Sofia mir zu. "Es geht nicht anders!" "Unsinn." Sie war zurückgekommen, griff meine Hand und zog mich mit. Wir wurden schneller, ich verlor den Halt unter meinen Füßen. "Nicht so schnell!", flehte ich. Jeden Moment würde ich fallen. Ich konnte gerade noch erkennen, was unter mir war. Steine, Erde, Gras, alles flog an mir vorbei, doch Sofia scherte sich nicht darum. "Du musst rennen!", trieb sie mich an. "Das tue ich!" "Nein, du gehst! Schluss damit!" Sie packte meine Hand noch fester und riss mich mit sich, als sie ruckartig schneller wurde. Ich hatte keine Chance. Ich würde fallen, oder musste laufen. Also lief ich. Ich rannte und vergaß den Boden unter mir. Er war nicht wichtig, ich musste nur laufen. Sofia ließ mich los und ich flog weiter – völlig frei, von Euphorie berauscht. Kein Pferd der Welt konnte eine solche Geschwindigkeit erreichen. Ich musste doppelt so schnell sein, mindestens. Die Luft rauschte an mir vorbei, noch ein wenig schneller. Meine Augen begannen zu tränen – vom Wind. Ich konnte kaum mehr etwas sehen, doch das Feld war weit und leer, ich konnte rennen, fliegen und alles um mich herum vergessen. Nur ich und die Geschwindigkeit, die mich süchtig machte. Das Grinsen in meinem Gesicht musste einmal rundherum um meinen Kopf gespannt sein. Mein Herz überschlug sich schier und in meinem Bauch sprühten Funken. Ich drohte zu explodieren und schrie einen Teil dieser Freude laut in die Nacht. Es war fabelhaft. Ich wurde erst langsamer, als mir ein fremdartiger Geruch in die Nase stieg. Er hatte sich durch den herben Duft der winterlichen Wiesenfelder gedrängt und machte mich neugierig. Er machte mich hungrig und ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen, also folgte ich seiner Fährte, bis ich gefunden hatte, wonach ich suchte. "Ich dachte schon, du bemerkst es nie." Sofia lachte, als ich mich langsam näherte. Sie roch plötzlich unfassbar köstlich. "Was ist das?" "Blut", gab sie knapp zur Antwort. "Ich wusste, dass du nicht widerstehen könntest, wenn du es erst gerochen hast. Offenbar hat deine erste Mahlzeit ihren Zweck erfüllt, aber irgendwann ..." Irgendwann interessierte mich nicht mehr. Viel mehr interessierte mich, wie sie schmeckte. Ich stand knapp drei Fuß von ihr entfernt. Sie erklärte mir irgendetwas. Belanglos. Ich verstand kein Wort, hörte aber sehr wohl das Rauschen unter ihrer Haut. Ein hypnotisches Geräusch. Mein Herz schlug eilig, mein Atem ging schwer. Ich brauchte ihr Blut  sofort! Rasend schnell hatte ich die kurze Distanz überbrückt und meine Arme fest um sie geschlungen. Sofia wehrte sich nicht und meine Zähne versanken tief in der weichen Haut ihres Halses. Sie gab nach und Sofias Blut strömte meine Kehle hinab. Das Beste, was ich je gekostet hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)