Zerbrochener Spiegel von Technomage (für Tsche) ================================================================================ Epilog: Some say the devil is dead ---------------------------------- Sie sagt, ihr Name ist B. Sie ist wie ein urbanes Märchen von längst vergessener Schönheit. Die Geschichte, die sie umgibt, ist so wunderbar wie lächerlich und so, wie sie nur unter den Schatten der Dächer der großen Stadt passieren kann. Eine andere Welt ließe solche Möglichkeiten gar nicht erst zu. Doch in den Zwischenräumen der Pflastersteine und Nischen zwischen den Häuserschluchten ist Platz, an dem die unglaublichste Geschichte wachsen und gedeihen kann. Eine Geschichte nach meinem Geschmack und in meinem Rhythmus. B ist hochbegabt. So einfach klingt der Anfang der Geschichte. Sie lebt in einem Institut am Stadtrand, das Dad öfters einmal erwähnt hatte. Wahrscheinlich hatte er sogar schon von ihr gesprochen, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Mit nicht mal Sechzehn Jahren löst sie Gleichungen, die ich nicht einmal richtig ablesen könnte, sie betet Gesetzbücher herunter und spielt Violine wie eine virtuose Göttin. Sie spricht fließend fünf Sprachen und deswegen entschied sie sich dazu, gar nicht mehr zu sprechen. Auch gar nichts mehr zu lernen oder zu verstehen. Sie entschied sich dazu auf einer Bank sitzen zu bleiben, so weit weg von ihrem Heim wie möglich. Das tat sie für drei Tage, bis ich sie fand und mit nach Hause nahm wie ein seltenes Tier. Zum ersten Mal in meinem Leben komme ich mir einer Frau oder einem Menschen überhaupt unterlegen vor. B weiß so viel mehr, alles beschäftigt sie und unzählige Möglichkeiten und Antworten entstehen pausenlos in ihrem Kopf. Es ist wie ein Wunder, ein Wesen zu sehen, dass so viel und wunderschön denkt. Alles erhält eine gewisse Ästhetik in ihren Gedanken, einen eigenartigen Sinn, den ich noch nie vorher geschrieben oder geäußert erlebt habe. Ich komme mir klein und furchtbar dumm vor, als würde mich der Mantel meiner neuen Augen, die in das hübsche Mädchen hineinsehen können, nur davor schützen, dass sie mich als den Lügner entlarvt, der ich bin. Doch ich wünschte, es würde passieren und ich könnte splitternackt und bloß vor ihr dastehen, sehen, ob wirklich ich es bin, dem sie gefolgt ist, und nicht dem Allwissen – Generator unter meiner Haut. Ich hoffe darauf und, dass sich die Buchstabenwelt wieder aus meinen Gedanken verflüchtigt. Ich bin lieber Mensch, will gerne Mensch sein, um nicht auf B’s Gedanken herabzusehen. Es fühlt sich manchmal schon an, als würde die andere Welt blasser werden und bald gänzlich im Übersehenen und Nebensächlichen verschwimmen, worin sie zuvor begraben gelegen haben muss. B fragt mich nicht nach Formeln oder untersucht mein Wissen, sie sitzt dort und zu Zeiten bekommt sie glasige Augen und lehnt sich an mich. Selten spricht sie einige Worte. Ich brauche weder das Allwissen, noch eine andere Scherbe der Welt hinter dem Spiegel. Es ist das Denken eines Kindes, aber es reicht mir die Haarrisse in der Oberfläche zu sehen, wenn ich in den Spiegel blicke. Ich ziehe es vor, mir dabei noch selbst in die Augen sehen zu können. Mich darin zu spiegeln. B braucht mich. Es ist herrlich zu leben. Die Wochen sind verflogen und langsam ist alles wieder an seinem alten Platz. Ich verstehe nicht mehr, was ich während dieser einen Nacht sehen konnte, und ich spüre kein Kribbeln mehr in meinem Armen. Die Buchstaben sind verschwunden und die verborgenen Ecken und ungesehenen Winkel mit ihnen. Einsicht in die Welt ist mir wieder versagt. Manchmal komme ich mir für Augenblicke leer vor. Es ist wie der Phantomschmerz, einmal ein bodenloses Gefäß gewesen zu sein und nun kaum ein Wasserglas zu füllen. B ist schön, unverdorben bis zur Unschuld und ihre wenigen Worte sind reine Anmut. Ich komme mir wie ein dummes Kind vor, wenn sie nur den Raum betritt, doch sie nimmt mir meine Anfälle von Verzweiflung nicht übel. Auch wenn sie mich nach zwei Nächten ohne Schlaf und am Rande des Wahnsinns über einem ihrer Bücher jede Hoffnung in meine Intelligenz verlierend findet, schickt sie mich noch mit einem Lächeln unter die Dusche und treibt etwas zu essen für mich auf. In den schlimmsten Fällen begleitet sie mich sogar. Ich fühle mich glücklich, auch wenn ich kein Wort so verabscheue wie Glück. Noch nie war ich so wenig rastlos, so beständig. Ich erkenne mich kaum selbst wieder. Wenn ich K, Alice und die anderen nachts auf einem alten Spielplatz und an einem vergessenen Brunnen treffe, während B und ich durch die Seitenwege und Häuserschluchten ziehen, dann fragen sie manchmal nach Broken. Doch Broken ist selbst für sie wie ein Schatten, dessen sie sich immer weniger gewahr sind, je mehr Zeit vergeht. Hin und wieder fürchte ich, es ist nichts als die Ruhe vor dem Sturm. Alice scheint mir meine Angst anzusehen. Sie tritt mich, wirft die Feuermähne zurück und sagt, ich sähe jetzt besser aus als früher. Was auch immer das bedeutet. A und K verkünden mit zufriedenen Gesichtern, dass „endlich eine Frau versteht, worüber sie reden“, nachdem sie B ein Gespräch entlocken konnten. D ist der Alte, nur mit mehr Narben, die das Feuer schüren. N erzählt mir, dass Schwarzherz tot ist, und ich verspüre wahrhaftes Mitgefühl, wenn ich in seine Augen sehe, wie es mir noch nie im Leben passiert ist. Der Glasfilm zwischen mir und der Welt scheint zu schmelzen und ich hätte nie gedacht, dass es so angenehm sein könnte. Im tiefster Nacht stehe ich vor dem Spiegel, kein Licht im Bad und die Schatten vom Fenster her wie tiefe Risse im Raum, zwei Türen weiter wartet mein Bett auf mich, und B, vor allem B, letztlich dreht sich alles nur um sie für mich, so kindisch und kitschig es klingt, ich blicke mir tief in die eigenen Augen meiner düsteren Spiegelgestalt – meine Schritte auf dem Gang fast geräuschlos, irgendetwas fühlt sich anders an, falsch, trügerisch, unehrlich, gefährlich, aber alles erscheint wie immer . . . die Gänge damals in der Leichenhalle, die langen, dämonischen Gänge und die alte Knochenmühle . . . und Broken, ja, Broken hatte auch den Trug an sich haften wie einen zu klebrigen, zu lebendigen Schatten, vor dem man sich in kalten Nächten zu fürchten beginnt, der mit Paranoia zu kriechen beginnt . . . dass mir das jetzt erst auffällt . . . doch Broken ist gegangen, lange fort, ein alter böser Schein aus blutigen Kindeskindertagen, der in den Träumen auftaucht und sich nicht erklären lässt, jede Urangst und jede Gier im Menschen fördert, bis sie sich gegenseitig fressen . . . wer sagt, dass Broken fern ist, sie ist ein Jäger, ein lauerndes Biest, je weiter ich sie von mir schiebe, desto näher kann sie an mich heran . . . was wenn ich zu blind war in den letzten Wochen . . . was wenn . . . etwas ist anders, etwas Schweres, Altes liegt in der Luft, hängt an den Wänden, die höher werden und höher wirken . . . und der Weg zur Tür ist länger, die zehn Meter zu meiner Zimmertür, verdammte Angst, Göttin Paranoia mit dem Ascheschleier und den giftgrünen Augen . . . jede Tür ist wie die Saaltür 104 in der alten Leichenhalle für kurze Augenblicke, die Möglichkeit in Brokens Spielzimmer zu stehen, Blut vom Boden wischen zu müssen, irgendwo in der Entfernung ein Kratzen, als würde eine Knochenmühle mahlen . . . warum habe ich eigentlich nie nachgeforscht, was Broken in eine Leichenhalle gebracht hat . . und die Hand auf meiner Schulter . . das Blut an meinen Wänden . . mein toter, verschwundener Vater, meine Mutter in Vereinsamung, am Rande der Selbstverzweiflung, warum hat mich das nicht interessiert . . . natürlich, ich vergesse es immer wieder . . . Broken spielt mit der Welt und ist eine schlechte Verliererin . . . ich kann kein Spiel gewinnen, in dem ich meine eigene Schachfigur bin und mit Mühe meine eigenen Züge sehen kann, also kann ich auch nicht erkennen, was nahe liegend ist – hatte ich das Licht ausgemacht, als ich ins Bad gegangen bin, hat B es ausgemacht . . . ach B, ich könnte bis ans Ende aller Tage mit dir in einem Bett liegen und einfach nur auf deinen Herzschlag hören . . . etwas ist anders, viel zu anders, ich schaffe keinen Schritt ins Zimmer . . . die Schatten sind wie Teer, haben Augen, durch das Fenster will kein Licht fallen, alles ist finster und widersinnig, zu viele Kontraste, wie eine Schwarz – Weiß – Photomanipulation . . . Ist das Blut an den Wänden, Schrift an den Wänden, ist da Blut auf der Decke, auf dem Laken, ein Rinnsal nur . . . wohin ist eigentlich all das Blut, all die Spuren von Brokens Treiben, verschwunden . . . war es jemals weg oder . . . Broken, verdammte Puppenspielerin, verteufeltes Narrenkind, deine Streiche sind in meinem Kopf . . . was wenn du da bist, wenn du nie weg warst, wo eine Nische ist, kannst du auf mich lauern und die Stadt hat Winkel genug für alle ältesten Übel der Welt . . . oh B, ist das Blut an dir, B, bist du da . . . ich will zu dir, aber meine Füße bewegen sich nicht, meine Stimme meldet sich nicht, meine Gedanken denken nur im Kreis . . . B, steh auf und sag mir, dass ich dich nie verlieren werde, mach das Licht an und frag mich, wo ich so lange war, sieh mich verschlafen an mit deinen dunklen klugen Augen . . . nichts wird passieren, die Luft vibriert und die Welt bewegt sich nicht . . . etwas ist ganz anders, als ich es glauben wollte, nichts stimmt mehr, gar nichts ist richtig – Nadelstiche, wie zwei Eisenmesser durchstoßen meinen Hals wie Papier. Ein alter Schatten steht hinter mir. Etwas beginnt Sinn zu verlieren. Ist B tot? Ist Broken zurückgekehrt, nur um mich zappeln zu lassen, bevor sie mich zu Grabe schleift? Ich war viel zu blind davon, dass ihr Schein sich gelichtet hatte und verschwunden war, als dass ich hätte merken können, dass Broken betrügt. Ich habe nie gemerkt, welchen Trug sie sich als Maske aufsetzt. Hat es Broken je gegeben? Vielleicht habe ich nichts verstanden, nichts durchschaut, was sie tat, und habe mir nur meine Arroganz hegen und pflegen lassen von ihren Illusionen. Sind nicht die Täuschungen am Schönsten, in denen der Verhexte glaubt, Illusionen zu überwinden und mit der Möglichkeit spielt, ebenbürtig zu sein? Aber was würde sich ein uralter Dämon solche Mühe machen ein kleines Menschenkind bis ins Detail zu quälen, wenn es nicht ein besonderes wäre? Alles verschwimmt, die Erinnerungen zerfließen wie Sand in meinen Händen. Ist irgendetwas geschehen von all den Nächten in der Leichenhalle? Habe jemals ein Mädchen namens Broken getroffen? Ist das Realität? Der Sinn gleitet mir durch die Finger. War jemals Blut an meinen Wänden, überall im Obduktionssaal? Wo sind die Narben auf meinen Armen? Ist etwas geschehen von den Nächten in diesem Zimmer? Mit Broken? Mit B? Vielleicht muss ich nur blinzeln oder ausatmen und ich stehe wieder in meiner Zimmertür, nur ergriffen von Paranoia, Phantasie, weiter nichts. Ich kenne meine Geschichte und Broken ist fort, weit weg. Aber was ist mit den Scherben, den Geschehnissen hinter dem Spiegel? Wie sollte es eine Welt der Sinnformeln und der Allwissenheit geben? So ein Unsinn. Aber was hat mich dann zu B geführt? Gibt es B überhaupt? B, geh nicht. Ich wache auf und liege neben dir! Langsam gräbt sich das Metall in meiner Haut durch die Seiten meiner Erinnerung und saugt die Buchstaben heraus. Alles fließt aus mir heraus und mit der Welt zusammen. Alles verliert einen Sinn und nur ich bleibe. Ich warte darauf zu erwachen und spüre den Biss aus Eisen. ENDE. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)