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Dunkelheit

von

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Prolog

So, meine neuste FF. Ich hoffe, sie gefällt euch ^^

Über ein paar Kommis würd ich mich natürlich freuen *ganz lieb anguck* ^^
 

_________________________
 

Es war dunkel in der Zelle. Dunkel und kalt.

Neyo hatte keine Ahnung, wie lange er schon in diesem schwarzen Loch saß, jegliches Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen. Es mochten Tage sein, vielleicht sogar Wochen. Im Grunde spielte es keine Rolle, es kam ihm so oder so wie eine Ewigkeit vor.
 

Zitternd hockte er auf der durchgelegenden Pritsche, während er sich bemühte, den Geräuschen um sich herum keine allzu große Beachtung zukommen zu lassen. Die Krallen der Ratten schabten über den Steinboden und überall hörte Neyo das Getier herumwuseln. Fliegen machten sich am Kot der Ratten zu schaffen und tellergroße Spinnen wiederum erfreuten sich sehr an der regen Insektenpopulation.

Zumindest über mangelnde Gesellschaft konnte Neyo sich nicht beklagen.

Auch einige der anderen Verliese waren bewohnt, dies hatte der Junge sogar noch mitbekommen, als man ihn gewaltsam in diesen Keller gezerrt hatte. Leere Augen hatten ihn angesehen, ausgemergelte Gesichter überall. Die Hoffnungslosigkeit war beinahe greifbar gewesen, jegliche Zuversicht auf Flucht war spätestens ab diesem Zeitpunkt verschwunden.

Nein, es gab keine Hoffnung mehr.
 

Neyo zog seine Beine an sich heran und umschlang sie. Es war so unglaublich kalt, dass er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Bei jedem Atemzug stieß er Wölkchen aus und seine Finger waren schon seit geraumer Zeit taub. Er war kaum noch in der Lage, sie zu bewegen. Nur mit Mühe konnte er seine kargen Mahlzeiten, die die grimmigen Wächter regelmäßig vorbeibrachten, vor den Ratten retten. Nicht selten hatte Neyo immer wieder den Wasserkrug umgeschmissen, da er ihn nicht richtig hatte geifen können.

Der Junge seufzte. Zum tausendstenmal fragte er sich, wie er bloß in eine solch auswegslose Situation hatte geraten können.
 

Er war sonst immer so vorsichtig gewesen. Stets hatte er darauf geachtet, bei seinen nicht allzu gesetzlichen Tätigkeiten von niemanden beobachtet zu werden. Und selbst wenn er doch mal entdeckt worden war, dann waren die trägen Stadtwachen immer zu langsam gewesen, um ihn zu erwischen.

Nun aber war es ihnen gelungen. Nur durch Zufall war Neyo im regen Getümmel des allmonatlichen Marktes auf eine Gruppe Wächter gestoßen, die den verwahrlosten Straßenjungen gepackt hatten, bevor dieser überhaupt realisiert hatte, was mit ihm geschah. Unglücklicherweise hatten sich zu diesem Zeitpunkt mehrere Geldbeutel in seinem Besitz befunden, die er zuvor arglosen Besuchern gestohlen hatte. Die Soldaten hatten selbstverständlich nicht lange gefackelt und den Dieb in das finstere Verlies gesperrt.
 

Seitdem hockte er nun dort und je mehr Zeit verstrich, desto verzweifelter wurde er. Es gab keine Möglichkeit, die Zellentür irgendwie aufzubekommen – selbst seine von ihm oft verwendeten Dietriche waren nutzlos, wie er bereits frustriert festgestellt hatte –, und selbst wenn es ihm doch gelungen wäre, auszubrechen, so hätte es nur einen einzigen Fluchtweg gegeben, der ihn direkt in die Arme der Wächter getrieben hätte. Die Katakomben befanden sich tief unter der Erde, sodass es völlig unmöglich war, durch irgendein anderes Schlupfloch zu entkommen. Es gab nur diesen einen langen, dunklen Gang, der wieder hinaus in die Freiheit führte (und deswegen zu jeder Tages- und Nachtzeit streng bewacht wurde).
 

Neyo lehnte sich gegen die kalte Wand. Er würde wohl noch eine lange Zeit in diesem Verlies feststecken, vielleicht sogar für immer. Auf der Straße hatte er Gerüchte gehört, dass es bisweilen vorkam, dass man den einen oder anderen Gefangenen hier unten vergaß. Angeblich sollten schon viele in ihren Zellen verhungert und jämmerlich zugrunde gegangen sein, weil man sich nicht mehr an sie erinnert hatte.

Dort draußen hatte Neyo diese Geschichten für Humbug gehalten, aber nun, da er dieses schwarze Gefängnis am eigenen Leib zu spüren bekam, war er sich nicht mehr so sicher. Er ertappte sich dabei, wie er immer wieder erleichtert aufatmete, wenn der Wachposten mit seinem Essen erschien. Noch hatte man ihn zumindest nicht vergessen.
 

Neyo lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als plötzlich ein markerschütternder Schrei durch den Gang hallte. Schmerz und Todesqualen schienen greifbar zu werden. Noch lange klang Neyo der Schrei in den Ohren, auch als er schon längst verstummt war.

Offenbar hatten die Erbauer der Katakomben alles so angelegt, dass man nicht nur seinem eigenen Leid ausgesetzt war, sondern auch noch das seiner Mitgefangenen teilte. Jedes Ächzen und Stöhnen bekam er mit, selbst wenn es vom anderen Ende des Gangs zu ihm herüberhallte.

Besonders schlimm war die Folterkammer. Beinahe täglich wurde dort irgendeine arme Seele fast zu Tode gequält, immer wieder hörte man die Schreie und das Weinen der Gepeinigten. Selbst die härtesten Verbrecher winselten um Gnade und ihr Flehen war im ganzen Gefängnis zu hören.
 

Wenn schon solche unerschütterlichen Kerle bei der Aussicht darauf, in die Folterkammer gebracht zu werden, in Tränen ausbrachen, so wollte Neyo lieber gar nicht erst wissen, wie es dort aussah. Er fürchtete den Tag, an dem er dort vorstellig werden musste. Er hoffte bloß inständig, dass ein kleiner Dieb von gerade mal fünfzehn Jahren es nicht wert wäre, all diese Folterinstrumente an ihm auszuprobieren. Vielleicht ein paar Peitschenhiebe, möglicherweise sogar die Streckbank ... doch hoffentlich nicht mehr.
 

Gerade als er darüber nachdachte, was es wohl alles für Apparaturen in der Folterkammer geben mochte, vernahm er plötzlich Schritte.

Sein Herz schlug unwillkürlich schneller. Es war noch lange nicht Zeit fürs Essen, und außerdem schienen sich da mehr als eine Person zu nähern. Bis jetzt war es immer ein einzelner Wächter gewesen, der die Mahlzeiten vorbeigebracht hatte. Sie kamen nur zu mehreren, wenn sie jemanden zur besagten Kammer eskortieren wollten.

Neyo schluckte. War es jetzt etwa soweit? War seine Zeit gekommen?

Entschieden schüttelte er den Kopf und vertrieb seine düsteren Gedanken. Es gab schließlich noch Dutzende andere Zellen hier unten, warum sollten sie ausgerechnet zu ihm kommen?

Als jedoch die Schritte abrupt vor seiner Gittertür stoppten, brach jegliche Hoffnung in sich zusammen. Sie waren wirklich gekommen, um ihn zu holen!
 

Neyos Herz hämmerte hart gegen seinen Brustkorb. Er zog die Beine enger an sich heran und drückte sich noch weiter gegen die Wand, sodass es schmerzte. Er wollte in der Dunkelheit versinken, obwohl ihm klar war, dass dies nicht viel bringen würde.

Sie würden ihn brutal aus seiner Zelle zerren und ihm zu jenem Raum bringen, aus dem zu fast jeder Tageszeit entsetzliche Schmerzensschreie drangen. Und es würde sie nicht im geringsten kümmern, ob Neyo ein Dieb, ein Meuchelmörder und auch völlig unschuldig wäre. Sie machten mit allen dasselbe.
 

Im dumpfen Schein einer Fackel konnte Neyo zwei Männer erkennen. Der eine trug die typische Kluft der Wächter, der andere jedoch fiel vollkommen aus dem Rahmen. Soweit es Neyo in dem ungewohnten Licht zu erkennen vermochte, war der Fremde in extrem feine Kleidung gehüllt. Sein an den Schläfen schon etwas ergrautes Haar war gepflegt, selbst die Nägel wirkten weißer und sauberer, als es sonst der Fall war.

Im Großen und Ganzen sah er aus wie einer dieser Edelmänner, die Neyo normalerweise nur allzu gern von ihren schweren Geldbeuteln erleichterte.
 

„Das ist er?“ Der Adlige hatte sich fragend an den Wächter gewandt. Dieser nickte daraufhin nur stumm. „Sehr gut. Dann schließt auf.“

Der Soldat musterte sein Gegenüber einen Moment lang überrascht, dann aber tat er, wie geheißen. Geschwind fingerte er den richtigen Schlüssel hervor und öffnete die Tür.

Der Wächter verharrte an der Schwelle, während der Edelmann eintrat. Mit einem abschätzenden Blick schaute er sich in der menschenunwürdigen Zelle um.

Neyo hatte währenddessen verwundert die Stirn gerunzelt. Was suchte dieser Kerl bei ihm? Er wirkte mit seiner prächtigen Kleidung und seinem gepflegten Äußeren vollkommen fehl am Platz, wie ein wunderschöner Pfau unter einer Horde dreckiger Ratten. Auch seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er viel lieber woanders gewesen wäre als hier. Was also trieb ihn nach unten in diese schmutzigen, stinkenden Katakomben?
 

Neyo sog scharf die Luft ein, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. Möglicherweise war dieser feine Herr jemand, den Neyo einst bestohlen hatte. Vielleicht wollte er nur sichergehen, dass der dreiste Dieb, der sich an seinem Eigentum zu schaffen gemacht hatte, auch ordnungsgemäß untergebracht war. Unter Umständen wollte er möglicherweise auch dafür Sorge tragen, dass Neyo tatsächlich noch früher oder später in der Folterkammer landete.

So oder so, das Auftauchen des Fremden konnte nichts Gutes bedeuten.
 

„Sei gegrüßt, mein junger Freund.“ Der Mann hatte ein Lächeln auf den Lippen, das erstaunlicherweise sogar ehrlich wirkte. Neyo verzog missmutig das Gesicht. Wollte sich dieser Kerl etwa über ihn lustig machen?

„Willst du mir vielleicht deinen Namen verraten?“, erkundigte sich der Herr.

Immer noch etwas verwirrt, schwieg Neyo.

„Du wurdest etwas gefragt!“, fuhr der Wächter den Jungen barsch an. Die Hand legte er auf seinen Schlagstock, seine Augen funkelten bedrohlich. „Weißt du denn nicht, wer vor dir steht, dreckiger Straßenköter? Das ist der große Magier Jyliere, rechte Hand des hochgeschätzten Oberen, Herrscher über Mystica. Zeige etwas mehr Respekt, Bengel!“

Neyo stockte der Atem, fassunglos sah er den Fremden an.

Ein Magier? Konnte das tatsächlich sein?
 

Aber noch während er darüber nachdachte, ob der Wächter nun gelogen hatte oder nicht, entdeckte Neyo das Emblem auf der Gürtelschnalle des Edelmannes. Ein stolzer Adler mit weit ausgebreiteten Flügeln war darauf zu sehen, das Symbol des Oberen. Nur Magier allerhöchsten Ranges durften sich mit diesem Wahrzeichen schmücken, jedem anderen war es strengstens untersagt und wurde schwer bestraft.

Neyo spürte, wie das Blut in seinen Adern gefror. Mit geweiteten Augen betrachtete er den Mann, der ihn seinerseits freundlich anlächelte.

Ein Magier aus den Reihen des Oberen ... Die Regenten des Landes ... Die Mächtigsten von ganz Mystica ...
 

Und einer von ihnen befand sich nun bei ihm, in seiner dunklen und schmutzigen Zelle. Ungläubig blinzelte Neyo. Noch nie zuvor war er einem Magier begegnet, er kannte nur die zahlreichen Geschichten, die sich allerorts erzählt wurden. Man bezeichnete sie als übernatürliche Männer und Frauen, die mit ihren Fähigkeiten Dinge vollbringen konnten, dass man es sich kaum vorzustellen vermochte. Angeblich geboten sie über das Wetter, konnten Feuer beschwören, Tote wieder zum Leben erwecken und sogar die Gedanken eines anderen lesen.

Neyo war sich nie sicher gewesen, ob all diese Gerüchte zutrafen, Fakt war jedoch, dass den Magiern eine große Menge Respekt entgegengebracht wurde. Respekt ... und auch Angst. Ihre Kräfte machten viele nervös, niemand wusste so genau, wozu diese Magier eigentlich alles fähig waren. Manche behaupteten sogar, sie könnten den Untergang der Welt einläuten, wenn ihnen der Sinn danach stand.
 

„Du brauchst dich nicht zu fürchten“, sagte der Magier in einem gutmütigen Tonfall. „Ich werde dir nichts tun.“

„Was wollt Ihr von mir?“ Neyo war erstaunt, dass trotz seiner Unsicherheit seine Stimme so fest klang. Argwöhnisch beäugte er den Mann namens Jyliere.

„Ich will dir helfen“, meinte der Ältere.

Neyo konnte es nicht verhindern, er schnaubte verächtlich. „Wieso sollte ein Magier einem wertlosen Dieb helfen?“

Jylieres Miene wurde plötzlich ernst. Er trat an den Jungen heran und hockte sich hin, um mit ihm auf einer Augenhöhe zu sein. Den Unrat und die Exkremente der Ratten schienen ihn nicht zu kümmern. „Du bist nicht wertlos, haben wir uns verstanden? Ganz und gar nicht wertlos.“
 

Neyo erwiderte nichts, sondern schaute sein Gegenüber nur an. Seine anfängliche Angst war verflogen, nun war nur ein merkwürdiges Gefühl der Verwirrtheit zurückgeblieben. Er wusste nicht, was er von dem Mann halten sollte, der solch seltsamen Versprechungen gab und dies offenbar sogar ernst meinte. Neyo war schon immer ein guter Menschenkenner gewesen und er erkannte keinerlei Lüge hinter den Worten Jylieres. Aber warum sollte ein großer Magier, der wahrlich Besseres zu tun hatte, als einem armen Straßenjungen in seinem finsteren Verlies aufzusuchen, ihm seine Hilfe anbieten?

„Du bist ein Opfer der Gesellschaft“, sagte Jyliere mit einem väterlichen Lächeln. „Du musstest stehlen, um zu überleben. Ich kann das verstehen, glaub mir. Ich hätte in deiner Situation nicht anders gehandelt.“
 

Neyo verengte seine Augen misstrauisch zu Schlitzen. „Was also wollt Ihr von mir?“ Er hielt jäh inne, als ihm ein abstruser Gedanke kam. „Soll ich etwas für Euch stehlen?“

Während der Wächter an der Tür empört schnaubte, lachte Jyliere herzlich auf. „Du hast einen wundervollen Humor, mein Junge. Das gefällt mir.“

Neyo runzelte die Stirn. Was für ein seltsamer Typ ... Solch ein sonderbares Benehmen hätte er bei einem der obersten Magier Mysticas nun wirklich nicht erwartet. Was das vielleicht alles nur ein lausiger Scherz?

„Ich kann dir ansehen, dass du verwirrt bist“, sagte Jyliere gutmütig. „Dir muss diese Situation sehr eigentümlich vorkommen. Du hast keine Ahnung, warum so ein stinkreicher Mann plötzlich in deiner Zelle steht, nicht wahr?“ Er seufzte. „Und ob du's glaubst oder nicht, ich bin mir selbst nicht mal sicher, wieso ich eigentlich hier bin.“

Der ist verrückt, schoss es Neyo durch den Kopf. Verrückt und senil.
 

„Nenn es Fügung, nenn es Schicksal“, fuhr der Magier fort. „Ganz gleich, wie du es bezeichnen möchtest, es ändert nichts an der Tatsache, dass ich, Jyliere, engster Vertrauter unseres hochgeschätzten Oberen Te-Kem, hier bei dir stehe, mein namenloser Freund.“

„Neyo“, murmelte der Junge.

Jyliere lächelte, seine Augen funkelten kurz auf. Aus irgendeinem Grund, so erkannte Neyo, schien der alte Mann erleichtert zu sein, obwohl sich der Dieb das nicht so recht erklären konnte. „Ein starker Name“, sagte der Magier. „Deine Eltern haben ihn weise ausgesucht.“

Neyo rümpfte die Nase. „Meine Eltern haben gar nichts ausgesucht. Ich habe mir den Namen selbst gegeben.“ Seinen Vater hatte der Junge noch nie zu Gesicht bekommen und seine Mutter hatte ihren Sohn bloß 'Strolch' oder 'Junge' gerufen. Sie hatte sich nie die Mühe gemacht, ihm irgendeine Identität zu geben. Im Grunde konnte Neyo froh sein, dass sie ihn nach der Geburt nicht irgendwo ausgesetzt hatte.
 

„Ich verstehe“, meinte Jyliere ernst. „Anders ausgedrückt: Es hat sich nie jemand um dich gekümmert, du musstest von Anfang an selbst für dich sorgen. Und das hast du offenbar ganz gut gemeistert ... na ja, von deinem unfreiwilligen Besuch in diesem netten, kleinen Gefängnis einmal abgesehen.“

Neyo setzte eine übellaunige Miene auf. „Ich habe nicht die Absicht, hier zu versauern“, meinte er entschlossen. Der Wächter an der Türschwelle lachte daraufhin spöttisch auf.

„Ganz meine Meinung“, sagte Jyliere, den Wachposten vollkommen ignoriend, der sich bei diesen Worten verschluckte und anschließend mühsam nach Luft rang. „Ich werde dich hier rausholen, mein junger Freund.“
 

Ihr?“ Neyo konnte seine Überraschung nicht verbergen.

„Denkst du etwa, ich wäre in dieses dreckige Loch runtergestiegen, nur um einmal mit einem Dieb zu reden?“ Der Magier schüttelte den Kopf. „Nein, Neyo, meine Beweggründe reichen tiefer. Ich möchte dich mitnehmen. Mit zu mir.“

Neyo war die Kinnlade nach unten geklappt. Anscheinend war dieser alte Knacker wirklich senil. „Aber ... warum?“ Neyo konnte es nicht begreifen.

„Willst du dich etwa beschweren?“, fragte Jyliere mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Nun ... nein, natürlich nicht“, stotterte Neyo etwas verunsichert. „Aber Ihr kennt mich doch gar nicht! Warum also wollt Ihr das tun?“

Jyliere lächelte geheinisvoll. „Ich habe meine Gründe, Neyo. Eines Tages wirst du es verstehen.“
 

Dieses Ereignis änderte das Leben des jungen Diebes von Grund auf. Er lernte eine Welt kennen, die ihm zuvor verschlossen gewesen war und von der er niemals gedacht hätte, er dürfte sie je betreten.

Neyo begann ein völlig neues Kapitel.

Doch er wäre sicherlich im Gefängnis geblieben, wenn er davor gewusst hätte, was ihm noch bevorstand.
 

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Soweit zum Prolog. Ich hoffe, es gefällt euch einigermaßen ^^

Lob und Kritik sind herzlich willkommen
 

Eure Nochnoi

Neyo und Claire

Der Winter rückte immer näher. Die braunen Blätter des Herbstes waren bereits größtenteils zu Boden gefallen und die Luft erschien schwerer. Jeder Atemzug wurde von einem stechendem Schmerz begleitet, der im Hals anfing und bis in die Lunge hinunterwanderte. Es hatte bereits Tote draußen gegeben – herrenlose Obdachlose, die die Kälte und Erbarmungslosigkeit der Nacht ohne Rücksicht umgebracht hatte.
 

Neyo war froh, nicht mehr zu dieser Sorte Mensch gezählt zu werden. Die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens hatte er, wie viele andere arme Teufel, in der Gosse verbracht. Seine Mutter war früh von ihm gegangen, sodass er schon als kleiner Bengel alleine über die Runden hatte kommen müssen. Manchmal hatte er Tage oder Wochen nichts gegessen und besonders in der Winterzeit konnte dies schlimme Folgen nach sich ziehen. Neyo war nur zweimal knapp dem Kältetod entkommen. Mit Mühe und Not hatte er sich selbst am Leben erhalten.
 

Oft jedoch hatte er sich gefragt, ob dies alles überhaupt einen Sinn hatte. Ständig hatte er stehlen und kämpfen müssen, besonders ehrenvoll war ihm dies nicht erschienen. All die Geschichten der stolzen Ritter und Magier hatten ihn immer aufs Neue vor Augen geführt, wie nutzlos und unbedeutend sein Leben doch war. Jeder Versuch, diese Tatsache irgendwie zu ändern, war kläglich gescheitert. Hoffnunglosigkeit hatte ihn erfüllt, als er gerade mal zehn Jahre alt gewesen war. Selbstmordgedanken waren bei ihm an der Tagesordnung gewesen.
 

Inzwischen hatte sich diese düstere Stimmung aber wieder gelegt. Neyo war dreiundzwanzig und weit darüber hinaus, in Trostlosigkeit zu versinken. Seine eigenen, dunklen Gedanken hatten ihn nahe an den Abgrund geführt – zu nahe, für Neyos Geschmack. Am Ende hätte er sich selbst zerstört.

Doch glücklicherweise hatte es das Schicksal anders mit ihm gemeint. Jyliere war plötzlich aufgetaucht – damals, an diesem schicksalhaften Tag vor so vielen Jahren – und hatte sein Leben verändert.

Neyo hatte nie herausgefunden, was Jyliere zu dieser Tat getrieben hatte, doch er vermutete, dass es stark mit Mitgefühl zu tun hatte. Der junge Mann hasste es zwar zutiefst, in irgendeiner Form Mitleid zu erregen, aber in dieser speziellen Situation hatte es sich als sehr nützlich erwiesen, sodass es sich jegliche Beschwerden verkniff.
 

Nun war er hier, bereits seit acht Jahren, und wieder hatte ihn ein Gefühl der dumpfen Trostlosigkeit erfüllt. Einst war er ein Dieb gewesen, ein hinterlistiger Straßenräuber, ein Niemand – hatte sich dies überhaupt geändert?

Jyliere hatte ihn damals, ohne irgendeine Frage über Neyos zweifelhafte Herkunft zu stellen, einfach mitgenommen und in seinem Haus aufgenommen. Hatte ihm ein Dach über den Kopf, anständige Kleidung und drei Mahlzeiten am Tag gegeben. Immer wieder hatte der alte Magier ihn als seinen Freund bezeichnet, als einen Vertrauten ohnegleichen. Neyo fand zwar, dass die Bezeichnung Diener um einiges passender gewesen wäre, doch er hatte nicht das Recht, sich zu beklagen. Früher war es ihm wesentlich schlechter ergangen.
 

Neyo seufzte. All dies waren alte Geschichten, schon unheimlich lang her. Er hatte schon früh gelernt, dass es nichts einbrachte, der Vergangenheit nachzutrauern, dennoch erwischte er sich immer wieder dabei. Zwar waren diese Erinnerungen nicht besonders rosig, trotzdem konnte er sich nicht von ihnen lösen. Sie waren ein Teil von ihm, untrennbar mit ihm verbunden. Er würde es wohl nie fertigbringen, das bleiche Gesicht seiner Mutter zu vergessen, als sie tot neben ihm gelegen hatte. Ebenso die Erinnerung an sein zertrümmertes Bein und seine wochenlangen Todesqualen hatten sich in sein Gehirn gebrannt. Es gab einfach Dinge, die man niemals vergaß, sosehr man es sich auch wünschte.
 

„Neyo, schläfst du etwa?“, ertönte plötzlich eine vorwurfsvolle Stimme von hinten.

Neyo zuckte zusammen und drehte sich um. Claire, die immer noch an dem bulligen Schreibtisch saß und vor sich ein dickes Buch liegen hatte, schaute ihn herausfordernd an. Ihr Blick war so dermaßen herablassend, dass man niemals im Leben vermutet hätte, dass dieses Mädchen erst achtzehn Jahre war. Man hätte sie für eine strenge Lehrerin im hohen Alter gehalten. Ihr langes, blondes Haar hatte sie zu einem gesitteten Zopf hochgebunden und ihre blauen Augen funkelten eiskalt. Neyo konnte sich nicht entsinnen, dass dieses Mädchen einmal in ihrem Leben höflich mit ihm gesprochen oder ihm gar ein kleines Lächeln geschenkt hätte. Ihr unterkühlter Umgang mit anderen Menschen ließ sie zurückgezogen und befremdlich wirken.
 

Doch Claire war noch in vielerlei Hinsicht anders als die meisten. Sie war jung, schön, klug . . . und magisch veranlagt. Ihr Vater, soweit sich Neyo erinnern konnte, war ein bedeutender Zauberer gewesen, bevor die Barbaren aus dem Nachbarland ihn bei einem ihrer etlichen Streifzüge entdeckt und getötet hatten.

Tja, so kann's kommen, dachte Neyo. An einem Tag bist du der große Held, am nächsten tot.
 

Claire war ein äußerst kompliziertes Mädchen, sodass sich viele schwer mit ihr getan hatten. Sie war von einer Pflegefamilie zur nächsten gewechselt, da ihr Temperament äußerst einschüchternd war. Auch Neyo hatte dies öfters zu spüren bekommen. Es gab nur wenige Magier auf der Welt, auch in Mystica war diese Gabe selten, woraufhin nur wenige Menschen mit Magie zurechtkamen. Die meisten beunruhigte solch eine Macht, sodass auch Claire eher gefürchtet als geliebt worden war.
 

Jyliere schließich hatte ein großes Herz bewiesen, ebenso wie bei Neyo. Er hatte das störrische Kind vor fünf Jahren bei sich aufgenommen und liebte sie inzwischen wie eine Tochter. Claires Anwesenheit und ihr ansteckendes Lachen machten ihn glücklich, das konnte Neyo sogar ohne magische Fähigkeiten erkennen. Jyliere und Claire teilten viel mehr als ihre gemeinsame Abstammung.

Allerdings hatte dies auch zum Nachteil, dass Claire sich als Hausherrin von Jylieres riesigen Villa betrachtete, wenn dieser wie so oft verreist oder abkömmlich war. Sie scheuchte das gestresste Personal herum und ließ es sich nicht nehmen, auch Neyo herumzukommandieren. Während Jyliere den jungen Mann, den er aus dem Gefängnis gerettet hatte, wenigstens noch etwas Respekt und Höflichkeit entgegenbrachte, sah Claire in ihm offenbar nicht mehr als einen Dienstboten.
 

„Ich schlafe nicht.“ Neyo knirschte mit den Zähnen, bemühte sich aber um eine gefasste Tonlage. Ihm war es geradezu zuwider, dass dieses vorlaute Gör ihm Befehle erteilte, aber er wagte es nicht, zu widersprechen. Jylieres Zuneigung zu diesem Mädchen war inzwischen dermaßen stark, dass sich Neyo nicht mehr allzu sicher war, ob er seine Anstellung oder gar sein Leben behalten durfte, sollte er sich Claire verweigern. Jyliere hatte Neyo zwar immer gut behandelt, doch der alte Magier kam allmählich in die Jahre und legte mitunter ein seltsames Verhalten an den Tag, das man nur als Senilität bezeichnen konnte. Er wurde mit jedem Monat unberechenbarer, sodass es sicher von Vorteil wäre, ihn nicht unnötig zu erzürnen.

„Das sieht aber stark danach aus“, meinte Claire und klang dabei haargenau wie eine von diesen hochnäsigen Puten, die Jyliere ab und zu zu Gast hatte. Diese selbstverliebten Damen hatte Neyo noch nie leiden können und nun musste er hilflos mitansehen, wie Claire immer mehr in dieses Raster geriet. Es schien wohl eine Art Krankheit zu sein, die alle höhergestellten Frauen befiel.
 

„Ich hab dir gesagt, du sollst die Regale wischen, aber du tust es nicht.“ Claire verzog trotzig ihren Mund und wirkte damit unfreiwillig komisch. Neyo musste sich sehr bemühen, nicht zu lachen. „Stattdessen starrst du vor dich hin. Wovon träumst du schon wieder?“

„Freiheit“, sagte Neyo, bevor er es verhindern konnte. Er presste sofort reuevoll die Lippen aufeinander und hoffte, dass Claire ihn nicht verstanden oder es gar nicht für nötig gesehen hatte, einem kleinen Diener zuzuhören.

„Was?“ Sie zog die Augenbrauen zusammen und sah ihn fragend an.

„Nichts“, sagte der junge Mann rasch, bevor Claire seine Verlegenheit bemerken konnte. Er tunkte das inzwischen getrocknete Tuch in den Putzeimer neben sich, wartete, bis es genügend Wasser aufgesogen hatte und wringte es anschließend aus. Lustlos wischte er damit über die staubigen Regale von Jylieres riesenhafter Bibliothek und versuchte, wie so oft, die Buchtitel zu entschlüsseln.
 

Auf der Straße hatte er selbstverständlich wenig Bildung erhalten, doch Jyliere hatte großen Wert darauf gelegt. Er hatte für Neyo einen Privatlehrer engagiert, der ihm neben Lesen und Schreiben auch in Naturwissenschaften, Fremdsprachen, Astronomie, Kunst und Astrologie unterrichtet hatte. Neyo hatte diesen immensen Aufwand zwar zu schätzen gewusst, es hatte ihn aber nie wirklich interessiert. Nur Jyliere zuliebe hatte er die trockenen Stunden mit dem wohl langweiligsten Lehrer der Welt durchgestanden, bis dieser nach anderthalb Jahren wutentbrannt gekündigt hatte, da ihm Neyos Dreistigkeit und Sinn für Schabernack nach schier endloser Zeit der stillen Duldung schließlich zu weit gegangen waren. Er hatte den Jungen als „Ausgeburt der Dämonen“ beschimpft, bevor er aus dem Haus gestürmt und für immer verschwunden war.
 

Neyo hatte der jähe Abgang seines verhassten Lehrers ziemlich belustigt, Jyliere hingegen weniger. Der Knabe hatte sich eine Standpauke anhören müssen, die er dem sonst so sanftmütigen Magier gar nicht zugetraut hätte.

Neyo erinnerte sich mit einem Lächeln daran. Dies war einer der wenigen Augenblicke gewesen, in denen Jyliere die Last der Welt, die er glaubte, auf seinen Schultern tragen zu müssen, abgelegt hatte und einfach ein Mensch gewesen war. Ein Mensch, der liebte, hasste und auch mal aus der Haut fuhr, wenn etwas nicht so lief, wie er es wollte. Neyo hatte ihn in diesem Moment noch um einiges sympathischer gefunden als jemals zuvor. Leider hatte dieser Zustand nicht lange angehalten.

Doch obwohl der von Jyliere ausgesuchte Lehrer noch so spießig und eintönig gewesen war, hatte er Neyo dennoch etwas beigebracht. Der Junge war niemals dumm gewesen und lernte ausgesprochen schnell. So war es auch in seinen Unterrichtsstunden gewesen, sodass er sich zeitweilen schrecklich gelangweilt hatte, weil der Lehrer endlos auf einem Thema herumgekaut hatte, welches Neyo als abgehandelt und erledigt betrachtet hatte.
 

Nun starrte er, nach einer ausgezeichneten Bildung und besten Chancen, etwas aus seiner Person zu machen, auf die kostbaren Bücher Jylieres und hielt dabei ein nasses Putztuch in der Hand. Etwas stimmt an diesem Bild nicht, dachte er deprimiert. Neyo hatte sich nie für einen Mann des großen Geistes gehalten und es hatte ihn noch weniger danach gedürstet, einen Stellug anzunehmen, die in der oberen Gesellschaft als „schick und ansprechend“ bezeichnet wurde. Mochte er vielleicht klüger sein als noch zuvor, seine Abneigung gegenüber der höheren Schichten war nie verblasst. Selbst Jyliere bekam dies ab und zu zu spüren, wofür sich Neyo insgeheim aber immer wieder aufs Neue schämte.

Allerdings hatte er sich auch nicht vorgestellt, letztendlich als Dienstbote zu enden. Jylieres wegen besaß er einen gewissen Standard, dem nicht mal all diese arroganten Fürstensöhne, die ständig hinter Neyos Rücken über ihn herzogen, etwas entgegenzusetzen hatten. Nur Claire fiel wie üblich aus der Rolle und behandelte Neyo bloß wie ein weiteres Mitglied von Jylieres breiter Dienerschaft.
 

Seufzend starrte er aus dem Fenster hinüber zur Stadt. Jylieres Villa lag etwas außerhalb auf einem bewaldeten Hügel; eine ruhige Gegend, die einerseits viel Bequemlichkeit bot und andererseits einen guten Überblick bescherte.

Der Ausblick auf die riesige Stadt war wirklich fantastisch, sodass sich Neyo stets darin verlor. Rashitar war die Hauptstadt Mysticas und erstrahlte deshalb in einem ganz besonderen Licht, welches bezaubernd und erschreckend übernatürlich zugleich wirkte. Die Häuser, Märkte, Weihstätten und Straßen waren von höchster Qualität. An vielen Orten, sowohl in Mystica als auch in der Welt der Gewöhnlichen, wie sie überall in dem gesegneten Königreich genannt wurde, bewunderte man die Pracht dieser Stadt. Täglich kamen neue Pilger hinzu, um zu betrachten, zu träumen und eventuell Geschäfte abzuwickeln.

Hauptaugenmerk war selbstverständlich das riesige Schloss des Oberen Te-Kems, das alles überragte. Es erschien so groß wie die Stadt selbst und raubte jedem dem Atem. Selbst langjährige Bewohner Rashitars, die das Schloss jeden Tag zu Gesicht bekamen, ließen es sich nicht nehmen, es immer wieder zu bewundern und sich in seinen Bann ziehen zu lassen. Es war aus einem seltsam floristierenden Stein gearbeitet, welches Neyo zuvor nie irgendwo anders gesehen hatte. Es schien beinahe verzaubert, als würde es leben. Selbst wenn der Himmel verdeckt war und die Sonne nicht strahlte, leuchtete das Schloss hell und einladend.
 

Mystica war schon immer eine eigentümliche Welt gewesen, voller Rätsel und Geheimnisse, doch Neyo konnte es sich gar nicht anders vorstellen. Es war ihm geradezu unbegreiflich, wie all die Menschen aus der Welt der Gewöhnlichen ohne Magie existieren konnten. Jyliere hatte ihm zwar erklärt, dass dort ebenfalls Übernatürliches existierte, aber bei weitem nicht so offen und weit verbreitet wie im Reich des Oberen. Viele Leute hielten dort Zauber und Magie sogar für Unsinn.

In einer Ferne konnte Neyo mit einiger Mühe das große Schwarzgebirge erkennen, dass Mystica von der Welt der Menschen trennte. Nur die führenden Oberhäupter und deren Getreuen wussten von den Existenz des Reiches Te-Kems, die gemeine Bevölkerung war größtenteils ahnungslos. Ihnen war nicht klar, dass hinter diesen riesigen Bergen eine ganze Welt versteckt lag, die sowohl Magier beherbergte als auch gewöhnliche Menschen, die gut und gerne über Jahrhunderte in Verwandtschaft zu ihnen stehen konnten, ohne dass irgendwer es ahnte.
 

Mystica war, zumindest der Legende nach, vor gut zweihundert Jahren entstanden. Damals soll es zu einem großen Konflikt zwischen Magiern und den herrschenden Mächten der Menschen gekommen sein und keine der beiden Seiten war gewillt gewesen, aufzugeben. Schließlich hatten sich die erzürnten Zauberer zusammen mit ihrer Gefolgschaft und ihren Dienern, welche zum größten Teil gewöhnliche Sterbliche gewesen waren, zurückgezogen und hatten auf diese Weise das Land hinter dem Gebirge entdeckt, welches sie zu ihrer Niedersiedlung erklärt hatten. Über die Jahre und Jahrhunderte wuchs und gedieh Mystica prächtiger, als es je ein Land auf der Erde fertiggebracht hätte. Es ist selbstverständlich unnötig zu erwähnen, wie sehr sich die Führer der Menschen ärgerten, ihre Magier vertrieben zu haben.
 

„Du bist schon wieder nicht bei der Sache!“ Claires schneidende Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Sie war aufgestanden, ließ ihre spanndende Lektüre links liegen und schritt direkt auf ihn zu. Sie wollte wohl bedrohlich wirken, doch sie hatte es noch nie geschafft, Neyo einzuschüchtern. Viele von Jylieres Dienern fürchteten die junge Magierin und ihr ungezügeltes Temperament, aber Neyo beeindruckte es wenig. Claire mochte vielleicht Feuer beschwören oder ihn in Windeseile in eine Kröte verwandeln können, doch tief in seinem Inneren wusste Neyo, dass sie es nicht über sich bringen würde, dies einem Menschen anzutun. Denn obwohl sie immer kühl und distanziert tat, so hatte sie dennoch einen guten Kern. Allerdings war dieser schwer zu finden und trat nur selten zutage ...

„Was hast du vor?“, fragte Neyo amüsiert. „Willst du deine Magie benutzen und mich bestrafen?“

Claires blasses Gesicht wurde zunehmend röter, als sie Neyo fixierte. „Was fällt dir ein, so mit mir zu reden? Ich bin deine Herrin, schon vergessen? Du solltest höflich mit mir sprechen oder sonst . . .“

„Oder sonst was?“ Neyo spürte ein beinahe unbändiges Verlangen, diese Mädchen zu würgen, bis sie ohnmächtig zusammenbrechen würde. In seinen Augen hatte Claire eine solche Lektion verdient, die mit jedem Tag, der verstrich, selbstherrlicher und eingebildeter wurde. Eine ordentliche Tracht Prügel hat noch niemanden geschadet, dachte Neyo mit einem teuflischen Lächeln.
 

„Mach dich nicht über mich lustig, verstanden?“, knurrte Claire.

Neyo schnaubte verächtlich und wandte sich wieder seinem Putztuch zu, welches seiner Meinung nach um einiges interessanter als Claires Wutanfall war. „Hör auf mit deinen leeren Drohungen. Entweder steck mich in Brand oder lass mich in Ruhe. Aber pluster' dich nicht so auf. Du benimmst dich allmählich wie diese eingebildeten Hühner vom Hofe des Obermagiers.“

„Wie kannst du es wagen?“, fauchte sie. Ihre Augen blitzten bedrohlich und zum ersten Mal spürte Neyo, wie sich seine Nackenhärchen aufstellten. Er war augenscheinlich zu weit gegangen und bereute es bereits zutiefst. Doch es war nicht Claires Reaktion, die er fürchtete, sondern Jylieres. Dieser konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn jemand seiner geliebten Ziehtochter zu nahe trat.

Offensichtlich wollte Claire mit ihrer Standpauke fortfahren, doch ein Geräusch von draußen brachte sie aus dem Konzept. Sie schaute, ebenso wie Neyo, hinaus aus dem Fenster, sodass sie beide die Kutsche sehen konnten, welche gerade die Auffahrt hochfuhr. Claires Miene hellte sich schlagartig auf, während Neyos Herz plötzlich schwerer wurde.
 

Verdammt, warum kommt er ausgerechnet jetzt zurück?, verfluchte Neyo sein unglaubliches Pech. In ein bis zwei Tagen hätte Claire diese Sache vielleicht wieder vergessen, aber nun . . .?

„Jyliere“, murmelte Claire mit strahlenden Augen. Sie warf Neyo noch einen kurzen, verächtlichen Blick zu, ehe sie sich abwandte und geradezu undamenhaft davonstürmte. Ihre langes Kleid wehte hinter ihr her, als fiele es ihm schwer, mit dem Tempo seiner Trägerin mitzuhalten.

Neyo seufzte. Er beobachtete, wie der Kutscher vom Bock sprang und Jyliere die Tür öffnete. Der alte Magier kletterte mühsam aus dem Gefährt und für einen kurzen Augenblick flackerte bei Neyo neben all der Besorgnis um sein eigenes Wohl noch ein anderes Gefühl in ihm auf. Hatte sich Jyliere schon immer so schwerfällig bewegt? Und seit wann humpelte er?

Doch Neyo vertrieb diese Gedanken recht schnell wieder. Er bildete sich das bestimmt nur ein. Jyliere hatte eine lange Kutschfahrt hinter sich, immerhin war er von einem Freund zu einem der entlegendsten Städte Mysticas gerufen worden, und seine Gelenke waren sicherlich steif. Ein paar Minuten an der frischen Luft und etwas Bewegung, dann würde sich alles wahrscheinlich schnell wieder legen.

Neyo fuhr fort, die Regale zu putzen. Ihm war klar, dass Claire ihn verpetzen würde, doch daran gab es nichts mehr zu ändern. Er konnte jetzt nur noch den Gehorsamen spielen und darauf hoffen, dass Jyliere Claires Stimmungsschwankungen nicht allzu ernstnahm.

Hoffentlich ist er zu müde, um sich Claires Beschwerden anzuhören, betete Neyo. Doch tief im Inneren war ihm bewusst, dass Jyliere niemals zu erschöpft für die Belange seiner Tochter war.
 

* * * * *
 

Claire stürmte durch die Gänge der riesigen Villa. Der Stein schabte unter ihren Füßen und die Dielenbretter knirschten. Der Wind, hereingetragen aufgrund der geöffneten Fensterläden, spielte mit ihren Haaren und lockerte ihren Zopf, doch Claire störte sich nicht weiter daran. Normalerweise war es ihr unangenehm, nicht vollkommen perfekt und makellos gekleidet und frisiert zu sein, aber dieses eine Mal konnte sie darüber hinwegsehen.

Jyliere! Sie hatte ihn sosehr vermisst. Schon zwei Wochen war er abwesend gewesen, irgendein Freund oder Bekannter, dessen Name Claire zuvor noch nie gehört hatte, hatte um die Hilfe des alten Magiers gebeten. Und Jyliere, gütig wie er nun mal war, hatte selbstverständlich nicht ablehnen können, auch wenn dies bedeutet hatte, für längere Zeit sein Zuhause und seine Ziehtochter nicht zu sehen.

Claire hatte es mit Stolz erfüllt, als er ihr die Verantwortung für das Haus übertragen hatte. Zwar hatte sie schon immer die Befehlsgewalt über die Diener Jylieres besessen, aber ansonsten hatte er seinem ältesten und vertrautesten Leibgetreuen, dem freundlichen, jedoch auch etwas hochnäsigen Pierre, stets die volle Verantwortung übertragen. Dieses Mal jedoch hatte er sich Claire anvertraut und sie hatte ihn nicht enttäuschen wollen.
 

Aus diesem Grund hatte sie die Diener und Hausmädchen noch mehr angetrieben, als sie es sonst von ihr gewohnt waren. Mürrisch, jedoch ohne Klagen hatten sie Befehle ausgeführt, dennoch war Claire die Feindseligkeit in ihren Augen nicht entgangen. Ihr war bewusst, dass sie unter der Gefolgschaft Jylieres als skrupellose Herrin bekannt war.

Doch dies kümmerte sie nicht. Was die Menschen aus den niederen Schichten über sie dachten, konnte ihr und auch jedem anderem ihres Standes vollkommen gleichgültig sein. Mochten sie sich doch hinter ihrem Rücken das Maul zerreißen, solange sie ihre Aufgaben zufriedenstellend verrichteten, hatte Claire nichts dagegen einzuwenden.

Gekonnt wich das Mädchen zwei dösenden Hunden aus, die es sich auf dem Gang gemütlich gemacht hatten. Einer hob kurz seinen Kopf und schaute ihr desinteressiert nach, zu weiteren Reaktionen kam es nicht. Im Winter waren die Hunde Jylieres – er hatte sechs an der Zahl, hatte aber grinsend verkündet, dass er sich noch mehr anschaffen wollte – besonders träge.
 

Claire hielt für einen kurzen Moment inne, als sie an dem Wandteppich vorbeikam, der in der Vorhalle aufgehängt war und bei jedem Eintretenden ein bewunderndes Raunen hervorbringen sollte. Im Momemt wirkte er jedoch ganz und gar nicht danach, als könnte irgendwer auf die Idee kommen, das Kunstwerk zu bestaunen.

Claires Miene verfinsterte sich. Hatte sie nicht Marie heute morgen aufgetragen, den Teppich zu reinigen? Wieso war dies noch nicht geschehen? Der Tag neigte sich bereits dem Ende, doch die feinen Stickereien waren immer noch mit Schmutz besudelt.

Marie denkt wohl, ich würde dies nicht bemerken, dachte Claire grimmig. Ich hätte wohl jemand anderes beauftragen sollen.

Ihre Gedanken kehrten plötzlich wieder zu Neyo zurück, als sie über die Nachlässigkeit der Dienerschaft sinnierte. Sie sah seine tiefblauen Augen, die nur so vor Belustigung und Respektlosigkeit strotzten, und sein amüsiertes Grinsen. Claires Hände verkrampften sich zu Fäusten, als sie nur an ihn dachte.

Dieser dreiste Ignorant. Claire schnaubte wie ein wilder Stier. Wie so oft verstand sie nicht, was Jyliere an diesem Knaben fand, dass er seine Gesellschaft duldete, sogar schätzte. Neyo hatte noch nie etwas von Ehre, Disziplin und Manieren gehört, doch anstatt dass Jyliere dies ärgerte, wie man es von ihm erwartet hätte, schien er es sogar recht amüsant zu finden. Neyos vulgäre Ausdrucksweise brachte den alten Magier immer wieder zum Lachen, so unvorstellbar dies für Claire auch war.

Was sah Jyliere in dem jungen Mann, was sie nicht sah? Claire hatte sich bemüht, hinter die Fassade zu blicken, um vielleicht ein anderes Bild von dem frechen Knaben zu bekommen. Doch alle Anstrengung hatte nichts genutzt, außer einem respektlosen Tunichtgut hatte sie nichts in ihm erkennen können.
 

„Mein Engel!“, ertönte plötzlich eine wohlbekannt Stimme von der Eingangstür. Jyliere war eingetreten, begleitet von Pierre, der mit hochrotem Kopf das Gepäck des Magiers trug. Ächzend schob dieser sich an Jyliere vorbei und nahm die breite Treppe in Angriff. Hochkonzentriert stieg er eine Stufe um die andere hoch.

„Endlich bist du wieder da!“ Claire rannte los und warf sich in Jylieres Arme. Breit lächelnd schmiegte sie sich an ihn und sog seinen vertrauten Geruch ein. Hier fühlte sie sich wohl, hier war sie in Sicherheit.

Es hatte lange gedauert, bis sie jemanden wieder hatte vertrauen und lieben können. Nach dem plötzlichen und grausamen Tod ihres Vaters war eine Welt für die damals Zehnjährige zusammengebrochen. Sie hatte in nichts mehr einen Sinn gesehen, war eine ganze Weile wie erstarrt gewesen.

Viele Menschen hatten versucht, sie aufzuheitern. Manche hatten sie sogar in ihr Haus aufgenommen und waren bereit gewesen, für sie die Verantwortung zu übernehmen und sie vielleicht eines Tages wie eine eigene Tochter zu lieben.

Doch Claire hatte damals diese Hilfbereitschaft nicht zu schätzen gewusst. Sie hatte sich missverstanden und verloren gefühlt und dies hatte sie ihre Pflegeeltern immer wieder spüren lassen. Ihr war es egal gewesen, ob sie mit ihren Taten irgendwen verletzte, für sie war es nur wichtig gewesen, dass andere genauso litten wie sie selbst. Glückliche Gesichter und heiteres Lachen hatte sie nicht ertragen können, ständig war sie aus der Haut gefahren. Niemand hatte es lange mit ihr ausgehalten.
 

Inzwischen aber begriff Claire, dass ihr Verhalten falsch gewesen war. Mit dreizehn, als schon jede Hoffnung verloren schien und man darüber diskutiert hatte, ob sie nicht vielleicht in ein Waisenhaus geschickt werden sollte, war plötzlich Jyliere aus heiterem Himmel aufgetaucht. Anscheinend hatte er vom ersten Tag seit der Ermordung ihres Vaters ein Auge auf Claire gehabt und ihr weitere Entwicklung aus der Ferne beobachtet. Schließlich, als sich niemand anders mehr gefunden hatte, hatte er sich dem sturen Mädchen angenommen.

Anfangs hatte sie diesselbe Feindseligkeit und Ablehnung an den Tag gelegt wie schon bei den anderen Familien, doch im Gegensatz zu ihnen hatte sich Jyliere nicht davon einschüchtern lassen. Stattdessen hatte er Claire tief in die mystische Welt geführt und somit ihr Interesse geweckt. Niemand zuvor hatte sie ernstgenommen, man hatte in ihr bloß ein traumatisiertes, verstörtes Kind gesehen. Jyliere jedoch hatte sie mit Respekt behandelt, wie eine Erwachsene, sodass Claires Widerstand nach und nach versiegt war.

Inzwischen verband sie eine innige Beziehung, die sie nur allzu gern mit ihrem Verhältnis zu ihrem Vater verglich. Jyliere hatte ihr alles gegeben, was sie brauchte, und auch noch so einiges mehr. Sie liebte ihn von ganzen Herzen.
 

„Du warst lange fort, Jyliere“, sagte Claire. „Ich habe dich sehr vermisst.“

Sie sah, dass seine müden Augen vor Rührung erstrahlten. Mit einem sanften Lächeln löste er sich aus der Umarmung und fuhr ihr sanft über die Wange. „Du bist ein gutes Kind, meine Hübsche. Auch du hast mir gefehlt.“

„Du siehst erschöpft aus“, stellte Claire fest. „Geh am besten in dein Gemach, ich lasse dir etwas warme Milch kommen. Wie klingt das?“

Jyliere lächelte matt. „Wunderbar.“

Während der Magier den Weg zu seinem Zimmer einschlug, verschwand Claire Richtung Küche. Normalerweise hätte sie dafür irgendeinen Diener beanstandet, doch Jyliere zuliebe vergaß sie ihren Stolz. Erneut huschte sie an den beiden Hunden vorbei, doch diesmal ließen sie sie vollkommen unbeachtet und dösten gemütlich vor sich hin.

Claire überlegte kurz, ob sie noch einen Umweg zur Bibliothek wagen sollte, entschied sich aber dagegen. Bei Neyos Anblick würde sie nur wieder in Rage geraten und dazu fehlte ihr im Moment jeglicher Nerv. Außerdem – sie gab es zwar ungern zu, aber es entsprach den Tatsachen – hatten seine Worte Claire ziemlich getroffen. Sie versuchte zwar, sich einzureden, dass es nur unbedeutendes Gerede eines frustrierten Dieners waren, dennoch kam sie irgendwie nicht davon los.

Reiß dich zusammen, Mädchen, mahnte sie sich selbst. Er ist nur ein dummer Dienstbote, nichts weiter. Seine Worte haben nicht das geringste Gewicht.
 

Claire war erfreut zu sehen, dass in der Küche tüchtige Arbeitsamkeit herrschte. Selbstverständlich war die Rückkehr des hohen Herrn auch dem Personal nicht verborgen geblieben, sodass die Ruhe und der Frieden der letzten Tage vergessen war. Der Koch hatte bereits den Herd angeworfen und die Küchenjungen rannten hektisch durch die Gegend. Der Geruch von heißem Fett, Zwiebeln und Wein schlug Claire entgegen.

Als sie die Küche betrat, hielt die Dienerschaft für einen kurzen Moment inne und musterte das junge Mädchen mit erwartungvollen, teils auch etwas eingeschüchterten Blicken.

Claire musste schmunzeln. Endlich schien sie sich vollends den Respekt verdient zu haben, auf den sie die ganze Zeit hingearbeitet hatte. Auch ihr Vater, ein reicher Magier von fürstlicher Abstammung, hatte ein strenges Regime geführt und seinen Dienern keinerlei Ausflüchte erlaubt. Vergehen waren hart bestraft worden, weswegen man ihm mit demselben furchtsamen Augen bedacht hatte, in die nun auch Claire blickte. Vater wäre stolz auf mich, dachte sie zufrieden.
 

„Jyliere wünscht ein Glas heiße Milch“, sagte Claire zu dem Koch, nachdem sich die anderen von ihrem ersten Schreck erholt hatten und wieder ihren Aufgaben nachgingen.

„Heiße Milch?“ Der große Mann hinter dem Herd war sichtlich enttäuscht. „Aber ich könnte ihm ein Festmahl zaubern, dass ihm Hören und Sehen vergeht.“

„Zunächst nur die Milch“, meinte Claire barsch. „Aber fang ruhig schon an, zu kochen. Ich bin mir nicht sicher, ob Jyliere Hunger hat, aber ich möchte auf jeden Fall etwas essen.“

„Jawohl, Herrin“, sagte der Koch. „Die Milch wird in ein paar Minuten fertig sein. Ich werde sie dem Herrn bringen lassen.“

„Nicht nötig“, erwiderte Claire. „Ich bringe sie ihm selbst.“

Überraschung und Zweifel spiegelten sich für einen Augenblick im Gesicht des Mannes, doch er hatte sich erstaunlich schnell wieder gefasst und stellte keinerlei Fragen. Die Milch war rasch fertig und Claire machte sich davon, der regen Betriebsamkeit der Küche zu entfliehen. Menschenansammlungen hatte sie noch nie gemocht, hatte sich immer unwohl dabei gefühlt. Sie ertappte sich dabei, wie sie erleichtert ausatmete, als die schwere Küchentür hinter ihr zufiel und sie allein im ruhigen Flur stand.
 

Zu Jylieres Gemach war es nicht besonders weit, doch Claire kam es diesmal doppelt so lang vor, da sie darauf achten musste, nichts von der Milch zu verschütten. Normalerweise bevorzugte sie einen zügigen Schritt, der ihre Autorität widerspiegelte, doch an diesem Tag schien sowieso alles anders zu sein. Claire schämte sich nicht, dass ihre Frisur nicht perfekt saß und sie die Pflichten einer Magd übernahm. Jyliere zuliebe tat sie alles.

„Deine Milch, Jyliere.“ Sie trat in sein Gemach und stellte den reich verzierten Becher auf seinen Schreibtisch. Jyliere hatte sich in der Zwischenzeit seiner Reisegaderobe entledigt und war in ein bequemeres Kostüm geschlüpft. Er hatte seinen Abendmantel eng um den Körper geschlungen, sodass deutlich zu erkennen war, dass der Magier während seiner Abwesenheit wieder etwas abgenommen hatte.

Claire machte sich bereits große Sorgen. Schon seit geraumer Zeit wirkte Jyliere angespannter, sein Augen huschten manchmal hektisch hin und her, als glaubte er, verfolgt zu werden. Hinzu kam noch, dass der Obere ihn mehr in Anspruch nahm als jemals zuvor. Der Gang zum königlichen Schloss gehörte für Jyliere beinahe schon zur Tagesordnung, während er früher seinem alten Freund Te-Kem nur gelegentliche Besuche abgestattet hatte. Claire fand dies sehr merkwürdig und wusste obendrein, dass sich auch die Dienerschaft darüber wunderte. Pierre, der Jyliere bereits seit zwanzig Jahren treu ergeben war, hatte verlauten lassen, dass etwas Vergleichbares noch nie geschehen war. Viele fragten sich, was da wohl vor sich ginge. Gab es möglicherweise wieder Auseinandersetzungen mit dem Nachbarland, so wie es Jahre zuvor schon gewesen war? Möglich war es schon, dennoch war Claire aus irgendeinem Grund noch nicht hundertprozentig überzeugt.
 

„Du bist ein wahrer Engel, mein Schatz.“ Seine dürren Finger legten sich um den Becher.

„Für dich tu ich doch alles“, sagte Claire, während sie mühsam versuchte, nicht rot zu werden. „Aber erzähl, wie war dein Aufenthalt in Fielle? Was wollte dein Freund von dir?“

Jyliere ließ sich stöhnend auf seinen gepolsterten Lieblingssessel fallen. Er schwieg einen Moment und Claire wurde klar, dass er sich in Ruhe seine Worte zurechtlegte und abwog, was er seiner Ziehtochter offenbaren konnte und was nicht. Claire war darüber nicht empört, sie war es schon zur genüge von ihm gewohnt. Jyliere trug mehr Geheimnisse mit sich herum, als eine ganze Familie in hundert Jahren zusammentragen konnte.

„Fielle hat sich nicht verändert“, begann Jyliere, nachdem er vorsichtig an der Milch genippt hatte. „Immer noch ein verschlafenes und ruhiges Dörfchen, voller Frieden und Harmonie. Ganz anders als das überfüllte Rashitar. Bei Gelegenheit werde ich dich mal mitnehmen und es dir zeigen. Es wird dir sicherlich gefallen.“

Claire lächelte. Sie hatte noch nicht allzu viel von der Welt gesehen, geschweige denn ganz Mystica, und ließ sich keine Chance entgehen, dies nachzuholen.
 

„Mein alter Freund Baptiste . . . er ist immer noch ein nervtötender Besserwisser“, sagte Jyliere grinsend. Claire erkannte, wie sehr es ihn mit Freude erfüllte, an diesen bestimmten Menschen zu denken. „Er glaubt immer, der einzige Mann auf Erden zu sein, der die Wahrheit sieht. Seine Theorien sind mitunter sehr amüsant.“ Jyliere räusperte sich kurz. „Aber genug von mir. Erzähl mir, was dir alles widerfahren ist. Wie ich sehe, hast du die Aufgabe, die ich dir gestellt habe, spielend gemeistert. Hier scheint alles in bester Ordnung zu sein.“

Claire entging nicht, dass der alte Magier absichtlich außen vor ließ, was sein Freund Baptiste eigentlich nun so Dringendes von ihm gewollt hatte, doch sie drängte ihn nicht. Jyliere würde es zu gegebender Zeit sicherlich berichten, sofern er dieses Geheimnis nicht zu den anderen hinzufügen wollte. Außerdem brannte Claire darauf, von ihren Erlebnissen zu berichten.

„Es lief alles bestens, wie du schon gesagt hast“, meinte sie stolz. „Ein Haus in Schuss zu halten ist gar nicht so schwierig, solange man fleißige Helfer hat.“

Jyliere grinste. „Ich hoffe nur, du warst nicht zu gemein zu unseren Dienern.“

„Ich habe sie behandelt, wie es ihnen zusteht“, sagte Claire. „Sie arbeiten am effizientesten, wenn sie Respekt vor einem haben. Glückliche und rundum zufriedene Diener sind mitunter etwas träge. Man muss sie . . . anspornen.“
 

Jyliere trank einen großen Schluck Milch und entgegnete nichts. Claire wusste, dass der Magier in dieser Hinsicht nicht unbedingt ihre Meinung teilte, doch heute schien er nicht ganz bei der Sache zu sein. Sein Blick schweifte immer wieder zum Fenster und seine Augen waren nach innen gerichtet, tief versunken in Gedanken. Er schien besorgt.

„Wie geht es Neyo?“, fragte er plötzlich.

„Wie bitte?“ Claire zuckte schon bei der Erwähnung dieses Namens zusammen. Erneut sah sie sein spöttisches Lächeln, seine höhnisch funkelnden Augen.

„Geht es ihm gut?“, bohrte Jyliere weiter. Sein Tonfall klang irgendwie etwas merkwürdig, als würde er die Worte mit Bedacht auswählen. „Hat er sich in letzter Zeit . . . nun ja, seltsam verhalten?“

„Seltsam?“ Claire schnaubte empört. Endlich gab es eine Gelegenheit, ihren Ärger Luft zu achten. Eigentlich hatte sie Jyliere erst später damit behelligen wollen, da ihn die Reise augenscheinlich ziemlich mitgenommen hatte, aber nun konnte Claire nicht mehr an sich halten. „Er ist äußerst unverschämt geworden, schlimmer als je zuvor. Er hat mich erst vor einer halben Stunde schrecklich beleidigt und hört obendrein nie auf das, was ich sage. Er hat keinerlei Respekt, Jyliere.“

Der alte Mann lächelte matt, was Claires nur noch wütender machte. „Er ist nun mal so“, meinte Jyliere. „Ein Freigeist, ein Rebell. Man kann ihn nicht einsperren.“

Claire rümpfte die Nase. „Er hat doch schon mal im Kerkerverlies gesessen. Meiner Meinung nach hätte er ruhig etwas länger dort bleiben sollen, dann wär er nicht so verkehrt geraten.“

Jylieres Miene verfinsterte sich, als er seine Ziehtochter eindringlich musterte. „Sprich nicht von Dingen, von denen du keine Ahnung hast“, warnte er in einem überaus ernsten Tonfall. „Du warst noch nie dort unten und, bei allen Mächten, ich hoffe, dass du das auch nie musst.“
 

Die junge Frau war jedoch noch lange nicht gewillt, das Thema ruhen zu lassen. „Wir sollten ihn trotzdem bestrafen.“

„Bestrafen?“ Jyliere hob eine Augenbraue und sah seine Ziehtochter ungläubig an. Mit so etwas schien er nicht gerechnet zu haben. „Ist das dein Ernst?“

„Natürlich.“ Claire nickte bestätigend. „Mein Vater hat es immer auf diese Art gemacht. Ungehorsame Diener brauchen meist nur eine kleine Schelte, um wieder zur Vernunft zu kommen.“

„Und wie soll diese Schelte aussehen?“, wollte Jyliere wissen.

Claire biss sich unschlüssig auf die Unterlippe. Sie hatte damals nie mitansehen dürfen, welche Methoden ihr Vater bevorzugt hatte, um sich Gehör zu verschaffen, schließlich war sie noch zu jung gewesen. Sie wusste nur, dass diese besagten Diener danach ein komplett anderes Verhalten an den Tag gelegt hatten. Sie waren getreu und willig gewesen, nur wenige waren in ihren alten Ungehorsam zurückgefallen. Die meisten von ihnen waren mit gesenkten Kopf durch die Flure gehuscht und stillschweigend ihrer Arbeit nachgegangen.

„Ich weiß nicht genau“, gab sie zu. „Vielleicht einige Tage Hausarrest auf Brot und Wasser. Oder . . . einige belehrende Peitschenhiebe.“

Jyliere lachte plötzlich dröhend, sodass Claire erschrocken zusammenfuhr. „Na fein, wie du willst. Nimm die Peitsche und hol dir Neyo.“

„Was?“ Claire spürte, wie ihre Stimme versagte. Glaubte er etwa allen Ernstes, dass sie die Bestrafung selbst durchführen würde?
 

„Wenn du ihn unbedingt auspeitschen möchest, dann musst du das schon selber tun“, sagte Jyliere. Er lehnte sich zurück und nahm Claire scharf ins Visier. „Ich bin ein gutherziger Mensch und kann es nicht ertragen, jemanden anderes wehzutun. Es ist traurig, dass dir das offenbar nichts ausmacht.“

„Aber . . .“ Claire stieg Röte ins Gesicht und sie wusste nicht mal, warum. Ihr Vater hatte es als selbstverständlich angesehen, respektlose Bedienstete zu bestrafen, und auch Bekannte aus höhergestellten Kreisen konten daran nichts Verwerfliches erkennen. Sie taten es schließlich selber andauernd. Wieso also nicht Jyliere?

„Ich kann mir denken, was dir gerade durch den Kopf geht.“ Jylieres Stimme klang plötzlich erschöpfter als jemals zuvor. „Aber es ist die Achtung und die Liebe für andere Menschen, die uns von Dämonen unterscheidet. Wenn wir uns dazu hinreißen lassen, Personen zu unterdrücken und zu missbrauchen, sind wir nicht besser als diese bösartigen Kreaturen. Verstehst du, was ich meine?“

Claire schaute unsicher drein und wusste nicht genau, was Jyliere nun von ihr hören wollte. „Willst du damit etwa sagen, dass die komplette Adelsschicht, inklusive unseres hochgeschätzten Oberen, sich im Grunde nicht von Dämonen unterscheidet?“
 

Jyliere seufzte. Es schien im offensichtlich schwerzufallen, überhaupt beim Thema zu bleiben. Claire erkannte, dass er es sehr bereute, das Gespräch in solch eine Richtung gelenkt zu haben. „Natürlich nicht. Es ist nur . . .“ Er starrte in seine Milch, doch in Wahrheit waren seine Gedanken ganz woanders. „Ich bin müde, mein Schatz. Könnten wir das auf später verschieben?“

„Sicher.“ Claire war augenblicklich aufgesprungen. Aus irgendeinem Grund war ihr Jyliere Anwesenheit plötzlich etwas unangenehm geworden, sodass die Aussicht, sein Gemach zu verlassen, sie mit Erleichterung erfüllte. Es lag nicht etwa daran, dass er sie gescholten hatte, weil sie Neyo hatte bestrafen wolen – nein, daran lag es wirklich nicht! Sie hatten schon öfter über dieses Thema gesprochen und Claire hatte immer ehrgeizig und leidenschaftlich ihren Standpunkt verteidigt. Eines Tages, so hatte sie es sich vorgenommen, würde sie den Magier davon überzeugt haben, dass ein etwas strengerer Umgang mit der Dienerschaft durchaus lohnend sein würde. Dies war ein Ziel, das sie sich selber auferlegt hatte.

Nun aber stimmte etwas nicht. Jyliere war erschöpft und hing mit seinen Gedanken offenbar immer noch bei den Ereignissen in Fielle. Er schien sich irgendwie Sorgen zu machen, worum auch immer, und dies war etwas, was Claire stutzen ließ. Jyliere war eine geborene Frohnatur und hatte selbst in den schlimmsten Zeiten nie seinen Humor verloren. Manchmal konnte dies recht aufmunternd wirken, ab und zu war es aber auch sehr lästig. Claire war sich nie ganz sicher gewesen, was sie von diesem Optimismus halten sollte.
 

Doch nun, da jede Heiterkeit aus seiner Stimme verschwunden und die Sorgenfalten tiefer als je zuvor erschienen, musste Claire zugeben, dass es ihr irgendwie etwas mulmig wurde. Sie konnte das Gefühl nicht recht benennen, aber sie hatte schon immer eine Art sechsten Sinn besessen. Diese Begabung war in ihrer Familie von Generation zu Generation weitervererbt worden und machte es ihr möglich, Stimmungsschwankungen in der Luft wahrnzunehmen, mochten sie auch so unbedeutend sein.

„Ruh dich aus, Jyliere“, sagte Claire. „Ich lasse dir später etwas Essen kommen.“

„Hab Dank.“ Er lächelte, doch es wirkte gezwungen.

Claire mühte sich ebenfalls ein Lächeln ab, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und verließ anschließend sein Zimmer.

Während sie langsam den Gang entlangschritt, spukten ihr tausend Fragen durch den Kopf. Wieso war Jyliere so besorgt? Was konnte ihn so dermaßen deprimieren, dass er nicht mal auf seinen eigenen Gesundheitszustand achtete? War möglicherweise jemand gestorben und die Trauer über den Verlust ließ Jyliere langsam verzweifeln? Oder war gar eine Gefahr in Anmarsch und der Magier sah keinen Weg, sie abzulenken? Oder sah er vielleicht einen Weg, der ihm nur nicht sonderlich gefiel?

Claire hatte keine Ahnung und das Rätselraten bereitete ihr bereits Kopfschmerzen. Was auch immer Jyliere bekümmerte, soviel stand fest, es konnte absolut nichts Gutes verheißen.

Unheilvolle Schatten

Jyliere war vor den Spiegel getreten und betrachtete sich selbst. Er drehte sich von einer Seite auf die andere und begutachtete missmütig seinen Körper. Noch vor einem Monat war er ein stattlicher Mann gewesen, nicht zu dünn und nicht zu dick. Er hatte herrlich geschmaust und für seine Ungeniertheit sogar den ein oder anderen vorwurfsvollen Blick seitens Claire auf sich genommen. Sein Koch, Gustav, war ein wahrer Meister in seinem Fach, sodass es Jyliere stets schwergefallen war, sich zurückzuhalten.

Aber nun hatte sich alles geändert. Seit er diesen Brief erhalten hatte, geschrieben von einem Getreuen, der an der Südgrenze Mysticas, am Schwarzgebirge, stationiert war, war nichts mehr so, wie es war. Anfangs hatte Jyliere es leugnen wollen und auch Te-Kem selbst hatte es für unmöglich gehalten. Noch nie, in ihrer langen Geschichte, war etwas Vergleichbares geschehen.

Doch inzwischen hatte die Realität sie eingeholt und sie hatten herausgefunden, dass die Beobachtungen, die am Schwarzgebirge gemacht worden waren, der Wahrheit entsprachen. Man hatte Zeugen befragt, Erkundungen gemacht, nach Beweisen gesucht – schließlich war man fündig geworden. Zunächst war es nur ein bedrohlicher Schatten gewesen, doch inzwischen fand selbst der geschickteste Redner und Täuscher keine Gegenargumente mehr. Die Schatten hatten sich in festes Mauerwerk verwandelt, unumstößlich. Gerüchte waren zu Tatsachen geworden.

Jyliere wurde das Herz schwer, als er daran dachte. Selbst Te-Kem war ratlos und wusste nicht genau, was er tun sollte. Seine Zauberkräfte und sein weit verbreitetes Netzwerk von Kriegern und Spionen hatten bis jetzt keine nennenswerte Erfolge erzielen können. Schließlich hatte niemand damit gerechnet, es hatte jedermann völlig unvorbereitet getroffen.
 

Die Suche nach Hinweisen und die Vorbereitungen für die Verteidigungen liefen auf Hochtouren, aber gleichzeitig hatte der Obere darauf bestanden, nichts der Öffentlickeit preiszugeben. Er wollte eine Massenpanik verhindern, die zweifelsohne ausgebrochen wäre. Jyliere fand es unnötig mühsam, im Dunkeln zu arbeiten, doch er konnte Te-Kems Bewegunggründe verstehen und wollte ihm nicht im Wege stehen. Der Obere würde zusätzliche Belastung wahrscheinlich nicht verkraften, ihm glitt sowieso nach und nach alles durch die Finger.

Jyliere fühlte sich ebenso hilflos. Anfangs war er optimistisch gewesen, dass die Gefahr abzuwenden wäre. Schließlich hatten sie auch vor Jahren die Barbaren aus dem Nachbarland vertrieben, im Grunde war die derzeitige Situation nicht viel anders. Aber mit der Zeit musste er erkennen, dass sie beinahe machtlos waren.

Der Feind überschwemmte das Land, ließ hier und dort hässlich entstellte Leichen zurück und hielt sich im Verborgenen. Diese Wesen waren es gewohnt, in der Finsternis zu verharren, bevor sie erbarmungslos zuschlugen. Ihre Fähigkeiten waren übermenschlich und so etwas wie Mitleid kam in ihrem Vokabular nicht vor. Sie kannten nur die Sprache der Unterwelt, der unermesslich schrecklichen Hölle.
 

Was wollen sie bloß hier? Was suchen sie hier, was sie woanders nicht auch finden können?

Tief in seinem Inneren wusste Jyliere die Antwort, doch es widerstrebte ihm, bloß daran zu denken. Es war eine alte Legende, die nur die hochgestellten Magiers Mysticas kannten. Ein Mythos und doch die Wahrheit. Aber genau wie Jyliere verschloss sich Te-Kem davor. Seine Familie hatte damals zuviel verloren, um sich daran zu erinnern. Das Geheimnis war vergraben, tief in der Erde Rashitars. Niemand sollte es aufwecken oder je erwähnen. Die Magier bekamen diese Geschichte nur einmal in ihrem Leben zu hören, danach wurde nie wieder darüber gesprochen.

Jyliere hatte es schon beinahe vergessen gehabt, doch als die Wahrheit ans Tageslicht gekommen war, hatte es ihn getroffen wie ein Blitz. Er war zusammengesackt und hatte zum ersten Mal in seinem Leben bittere Tränen geweint. Er hatte das Ende Mysticas und ihrer Bewohner betrauert, welches in nicht allzu ferner Zukunft eintreffen würde.

Natürlich hatten seine ersten Gedanken Claire gegolten. Ihr herzliches Lachen, ihre strahlende Augen, ihr zartes Wesen – all dies schätzte und liebte er so sehr, dass er es gar nicht beschreiben konnte. Wie würde er es ertragen können, sollte ihr etwas zustoßen? Würde er es überhaupt ertragen können oder würde er elendlich an seiner Trauer zugrunde gehen?
 

Klopfen an der Tür unterbrach seine düsteren Gedanken, wofür er im Endffekt auch sehr dankbar war. Die Dunkelheit vor seinem geistigen Auge verschwand und machte einem wärmenden Licht Platz. Neyo trat ein, mit gesenkten Kopf, in seiner Hand ein dickes Buch, das augenscheinlich schon mehrere Jahrzehnte hinter sich hatte.

„Pierre sagte, du hättest nach diesem Buch verlangt“, meinte der junge Mann knapp.

Jyliere musterte ihn und wie immer überkam ihm eine Welle des Stolzes, wenn er Neyo vor sich sah. Als er den jungen Burschen vor Jahren im Gefängnis entdeckt hatte, war er abgemagert und ohne jede Hoffnung gewesen. Seine Augen, leer und hohl, hatten in einem erschreckendem Glanz geleuchtet. Er war ein Junge gewesen, der teilsnahmlos auf seinen Tod gewartet hatte. Aussicht auf Rettung schien er nie gehabt zu haben.

Jyliere konnte dies verstehen, schließlich war Neyo Zeit seines Lebens auf sich allein gestellt gewesen. Der Magier hatte dem jungen Kerl nie viel Informationen aus der Vergangenheit entlocken können, dennoch war ihm bewusst geworden, dass Neyo einiges durchlitten hatte. Die Erfahrungen mit dem Tod waren ihm buchstäblich im Gesicht geschrieben. Die Armut und die Einsamkeit hatten ihn aufgefressen und schließlich nur noch eine leere Hülle zurückgelassen.
 

Jyliere hatte es schwer gehabt, dieses Gefäß wieder zu füllen, doch er hatte all seine Konzentration und Anstrengung auf den neuen Jungen in seinem Leben gelenkt. Neyo hatte es zunächst nicht begriffen, dass ihm jemand hatte helfen wollen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. So etwas wie Mitgefühl, Vertrauen oder gar Liebe hatte er nicht gekannt. Er war anfangs oft ausgebüchst und hatte Jyliere offenkundig sehr misstraut. Es hatte zwar keine Feindseligkeit zwischen ihnen geherrscht, dennoch war dem Magier klar gewesen, dass Neyo ihn für eine falsche Schlange gehalten hatte, die irgendwann ihre wahre Absichten offenbaren würde.

Jyliere hatte es sehr viel Mühe gekostet, den Jungen vom Gegenteil zu überzeugen, doch irgendwann war es ihm gelungen. Der Magier konnte zwar im nachhinein nicht mehr genau bestimmen, wie er es geschafft hatte, doch nur das Ergebnis zählte. Nach und nach, in ganz langsamen Schritten, hatte Neyo begonnen, ihm zu vertrauen und ihn als Freund anzusehen.

Diese Leistung – das Herz eines vereinsamten und verzweifelten Jungen zu erweichen und für sich zu gewinnen – war bis jetzt das Größte, das er je zustande gebracht hatte, so fand zumindest Jyliere. All seine Magie, die er zum Wohle des Landes eingesetzt hatte, all die Leben, die er gerettet hatte . . . dies war im Vergleich geradezu ein Kinderspiel gewesen.

Neyo war damals und auch noch manchmal heute die Herausforderung seines Lebens.
 

Inzwischen war aus ihm ein recht passabler Mann geworden, dem die Frauen scharenweise hinterherschauten. Seine Haut war einige Nuancen dunkler als bei den meisten (Jyliere vermutete, dass zumindest eines seiner Elternteile aus einem entfernten Land stammen musste), sein Haar pechschwarz und gelockt und sein Körper durchtrainiert. Die weibliche Welt lag ihm geradezu zu Füßen, von der einfachen Magd bis hin zu den adeligen Damen, die ihre Bewunderung jedoch stets zu verbergen versuchten, da Neyo für sie immer noch die Stellung eines Küchenjungen und ehemaligen Diebes einnahm.

Neyo jedoch schien diese Beachtung kaum wahrzunehmen, zumindest interessierte es ihn nicht sonderlich. Er hätte, wenn er gewollt hätte, alle Frauen haben können, nach denen es ihm verlangte, aber aus irgendeinem Grund hielt er sich zurück. Es machte beinahe den Eindruck, als wartete er auf etwas weitaus Größeres, als die Zuneigung eines hübschen Mädchens zu gewinnen.
 

„Du hättest dir nicht die Mühe machen sollen, es mir zu bringen“, meinte Jyliere. Er riss es Neyo dennoch schnell aus den Händen, als könnte das Buch den jungen Mann plötzlich unvermittelt anfallen. „Pierre hätte es erledigen können.“

„Aber er hat es mir aufgetragen“, widersprach Neyo, immer noch den Blick gesenkt. „Er ist die ältester und getreuster Diener, ich kann ihm doch nichts abschlagen.“

Jyliere runzelte verblüfft die Stirn. Er hatte Neyo noch nie dermaßen unterwürfig reden hören, normalerweise nahm er kein Blatt vor den Mund. Bei aller Magie, was hat Claire bloß mit ihm angestellt?, dachte er.

Claire hatte es nie über sich gebracht, Neyo als gleichgestellten Menschen anzuerkennen. Sie sah in ihm lieber einen niederen Diener, der widerstandslos Befehlen zu gehorchen hatte. Sie behandelte ihn herablassend und ohne den geringsten Respekt.

Jyliere hatte dies bloß für eine Phase gehalten, vielleicht auch für eine Art Spielchen, und gedacht, dass Claire sich bald wieder einkriegen würde, doch es schien genau ins Gegenteil zu laufen. Das Mädchen war verbissener denn je und schien sich durch Jylieres Zurückhaltung sogar noch bestätigt zu fühlen. Kein Wunder also, dass sie unverblümt vorgeschlagen hatte, Neyo zu bestrafen. In den letzten beiden Wochen war der junge Mann Claire ausgeliefert gewesen und Jyliere konnte sich bereits denken, dass es heftige Streitereien gegeben hatte. Die beiden hatten sich noch nie über längere Zeit vertragen.

Jyliere fand diesen Umstand sehr traurig. Er liebte Claire wie eine Tochter und auch Neyo war ihm sehr ans Herz gewachsen. Es betrübte ihn, dass die zwei sich nicht zusammenraufen und Frieden schließen konnten.

Das liegt vor allem an Claires unglaublichen Dickschädel, dachte Jyliere.
 

„Neyo“, sagte der Magier in einem besänftigenden Tonfall. „Du bist kein Diener.“

Neyo sah auf, doch seine Miene war ausdruckslos. „In den letzten Wochen schon“, erwiderte er. Die Kränkung war ihm plötzlich deutlich im Gesicht geschrieben.

Jyliere seufzte. „Ich werde mit Claire reden. Versprochen.“

„Und worüber?“

„Darüber, dass du ein Bewohner dieses Hauses bist und kein Diener“, sagte Jyliere. „Sie muss dich mit dem nötigen Respekt behandeln.“

„Sie wird nicht auf dich hören“, erwiderte Neyo. „Sie ist ein Sturkopf, ein –“ Er hielt noch rechtzeitig inne, ehe er eine verletzende Beleidigung ausstoßen konnte, die ihm offenbar auf der Zunge gelegen hatte. „Du hast es schon so oft versucht, aber sie scheint es für einen Scherz zu halten.“

„Es ist die Welt, in der sie lebt“, versuchte Jyliere, zu erklären. Er merkte selbst, wie wenig überzeugend er klang. „Die Gesellschaft wird in verschiedene Schichten aufgeteilt und auch ich kann daran nichts ändern. Claire hat zu lange in diesem Umfeld gelebt, ehe sie zu mir kam. Sie war bereits geprägt durch ihren Vater, ihre ganze Umgebung.“

Neyo bedachte ihn mit einem undefinierbaren Blick. „Willst du dich etwa für sie entschuldigen?“

„Ich werde mit ihr reden“, wich Jyliere der Frage aus. „Und nun geh bitte, ich bin sehr müde. In der Küche wird gerade gekocht, vielleich kannst du schon etwas abstauben. Du brauchst nur die Mägde zu becircen und du bekommst alles, was du willst.“

Neyo grinste. „Eine gute Idee.“ Er drehte sich gerade um, da verharrte er noch einen Augenblick und sagte zu dem alten Magier: „Ich bin froh, dass du wieder da bist. Du hast uns allen sehr gefehlt.“
 

Jyliere hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, die in diesem Moment hervorzubrechen drohten. Neyo schenkte ihm noch ein letztes Lächeln und verschloss die Tür hinter sich. In seinen Augen hatte der alte Magier kein Anzeichen dafür finden können, ob er begriffen hatte, wie sehr diese Worte Jyliere rührten.

Auch als Claire ihm zum ersten Mal ihre Zuneigung gestanden hatte, hatten dem Magier jegliche Worte gefehlt. Er war so bewegt und geschmeichelt gewesen, dass er sie kurzerhand einfach in den Arm genommen hatte. Dieses Ereignis, so hatte er im nachhinein realisiert, hatte die Grenzen zwischen ihnen endgültig gesprengt.

Neyo hingegen war schwerer zu meistern gewesen als Claire. Sein angeborenes Misstrauen hatte es im untersagt, irgendwelche Gefühle für den alten Knacker zu entwickeln, der sich so aufopfernd um ihn kümmerte. Er hatte hinter allem eine Finte gesehen, überall nur Fallen und Lügen.

Irgendwann aber – nach einer schier endlos langen Zeit – war das Eis nach und nach gebrochen. Dennoch sprach Neyo seine wahren Gefühle nur selten aus, was aber wahrscheinlich inzwischen eher daran lag, dass sich Männer grundsätzlich bedeckt hielten. Darum war jede Liebesbekundung ausgesprochen selten und Jyliere hütete sie wie einen Schatz.
 

Diese beiden Menschen bedeuten mir so unheimlich viel, dachte er, während allmählich die Verzweiflung zurückkehrte, die Neyo für einen kurzen Moment verscheucht hatte. Ich kann sie doch nicht einfach sterben lassen.

Nein, das konnte er gewiss nicht.

Jyliere legte das Buch, das ihm Neyo gebracht hatte, mit einer geradezu übertrieben wirkenden Vorsicht auf den großen Schreibtisch. Es war in einem einfachen, dunkelbraunen Lederband gehalten welches nicht im geringsten den grausamen Inhalt widerspiegelte. Es erschien harmlos, bloß wie ein weiteres Lexikon, die Jyliere zur Genüge in seiner Bibliothek angehäuft hatte.

Jyliere fuhr mit den Fingerspitzen über die Gravur auf der oberen Mitte des Deckels. Ihm war bewusst, dass die Welt der Gewöhnlichen, weit dort draußen hinter dem Schwarzgebirge, nicht mal im entferntesten wusste, was ein Buch überhaupt war, somit war es umso erstaunlicher und auch unbegreiflicher, dass dieses Werk aus eben dieser Region stammte. Ein Magier hatte es vor mehr als hundert Jahren nach einer langen Reise nach Mystica mitgebracht. Ein junger Mann, augenscheinlich ein höhergestellter Herr, hatte es ihm wortlos in die Hand gedrückt und war daraufhin verschwunden. Niemand hatte ihn je wieder gefunden oder von ihm gehört.

Das Schwierigste war gewesen, die Sprache zu entschlüsseln. Es war wie eine Art Code angelegt, eine Sammlung aus unterschiedlichen Symbolen, Buchstaben und Zahlen, die für ein ungeübtes Auge keinen Sinn ergaben. Es hatte mehr als fünfzig Jahre gedauert, bis die hohen Magier das Buch endlich hatten lesen können.
 

Inzwischen wünschten sich einige von ihnen, dass sie dies wieder rückgängig machen könnten. Das, was in dem Buch stand, hatte sie zutiefst erschüttert und ihre Moralvorstellungen schwer in Frage gestellt. Selbst heute noch graute es den wenigen Magiern, die die Sprache beherrschten, überhaupt den Titel des Buches zu lesen. Sie hielten es für ein schlechtes Omen, für ein ungutes Zeichen von Göttern, Dämonen oder sonstigen Gestalten. Man hatte sogar überlegt, es zu verbrennen, doch Jyliere hatte sich noch rechtzeitig eingeschaltet und das Buch an sich genommen.

Jyliere wusste auch nicht mehr so genau, was ihn überhaupt dazu getrieben hatte, dieses Ding vor den Flammen zu retten. Damals hatte er es für eine gute Idee gehalten, doch inzwischen war es sich nicht mehr so sicher. Das Buch mochte vielleicht ein reicher Fundus an unschätzbaren Wissen sein, aber andererseits umgab es auch eine Art unheimliche Aura, die sich niemand so recht erklären konnte. Es war wahrhaftig ein Buch der Magie, doch ganz gewiss keiner guten Magie.

Jyliere las den Titel und spürte, wie ihn erneut Ehrfurcht und auch ein wenig Panik erfüllte. Das Buch der Zukunft, stand dort in schwarzen, reich verzierten Lettern.
 

Das Buch der Zukunft – das war es wirklich, zumindest wenn man dem Inhalt Glauben schenkte. Es erzählte zwar auch haargenau vergangene Ereignisse, doch größtenteils bezog es sich auf Geschehnisse, die noch passieren würden.

Anfangs, als man das Buch nach und nach übersetzt hatte, hatte man es für einen dummen Scherz gehalten, sodass einige jegliches Interesse daran verloren hatten, es überhaupt weiter zu entschlüsseln. Man hatte es für ein simples Märchenbuch gehalten und die Enttäuschung war groß gewesen. Viele hatten sich Hoffnungen gemacht, etwas Einzigartiges und Erstaunliches in den Händen zu halten, aber nach ihrer ernüchternden Erkenntnis hätte es ebenso gut das Werk eines verzogenen Bengels sein können, der sich einen Spaß daraus machte, andere an der Nase herumzführen.

Doch dann war etwas geschehen, womit niemand gerechnet hatte.

Mehrere der Prophezeiungen, die in dem Buch erwähnt wurden, waren plötzlich in Erfüllung gegangen. Es hatte von einem Sturm erzählt, der halb Mystica stark in Mitleidenschaft ziehen würde . . . und so war es dann auch passiert! Auch den Angriff der Barbaren aus dem Nachbarland vor mehreren Jahren hatte es vorausgesehen.

Einzigartig war dieses Buch auf jeden Fall, dennoch hatte man sehr bald entschieden, es loszuwerden. Die Prophezeiungen berichteten allesamt von Katastrophen, Seuchen, Kriegen oder gar den Untergang ganzer Reiche. Selbst das Ende Mysticas war dort vermerkt, welches etwa in fünfhundert Jahren eintreffen sollte. Spätestens nach dieser Entdeckung hatte sich selbst der ehrgeizigste Magier davon abgewandt. Dies war eine Zukunft, von der niemand etwas wissen wollte.

Neben all den Schreckensberichten gab es aber auch eine schier endlos lange Liste von Feinden und Dämonen, sowohl aus der Vergangenheit, als auch aus der Gegenwart und Zukunft. Ihr Leben und ihr Sterben waren dort verzeichnet, ebenso wie ihre abscheulichen Gräueltaten. Schon allein beim Lesen wurde einem speiübel und man fragte sich, wie Menschen – und auch Dämonen – nur so etwas zustande bringen konnten, ohne an ihren Gewissensbissen zugrunde zu gehen. Man musste schon ohne Seele sein, um etwas Vergleichbares tun zu können.
 

Jyliere schlug die Seiten auf. Er spürte, wie seine Fingerspitzen zu kribbeln begannen, als würde das Buch selbst eine mystische Magie abgeben, doch Jyliere ignorierte es. Er fühlte dies jedes Mal und es störte ihn inzwischen nicht mehr.

Er blätterte es unaufhaltsam durch, vorbei an all den Ereignissen, die bereits geschehen waren. Vorbei an Kriegen, Intrigen und Meuchelmorden. Vorbei an den Schrecknissen der Menschheit, die des öfteren dermaßen grausam waren, das Jyliere diese Leute beruhigt zu der Kategorie Dämonen zählen konnte, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen.

Schließlich hielt er inne. Vor ihm war eine Seite aufgeschlagen, die sich nicht weiter von den anderen unterschied, wenn man die Sprache nicht lesen konnte.

Jyliere erinnerte sich plötzlich wieder an Baptistes ernsten Gesichtausdruck, als er seinen Freund gebeten hatte, im Buch der Zukunft nach eben jenen Kapitel zu suchen. Im Gegensatz zu den anderen Magiern hatte sich der etwas exzentrische Mann niemals vor diesem Werk verschlossen oder es aus seinem Herzen verbannt. Er entsann sich immer wieder an einzelne Passagen und auch diese, die nun vor Jyliere aufgeschlagen war, hatte er noch sehr gut im Kopf behalten. Dennoch hatte er Jyliere gebeten, sich selbst ein Bild zu machen. Baptiste hatte es zwar nicht gesagt, aber er schien Angst davor gehabt zu haben, die Worte, die er vor so endlos langer Zeit gelesen hatte, zu wiederholen.

Jyliere entschlüsselte Wort für Wort, Symbol für Symbol. Als er schließlich damit fertig war, sank er kraftlos zu Boden und zitterte am ganzen Leibe.

Nie hätte er es gedacht. Nie hätte er damit gerechnet, dass es so schlimm werden würde.
 

* * * * *
 

„Hast du gesehen, wie dünn er war? Er sieht echt nicht gut aus.“

Catherine saß Neyo gegenüber und beugte sich weiter vor, damit er sie besser verstehen konnte. Sie befanden sich in der Küche, hatten auf den unbequemen Holzbänken Platz genommen und versuchten hartnäckig, den Trubel und den Lärm, der rings um sie herrschte, zu ignorieren. Doch dies war, so bemerkte Neyo, ein schier unmögliches Unterfangen. Küchenjungen klapperten mit Töpfen und Geschirr, die Mägde schrien unaufhörlich Kommandos und Gustav, der Koch, grölte wie so üblich ein äußerst anzügliches Lied, wenn er mal wieder in seinem Element war.

Neyo musste grinsen. Es mochte alles chaotisch wirken, dennoch stimmte es ihn heiter. Er vergaß Claire arroganten Gesichtsausdruck und Jylieres geradezu leidliche Miene und verlor sich ganz im Trubel dieser Menschen. Menschen, die über die Jahre hinweg zu guten Freunden geworden waren.
 

Neyo spießte sich ein Stück Lammfleisch auf und schob es in den Mund, wo es genüsslich auf der Zunge zerging. Gustav hatte ihm zunächst nichts von seinem vorzüglichen Mahl abgeben wollen, doch nachdem seine reizende Tochter Catherine ihn mit Worten und einem geradezu hinreißenden Augenaufschlag betört hatte, war jeglicher Widerstand versiegt.

Nun saß Catherine ihm gegenüber und in ihren Augen konnte er lesen, dass sie eine Art Wiedergutmachung von ihm erwartete. Sie war siebzehn und eine wahre Augenweide, keine Frage, und sie wusste es, ihre Reize perfekt einzusetzen. Im Gegensatz zu der zugeknöpfen Claire hatte sie stets offenherzige Kleider bevorzugt, die mehr zeigten als verhüllten. Ihr tiefschwarzes Haar trug sie offen und schüttelte es dann und wann, um die willenlose Männerwelt gefügig zu machen. Einzig die Erinnerung an ihren herrischen und temperamentvollen Vater hielt die Herrschaften zurück, wie wilde Tiere über sie herzufallen.

Neyo konnte es sehr gut verstehen, dass viele ihr Herz an Catherine verloren hatten, doch er gehörte nicht dazu. Er hatte sie als kleines Kind kennen gelernt und fühlte sich immer noch wie ein großer Bruder für sie. Die Vorstellung, ihren Annäherungsversuchen entgegenzukommen widerte ihn geradezu an. Dennoch, obwohl sie seine Zurückhaltung eigentlich bemerken musste, ließ sie nicht locker. Anstatt sich den Kerlen hinzugeben, die schon bei ihrem Anblick hemmungslos zu sabbern begannen, hatte sie sich einem Mann verschrieben, der in dieser Hinsicht gar nichts von ihr wissen wollte. Aber so war Catherine nun mal, sie liebte Herausforderungen.
 

„Er wird krank, glaub ich“, meinte Neyo. „Er sah aus, als hätte er keine ruhige Nacht mehr gehabt. Irgendwas beschäftigt ihn.“

„Ich hab ihn noch nie so erlebt“, sagte Catherine. „Er scheint in letzter Zeit richtig besorgt. Irgendwie macht mir das Angst.“

Neyo zuckte mit den Schultern, während er auf einem Stück Kohl kaute. „Das gibt sich wieder.“

„Ach ja?“, erwiderte Catherine, nun etwas gereizt. „Pierre hat mir erzählt, dass Jyliere selbst noch beim Angriff der Barbaren frohen Mutes war.“

Neyo hob ungläubig eine Augenbraue. „Pierre redet mit dir? Du bist die Ausgeburt der Unterwelt, schon vergessen?“

Catherine lief rot an vor Wut. Sie wurde nicht gern daran erinnert, mit welch selbstgefälligen Blick der spießige Pierre sie tagein, tagaus strafte. Für ihn waren Catherine freizügiger Kleidungsstil und ihr unverfrorenes Gebarden ein Zeichen für den Verlust ihrer Seele.

„Na fein, nicht direkt mit mir, aber mit jemand anderen hat er gesprochen und ich war zufällig in der Nähe“, gab sie zähneknirschend zu.

„Das kommt der Realität schon näher“, meinte Neyo schelmisch grinsend.

Doch anstatt sich weiter in ihren Ärger hineinzusteigern, lächelte sie plötzlich. „Du willst mich bloß wieder reizen, nicht wahr? Aber darauf lass ich mich nicht ein.“

„Wie du meinst“, sagte Neyo. Er schenkte der Haushälterin Marie, die schon seit unzähligen Jahren in Jylieres Diensten stand, ein aufmunterndes Lächeln, als diese gestresst an ihnen vorbeihetzte. Sie erwiderte die Geste und war für einen Moment dermaßen abgelenkt, dass sie frontal mit einem schwerbeladenen Küchenjungen zusammenkrachte. Das Scheppern abstürzender Töpfe ließ die ganze Küche für einen Augenblick erstarren.
 

„Du solltest die Damen nicht so becircen, Neyo“, sagte eine tiefe Stimme hinter ihm. „Sie wissen dann gar nicht mehr, was sie tun.“

Neyo brauchte sich nicht umzudrehen, um seinen alten Freund Calvio wiederzuerkennen. Der bärtige Mann von etwa vierzig Jahre ließ sich ächzend neben Neyo nieder und vergriff sich ungefragt an dessen Essen. Während Catherine unwillkürlich das Gesicht verzog, konnte Neyo nur schmunzeln. Typisch für Calvio, irgendwo aufzukreuzen und sich einzumischen, wo es ihm gerade passte.

Während die meisten Calvio für etwas suspekt hielten und eine Art Bandit und potenziellen Meuchelmörder in ihm sahen, hatte Neyo in ihm einen Seelenverwandten gefunden. Auch er hatte lange Zeit auf der Straße gelebt, ehe er bei Jyliere ein Dach über den Kopf gefunden hatte. Und dennoch, obwohl er sich nun in den besten Kreisen befand, hatte sich sein Benehmen nicht im geringsten verändert. Er war ein ungehobelter, ständig fluchender (und er kannte wirklich ausgezeichnete Verwünschungen, bei denen selbst Experten einen roten Kopf bekamen) Trotzkopf, der sich von niemanden etwas sagen ließ. Selbst Jyliere konnte ihm nichts befehlen, sondern nur höflich bitten.

Niemand, auch nicht mal Neyo, konnte sich vorstellen, was den Magier damals gereizt hatte, diesen respektlosen Vandalen in sein Haus mitzunehmen, zumal keiner so genau wusste, was Calvio eigentlich genau für Jyliere tat. Er verschwand manchmal einige Tage und kam dann gutgelaunt zurück, doch er verlor kein einziges Wort darüber. Auch Jyliere hüllte sich in Schweigen.
 

„Wir sind uns gerade am unterhalten, Calvio“, zischelte Catherine gereizt, „falls du überhaupt weißt, was das bedeutet.“

„Aber natürlich weiß ich das.“ Der Mann lachte dröhnend, als hätte sie soeben der größten Witz der Welt erzählt. „Es stellt sich allerdings die Frage, ob du es auch wirklich weißt, oder ob du eher daran interessiert bist, Neyo zu bezaubern und ihn in dein Bett zu kriegen.“

Jede halbwegs anständige Dame wäre bei diesen Worten empört aufgesprungen, hätte Calvio mit einem hasserfüllten Blick gestraft und wäre gekränkt davongestürmt. Doch da Catherine keinen Funken Anstand im Leib hatte, blieb sie sitzen, lächelte sogar geheimnisvoll, als hätte Calvio mit seiner Vermutung gar nicht so Unrecht.

Wahrscheinlich hat er das auch nicht, dachte Neyo betrübt. Catherines Avancen nervten ihn allmählich, doch er wagte es nicht, sie direkt darauf hinzuweisen. Bei diesem Mädchen war man gut damit beraten, seine Stimme zu erheben, wenn man wollte, dass sie einen wenigstens annähernd zur Kenntnis nahm, aber dies hatte wieder zum Nachteil, dass man damit ungewollt Gustav auf den Plan rief, der es ganz und gar nicht leiden konnte, wenn jemand seine geliebte Tochter anschrie. Es rankten sich einige Legenden um diesen hünenhaften Mann, in denen es hieß, er könne das Rückgrat eines anderen mühelos brechen. Neyo war nicht erpicht darauf, herauszufinden, ob dies der Wahrheit entsprach.
 

„Ich seh schon, Neyo ist das Thema unangenehm.“ Calvio schlug seinem Freund dermaßen aufmunternd auf den Rücken, dass er beinahe vornübergekippt wäre. „Also reden wir am besten von was anderem.“ Calvio legte seine Stirn grüblerisch in Falten, was einen wirklich albernen Anblick bot. Sogar Catherine biss sich auf die Lippen, um sich ein Lachen zu verkneifen. „Alsooo . . habt ihr schon bemerkt, dass der große Meister wieder da ist?“

„Ich muss schon sagen, deine Geprächsthemen sind äußerst einfallsreich“, sagte Catherine spöttisch. „Kein Wunder, dass du länger darüber nachdenken musstest.“

Calvio war viel zu guter Laune, um sich auf irgendeine Weise provozieren zu lassen. Er zwinkerte Catherine schelmisch zu und meinte: „Du kennst mich doch, Puppe, ich bin einzigartig.“

„Hast du meine Tochter etwa gerade 'Puppe' genannt?“, schallte es vom anderen Ende der Küche zu ihnen herüber. Gustav starrte Calvio vorwurfsvoll an und schien darüber zu sinnieren, ob er ihn mit dem Messer aufschlitzen sollte oder nicht. Wahrscheinlich war das einzige, was ihn von dieser überstürzten Tat zurückhielt, die Gerüchte, die über Calvio im Umlauf waren. Es hieß nämlich, er wäre der Mörder einiger berüchtiger Piratenführer, die nicht für ihre Feinfühligkeit bekannt gewesen waren. Niemand wusste, ob dies nun stimmte oder nicht, und Calvio machte sich auch keine große Mühe, Klarheit zu verschaffen. Er lächelte immer nur versonnen, wenn dieses Thema angesprochen wurde, weder bestätigte er es, noch widerlegte er es. Er genoss es einfach viel zu sehr, ein mysteriöser und undurchschaubarer Mann zu sein.
 

„Du musst dich verhört haben, mein Freund“, brüllte Calvio zu dem verärgerten Koch herüber. An Catherine gewandt flüsterte er: „Meine Güte, der hat ja Ohren wie ein Luchs. Da muss man ja richtig aufpassen.“

„Unsere Familie verfügt über viele außergewöhnliche Gaben“, meinte Catherine grinsend. Dabei schaute sie vor allen Dingen Neyo an, der mit mürrischer Miene ihrem Blick auswich.

„Wir waren gerade dabei, über Jyliere zu sprechen“, lenkte er rasch das Thema in eine andere Richtung. Ihm dürstete es wenig danach, von Catherines Qualitäten zu hören.

„Richtig“, meinte Calvio, nachdem er dem immer noch wütend dreinblickenden Gustav ein freundliches Lächeln zugeworfen hatte, das in Neyos Augen jedoch alles andere als aufrichtig gewesen war. „Es ist merkwürdig, dass er sich noch nicht hat blicken lassen. Nach seiner Ankunft hat er sich sofort in sein Zimmer zurückgezogen.“

„Sonst begrüßt er uns immer“, sagte Catherine. „Die einzigen, die wirklich mal kurz mit ihm gesprochen haben, waren Pierre und Claire.“ Sie zog demonstrativ ihre Mundwinkel nach unten. „Ich hab sie zufällig auf dem Flur getroffen und gefragt, wie es Jyliere so ginge und ob er bald vorbeischauen würde. Sie hat natürlich sehr freundlich reagiert, wie immer.“

Auch Catherine konnte Claire, wie der Rest des Personals, absolut nicht leiden. Hinzu kam noch, dass sich Claire immer ziemlich ungehalten über Catherines Aussehen und Verhalten äußerte, sodass sogar eine Art Kleinkrieg zwischen den zwei Frauen ausgebrochen war. Es war für Neyo jedesmal ein Hochgenuss, dabei zuzusehen, wie die beiden versuchten, sich gegenseitig mit ihren Blicken zu töten. Catherine war jemand, den Claire noch mehr verachtete als ihn.
 

„Ich hab auch kurz mit ihm gesprochen“, meinte Neyo.

„Tatsächlich?“, fragte Catherine interessiert. „Und?“

Neyo zuckte mit den Schultern. „Er sah mitgenommen aus, was aber, denk ich, kein Wunder ist. Von Fielle zurück ist es ein weiter Weg. Er hat mich kurz darauf abgewimmelt. Hätte ich ihm nicht dieses Buch bringen müssen, hätt ich ihn wahrscheinlich auch nicht zu Gesicht bekommen.“

„Vielleicht hast du ja wirklich Recht und er wird krank“, sagte Catherine besorgt. „Ich weiß gar nicht, wie alt er eigentlich ist. Im Moment sieht er aus wie mein Großvater – kurz, bevor dieser gestorben ist.“ Sie riss plötzlich erschrocken ihre grasgrünen Augen auf. „Oh, bei allen Göttern! Was ist, wenn Jyliere sterben muss? Dann sind wir Claire hilflos ausgeliefert.“

„Er wird nicht sterben, verstanden?“ Calvios Miene war hingegen seiner Natur sehr ernst, als er Catherine anschaute. Diese wich unweigerlich ein Stück zurück. Auch Neyo musste sich eingestehen, dass dieser Gesichtausdruck seines Freundes etwas Merkwürdiges an sich an. „Neyo?“

„Was ist?“

„Du hast gerade erwähnt, dass du Jyliere ein Buch gebracht hast“, meinte Calvio. „Welches war das?“

Neyo runzelte verwundert die Stirn. Warum wollte er das wissen? „Ich weiß nicht genau. Ich konnte die Schrift nicht entziffern. Es waren irgendwelche Symbole, die ich noch nie gesehen habe.“

„Noch nie?“, hakte Calvio nach. Er kratzte sich nachdenklich am Bart. „Dabei bist du so ein schlaues Bürschchen. Beherrschst mehrere Sprachen . . . dennoch konntest du es nicht entziffern.“

Neyo verstand beim besten Willen nicht, worauf Calvio hinauswollte. Er konnte weder lesen noch schreiben und schien auch nie großen Wert darauf gelegt zu haben, es zu erlernen. Neyos Unterricht hatte er müde belächelt und alle Lehrer und Gebildete als „hochnäsiges Pack“ bezeichnet. Für ihn hatte es nie eine große Rolle gespielt. Er verirrte sich nur in Jylieres prachtvolle Bibliothek, wenn er aus Versehen die falsche Abzweigung genommen hatte.

„Warum willst du das wissen, Calvio?“, fragte Neyo, wobei er sich keine Mühe gab, sein Misstrauen zu verbergen.

Sein langjähriger Freund lächelte nur geheimnisvoll. „Ach, nur so. Einfach reines, unschuldiges Interesse.“

Das Grauen rückt näher

Jyliere war klar, dass er die Menschen um sich herum misstrauisch stimmte, aber er hatte es einfach tun müssen. Er benötigte dringend Te-Kems Rat, mehr als alles andere.

Claire und die halbe Dienerschaft hatten ihn mit einem schiefen Blick bedacht, als er, keine drei Stunden nach seiner Ankunft in Rashitar, verkündet hatte, zum Schloss des Oberen aufbrechen zu wollen. Alle hatten verdutzt dreingeschaut, Claire hatte sogar versucht, es ihm auszureden. Er sei zu müde, zu abgekämpft, hatte sie gesagt. Aber ihre Stimme war nicht recht überzeugend gewesen, ihr war von vornherein bewusst gewesen, dass Jyliere sich nicht umstimmen lassen würde.
 

Außerdem, so hatte der alte Magier bemerkt, hatte sie auch ein wenig Angst vor ihm. Nach dem Lesen der schrecklichen Prophezeiung im Buch der Zukunft war er nur unruhig hin- und hergehuscht, beinahe der Verzweiflung verfallen. Sein Gesicht sah nun auch dementsprechend aus – zerzaustes Haar, eingefallende Wangen und ein beinahe irres Glitzern in den Augen. Claire war augenblicklich einen Schritt zurückgewichen, als sie ihn so gesehen hatte.

Was sie wohl alle denken mochten? Sie mussten beunruhigt sein, soviel stand fest. Etwas, das Jyliere nervös machte, musste folglich besonders schrecklich sein. Eine Logik, die trotz ihrer Einfachheit durchaus zutreffend war.

Es würde wirklich schrecklich werden . . .

Und deswegen musste er seine Liebsten beschützen, egal wie. Die Vorstellung, all diese Menschen zu verlieren, weil sie in das Land eingedrungen waren, machte ihn ganz krank. Diese Kreaturen hatten in Mystica nichts verloren, ihr Hiersein war widernatürlich.

Dennoch hatte es sie nicht aufgehalten . . .
 

Te-Kems Gemächer waren prunkvoll eingerichtet, obwohl er eigentlich eine eher bescheidenere Persönlichkeit war. Vor seiner Wahl zum Oberen vor über dreißig Jahren hatte er ein simples Leben geführt, nicht mal Bedienstete hatte er eingestellt, obwohl er durchaus die Mittel dafür gehabt hätte. Stattdessen hatte er unter den Bürgern gelebt und ihre Sorgen und Nöte geteilt. Dies war wahrscheinlich auch einer der Hauptgründe, warum er mit einer solch überwältigenden Mehrheit für dieses Amt gewählt worden war.

Nun saß dieser vom Volk so sehr geschätzte Mann Jyliere gegenüber, das unheilvolle Buch der Zukunft vor sich auf dem Tisch liegend. Die letzten zehn Minuten hatte er schweigend damit zugebracht, die Textpassage zu entziffern, die Jyliere ihm vorgelegt hatte.

Jyliere hatte nach seinem Eintreffen überrascht festgestellt, dass Te-Kem einen ebenso verzweifelten Eindruck erweckte wie er selbst. Seine bleiche Haut und sein gehetzter Blick waren geradezu furchteinflößend, jegliche Hoffnung schien aus seinen Augen verschwunden zu sein. Nur noch Schwärze und eine bedrohliche Leere waren zurückgeblieben, die mit jedem Wort, welches Te-Kem las, noch schlimmer zu werden schien. Es war nicht zu übersehen, dass sich die schlimmsten Träume des Magiers offenbar erfüllt hatten.
 

„Das ist grässlich“, meinte Te-Kem schließlich, als er geendet hatte. Er schaute vom Buch auf, sein Gesichtsausdruck war leidlich.

„Aber es muss nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen“, versuchte Jyliere, den Oberen zu beruhigen. Eigentlich zweifelte er selbst nicht an den Worten, die in diesem ominösen Buch niedergeschrieben worden waren, aber irgendwie missfiel es ihm sehr, Te-Kem in solch einem Zustand zu erblicken. Stets war er ihr großer Anführer gewesen, eine schillernde Figur, die sich durch nichts und niemanden hatte unterkriegen lassen. Es schmerzte Jyliere sehr, seinen alten Freund so zu sehen.

Te-Kem hatte anscheinend schon aufgegeben ... bevor es überhaupt richtig angefangen hatte.
 

„Aufmunterung kannst du dir sparen, du glaubst ja selbst nicht daran“, erwiderte der Obere mit heruntergezogenen Mundwinkeln. „Ich bin am Ende meiner Kräfte, Jyliere, und das weißt du genau.“

„Es ist noch nichts verloren.“ Jyliere merkte, wie wenig überzeugend er klang.

Te-Kem hob argwöhnisch eine Augenbraue. „Ich habe alles versucht, um sie zu erwischen. Wirklich alles. Als sie hier eingedrungen sind und angefangen haben, mein Volk niederzumetzeln, habe ich mein ganzes Können eingesetzt, um sie aufzuspüren. Aber erfolglos.“

Jyliere senkte den Kopf. „Es sind übernatürliche Wesen, ganz anders als wir. Niemand weiß so recht, was genau sie eigentlich wirklich sind.“
 

„Aber dir ist klar, dass sie gegen jegliche Art von Magie immun sind?“, fragte Te-Kem nach. Sein sonst sehr jugendhaft anzusehendes Gesicht – obwohl er bereits auf die sechsig zusteuerte – wirkte müde und abgekämpft. „Nichts, was in unserer Macht steht, könnte sie auch nur im emtferntesten beeindrucken. Sie lachen wahrscheinlich über uns.“

Jyliere konnte nur stillschweigend zustimmen, obwohl er liebend gern das Gegenteil behauptet hätte. Diese Kreaturen waren gegen Magie gewappnet, es störte sie nicht im geringsten. Ob nun offene Attacken oder simple Aufspürzauber – nichts hatte bis jetzt gewirkt. Diese Wesen waren für die Magier vollkommen unsichtbar. Sie bewegten sich unerkannt durch das Land und verbreiteten Angst und Schrecken, wo es ihnen gefiel. Bereits ein Magier war ihnen zum Opfer gefallen. Zwar nur ein mehr oder minder unbedeutender Dorfzauberer, aber immerhin ein Magier. Würde diese Information an die Öffentlickeit gelangen, dann wäre die Massenpanik vorprogrammiert. In der Vorstellung der Bewohner waren Magier unantastbar, unbezwingbar. Würden sie nun erfahren, dass es nicht so war, würde ihr ganzes Weltbild auf einmal zusammenbrechen.
 

„Was ist mit Neyo?“, erkundigte sich Te-Kem, während er gedankenverloren über die Seiten des Buches strich, als könnte er somit den schrecklichen Inhalt einfach löschen. „Irgendeine Veränderung? Irgendwas Auffälliges?“

„Ihm geht's bestens“, sagte Jyliere leichthin, obwohl sich in seinem Inneren alles zusammenzog. „Er ist nur etwas gestresst, weil Claire ihn so hart rangenommen hat.“

Te-Kem schaute mit einemmal auf, sein Blick war ernst. „Du weißt, dass ich von dem Jungen nichts halte. Wieso hast du ihn überhaupt bei dir aufgenommen?“

Jyliere zuckte mit den Schultern. „Ich bin einer inneren Stimme gefolgt ... glaub ich. Ich hab dir doch schon mal erklärt, dass ich nicht beschreiben kann, was mich damals dazu bewogen hat, dieses arme Häufchen Elend mitzunehmen.“

Te-Kem seufzte und richtete seinen Blick wieder auf das Buch. „Aber gib gut auf ihn acht, hast du verstanden? Er könnte alles kaputt machen.“
 

„Oder er könnte auch nicht das geringste damit zu tun haben“, erwiderte Jyliere ein wenig kampfeslustig. Er mochte es nicht, wenn jemand schlecht über Neyo sprach, selbst wenn es der Obere persönlich war. Der Junge war zu einer Art Sohn für ihn geworden, den Jyliere stets zu verteidigen suchte. Schon oft hatte er sich Vorwürfen der feinen Damen und Herren entgegenstellen müssen, die es wenig schicklich fanden, dass sich Jyliere mit Straßengesindel abgab.
 

„Lassen wir dieses Thema ruhen“, meinte Te-Kem abwinkend. Er schien keine Lust zu haben, sich mit seinem Freund zu streiten. „Es gibt Wichtigeres zu besprechen. Einigen Gerüchte zufolge sind die Wesen Richtung Rashitar unterwegs.“

Jyliere nickte. „Das hatte ich mir schon fast gedacht.“

Te-Kem lehnte sich zurück. „Denkst du, sie haben es auf mich abgesehen?“ Er sagte es mit einer vollkommen ausdruckslosen Stimme, dennoch war seine Hoffnungslosigkeit spürbar. Nach wochenlangen vergeblichen Suchens schien er ausgebrannt, am Ende seiner Kräfte.

„Ich weiß nicht“, meinte Jyliere nachdenklich. „Es könnte durchaus sein, obwohl ich bezweifle, dass sie dermaßen größenwahnsinnig sind. Das Schloss ist ausgezeichnet gesichert, nicht nur durch Magie. Sie dürften es schwer haben, hier einzudringen.“

„Dennoch werden sie es versuchen“, sagte Te-Kem überzeugt. „Die Rachegelüste solcher Kreaturen sind unglaublich stark, ihnen verlangt es nach Blut. Sie können sicher nicht vergessen, was unsere Vorfahren ihnen angetan haben.“

Jyliere spürte, wie sein Herz immer schwerer wurde. Ein dunkler Schatten breitete sich über Rashitar aus, die Katastrophe würde nicht lange auf sich warten lassen.
 

Diese Wesen ... sie wollten es unter allen Umständen wieder zurück haben.

Das Geheimnis, welches tief unterhalb des Palastes vergraben lag.
 

* * * * *
 

Die Sonne war schon seit geraumer Zeit untergegangen und es hatte sich eine Dunkelheit ausgebreitet, die man schon lange nicht mehr in Mystica gesehen hatte. Eine dicke Wolkendecke verdeckte Mond und Sterne, sodass allein die beleuchteten Fenster der Hauptstadt Rashitars etwas Licht in die trostlose Finsternis brachten. Auch das Schloss des Oberen, das selbst in der Nacht auf eine übernatürliche Weise glühte, wirkte bei weitem nicht so imposant wie sonst. Es erschien irgendwie blass und kränklich, sodass die sonst aufmunternde Wirkung, die das riesige Bauwerk normalerweise ausstrahlte, sich ins Gegenteil verkehrte.

Nur wenige wussten, dass dieses magische Licht mit Te-Kem selbst zusammenhing. War er guter Laune und frohen Mutes, so leuchtete es kräftiger als die Sonne selbst. War er jedoch besorgt oder gar verzweifelt, verlor es immer mehr von seinem Glanz.

Die Bewohner Rashitars beobachteten dieses Phänomen in jener Nacht mit zunehmender Sorge. Bekümmert starrten sie aus ihren Häuser, Hütten, Stallungen oder Verstecken zum Schloss hinüber und malten sich bereits die schlimmsten Gedanken aus. Man prophezeite in jenen Stunden und auch noch weitere Wochen später dunkle Zeiten, man sah das Ende praktisch kommen.

Sie alle schauten traurig zum Schloss hinüber.
 

Nur ein Mann, der hoch oben auf einem Hügel stand und auf Rashitar hinabblickte, lächelte. Sein Augen glänzten übernatürlich in der Nacht, wie die eines Raubtieres, obwohl es keinerlei Licht gab, das sich in seinen Pupillen hätte widerspiegeln können.

Der Wind fegte über ihn hinweg, zerrte an Kleidung und Haaren, doch der Mann störte sich nicht daran. Auch die zunehmende Kälte ließ er unbeachtet. Während eine Eule in seiner Nähe sich zitternd in ihr Federkleid kuschelte, stand er mit nacktem Oberkörper auf dem Hügel und trotzte den eisigen Böen. Er spürte es nicht einmal. Unbekümmert lächelte er vor sich hin und verlor auch kein bisschen seiner guten Laune, als bereits die ersten Regetropfen seine Haut benetzten.
 

Das war also Rashitar. Der Mann, der einst Gilhelm geheißen hatte und nun nur noch von allen Lasgo gerufen wurde, war ein wenig enttäuscht. Er hatte auf seinen langen Reisen so einiges über diese geheimnisumwogene Stadt gehört, doch nun, da er sie tatsächlich vor Augen hatte, musste er feststellen, dass die Legenden allesamt übertrieben gewesen waren. Er spürte weder ein Feuer, das sein Herz gefangen nahm, noch glaubte er, irgendwelche verstorbenen Geliebten durch die Gassen laufen zu sehen. All dies wurde von Rashitar behauptet, und obwohl Lasgo zugeben musste, dass er für Märchen normalerweise nicht zu haben war, so hatte er sich doch wenigstens etwas mehr erhofft als eine finstere Stadt, wie es sie des Nachts zu Tausenden gab.
 

„Es ist ein verdammt großes Schloss“, sagte ein Stimme direkt hinter ihm. San-jul hatte sich wie üblich geräuschlos angeschlichen, auch wenn Lasgo sein Näherkommen bereits vor Minuten registriert hatte.

„Du sollst nicht fluchen, San-jul“, mahnte Lasgo seinen Freund.

„Ich fluche, soviel ich will“, erwiderte der großgewachsene, dunkelhäutige Mann trotzig. Er stammte aus einem weit entfernten Land, dessen Namen nicht mal er selbst kannte, und schaffte es stets, durch sein ungewöhnlich und auch etwas gefährlich wirkendes Aussehen die Menschen zu verschrecken. Seine funkelnden Augen und die dicke Narbe an seinem Hals unterstrichen diesen Eindruck noch.

„Das solltest du aber nicht tun“, entgegnete Lasgo, weiterhin lächelnd. Er wusste, dass er damit sein Gegenüber jedesmal verwirren konnte, denn niemand konnte genau bestimmen, ob es Wahnsinn war, der ihn grinsen ließ, oder doch eher simple Selbstsicherheit. „Unfeine Menschen, die im Schmutz und Lärm leben, obwohl sie es eigentlich viel besser haben könnten, fluchen, wann sie wollen. Du willst dich doch etwa nicht zu denen zählen?“

San-jul schaute mürrisch drein. „Nek, Meister. Selbstverständlich nicht.“

„Sehr gut.“ Lasgo wandte sich wieder der Stadt zu. „Was habt ihr bis jetzt über diesen Oberen rausfinden können?“
 

„Er soll mächtig sein“, sagte San-jul. Man konnte jedoch seinem Tonfall entnehmen, dass er nicht wirklich davon überzeugt war. „Er regiert bereits seit ungefähr dreißig Jahren und ist einer der Beliebtesten aus einer langen Reihe von Oberen.“

„Entzückend“, sagte Lasgo trocken.

„An ihn heranzukommen wird sicher schwierig“, gab San-jul zu Bedenken. Er starrte düster hinüber zum Schloss. Lasgo war sich absolut bewusst, dass sein Freund bereits überprüfte, wie man am besten in diese vermeintlich uneinnehmbare Festung eindringen konnte. Aus einer Entfernung von einem Kilometer oder mehr sah er meistens besser, als wenn er direkt davor stand. San-jul nannte dies stets „Gesamtüberblick“.

„Unmöglich?“, fragte Lasgo.

San-jul grinste dämonisch. „Für uns ist doch nichts unmöglich.“
 

Lasgo nickte knapp. Nichts anderes hatte er von seinem Mann erwartet, der im Beobachten und finstere Pläne Schmieden immer noch der unumstrittene Meister war. Er liebte die Jagd, doch sie musste durchdacht und strukturiert sein, um ihm wahrlich Vergnügen zu bescheren. Für hirnloses Gemetzel war er nicht zu haben.

„Sharif meint, dass wir unserem Ziel ganz nahe sind“, sagte San-jul. „Er kann es spüren.“
 

Sharif. Lasgo stellten sich allein bei der Erwähnung dieses Namens sämtliche Nackenhaare auf. San-jul schien zu merken, dass er seinen Meister verärgert hatte, denn er wich etwas zurück und fiepte entschuldigend, fast wie ein kleiner Welpe. Lasgo gefiel solch eine demütige Haltung normalerweise äußerst gut, sodass er sehr dazu neigte, einer schnellen Vergebung den Vorzug zu geben, als auf rohe Gewalt zurückzugreifen. Doch bei Sharif war es etwas anderes. Etwas vollkommen anderes.

Wieso hatten sie diesen Typ überhaupt mitgenommen? Sein überhebliches Grinsen und sein respektloses Benehmen Lasgo und seinen Männern gegenüber hatte ihm nicht viele Freunde eingebracht. Sharif hingegen schien es wenig zu interessieren, ob er Sympathiepunkte sammeln konnte oder nicht. Für Lasgos Sippe hatte er nur ein mattes Lächeln übrig, er sah nicht mehr als lauwarme Halbstarke in ihnen.

Lasgo hätte ihn liebend gern in die Mangel genommen, aber er hielt sich zurück. Sharif hatte, obwohl Lasgo es nur ungern zugab, durchaus ein Recht dazu, sich selbstsicher zu geben und den Platz des Führers einzunehmen, auch wenn er um einiges jünger war als Lasgo.

Jünger, dachte Lasgo frustiert. Jünger ist er in der Tat. Aber bei seinesgleichen hat das nur wenig Bedeutung.
 

„Denk nicht weiter über ihn nach, Meister“, riet San-jul. Er klang hingegen seiner autoritären Natur ziemlich kleinlaut. „Bald ist er wieder fort und du wirst ihn nie wiedersehen.“

„Bald“, schnaubte Lasgo. Das überlegene Lächeln war längst aus seinem Gesicht verschwunden und hatte einer bedrohlichen pochenden Adern an der Schläfe Platz gemacht. „Das ist noch viel zu lange hin.“

„Du hast das Kommando, nicht er“, versuchte es San-jul erneut. „Das hat Sharif selbst gesagt. Er will nur beobachten.“

„Ach ja?“ Lasgos Augen funkelten, als er den großen Mann mit einem geradezu mörderischen Blick fixierte. „Und weil Sharif es sagt, darf ich euch führen? Das ist sehr nobel von ihm, findest du nicht?“

„Meister . . .“

„Genug“, fuhr Lasgo ihm dazwischen. „Ich habe keine Lust, über diesen penetranten Egoisten zu reden. Er ist die Mühe nicht wert.“ Sein Blick wanderte wieder zum Schloss, dessen schwächliches Licht zusammen mit der undurchdringbaren Dunkelheit eine unheimliche Kombination herstellte. Es hatte etwas Mystisches an sich, wirkte aber keineswegs beruhigend. Vielmehr unheilvoll.
 

Er weiß, das wir hier sind, dachte Lasgo amüsiert. Er weiß es und doch kann er nichts tun. Er verschanzt sich in seiner hübschen Burg und betet zu allen Göttern, von denen er je etwas gehört hat. Welch jämmerliches Oberhaupt.

„San-jul?“

Ay, Meister?“ San-jul trat wieder an Lasgos Seite.

„Ich will irgendwie in dieses Schloss kommen, hast du verstanden?“, sagte Lasgo in einem ruhigen Tonfall.

„Das könnte aber ziemlich schwierig –“

„Hast du verstanden?“ Lasgo hob seine Augenbraue und sah seinen Untergebenen erwartungsvoll an. San-jul schaffte es, diesem Blick einige Augenblicke lang standzuhalten, dann sank er demütig den Kopf und nickte.

„Selbstverständlich.“
 

„Außerdem brauchen wir noch das Buch“, merkte Lasgo an. Er ließ seinen Blick über Rashitar schweifen, das ruhig und friedlich zu schlafen schien. Nur mithilfe seiner übernatürlichen Sinne konnte er das unterdrückte Brodeln spüren, die nervenzerreißende Anspannung. „Es ist irgendwo ganz in der Nähe, das weiß ich genau.“

„Das Buch?“ San-jul runzelte die Stirn. „Wozu brauchen wir es denn?“

Lasgo schnaubte. „Es ist wichtig“, zischte er. „Außerdem kann ich es nicht ertragen, es in den Händen eines niederen Menschen zu wissen. Ich will es unbedingt wieder zurück.“

San-jul schien zwar immer noch nicht so recht überzeugt, aber er war klug genug, nichts weiter darauf zu erwidern. Er nickte bloß und sagte: „Ich glaube, ich weiß, wo es sein könnte.“

Der Eindringling

Herzlich Willkommen zu meinem neuen Kapitel! XD

So, jetzt geht es mal richtig zur Sache ^^ Wie der Titel des Kapitels bereits verrät, kommt jemand vorbei, der eigentlich nicht eingeladen war. Lasst euch überraschen ^^

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Claire wanderte unruhig in ihrem Zimmer hin und her, immer wieder warf sie verstohlene Blicke aus dem Fenster. Fahles Mondlicht ließ die Hauptstadt, die weit ausgebereitet vor ihr lag, in einem seltsamen mystischen Licht erscheinen. Alles wirkte vollkommen normal, dennoch wusste Claire, dass dem nicht so war.

Sie fuhr sich durch das Haar und schlang den Morgenmantel enger um ihren Körper. Die Temperatur in ihrem Zimmer war bei Einbruch der Dunkelheit rasch gefallen, der anrückende Winter zeigte sich wieder mal von seiner ungemütlichen Seite. Trotzdem tapperte sie mit ihren nackten Füßen über den kalten Steinboden, ihren eigenen Gedanken nachhängend.

Noch vor gut zehn Minuten hatte sie seelenruhig geschlafen, nun aber war sie wacher als jemals zuvor in ihrem Leben. Nichts Bestimmtes hatte sie geweckt – kein Geräusch oder ein plötzlicher Windhauch – sondern vielmehr ein Gefühl.

Ein Gefühl der Beklommenheit und Angst.

Irgendetwas stimmte nicht.
 

Dort unten in Rashitar ging etwas vonstatten, das ihr Herz unwillkürlich schneller schlagen ließ. Es schien zwar alles in Ordnung zu sein, doch der Eindruck täuschte. Ihr empfindliches Gespür hatte sie noch nie im Stich gelassen.

Sie hatte sofort zu Jyliere eilen und ihm ihre Befürchtungen mitteilen wollen, doch schnell hatte sie erkannt, dass dies ein sinnloses Unterfangen gewesen wäre. Claire spürte seine Aura nicht in nächster Nähe, sodass zu vermuten war, dass er sich immer noch bei Te-Kem aufhielt. Es war zwar schon recht spät, aber vielleicht hatten sich die beiden nach Jylieres zweiwöchiger Abwesenheit eine Menge zu erzählen.

Zumindest tat Claire ihr Bestes, um daran zu glauben. Sie hoffte inständig, dass wirklich nicht mehr dahinter steckte.
 

Was mach ich nur?

Claire fühlte sich hilflos. Sie konnte ihre Angst nicht mal so recht beschreiben, es war mehr eine Art Ahnung. Sie wusste nicht, ob gerade in diesem Augenblick irgendetwas Schreckliches geschah oder ob dies möglicherweise noch passieren würde. In die Zukunft zu blicken war ihr bis jetzt noch nie gelungen, das hieß aber noch lange nicht, dass sie nicht dazu imstande war. Die meisten Kräfte eines Magiers entwickelten sich unbewusst und mussten erst geweckt werden.

Claires Blick fiel auf ihren mannshohen Spiegel. Trotz des spärlichen Lichts konnte sie ihre eigene Reflektion gut erkennen, besorgte Augen starrten ihr entgegen. Ihr Gesicht war blass – irgendwie erinnerte sie sich unweigerlich an Jyliere – und ihre Haare, normalerweise zu einem strengen Knoten zusammengebunden, hingen ihr wild und zerzaust über die Schultern. Ihr dünnes Nachtgewand konnte das Zittern ihres schmächtigen Körpers nicht verbergen.

Aber es war nicht unbedingt die Kälte, die sie beben ließ.
 

Hab keine Angst, du dummes Mädchen, schalt sie sich selbst. Du musst dich konzentrieren.

Zunächst einmal musste sie einen klaren Kopf bekommen. Diese unnütze Furcht brachte rein gar nichts, die trübte bloß das Fassungsvermögen. Mit aller Kraft zwang Claire sich selbst zur Ruhe, jegliche Unsicherheit sollte von ihr abfallen. Zwar gelang es ihr nicht völlig, ihre Angst zu unterdrücken, aber wenigstens hörte das Zittern auf. Zumindest etwas.

Entschlossen schritt sie zur Tür und schlüpfte in den dunklen Flur. Eine gähnende Finsternis umfing sie, schien sie zu verschlucken. Nur mit großer Anstrengung konnte sie ihren Körper daran hindern, wieder kehrtzumachen. Stattdessen nahm sie all ihren Mut zusammen und marschierte durch den menschenleeren Flur.

Von überall drangen Laute an ihr Ohr – hier ein Kratzen, dort ein undefinierbares Schaben –, doch sie ignorierte sie. Die Geräusche der Nacht durften sie nicht von ihrem Vorhaben abbringen.

Selbst ihre über alles geliebte Bibliothek wirkte um Mitternacht bei weitem nicht mehr so einladend wie bei Tag. Hastig eilte sie zum nächstbesten Kerzenleuchter und sorgte für etwas Licht. Die tanzende Flamme ließ Claire sogleich aufatmen.

Suchend schritt sie die endlosen Regalreihen ab, ihren Blick auf die Bücherrücken gerichtet. Irgendwo musste es doch sein! Irgendwo ...

„Suchst du was Bestimmtes?“
 

Claire stieß einen überraschten Schrei aus und wirbelte herum. Beinahe wäre ihr der Kerzenleuchter aus der Hand gefallen, doch glücklicherweise konnte sie Schlimmeres verhindern.

Mit wild pochendem Herzen musterte sie die Gestalt, die an der Türschwelle stand. Es war viel zu dunkel, um irgendetwas zu sehen, aber die Stimme hatte sie trotz ihres Schocks durchaus erkannt. „Neyo ...“, stieß sie hervor.

Der junge Mann trat näher, sodass der Schein der Kerze auch ihn erfasste. Ein verschmitztes Lächeln lag auf seinen Lippen. „Du wirst wohl nie müde, was? Immer nur lernen und lernen ...“

Claires Puls normalisierte sich wieder, stattdessen spürte sie die altbekannte Wut, die sie beim Anblick dieses Straßenjungen jedesmal überkam. „Kümmer dich um deine eigenen Sachen. Was suchst du überhaupt hier?“

Neyo zuckte mit den Schultern. „Ich streife ein bisschen durch die Gegend“, meinte er. „Nachts ist das Haus so friedlich.“

Claire hob argwöhnisch eine Augenbraue. „Heißt das, du tust das öfters?“

Neyo nickte. „Und du bist mir bisher noch nicht begegnet. Zu meinem Glück, muss ich gestehen.“
 

Die Magierin verkrampfte ihre freie rechte Hand zu einer Faust. Er konnte es einfach nicht lassen, er musste sie ständig beleidigen. Nicht mal ein Fünkchen Anstand war in ihm zu entdecken, er war durch und durch verkorkst. Irgendwie bereute Claire es plötzlich, ihm nicht ein paar Peitschenhiebe verpasst zu haben. Dann wäre er wahrscheinlich nicht mehr so unhöflich.

„Bereitest du dich auf irgendeine Prüfung vor oder warum stromerst du um diese unwürdige Zeit durchs Haus?“ Neugierig schaute er zu den Büchern.

Claire knirschte mit den Zähnen. „Das braucht dich nicht zu interesieren. Verschwinde bloß.“

Neyo machte nicht den Anschein, als wollte er ihrem Befehl in irgendeiner Form Folge leisten. Unbeeindruckt erwiderte er ihren funkelnden Blick. „Du hast Angst, oder?“
 

Claire schrak unwillkürlich zusammen. Woher wusste er das? Sie benötigte einen Augenblick, um sich wieder zu sammeln. Sie hoffte bloß, dass Neyo ihren kleinen Ausrutscher nicht bemerkt hatte. „Wie kommst du darauf?“, fuhr sie ihn an.

„Du hast ziemlich erschrocken auf mein plötzliches Auftauchen reagiert. Normalerweise bringt dich nichts aus der Fassung, aber eben hab ich dich ganz schön überraschen können. Anscheinend bist du mit deinen Gedanken ganz woanders ... an einem Ort, der dir nicht sonderlich gefällt.“

Claire verzog missmutig das Gesicht. Neyo mochte vielleicht ein Idiot sein, aber sie musste zugeben, dass er trotz alledem ein guter Menschenkenner war. Es war ihm bis jetzt immer gelungen, sein Gegenüber zu durchschauen, man konnte nichts vor ihm verbergen.

Äußerst lästig, wie Claire fand.
 

„Was geht dich das an?“, fauchte sie leicht ungehalten. Sie wollte nur noch, dass er verschwand. Ihr gefiel es gar nicht, dass er sie in diesem Zustand sah.

„Jyliere ist immer noch weg, nicht wahr?“ Neyo machte nicht den Anschein, als wollte er sich in nächster Zeit zurückziehen. Ganz im Gegenteil, er kam noch etwas näher und inspizierte interessiert die Regalreihen. „Was suchst du eigentlich?“

„Nichts von Bedeutung“, zischelte sie. Der Drang, Neyo mit irgendeinem gemeinen Fluch zu belegen, wurde mit jeder Sekunde stärker. Vielleicht, so kam ihr der Gedanke, sollte sie es auch wirklich tun. Immerhin hatte Jyliere im Grunde nichts dagegen gehabt, dass sie ihn für ihre Frechheiten einmal ordentlich bestrafte ... Der Magier hatte zwar sein Missfallen darüber zum Ausdruck gebracht, es seiner Ziehtochter aber nicht ausdrücklich verboten.

„Ich könnte dir helfen“ schlug er vor. „Ich habe doch zusammen mit Pierre vor gar nicht allzu langer Zeit die Bibliothek auf Vordermann gebracht, wie du vielleicht weißt. Nenn mir den Titel eines Buches und ich kann dir sagen, wo es steht.“

Verdammt, dachte sie wütend. Der kann mir ja wirklich nützlich sein.
 

„Warum willst du mir denn helfen?“, hakte sie misstrauisch nach. Irgendwas war faul an der Sache, Neyo war sonst nie so selbstlos.

Er grinste spitzbübisch. „Du bist meine Herrin, schon vergessen?“ Er sprach dieses Wort mit soviel Spott aus, dass Claire nicht übel Lust gehabt hätte, ihn in Flammen aufgehen zu lassen. Wie immer hatte er nichts anderes in Sinn gehabt, als sie zu verhöhnen. Typisch.

Empört stieß sie ihn weg. „Ich komme auch sehr gut alleine klar“, meinte sie zornig. „Ich brauche deine Hilfe wirklich nicht. Geh lieber, bevor ich richtig sauer werde.“

„Aber du bist doch schon sauer.“ Er schien die Situation richtiggehend zu genießen, Claires Wut stachelte ihn nur noch mehr an. „Vielleicht solltest du einfach –“

Er hielt plötzlich inne und lauschte angestrengt. Sein amüsiertes Lächeln verschwand umgehend, es blieb nur noch eine konzentrierte Miene zurück. Sein Blick wandte Richtung Tür.
 

„Was ist denn los?“, fragte Claire. Fiel ihm kein passender Spruch mehr ein, wollte er etwa schon aufgeben? Unmöglich.

Unvermittelt spürte sie, wie sich ihr Innerstes zusammenzog. Die drückende Angst, die sie zuvor aus dem Bett geholt hatte, erfüllte ihren ganzen Körper. Ein eisiger Lufthauch strich über ihren Arm, lockte eine Gänsehaut hervor. Automatisch umklammerte sie ihren Oberkörper.

Etwas war falsch.

Da war etwas ... im Haus.
 

„Laufen noch andere nachts durch die Gänge?“, erkundigte sich Claire mit zittriger Stimme.

„Nicht, dass ich wüsste“, meinte Neyo. „Bleib du hier, ich schau mal nach.“

Claire wollte schon zum Protest ansetzen, doch Neyo verschwand so schnell in der Dunkelheit, dass sie keine Gelegenheit dazu erhielt. Sie blieb alleine zurück, mit nichts anderem als einer kleinen Kerze und ihren Befürchtungen.

Bildete sie sich das vielleicht alles nur ein? Konnte es nicht sein, dass die Nacht ihr nur einen Streich spielte? Das tat sie schließlich des öfteren, warum nicht auch jetzt?

Doch Claire kannte die Antwort, sosehr es ihr auch missfiel. Es war keine Einbildung, auch wenn sie sich nichts sehnlicher wünschte.

Irgendwer – oder auch irgendwas – war ins Haus eingedrungen. Und es war ganz bestimmt nicht Jyliere.
 

* * * * *
 

Es war totenstill in den Gängen der alten Villa. Nirgends war auch nur das kleinste Geräusch zu hören.

Neyo schlich leise durch die Flure, sehr darauf bedacht, bloß nichts anzustoßen. Er durfte keinerlei Lärm verursachen, musste so flink und grazil wie eine Katze sein. Mit bereits an die Dunkelheit gewöhnten Augen schritt er sicher voran, ohne auf ein Hindernis zu treffen.

Er musste ganz nah sein. Aus dieser Richtung war das Geräusch gekommen, das ihn in der Bibliothek hatte aufhorchen lassen.

Das Geräusch von zersplitternden Glas.

Neyo wusste selbst nicht genau, warum er eigentlich so nervös war. Vielleicht hatte nur jemand etwas Wasser holen wollen und hatte aus Versehen das Glas fallen lassen. Möglicherweise hatte auch einer von Jylieres Hunden wieder irgendwelchen Unsinn angestellt oder aber Calvio torkelte mal wieder betrunken durchs Haus. Es konnte alles mögliche sein. Vollkommen harmlos und ungefährlich.

Warum also war er so beunruhigt? Wieso klopfte sein Herz dermaßen wild?
 

Es gab nur eine Antwort: Claire.

Er hatte diese Angst in ihren Augen gesehen. Es war mehr als untypisch, dass sie nachts durch die Gänge schlich, um nach einen Buch zu suchen. Irgendetwas musste sie geweckt und in Panik versetzt haben. Nachdem sie festgestellt hatte, dass Jyliere immer noch nicht zurück war, war sie in die Bibliothek geeilt. Vielleicht hatte sie nach einem Schutzzauber gesucht oder auch nach einer Möglichkeit, trotz der Distanz mit ihrem Ziehvater kommunizieren zu können. So oder so, es war Furcht gewesen, die ihr Handeln gelenkt hatte.

Und Neyo fand es mehr als beunruhigend, dass sich irgendwas Mysteriöses abspielte, das selbst eine Magierin in Schrecken versetzen konnte. Claire hatte schon immer über ein feines Gespür verfügt, sie würde nicht grundlos in Aufregung geraten. Es musste etwas dahinter stecken.

Neyo seufzte. Vielleicht hätte er besser bei ihr bleiben sollen, anstatt den Helden zu spielen. Sie war zwar ein unangenehmer Zeitgenosse, aber wenigstens besaß sie genügend Macht, um ein ganzes Batallion auszuschalten. Neyo hatte sie manchmal bei ihren Übungsstunden mit Jyliere beobachtet, sie hatte wirklich ein beachtliches Talent. Sie wäre bestimmt dazu imstande gewesen, das Haus und seine Bewohner angemessen zu beschützen.

Dennoch ... Claires angsterfüllte Augen wollten ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen.
 

Als ein Lufthauch seine Haut streifte, blieb er unvermittelt stehen. Er starrte auf die unzähligen Scherben zu seinen Füßen hinab, die einst ein Fenster gewesen waren.

Die Scheibe war von außen eingeschlagen worden!

Neyo nahm all seinen Mut zusammen und trat näher an das Fenster. Draußen konnte er keinerlei Fußspuren im Boden entdecken, doch das musste nichts heißen. Das Mondlicht reichte nicht wirklich aus, um Einzelheiten erkennen zu können.

Neyo versuchte mit aller Macht, seine durcheinanderwirbelnde Gedanken zu ordnen. Wer auch immer in die Villa eingedrungen war, er war entweder verrückt oder wagemutig. Niemand brach so ohne weiteres in das Haus eines hohen Magiers ein, selbst Neyo auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Dieb wäre niemals solch ein Risiko eingegangen. Es war einfach nur dumm und unverantwortlich. Der arme Kerl würde schneller gefasst werden, als ihm lieb war.

Neyo hätte noch Stunden damit zubringen können, in diesem riesigen Haus nach dem Eindringling zu suchen, doch er hielt es für klüger, zu Claire zurückzukehren. Mit ihren übernatürlichen Sinnen hätte sie den Idioten binnen weniger Sekunden lokalisiert.

Aber wieso war er immer noch so unruhig? Warum gefror sein Blut beim Anblick der Glasscherben? Neyo verstand es einfach nicht.
 

Seufzend drehte er sich um ... und starrte in ein leuchtendes Augenpaar!

Für einen kurzen Moment war er wie gelähmt, dann aber torkelte er zurück, bis er mit seinen Rücken gegen die Wand stieß. Er war versucht, eine Warnung hinauszuschreien, um die anderen zu alarmieren, doch kein Ton drang über seine Lippen. Er konnte bloß mit weitaufgerissenen Augen den Mann anstarren, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war.

Neyo vermochte sein Gesicht nicht wirklich zu erkennen. Obwohl er direkt vom Licht des Mondes beschienen wurde, blieb seine Gestalt dennoch im Dunkeln verborgen. Beinahe so, als hätte die Finsternis einen schützenden Mantel um ihn gehüllt. Einzig diese teuflisch funkelnden Augen stachen hervor. Die Augen eines Raubtiers.
 

„Sieh an, ein verirrtes Lämmchen.“ Seine Stimme klang seltsam melodiös und gleichzeitig abstoßend. Neyo jagte sie einen kalten Schauer über den Rücken. „Was treibt dich denn zu so später Stunde hierher?“

Neyo verfluchte sich selbst dafür, dass er kein einziges Wort zustande brachte, doch er war wie betäubt. Er konnte sich nicht regen, nicht mal richtig atmen.

Irgendwas an dem Kerl war abrundtief falsch. Sein Auftreten, seine Stimme und diese Augen – das alles wirkte nicht sonderlich ... menschlich.

Neyo schluckte schwer. Wer – oder auch was – war das nur?

„Hast wohl deine Zunge verschluckt, was?“ Der Fremde trat näher, aber merkwürdigerweise blieb sein Gesicht noch immer von der Dunkelheit verschluckt. „Aber es freut mich dennoch, dass du mich gleich hier begrüßt, wo ich doch erst vor ein paar Minuten angekommen bin.“ Er lachte kehlig. „Eigentlich sollte es ja eine Überraschung werden, aber du hast sie mir gründlich verdorben.“
 

Neyo wollte nur noch fort, weg von diesem ominösen Unbekannten. Er war eine große Gefahr, daran bestand kein Zweifel. Von ihm ging etwas aus, das Neyo unwillkürlich zittern ließ. Eine Bosheit schlug ihm entgegen, dass es fast schon schmerzte.

„Ich würde trotzdem gerne erfahren, woher du gewusst hast, dass ich vorbeischaue“, meinte der schwarze Mann. Seine leuchtenden Augen prüften Neyo gründlich. „Ich hatte eigentlich niemanden aufwecken wollen.“

Neyo nahm all seinen Mut zusammen. „Ich habe ... es gehört. Das Fenster.“

„Das Fenster?“ Der Fremde schien ehrlich überrascht. „Dabei war ich extra leise. Eigentlich hättest du gar nicht ...“ Er hielt kurz inne, schien zu überlegen. „Wie ist dein Name, Bürschchen?“
 

Ich habe nicht mal Jyliere sofort meinen Namen verraten, warum also dir?, dachte Neyo trotzig. Er drängte seine Furcht mit aller Gewalt zurück und schloss sie in den hintersten Winkel seines Verstandes ein. Es war nicht an der Zeit für Panik. Er musste den anderen Bescheid sagen, sie vor diesem Eindringling warnen. Dieser Kerl führte ganz bestimmt nichts Gutes in Schilde, vielleicht schreckte er nicht mal vor Mord zurück. Er würde auf jeden Fall eine Menge Ärger verursachen, wenn man ihm nicht Einhalt gebot.

Neyo spürte, wie er allmählich wieder Gefühl für seinen Körper bekam. Er gewann die Kontrolle zurück.

Doch gerade als er davonstoben wollte, packte ihm der Fremde unsanft am Hemdkragen und hielt ihn auf. Mit einer geradezu unglaublichen Kaft presste er Neyo an die Wand, sodass kein Entkommen möglich war. Neyo wand sich zwar wie ein Fisch an der Angel, doch es war sinnlos. Er konnte sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegen.

„Wo wollen wir denn hin, mein kleiner Freund?“ Sein Kichern klang, als würde es aus der Unterwelt stammen. Mit seinen kalten Fingern umfasste er Neyos Hals, dazu bereit, jederzeit zuzudrücken. „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Wirklich sehr unhöflich von dir. Von jemanden, der in einer so totschicken Villa wohnt, hätte ich eigentlich bessere Manieren erwartet.“
 

Neyo knurrte. Seine Situation war aussichtslos. Er hatte sich zwar immer für ziemlich stark gehalten, doch dieser Fremde übertraf alles, was ihm bis jetzt untergekommen war. Der Unbekannte hatte offenbar keinerlei Probleme damit, einen ausgewachsenen, kräftigen Mann an der Wand festzunageln. Es schien ihm nicht im geringsten anzustrengen. Neyos klägliche Befreiungsversuche nahm er mit einem matten Lächeln zur Kenntnis, seine weißen Zähne blitzten aus dem in der Finsternis gehüllten Gesicht hervor.

„Gib dir keine Mühe, du hast sowieso keine Chance“, meinte der Fremde genüsslich. „Ein gewöhnlicher Sterblicher wie du hat nicht die Kraft, sich mir entgegenzustellen.“ Er verengte den Griff um Neyos Kehle ein wenig. „Also, mein hübscher Bursche, wo waren wir stehengeblieben? ... Ahja – du warst unhöflich.“

Bevor Neyo auch nur irgendwie die Gelegenheit erhielt, sich zu verteidigen, spürte er, wie die Faust des Mannes in seinen Bauch gerammt wurde. Ein entsetzlicher Schmerz durchfuhr seinen Körper und ließ es ihm für kurze Zeit schwarz vor Augen werden. Leidvoll stöhnte er auf.

Am liebsten wäre er zu Boden gesackt, hätte seinen zittrigen Knien nachgegeben, doch der Fremde hielt ihn noch immer an die Wand gedrückt. Er gab seinem Opfer nicht mal die Möglichkeit, sich vor Schmerzen zu krümmen.
 

„Ich hasse es, wenn jemand unhöflich wird“, sagte der Unbekannte in einem völlig gelassenen Tonfall. „Das kann ich wirklich nicht ausstehen. Also, nochmal von vorn: Wie lautet dein Name?“

„N- .... Neyo“, presste er unter größter Mühe hervor. Seine Kräfte verließen ihn allmählich, der Würgegriff des Eindringlings war viel zu stark.

„Neyo.“ Er schien für einen kurzen Augenblick in seine eigenen Gedanken zu versinken. „Verstehe. Sag, Neyo, bist du der Sohn dieses Tattergreis von Magier?“

„N-nein ... nur sein Diener ...“, erwiderte der junge Mann.

„Hm, das muss ich dir wohl glauben“, sagte der Fremde. „Ansonsten hättest du mich wahrscheinlich auch schon längst mit Magie angegriffen, nicht wahr?“ Er seufzte theatralisch. „Weißt du, Neyo, du gefällst mir wirklich gut. Ganz ehrlich, du kannst mir glauben. Aber leider kann ich im Moment nicht mit dir spielen, ich habe einen Auftrag zu erledigen.“ Ein dämonisches Grinsen huschte über seine Lippen. „Doch vielleicht sehen wir uns wieder.“
 

Mit diesen Worten entließ er Neyo aus seiner Gewalt. Die Beine des jungen Mannes knickten daraufhin augenblicklich zusammen, erschöpft und auch ein wenig perplex sackte er auf den kalten Steinboden. Ein dumpfer Schmerz pulsierte durch seinen Körper, jeder Atemzug bereitete ihm unglaubliche Qualen. Ihm war, als würde er immer noch die Wucht des Schlages spüren.

„Ihr seid so jämmerlich.“ Die Augen des Fremden funkelten, als er verächtlich zu Neyo hinabblickte. „So zerbrechlich. Ihr fallt schon auseinander, wenn man euch nur schief anschaut. Ich verstehe wirklich nicht, wie ihr so derart dominant habt werden können.“ Er zuckte mit den Schultern, zumindest glaubte Neyo dies in der Finsternis erkennen zu können. „Wahrscheinlich nur pures Glück.“

Neyo keuchte. „Wovon ... redest du?“

„Von nichts Besonderem“, winkte er ab. „Nur von Nichtigkeiten. Braucht dich gar nicht zu interessieren.“

Er beugte sich etwas zu ihm herab und zum ersten Mal konnte Neyo sein Gesicht einigermaßen ausmachen. Er sah dieses falsche Lächeln, diese übernatürliche Augen und diese eigenartig anmutende Tätowierung, die sich über seinen Hals und seine rechte Wange zog.

„Es war wirklich amüsant mit dir, Kleiner“, sagte er. „Sei nicht traurig, dass ich sofort wieder verschwinde, ich bin nun mal so. Ständig auf Achse, nirgends kann ich mich lange aufhalten. Aber sei dir gewiss, du bist so ein leckeres, kleines Bürschchen, dass ich bestimmt bald wieder mal vorbeischaue. Doch im Augenblick hab ich's leider sehr eilig, ich muss noch ein Buch abholen, bevor die Bibliothek schließt. Also dann, Roth-nak, mein Freund. Mach's gut.“
 

Und plötzlich, so unvermittelt, wie er aufgetaucht war, verschwand er auch wieder, verschluckt von der Dunkelheit. Nichts blieb von ihm zurück, nur die Scherben auf dem Boden und die Erinnerung, die sich in Neyos Bewusstsein gebrannt hatte. Der Anblick dieses mysteriösen Mannes würde wahrscheinlich für immer in seinem Gedächtnis bewahrt bleiben.

Langsam aber sicher beruhigte sich Neyos Herzschlag wieder, auch der Schmerz klang ein wenig ab. Ächzend lehnte er sich an die Wand und schloss die Augen. Es war vorbei, den Göttern sei Dank. Er lebte sogar noch, was für ein Wunder. Eigentlich hatte er ja angenommen, dieser Kerl würde ihn eiskalt umbringen, aber offenbar hatte die Erfüllung seines Auftrags für ihn oberste Priorität gehabt.
 

Plötzlich durchfuhr es Neyo wie ein Blitzschlag. Ein Buch ...? Die Bibliothek ...?

Bereits im nächsten Moment war der Gang erfüllt von einem markerschütterndem Schrei.

Aufruhr in der Bibliothek

Herzlich Willkommen zu meinem neuen Kapitel ^^ (klingt doch toll, oder? XDDD)

Es tut mir leid, dass das letzte Kapitel an einer so fiesen Stelle aufgehört hat, aber ich konnte es mir einfach nicht verkneifen *fg* Ich hoffe, der neue Teil entschädigt das einigermaßen ^^

So, dann wünsch ich viel Spaß beim Lesen
 

Eure Nochnoi
 

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Er lachte nur. Dieser Fremde lachte, während er sich an Claires Angst sichtbar gütlich tat. Er schien ihr Leid richtiggehend zu genießen.

Wo er plötzlich hergekommen war, das konnte Claire nicht mit Bestimmtheit sagen. Eben noch hatte sie nach diesem verdammten Buch gesucht, welches den Zauberspruch enthielt, mit dem man mit anderen Magiern über eine größere Entfernung Verbindung aufnehmen konnte, und dann hatte er unvermittelt hinter ihr gestanden. Ihr war vor Schreck ein Schrei entschlüpft und sie hoffte bloß, dass irgendwer ihn gehört hatte. Laut genug war sie immerhin gewesen.
 

„Was für eine hübsche, kleine Prinzessin du bist“, säuselte er, während er immer näher trat. Claire wich vor ihm zurück, stieß aber schon bald gegen das mit Bücher überfüllte Regal hinter ihr. „So wunderschön und unschuldig. Mit dir würde ich gerne ein bisschen spielen.“
 

Claire schluckte, während sie ihre übermächtige Angst zu überwinden versuchte. Wer war der Kerl nur und was wollte er von ihr? Was suchte er bloß, dass er mitten in der Nacht in das Haus eines überaus hochgeschätzten Magiers einbrach? Ihm musste doch eigentlich klar sein, dass dies vollkommen aberwitzig war. Das kam glatt einem Selbstmord gleich.

Doch Claire erkannte schnell, dass mit dem Typ irgendwas nicht stimmte. Seine Augen funkelten übernatürlich und die Dunkelheit schien sein Verbündeter zu sein. Offenbar war er mit Magie vertraut, zumindest war das die einzige Erklärung, die ihr einfiel.

Aber wieso, bei allen Mächten von Himmel und Erde, fürchtete sie sich dann so dermaßen? Ihre empfindlichen Sinne waren über alle Maßen alarmiert, sowohl Verstand als auch Gefühl rieten ihr dringend, zu verschwinden. Es war selten, dass diese beiden Parteien sich so einig waren.
 

„Weißt du, Liebchen, ich habe schon immer Frauen mit goldenem Haar bevorzugt.“ Inzwischen war er dermaßen nah, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührt hätten. „Ich würd dich wirklich gerne mitnehmen.“

Fast schon gedankenverloren strich er durch ihr Haar, während Claire sich verkrampfte. Sie konnte ihre Füße nicht bewegen, war wie versteinert. Er war viel zu nah, als dass sie einen Fluchtversuch hätte wagen können. Aus diesem Grund presste sie sich noch mehr ans Regal und betete zu allen Göttern, die ihr bekannt waren.

Er strömte keinerlei Geruch aus, das fiel Claire trotz ihrer großen Unsicherheit gleich auf. Er roch weder nach Gosse noch nach irgendeinem überteuerten Duftöl, welches die Oberschicht so gerne verwendete. Er schien völlig geruchsneutral zu sein, selbst seine Kleidung, die eigentlich recht ramponiert aussah. Irgendwie fand Claire diesen Umstand mehr als nur merkwürdig.
 

„Also, meine schöne Prinzessin, sagst du mir freiwillig, wo ihr das Buch versteckt habt oder muss ich Gewalt anwenden?“ Er lachte höhnisch auf. „Ich persönlich hoffe ja sehr, dass du dich widersetzt, aber ich wollte der Höflichkeit wegen einfach mal fragen. Ich bin nicht so respektlos wie dieser junge Knabe, dem ich auf dem Weg hierher begegnet bin.“

Claire benötigte einen Augenblick, um seine Worte richtig realisieren zu können. „Neyo?“, flüsterte sie. Ein Schock durchfuhr sie. Die beiden waren sich begegnet ...
 

„Genau“, stimmte der Fremde amüsiert zu. „Ein nettes Bürschchen, wirklich. Dein Geliebter? Immerhin würde das erklären, warum ihr zwei zu solch später Stunde noch wach seid.“

Claires Atem beschleunigte sich. Neyo ... „Was ... was hast du mit ihm gemacht?“, stieß sie mit zittriger Stimme hervor.

„Oh, sieh an, mein kleiner Engel kann ja doch sprechen.“ Der Fremde lachte auf. „Wirklich entzückend. Obwohl ich persönlich Frauen bevorzuge, die ihr hübsches Mündchen halten ...“
 

Neben all der Furcht, die ihr jeglichen Handlungsspielraum verweigerte, stieg plötzlich noch ein weiteres Gefühl in ihr hoch: Zorn! Brodelnder, kochender Zorn!

Was erlaubte sich dieser verschmutzte Einbrecher eigentlich, sich an eine Dame aus gutem Hause ranzumachen? Wie konnte er sich nur erdreisten, ihr aufzulauern?

Ihr ... einer Magierin!
 

Claire nahm ihre Wut in sich auf und nutzte sie, soweit sie das vermochte. Dieses starke Gefühl war das einzige, was sie antrieb und diese lästige Angst zumindest zeitweilig verdrängen konnte. Jyliere hatte sie zwar stets davor gewarnt, im Zorn zu handeln, da man dabei leicht seine Kontrolle verlieren konnte, doch ihr blieb kaum eine andere Wahl.

Sie aktivierte ihre Kräfte, ohne es wirklich zu merken. Sie wurde sich der Kerze auf dem Boden bewusst, die sie bei Auftauchen des Fremden vor Schreck hatte fallen gelassen. Diese keine Flamme war im Moment die einzige Lichtquelle ...
 

Claire lenkte ihre Konzentration auf das Feuer, beschwor es. Sie murmelte Worte der Erweckung, die ihr bereits im frühen Kindesalter von ihrem Vater beigebracht worden waren. Die Elemente zu kontrollieren gehörte zur Grundausbildung eines Magiers.

Sie spürte die Hitze des Feuers tief in ihrem Inneren, sie war auf eine gewisse Weise mit ihm verbunden. Nun sollte es endlich erwachen und diesen Eindringling für immer verjagen.

Als die Glut hochschlug, war Claire für einen kurzen Augenblick wie geblendet. Die Flammen streiften ihre Haut, verbrannten sie aber nicht. Sie hörte dieses unheilvolle, todbringende Knistern ...
 

... und das spöttische Lachen des Fremden!
 

Claire schlug vor Überraschung die Augen auf. Der Mann war keinen Schritt zurückgewichen, das tobende Feuer um ihn herum schien ihn nicht im geringsten zu kümmern. Claire konnte sehen, wie die Flammen nach seiner Kleidung, seinen Haaren, seinem ganzen Körper schnappten, aber keinerlei Wirkung erzielten. Er brannte einfach nicht ... obwohl er eigentlich bereits vor Schmerzen hätte aufschreien müssen.

Was war nur los?

Claire war dermaßen perplex, dass ihre Konzentration verebbte. Das Feuer verschwand so schnell, wie es gekommen war. Der Raum wurde mit einemmal stockdunkel, nur das winzige Kerzenlicht sorgte für etwas Beleuchtung.
 

„Wirklich beeindruckend, Liebchen.“ Der Unbekannte grinste breit. „Aber dein magischer Schnickschnack macht mir nichts aus. Das funktioniert bei mir nicht.“

Claire schluckte schwer. „Wer ... wer bist du?“

Seine Augen leuchteten gierig, während er sie fixierte. „Dein Verderben, Schätzchen. Dein Tod.“ Er rückte noch ein Stück näher, sodass sie seinen heißen Atem auf ihrer Haut spürte. „Aber du kannst mich ruhig Gorsco nennen.“
 

Claire spürte, wie ihre Angst sie wieder zu übermannen drohte. Ihr kurzer Gefühsausbruch erschien ihr bloß noch wie ein Traum. „Und was ... was willst du hier?“

„Ach, ich wollte mir nur ein Buch ausleihen“, sagte er amüsiert.

„Und welches?“

Gorsco schnalzte mit der Zunge. „Ich glaube, das weißt du sehr genau, Liebes. Euer größter Schatz, euer Vermächtnis ... sofern ihr überhaupt herausbekommen habt, was es damit auf sich hat. Ich persönlich habe ja immer bezweifelt, dass ihr die Schrift übersetzen könnt, doch Sharif meinte, dass es euch gelungen wäre.“ Er schüttelte seufzend den Kopf. „Wie auch immer, ich bin hier, um es zurückzuholen. Es gehört nämlich rechtmäßig uns.“
 

In Claires Kopf wirbelte es wild durcheinander. Wovon redete der Kerl eigentlich? „Ich ... ich verstehe nicht“, stotterte sie unsicher.

Gorsco musterte sie ausgiebig, schließlich stöhnte er auf. „Du weißt es offenbar wirklich nicht. Hat dir dein lieber Vater dieses Buch etwa nicht gezeigt? Das ist ziemlich unpraktisch. Jetzt muss ich die ganze Bibliothek durchwühlen.“

Mit leidlicher Miene schaute er sich um. Überall nur Regale, vollgestellt mit Büchern und Schriftrollen. Sicher an die tausend Stück.

„Hat diese Bibliothek wenigstens irgendein System?“, fragte er hoffnungsvoll nach. „Habt ihr zum Beispiel irgendwo die fremdsprachigen Bücher aufgestellt?“
 

Was sollte sie antworten? Dass sie es nicht wusste? Wenn sie Glück hatte, würde er so lange mit der Suche beschäftigt sein, bis Jyliere wieder nach Hause kam. Falls er sie dann nicht schon längst getötet hätte.

Aber wenn sie ihn anlog, würde er es sicherlich merken. Irgendwie hatte er vorhin erkannt, dass sie die Wahrheit sprach, sodass er bestimmt auch eine dreiste Lüge durchschaut hätte. Und über Schwindeleien würde er bestimmt nicht sehr erfreut sein.

Was sollte sie also tun? Dieses Buch schien ihm offenbar ziemlich wichtig. Wenn er es erstmal in seinen Händen hielt, würde er vielleicht verschwinden. Aber wenn es wirklich so bedeutend war, wie Gorsco behauptete, würde der Verlust Jyliere nicht schmerzen?

Plötzlich jedoch fiel es ihr wieder ein ... das, was Neyo vor gar nicht allzu langer Zeit zu ihr gesagt hatte.
 

„Die Bibliothek ... sie wurde umgeräumt“, erklärte Claire. „Nichts steht mehr da, wo es vorher war. Ich ... ich weiß nicht, wo dein Buch sein könnte.“

„Du weißt also nicht, wo es steht?“, seufzte Gorsco. „Tja, da kann man auch nichts dran ändern. Dann muss ich halt suchen.“ Er umfasste plötzlich blitzschnell ihre Handgelenke. „Und danach amüsieren wir uns ein bisschen, meine Schöne, was meinst du? Wird bestimmt lustig.“

Claire lief eine einzelne Träne über die Wange. Was sollte sie nur machen? Sie war diesem Kerl, dem Magie anscheinend nicht das geringste ausmachte, hilflos ausgeliefert. Ihre übernatürliche Kräfte waren ihre einzige Verteidigung. Ohne sie war sie nur eine schwache, gewöhnliche Frau.
 

„Es ist wirklich beeindruckend, wie du mit Frauen umgehst. Allerdings hättest du sie davor wenigstens zum Essen einladen können, das verlangt der Anstand.“
 

Claires Herz pochte wie wild. Sie hätte nie gedacht, sich einmal darüber freuen zu können, diese Stimme zu hören. Neyo ...

Gorsco wirbelte herum. Er knurrte wütend, wobei er wie ein hungriger Wolf klang. „Wie hast du dich anschleichen können, räudiger Mensch?“ Er schien ehrlich verwirrt zu sein. „Wie hast du das nur geschafft?“
 

Neyo stand auf der Türschwelle, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und funkelte den Fremden herausfordernd entgegen. Er mochte auf den ersten Blick hart und unerschütterlich wirken, doch Claire merkte schnell, dass dies nur eine Fassade war. Neyo hatte ziemliche Schmerzen, er konnte sich nur mit Mühe überhaupt auf den Beinen halten. An einen Kampf war wohl nicht zu denken, an Rettung schon gar nicht.

Dennoch war er gekommen. Claire gab es zwar ungern zu, aber irgendwie rührte es sie. Sie hätte niemals erwartet, dass sich dieser respektlose Straßenjunge für sie in Gefahr begeben würde. Sie hätte eigentlich eher damit gerechnet, dass er sie ihrem Schicksal überließ, schließlich hatte er immer wieder betont, dass eine kleine Lektion ihr sicherlich nicht schaden würde.
 

„Du bist dumm, Neyo“, zischelte Gorsco. Claire bemerkte, dass er immer noch etwas irritiert war, weil Neyo sich geräuschos hatte anschleichen können. Er versuchte zwar, sein Erstaunen zu vertuschen, doch eine geübte Magierin konnte er damit nicht täuschen.

„Ich weiß“, meinte Neyo schulterzuckend. „Das haben mir schon viele gesagt. Aber zu deinem Pech habe ich nie viel auf das gegeben, was andere über mich denken.“
 

Gorsco brüllte auf. Seine kühle und grausame Gelassenheit fiel von ihm ab, er ähnelte nun vielmehr einem aufgebrachten Tier, welches in die Enge getrieben worden war und deswegen zurückschlagen musste. Claire versuchte zwar noch, den Stoff seiner Kleidung zu fassen zu bekommen, um ihn etwas aus dem Gleichgewicht zu bringen, doch Gorsco war viel zu schnell für sie. Von einer Sekunde auf die andere schien seine Konturen plötzlich zu verschwimmen, als wäre er ein übermenschlicher Blitz.

Claire keuchte erschrocken auf. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Was war dieser Kerl bloß?
 

Neyo hingegen wirkte angesichts dieser Geschwindigkeit nicht sonderlich erstaunt, zumindest war auf seinem Gesicht keinerlei Anzeichen von Überraschung auszumachen. Ganz im Gegenteil – er schien trotz dieses hohen Tempos, welches Gorscos Körper praktisch unsichtbar werden ließ, jede seiner Bewegungen verfolgen zu können. Claire verstand die Welt nicht mehr.

Und plötzlich holte Neyo etwas hinter seinem Rücken hervor. Die junge Magierin musste die Augen zusammenkneifen, aber schließlich glaubte sie zu erkennen, dass es sich bei dem länglichen Gegenstand um irgendeine Art Schlagstock oder etwas ähnliches handelte.

Und diesen zog er Gorsco mit all seiner Kraft über den Kopf!
 

Der übernatürlich schnelle Mann schrie auf – eher vor Zorn als vor Schmerz – und geriet ins Taumeln. Claire bemerkte nach einem kurzen Blick, dass der Schlag Gorsco nicht sonderlich geschadet hatte – zumindest würde er in nächster Zeit nicht in Ohnmacht fallen –, dennoch war er verblüfft. Verblüfft darüber, dass Neyo ihn nun zum zweiten Mal ausgetrickst hatte.

„Komm, wir müssen hier weg!“ Neyo stand plötzlich neben Claire und packte sie etwas unsanft am Arm. Er wollte sie Richtung Ausgang zerren, doch schon im nächsten Augenblick stand bereits Gorsco wieder vor ihnen, seine Miene ein finsteres Abbild abgrundtiefer Wut. Er machte den Anschein, als wollte er Neyo im nächsten Augenblick anfallen und ihn in tausend Stück zerfetzen.
 

„Du warst ... wieder äußerst unhöflich“, presste Gorsco hervor, offenbar sehr mit sich ringend, nicht die Beherrschung zu verlieren. „Ich hab dir doch gesagt, dass ich das nicht leiden kann.“

„Es ist mir egal, was irgend so einem dreisten Dieb gefällt und was nicht“, erwiderte Neyo fast schon gelassen. Er bugsierte Claire schützend hinter seinen Rücken, während er den Mann vor sich eingehend fixierte. „Verschwinde von hier. Das ist das Haus des hohen Magiers Jyliere. Ihm wird es nicht sonderlich zusagen, dass du sein Fenster zertrümmert und dich an seine Tochter rangemacht hast.“

Gorscos Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. „Dein blöder Magier macht mir keine Angst, Dummkopf. Der kann mir nichts anhaben.“

„Ach tatsächlich?“, fragte Neyo. „Und warum hast du dir ausgerechnet die Nacht ausgesucht, in der er nicht zu Hause ist?“
 

Gorscos Augenbraue zuckte kurz. „Purer Zufall.“

„Wer's glaubt ...“, meinte Neyo abfällig.

Claire seufzte schwer. Konnte er nicht endlich aufhören, diesen Kerl zu reizen? Offenbar hatte Gorsco nur eine kurze Geduldsspanne. Nicht mehr lange und er würde explodieren. Das konnte die junge Magierin ganz genau spüren.
 

„Was ist denn hier los? Hat nicht jemand geschrien?“

Claire zuckte erschrocken zusammen und auch Neyo erschien nicht weniger überrascht. Einzig Gorscos Gesichtsausdruck veränderte sich kein bisschen, er hatte das Näherkommen dieser vierten Person offenbar bereits vorhergesehen.

Calvio stand, mit einer hellen Kerze in der Hand, an der Türschwelle und starrte verblüfft auf die Szene, die sich ihm bot. Sein überhebliches Grinsen, welches Claire schon immer gehasst hatte, war verschwunden.

„Sieh an, ein neuer Mitspieler.“ Gorsco gab ein merkwürdiges Geräusch von sich, das wohl so eine Art Lachen darstellen sollte. „Ihr dürft dabei zusehen, wie ich ihn töte.“
 

Und schon wirbelte der Mann herum und wollte sich auf den total perplexen Calvio stürzen. Dieser hatte seine Augen weit aufgerissen und murmelte irgendwas vor sich her, was Claire beim besten Willen nicht verstehen konnte.

„Tu das nicht!“, schrie Neyo. Er griff nach Gorscos Mantel, offenbar in einem Anfall von geistiger Umnachtung dazu getrieben. Der Fremde brüllte zornig auf und versetzte Neyo einen harten Schlag gegen die Schläfe. Dieser flog daraufhin mit einem lauten Knall gegen das nächste Regal und sackte zusammen, begraben unter den herabfallenden Büchern.
 

Claire wich einen Schritt zurück, vollkommen von Panik ergriffen. Was sollten sie nur tun? Wie konnten sie diesen Kerl aufhalten?

Gorsco lachte triumphierend auf, als er Neyos qualvolles Stöhnen hörte. „Das hast du verdient, Jüngchen. Aber das war nur der Vorgeschmack, du wirst schon sehen. Erst werde ich deinen Freund hier ausschalten und mich dann ein wenig mit deiner Liebsten vergnügen, ehe ich mich wieder dir zuwende.“
 

Neyo versuchte, sich aufzurappeln und zu einer passenden Antwort anzusetzen, doch ihm fehlte augenscheinlich die Kraft dazu. Der Stoß, der Gorsco ihm versetzt hatte, war offenbar dermaßen kräftig gewesen, dass Neyo alle seine Anstrengungen mobiliseren musste, um nicht das Bewusstsein zu verlieren.

Gorsco grinste siegessicher, ehe er sich mit wehendem Umhang Calvio zuwandte. Dieser stand immer noch an Ort und Stelle, hatte aber von irgendwoher einen Dolch gezückt und musterte sein Gegenüber mit festem Blick. Er war zwar immer noch verwirrt, dies nahm Claire deutlich wahr, aber er tat alles, um diesen Umstand zu überspielen.
 

„Dein kleines Messer kann mir nichts anhaben“, meinte Gorsco amüsiert.

Claire biss sich auf die Unterlippe. Vermutlich stimmte das sogar, selbst ihr sonst so wirkungsvoller Flammenzauber hatte keinerlei Erfolg gehabt. Dabei war Feuer das Element, das sie eigentlich am besten beherrschte.

Gorsco stürzte sich ohne Vorwarnung auf Calvio, seine Bewegungen waren erneut übermenschlich schnell. Doch während Neyo diese Tatsache wenig beeindruckt hatte, verlor Calvio für einen kurzen Moment die Fassung. Erschrocken taumelte er zurück und stieß einen überraschten Schrei aus.

Unter anderen Gegebenheiten hätte Claire es sehr genossen, Calvio dermaßen entsetzt zu erleben, aber nun war wahrlich nicht der Zeitpunkt dafür. Wenn sie nicht bald etwas unternähmen, dann würde er sogar sterben. Dessen war sich Claire absolut sicher.
 

Gorscos verschwommene Gestalt machte kurz vor Calvio halt. Erst hatte es den Anschein, als wollte er den ehemaligen Straßenräuber an der Gurgel packen, doch dann erkannte Claire, dass dem nicht so war. Etwas anderes hatte die Aufmerksamkeit des Eindringlings erregt.

Gorsco beachtete Calvio gar nicht mehr. Stattdessen schien er zu horchen.

Zu horchen? Aber auf was? Auch Claire strengte sich an und versuchte, etwas zu hören, aber außer dieser bedrückenden Stille und Neyos schmerzerfülltem Ächzen war rein gar nichts zu vernehmen. Das ganze Haus schien noch zu schlafen, niemand hatte offenbar das Spektakel in der Bibliothek mitbekommen.

Aber was hörte Gorsco dann?
 

Als dieser wieder seine Stimme erhob, fuhr Claire unwillkürlich zusammen. Sie hatte sich dermaßen konzentriert, dass dieser unvermittelte Bruch der Ruhe sie ziemlich erschreckte.

„Tja, meine Freunde, es war wirklich schön mit euch“, meinte Gorsco. Er ließ von Calvio ab, als wäre dieser plötzliche so uninteressant wie eine Fliege. „Aber ich muss wieder nach Hause. Man ruft mich.“

Man rief ihn? Claire verstand gar nichts mehr. Sie hatte von nirgendwoher eine Stimme oder etwas dergleichen gehört. Auch von außen drang nichts zu ihnen herein.
 

„Tut mir leid, Zuckerpüppchen“, seufzte er. „Ich hätte noch gerne ein bisschen mit dir gespielt, aber das geht heute Abend leider nicht mehr. Doch ich komm auf jeden Fall wieder vorbei. So eine hübsche Braut wie dich lass ich mir nicht durch die Lappen gehen.“

Er zwinkerte Claire schelmisch zu, ehe er plötzlich wie vom Erdboden verschwand. Sein Körper schien sich buchstäblich in Luft aufzulösen, mit der Finsternis eins zu werden. Nichts erinnerte mehr daran, dass er überhaupt da gewesen war. Wie ein schrecklicher Albtraum.
 

Claire war wie versteinert. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ins Leere, während sie versuchte, ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken zu ordnen.

„Alles in Ordnung?“ Calvio war an sie herangetreten und musterte sie sorgenvoll. Unter Mühen brachte Claire ein halbherziges Nicken zustande.

Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sie keine lebensgefährlichen Verletzungen davongetragen hatte, eilte Calvio sofort zu Neyo. Dieser war bei weitem nicht so glimpflich davongekommen wie die anderen beiden. Calvio benötigte eine Weile, ehe er all die Bücher zur Seite geschoben hatten, die sich erbarmungslos auf Neyo gestürzt hatten.
 

„Ihm geht's nicht sonderlich gut.“ Calvio hatte sich wieder an Claire gewandt. „Denkst du, du kannst ihn heilen?“

Claire holte tief Luft und zwang die düsteren Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis. Sie musste sich jetzt zusammenreißen.

Sie trat zu den beiden Männern und untersuchte Neyo oberflächlich. Dieser war zwar noch einigermaßen wach, aber seine Augen wirkten ein wenig glasig. Er schien praktisch durch Claire hindurchzusehen, als nähme er sie gar nicht wahr.

„Ich kann ihn sicher nicht komplett heilen, dafür reichen meine Kräfte noch nicht aus“, erklärte Claire. „Aber wenigstens ein bisschen, sodass er nur noch geringe Schmerzen hat.“

Calvio nickte. „Und wenn du damit fertig bist, erklärst du mir dann, was das für ein komischer Typ war?“
 

Claires Magen zog sich zusammen. „Ich ... ich weiß es nicht. Er war plötzlich da und ...“ Sie brach ab, fand keine richtigen Worte, um die Situation zu beschreiben. Alles erschien vollkommen irreal.

„Verstehe“, meinte Calvio. „Aber wer auch immer dieser Kerl war ... ein Mensch war er nicht. Und ich sehne nicht unbedingt den Tag herbei, an dem er zurückkommt.“

Erklärungen

Jyliere spürte schon bei seiner Ankunft, dass irgendwas nicht stimmte. Es war tief in der Nacht, nichts rührte sich ... doch seine Villa war hellauf erleuchtet. Hinter jedem einzelnen Fenster brannte Licht, offenbar schienen alle wach zu sein.

Irrtiert runzelte er die Stirn. Waren sie etwa alle wach geblieben, um auf die Rückkehr des Hausherren zu warten? Eigentlich mehr als unwahrscheinlich. Seit diesen merkwürdigen Vorfällen hatte Jyliere beinahe täglich stundenlange Unterredungen mit Te-Kem und besonders heute hatten sie sich viel zu erzählen gehabt, immerhin war Jyliere zwei Wochen abwesend gewesen.

Hatte er dem Personal nicht extra gesagt, dass es spät werden würde und niemand auf ihn warten sollte? Angestrengt überlegte er. Zumindest dachte er, dies verkündet zu haben, doch er konnte sich auch irren. In seinem Kopf spukten soviele Gedanken durcheinander, er konnte sich sogar kaum noch daran entsinnen, was es zum Mittagessen gegeben hatte.

Er seufzte schwer. Langsam werde ich alt, dachte er frustriert.
 

Auf dem Hof wurde er von einem äußerst blassen Pierre in Empfang genommen, der unruhig von einem Bein auf das andere hüpfte. Jyliere glaubte, ihn noch nie dermaßen nervös erlebt zu haben. Ansonsten war sein langjähriger Diener immer die Ruhe selbst und ließ sich durch nichts aus der Fassung bringen.

Langsam bekam es Jyliere ein wenig mit der Angst zu tun. Was mochte nur passiert sein, dass das ganze Haus so in Aufruhr war?

"Was ist los?", erkundigte sich der Magier, nachdem er aus der Kutsche gestiegen war.

"Es ist furchtbar", jammerte Pierre. Er warf einen verstohlenen Blick um sich, ehe er sich wieder Jyliere zuwandte. "Ich hätte es nie für möglich gehalten, Herr. Alle stehen Kopf. Aber glücklicherweise ist niemand verletzt worden ... nun ja, abgesehen von Neyo ..."

Jyliere war sofort alarmiert. Sein Körper spannte sich an, sein Magen zog sich zusammen. "Was ist denn nun passiert?", wollte der Magier augenblicklich wissen. Ihn kümmerte es wenig, dass der Diener unter seinem barschen Tonfall zusammenzuckte.

"Ich – ich weiß auch nicht genau", gab er zu. "Alles ging so schnell. Ich war auch nicht persönlich dabei, aber ... es ist jemand eingedrungen, Herr."

"Eingedrungen?" Jyliere spürte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte. "Wo ist Neyo?"

"In der Bibliothek, Herr", informierte Pierre ihn.
 

Jyliere verlor keine Sekunde. Er rauschte an dem aufgeregten Mann vorbei ins Haus. Überall begegneten ihm aufgescheuchte Maiden, Diener und Küchenjungen, die intensiv miteinander diskutierten. Wirklich jeder schien auf den Beinen zu sein, selbst das kleine Baby seines Dienstmädchens hörte er irgendwo kläglich weinen.

Als das Personal bemerkte, dass ihr Herr zurückgekehrt war, bestürmten sie ihn. Alle redeten wild durcheinander und gestikulierten mit ihren Armen. Einige der Frauen schluchzten, der Schock war ihnen noch deutlich anzusehen. Schließlich hatte niemand damit gerechnet, im Haus eines hochdekorierten Magiers von einem Einbrecher behelligt zu werden.

Jyliere stieß die ganzen Leute etwas unsanft zur Seite. Ihm war klar, dass sie das Recht auf Trost und eine Erklärung hatten, aber im Moment interessierten den Magier ganz andere Dinge. Seine Familie ging nun mal vor ...
 

Die Biblitohek glich in keinster Weise mehr der, die Jyliere vor einigen Stunden zurückgelassen hatte. Bücher lagen auf dem Boden verstreut und die Luft roch seltsam verkokelt. Es hätte zwar schlimmer aussehen können, dennoch schmerzte Jyliere dieser Anblick irgendwie.
 

Neyo begegnete ihm mit einem ernsten Blick. Er zwang sich zwar zu einem Lächeln, als er seinen Ziehvater erblickte, doch es wirkte in Jylieres Augen nur gequält. Der junge Mann saß auf dem roten Sofa, eine zierliche Gestalt mit goldenen Haaren an sich gedrückt. Claire hatte ihre Beine angezogen und ihren Kopf an Neyos Brust gebettet. Ihr Gesicht war ein wenig rot, was darauf schließen ließ, dass sie geweint hatte. Nun aber waren ihre Augen geschlossen, sie atmete ruhig. Offenbar war sie vor lauter Aufregung und Anstrengung irgendwann eingeschlafen.

Normalerweise hätte es Jyliere sehr glücklich gestimmt, seine beiden Schützlinge, die eigentlich nie ein gutes Wort für den anderen übrig hatten, Arm in Arm zu sehen, doch diese Situation war alles andere als erfreulich. Dennoch fiel Jyliere ein Stein vom Herzen, dass es beiden augenscheinlich gut ging.
 

"Du kommst spät", meinte Neyo mit einem Lächeln. "Te-Kem hat dich wohl wieder hart rangenommen, was?"

"Was ist hier passiert?", stellte Jyliere jene Frage zum wiederholten Male in dieser Nacht. "Pierre meinte, dass du verletzt wärst."

Neyo zog seine Mundwinkel nach unten. "Nicht allzu arg", entgegnete er. "Ein paar Prellungen, vielleicht sogar innere Blutungen." Als er bemerkte, wie Jylieres Miene immer sorgenvoller wurde, fügte er rasch hinzu: "Claire hat schon einige Heilzauber gesprochen. Das Schlimmste ist vorbei, es tut nur noch ein bisschen weh. Ich werd's überleben."

Jyliere erkannte, dass Neyo bloß den Tapferen spielte. In Wahrheit hatte der Junge mehr Schmerzen, als er bereit war, zuzugeben.
 

"Und Claire?", erkundigte sich der ältere Mann.

Neyo schaute zu dem Mädchen hinab, welches sich im Schlaf leicht bewegte. "Sie stand etwas unter Schock. Aber ich denke, die Tatsache, dass sie eingeschlafen ist, ist schon mal ein gutes Zeichen."

"Zumindest hat sie keinerlei Verletzungen davongetragen." Calvio, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte, trat vor. Seine Miene war ungewöhnlich ernst. "Der Typ hat sie zwar ziemlich bedrängt, aber Neyo konnte ihn noch zurückhalten, ehe es zum Äußersten gekommen war."
 

In Jylieres Kopf drehte sich alles. Einbruch, Gewalt, versuchte Vergewaltigung ... und das ausgerechnet in seinem Haus. In seiner kleinen, friedlichen Welt, die er stets für sicher gehalten hatte.

Wie sehr er sich doch geirrt hatte.

"Sie hat gesagt, dass sie sich zu wehren versucht hat", meinte Neyo. "Aber angeblich hat ihre Magie nicht funktioniert." Er hob ungläubig eine Augenbraue. "Ist das überhaupt möglich?"

Jyliere rieb sich die Schläfen. Noch vor gut einer Stunde hatte er darüber mit Te-Kem diskutiert, doch er hätte nie gedacht, schon kurz darauf damit konfrontiert zu werden. Ihm war zwar bewusst gewesen, dass die Situation sehr ernst war, dennoch hatte er irgendwie angenommen – oder vielmehr gehofft –, dass es noch nicht allzu bald geschehen würde.

Und schon wieder hatte er falsch gelegen.
 

"Du weißt etwas, nicht wahr?" Neyos Stimme war ruhig, als er den Magier mit seinem Blick fixierte. "Du weißt, was hier vor sich geht, stimmt's?"

Jyliere war klar, dass leugnen zwecklos gewesen wäre. Neyo war schon immer ein ausgezeichneter Menschenkenner gewesen, er durchschaute jede Lüge. Er würde es merken, wenn sein langjähriger Freund und Vertrauter ihn anschwindelte, und wäre sicherlich schrecklich enttäuscht und wütend gewesen.

"Ja, ich weiß es", seufzte er. "Zumindest so ungefähr. Schon seit geraumer Zeit gibt es vermehrt brutale Überfälle in Mystica, überall hat man entstellte Leichen gefunden. Vielleicht habt ihr schon davon gehört, die Gerüchte haben sich weit verbreitet."
 

"Und was hat das Ganze mit dem Buch zu tun?", wollte Neyo wissen. Seine Miene war undurchdringlich, aber Jyliere erkannte, dass der junge Mann verärgert war, weil der Magier nicht schon vorher etwas gesagt hatte. Jyliere bereute es bereits zutiefst, dass er ihnen nicht eher davon erzählt hatte, dankte jedoch den Göttern, dass trotz seiner Gedankenlosigkeit nichts allzu Schlimmes passiert war.
 

"Dem Buch?", fragte er verwundert.

"Dieser Typ war hier, um ein Buch auszuleihen, wie er es so schön formuliert hat", sagte Neyo in einem bitteren Tonfall. "Er sagte, es wäre ein großer Schatz." Der junge Mann legte seinen Kopf schief und sah den Magier mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Du weißt nicht zufällig, wovon er gesprochen hat?"
 

Jylieres Augen weiteten sich. War das möglich? Hatte dieser Kerl etwa tatsächlich ... nach diesem speziellen Buch gesucht? Unwillkürlich drückte er seine Umhängetasche enger an sich, der Inhalt presste sich unangenehm auf seine Hüftknochen.

"Ich ... ich ... versteh das nicht", stammelte Jyliere verwirrt.

Das Buch ... was hatten denn diese Kreaturen damit zu schaffen? Woher wussten sie überhaupt davon? Es war seit je her ein großes Geheimnis unter den Magiern, niemand sonst wusste darüber Bescheid. Wie also hatten sie davon erfahren können?
 

Jyliere durchfuhr es plötzlich wie ein Schock. Unvermittelt entsann er sich an das lange Gespräch mit Te-Kem. Er erinnerte sich daran, dass die beiden stundenlang darüber diskutiert hatten, wie ernst wie Situation eigentlich war. Dass bereits ein Magier zum Opfer geworden war ...

Es war kein mächtiger Mann gewesen, bloß ein durchschnittlicher Zauberer, der in einem kleinen Dorf seine Heilkräfte den Einwohnern zur Verfügung gestellt hatte. Dennoch, obwohl er nicht über große Kraft verfügt hatte, so hatte er doch um dieses geheimnisumwogene Buch gewusst.

Jyliere schluckte hart. Te-Kem hatte ihm berichtet, dass der arme Magier äußerst schlimm zugerichtet gewesen war, als man seine Leiche am nächsten Morgen gefunden hatte. Offenbar hatte man ihn lange leiden lassen, ehe er endlich vom Tod erlöst worden war.

Wieviel Folter und Qual hatte er über sich ergehen lassen, bevor er seinen Peinigern schließlich unter Schreien und Weinen von dem Buch erzählt hatte?
 

Jyliere fröstelte es. Wenn er daran dachte, dass diese Bestien, die ohne zu Zögern Menschen umbrachten, einfach so in sein Haus eingedrungen und Neyo und Claire bedroht hatten, wurde ihm speiübel.
 

"Ihr habt Glück, dass ihr noch lebt", sagte Jyliere mit belegter Stimme.

"Das denke ich auch." Neyos Augenbraue zuckte kurz, ansonsten blieb seine Miene ausdruckslos. "Verdammtes Glück sogar."

"Und wie ... wie habt ihr ihn vertrieben?" Jyliere schaute seinen Ziehsohn interessiert an. Verdankten sie ihr Leben nur einem glücklichen Zufall oder steckte vermutlich sogar mehr dahinter?
 

"Ich weiß nicht so genau", gab Neyo zu. "Er war stärker und viel schneller als ich oder sonst jemand in diesem Haus. Er war ... ich kann's nicht richtig beschreiben, er war irgendwie seltsam. Übernatürlich, wenn du so willst."

Jyliere nickte. All das hatte er schon tausendmal gehört, unzählige Zeugen hatten ihm immer wieder dasselbe erzählt. So schnell, dass kein menschliches Auge ihnen folgen konnte ... so stark wie zwanzig ausgewachsene Männer ...

"Claires Magie hat bei ihm nicht funktioniert", fuhr Neyo fort. "Deswegen habe ich es auf die altmodische Art versucht."
 

"Auf die altmodische Art?"

Neyo zuckte mit den Schultern, ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen. "Ich habe ihm einen Knüppel um die Ohren geschlagen."
 

Jyliere runzelte die Stirn. "Und das hat tatsächlich geklappt?" Irgendwie konnte er sich nur schwer vorstellen, dass diese Wesen so einfach zu besiegen waren.

"Nicht wirklich", meinte Neyo. "Ich hab ihn nur für kurze Zeit außer Gefecht setzen können, mehr nicht. Ich bin danach augenblicklich zu Claire geeilt und wollte eigentlich nur noch weg. Aber der Kerl hat uns in die Enge gedrängt. Und dann ... keine Ahnung."

"Keine Ahnung?" Jyliere nagte unruhig auf seiner Unterlippe.

"Calvio tauchte plötzlich auf", erklärte Neyo. "Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, aber er hat den Typen verjagt."
 

Er wandte sich seinem alten Freund zu, welcher immer noch an derselben Stelle stand und Neyos Ausführungen mit verschränkten Armen gelauscht hatte. Als er schließlich merkte, dass alle Aufmerksamkeit auf ihm lastete, sagte er räuspernd: "Na ja, verjagt hab ich ihn nicht." Er überlegte kurz, schien nach den richtigen Worten zu suchen. "Es schien vielmehr so, als wäre er plötzlich abgelenkt. Es wirkte, als würde er horchen. Dann war er auch schon weg."
 

Jyliere rieb sich nachdenklich das Kinn. "Du meinst also, er hätte irgendwas gehört?"

Calvio nickte bestätigend. "Ich persönlich habe rein gar nichts gehört, aber dieser Kerl offenbar schon. Es war beinahe so, als würde ein Hund auf das Rufen seines Besitzers reagieren."
 

Jyliere seufzte. Er wusste nicht viel über die Kreaturen der Nacht, aber es war weitläufig bekannt, dass sie in Gruppen, sogenannten Clans, zusammenlebten, die jeweils vom Ältesten und Stärksten angeführt wurden. Offenbar hatte das Oberhaupt nach dem Eindringling gerufen und ihn zurückbeordert. Diese Kreaturen verfügten über ein ausgesprochen intensives Gehör, sodass die menschlichen Wesen um ihn herum davon überhaupt nichts mitbekommen hatten.
 

"Wer war dieser Kerl?" Neyos Stimme riss den Magier aus seinen Gedanken. "Oder besser gesagt: Was war dieser Kerl?"

Jyliere senkte den Blick. "Eigentlich dürftet ihr es nicht wissen."

Neyos Gesicht verzog sich zu einer missmutigen Miene. Er wäre wahrscheinlich empört aufgesprungen, hätte Claire nicht in seinen Armen geschlafen. "Verdammt, Jyliere, der Kerl hätte uns beinahe getötet! Ich weiß, dass er es getan hätte, ich hab's in seinen Augen gesehen. Augen, die alles andere als menschlich gewesen waren."
 

Jyliere zögerte. Einerseits hätte er Neyo liebend gern alles erzählt, sich den Frust von der Seele geredet, aber andererseits wollte er ihn auch nicht beunruhigen. Im Moment glaubte er wohl, dass der Eindringling ein merkwürdiger Psychopath gewesen war, der vielleicht zusätzlich über etwas Magie gebieten konnte. Was würde geschehen, wenn er die Wahrheit erführe? Wie würde er reagieren? Entsetzen, Ungläubigkeit oder etwas ganz anderes?

Dann jedoch fasste der alte Magier einen Entschluss. Wenn er Neyo weiter anlog, würde er nur dessen Vertrauen verlieren, welches er sich über all die Jahre so hart erarbeitet hatte. Das durfte er nicht riskieren.
 

Jyliere seufzte. "Es sind Vampire. Sie sind schon seit einiger Zeit in Mystica unterwegs, nun haben sie Rashitar erreicht."

Neyo hob eine Augenbraue und sah den Älteren eine Weile stillschweigend an. Dann fragte er, leicht verwirrt: "Was sind Vampire?"

Jyliere kratzte sich am Hinterkopf. Wie sollte er das nur erklären? "Nun ja ...", begann er zögernd. "Es ist schwer zu beschreiben. Einst waren sie Menschen, doch nun sind sie ... Untote."

"Untote?" Neyo schien langsam zu begreifen. "Wie diese Kreaturen aus den alten Legenden? Die das Blut ihrer Opfer trinken?"

Jyliere nickte bestätigend. "Genau die."

Neyo verzog missmutig sein Gesicht und auch Calvio machte keinen besonders begeisterten Eindruck. "Das soll wohl ein Scherz sein, alter Mann", brummte dieser.

Jyliere schüttelte entschieden den Kopf und warf seinem Diener einen harten Blick zu. "Ich scherze nicht. Zumindest nicht, wenn es um Vampire geht." Er wandte sich wieder Neyo zu, welcher eine nachdenkliche Miene aufgesetzt hatte. "Diese Untoten sind schneller und stärker als alles andere. Ihre Augen funkeln wie die eines Dämons. Und keine Art von Magie kann ihnen etwas anhaben."
 

Neyo schaute auf. Anhand von Jylieres Beschreibung schien er den Eindringling wiederzuerkennen. "Bist du schon mal einem begegnet?", wollte der junge Mann wissen.

"Bis jetzt noch nicht", erwiderte der Magier.

"Und woher weißt du dann so genau Bescheid?"
 

Jyliere zögerte einen Moment, dann holte er das ominöse Buch der Zukunft aus seiner Tasche hervor und blätterte darin herum. Er bemerkte, dass Neyo und Calvio ihn weiterhin interessiert musterten. Beiden schienen unzählige Fragen auf der Zunge zu liegen, doch sie hielten sich zurück und warteten darauf, was Jyliere ihnen zu berichten hatte.

"Hier." Der Magier hielt inne, als er die richtige Stelle gefunden hatte. Er präsentierte den zwei Männern jene Seite, die ausnahmsweise nicht mit diesen merkwürdigen Schriftzeichen vollgekritzelt war, sondern ein Bild enthielt. Es stellte eine schattenhafte Gestalt mit glitzernden Augen und langen Eckzähnen dar. Und obwohl es nur ein Bild war, so lief Jyliere doch jedesmal ein Schauer über den Rücken, wenn er es erblickte.
 

"Und das ist ein Vampir?", fragte Neyo.

"Ich denke – oder ich hoffe vielmehr –, dass diese Darstellung etwas überzogen ist, aber es soll in der Tat ein Vampir sein", bestätigte Jyliere.

"Es sieht diesem Gorsco recht ähnlich", meinte Calvio schnaubend.

Jyliere seufzte. Soviel also zu seiner Hoffnung, dass dieses Bild übertrieben sei.
 

"Und was ist das nun für ein Buch?", wollte Neyo wissen. Er blätterte mehrere Seiten um und betrachtete irritiert die seltsamen Hieroglyphen. "Warum wollen diese Vampire es unbedingt haben?"

Jyliere fuhr sich durch das schüttere Haar. "Ehrlich gesagt weiß ich es nicht genau. Aber es besitzt einen ungeheuren Wert."

"Und der wäre?"

Der alte Magier zögerte einen Augenblick, dann jedoch erzählte er ihnen alles. Wie dieses Buch eines Tages in ihren Besitz gekommen war, wie sie nach und nach unter großer Anstrengung die Schriftzeichen entschlüsselt hatten und wie sich immer mehr Magier aus Furcht vor diesem Werk verschlossen hatten.

"Es wäre sicher längst zerstört, hätte ich es nicht an mich genommen", beendete Jyliere seine Ausführungen.

Neyo betrachtete das Buch mit gefurchter Stirn. "Und da steht wirklich alles drin? Die ganze Zukunft?"

"Alles natürlich nicht", erwiderte Jyliere. "Aber die wichtigsten Ereignisse sind dort aufgeführt."

Neyo und Calvio wechselten einen Blick. Man konnte ihnen ansehen, wie sehr sie an der Geschichte zweifelten. Dennoch schienen sie nach dem, was in dieser Nacht passiert war, solchen Dingen etwas offener gegenüberzustehen. Offenbar zwangen sie sich zumindest selbst, wenigstens vorläufig Jylieres Worten Glauben zu schenken.
 

"Aber wenn dort alles drinsteht, warum habt ihr es nicht verhindert?" Neyo schaute den Magier fragend an. "Ihr wusstet doch bereits im Voraus, dass die Vampire kommen würden. Wieso habt ihr keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen?"

"Aber das haben wir doch getan", entgegnete Jyliere seufzend. "Wir haben alles mögliche in Bewegung gesetzt, um sie daran zu hindern, nach Mystica vorzudringen. Magie, Schutzwälle, hohe Bewachung ... aber nichts hat geholfen. Sie sind um einiges stärker und geschickter, als wir es uns jemals gedacht hätten." Erschöpft ließ er sich auf einen Sessel nieder. "Außerdem wussten wir nicht genau, wann die Vampire kommen würden."
 

Neyo hob ungläubig eine Augenbraue. "Stehen in diesem Buch denn keine Daten?"

"Doch." Jyliere nickte. "Aber wir verstehen sie nicht. Es sind immer so komische Zahlen aufgeführt und dahinter steht dann 'v. Chr.' oder 'n. Chr.'. Niemand weiß, was das bedeuten soll."

Auch Calvio, der schon viel in der Welt herumgekommen war und so einige verschiedene Kulturen kennen gelernt hatte, zuckte ahnungslos mit den Schultern. Solch eigentümliche Datumsbezeichnungen waren ihm offenbar noch nirgendwo untergekommen.
 

"Stehen dort auch Namen drin?", wollte Neyo wissen. "Von berühmten Persönlichkeiten? Oder gar von Vampiren?"

Jyliere nickte bestätigend. "Die größten Clans sind dort aufgelistet, ebenso wie ihre Taten. Glaubt mir, mehr wollt ihr gar nicht wissen."

"Und ist dort auch etwas über diesen Gorsco niedergeschrieben worden?"

Jyliere lehnte sich in dem Sessel zurück, während er seinen finsteren Blick auf die am Boden verstreuten Bücher richtete, die jener Vampir aus dem Regal befördert hatte. "Nein, tut mir leid. Seinen Namen habe ich dort bis jetzt noch nicht finden können. Er ist wahrscheinlich zu unbedeutend, um überhaupt genannt zu werden."
 

Neyo schaute auf Claire, welche sich immer noch an seine Brust geschmiegt hatte und seelenruhig schlief. "Und Sharif? Claire meinte, dass Gorsco diesen Namen erwähnt hätte."

Obwohl er eigentlich damit hätte rechnen müssen, durchfuhr Jyliere dennoch ein kalter Schauer. Sein Magen zog sich unwillkürlich zusammen.

"Ja ...", begann er zögernd. "Er ist dort erwähnt."

Als Jyliere keine Anstalten machte, weiter fortzufahren, fragte Neyo drängend: "Und was wird dort über ihn gesagt?"

Der Magier senkte den Blick. Am liebsten hätte er einfach geschwiegen, doch Neyos eindringlicher Blick war Ansporn genug. Selbst, wenn er sich geweigert hätte, irgendwas zu erzählen, der junge Mann hätte sicherlich irgendeine Möglichkeit gefunden, diese Information aus dem Älteren herauszuholen. Darin war Neyo schon immer ausgesprochen gut gewesen.
 

"Sharif ist ..." Jyliere fuhr sich nervös durchs Haar. "In ferner Zukunft wird er einer der ältesten und mächtigsten Vampire der Welt sein. Seine Sippe wird als der gefährlichste Clan, der jemals existiert hat, in die Geschichte eingehen. Er wird so etwas wie ein König der Untoten." Der Magier biss sich auf die Unterlippe. "Aber bereits jetzt ist er unglaublich stark. Er ist zwar verhältnismäßig jung, aber trotzdem eine ernstzunehmende Bedrohung. Er ist ... anders."
 

"Anders?", fragten Neyo und Clavio gleichzeitig.

"Na ja, wie soll ich es bloß erklären?" Jyliere seufzte schwer. "Im Grunde weiß ich selbst nicht so genau, was ihn eigentlich ausmacht. Aber er ist bereits jetzt viel mächtiger als seine viel älteren Artgenossen. Ich vermute, er verkörpert irgendwie ... eine neue Generation. Vielleicht sogar eine ganz andere Rasse."
 

Neyo drückte unbewusst Claire näher an sich, als wollte er sie vor Jylieres Worten beschützen. Gedankenverloren starrte er auf den Knüppel, welchen er Gorsco über den Kopf gezogen hatte. Dieser lag vor ihnen auf dem Tisch, als wäre er eine wertvolle Trophäe.

"Aber diese Vampire verschwinden doch wieder?", fragte Neyo leise. "Irgendwann?"

Jyliere senkte den Kopf. Er wollte gar nicht daran denken. Schon als er diese Textpassage in dem Buch gelesen hatte, war er vor Entsetzen zusammengebrochen und hatte sogar geweint.

"Ja, sie verschwinden bald wieder", sagte er mit belegter Stimme. "Aber davor ..."
 

Neyo schaute auf. Er schien den Kummer des Magiers zu spüren. Auch Calvio trat etwas vor und machte den Anschein, als würde er darüber nachdenken, dem alten Mann tröstend eine Hand auf die Schulter zu legen.

"Was wird passieren, Jyliere?", wollte Neyo wissen. "Was werden sie Schreckliches anrichten?"
 

Jyliere presste die Lippen aufeinander. "Es wird noch ein Vampir hier auftauchen. Alec ist sein Name. Er ist von derselben Art wie Sharif, aber vom Temperament her weitaus hitzköpfiger und gefährlicher."

"Und was wird dieser Alec tun?"

Jyliere spürte, wie wieder die Tränen hervorzubrechen drohten. Mühsam unterdrückte er sie. Er durfte keinerlei Schwäche zeigen, so hilflos er sich auch fühlte.
 

"Alec wird Te-Kem töten."

Stimmen

So, hier ist auch schon das nächste Kapitel ^^

Ich hoffe, es gefällt euch einigermaßen ^^
 

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„Ich versteh das nicht“, knurrte Lasgo. „Wie konntest du das nur tun? Wie konntest du mich dermaßen hintergehen?“
 

Sharif hob eine Augenbraue und beobachtete den Vampirführer, welcher in Zimmer auf und ab ging und allerlei Verwünschungen dabei ausstieß. Nichts erinnerte mehr an den Anstand, den Lasgo eigentlich stets bewahren wollte. Er stammte aus gutem Hause und selbst jetzt, hunderte von Jahren nach seiner Verwandlung zu einem Vampir, war er den Gepflogenheiten der Oberschicht treu geblieben. Nur ab und an verlor er die Beherrschung und fluchte ungehemmt. Sharif genoss dies immer sehr, da er wusste, wie sehr Lasgo es eigentlich verabscheute, die vulgäre Ausdrucksweise des gemeinen Volkes zu benutzen.
 

Sharif ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Der Vampirführer redete unermüdlich weiter und ließ dabei zahlreiche Beleidigungen auf den jungen Untoten niederprasseln. Während andere sicher unter diesem scharfen Tonfall zusammengezuckt wären, machte Sharif sich nichts weiter daraus. Er war auf der Straße aufgewachsen und konnte mit Kränkungen aller Art sehr gut umgehen. Im Grunde war Lasgo sogar recht freundlich zu ihm, wenn man es mit dem verglich, was schon so manch anderer zu ihm gesagt hatte.
 

Sharifs Augen blieben an einem farbenfrohen Mosaik hängen, welches die Nordwand des Zimmers schmückte. Sehr aufwändig und teuer sah es aus, aber die früheren Besitzers dieses Hauses hatten nicht den Eindruck gemacht, als würde es ihnen an entsprechenden Mitteln fehlen.

Nun ja, jetzt lagen sie tot und bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt in ihrem eigenen Keller und verrotteten dort allmählich. Soviel also zum Reichtum ...
 

Sharif musste sich eingestehen, dass er sich in diesen Räumlichkeiten nicht ganz wohl fühlte. Es stimmte zwar, dass sie nur so von Luxus umgeben waren, dennoch konnte der junge Mann dem nicht viel abgewinnen. Die vielen Zimmer, die endlosen Gänge, die exquisite Ausstattung und vor allen Dingen diese weichen Matratzen – daran war er einfach nicht gewohnt. Es machte ihn bloß irgendwie unruhig. Er hätte eine alte, klapprige Hütte dieser riesigen Villa jederzeit vorgezogen.
 

„Du bist ziemlich unverschämt“, fuhr Lasgo weiterhin ungerührt fort. „In deinem Land scheint man wohl nicht viel von Manieren zu halten. Wahrscheinlich alles Hinterwäldler ...“

Ägypten!“, meinte Sharif mit Nachdruck. „Ägypten heißt meine Heimat, aber es verwundert mich nicht, dass du das schon wieder vergessen hast. Es zählt übrigens zu den fortschrittlichsten Reichen dieser Welt, doch so ein dummer Bauer wie du hat ja keine Ahnung.“

Lasgo ballte seine Hände zu Fäusten. Seine Augen funkelten unheilvoll, so als wollte er sich jeden Moment auf sein Gegenüber stürzen, ohne Rücksicht auf Verluste.

„Lass es lieber.“ Sharif schenkte ihm ein spöttisches Lächeln. „Du kannst sowieso nicht gegen mich gewinnen.“

„Du bist gerade mal hundert Jahre alt!“, stieß Lasgo wutentbrannt hervor. „Noch jung und unerfahren. Ich bin zehnmal so alt wie du, wieso also sollte ich dich nicht besiegen können? Je älter, desto stärker.“

Sharif lehnte sich in seinem weichen Sessel zurück und stieß einen Seufzer aus. „Das weißt du ganz genau, Lasgo. Ich bin anders als ihr. Belass es einfach dabei und gräme dich nicht. Du hast immer noch das Kommando über deine Leute.“

„Ach tatsächlich?“, zischte Lasgo angriffslustig. „Und wieso hast du Gorsco zurückgerufen? Kannst du mir das vielleicht mal verraten?“
 

Sharif rieb sich die Schläfen. Allmählich hatte er genug von diesem Kerl. Wenn er ihn nicht noch brauchen würde, hätte er ihn schon längst fortgeschickt. „Das Buch war gar nicht im Haus. Dieser alte Magier hat es zum Oberen mitgenommen. Das wäre dir oder deinen Männern auch aufgefallen, wenn ihr nicht so überheblich wärt.“

Lasgo knirschte mit den Zähnen, während er wahrscheinlich darüber nachsann, wie er Sharif am besten attackieren konnte. „Trotzdem ...“, fauchte er. „Du hättest Gorsco ruhig seinen Spaß lassen können. Er hatte alles unter Kontrolle.“

Sharif warf ihm einen ernsten Blick zu. „Wir sind nicht hier, um deine Kinder zu unterhalten. Wenn sich Gorsco dieses süße Mädchen noch schnappen will, dann kann er das später tun. Wir haben im Moment Wichtigeres vor.“

Lasgos Hände verkrampften sich zu Fäusten. „Ja, ja, ich weiß“, brummte er.

„Warum wolltest du dieses Buch eigentlich haben? Nur so aus Neugier?“ Sharif legte seinen Kopf schief und sah den hochgewachsenen Vampir erwartungsvoll an.
 

Zunächst warf Lasgo ihm einen Blick zu, der darauf hindeutete, dass er sich niemals im Leben zu einer Antwort herablassen würde, doch als Sharif eine düstere Miene aufsetzte und ihn bedrohlich fixierte, gab der untote Adelige sich geschlagen. „Es gehört uns!“, meinte er schulterzuckend. „Es hat nichts in den Händen eines dreckigen Menschen verloren.“

„Aber du kennst den Inhalt dieses Buches beinahe in- und auswendig“, entgegnete Sharif. „Warum bist du das Risiko eingegangen, von einem hochkarätigen Magier erwischt zu werden? Das war über alle Maßen leichtfertig.“

Lasgo schnaubte verächtlich. „Ihre Magie kann uns nicht schaden“, sagte er, als würde er mit einem begriffsstutzigen Kind sprechen.

„Das mag schon stimmen, aber sehr machtvolle und stark konzentrierte Magie hat schon einen gewissen Einfluss auf Vampire“, meinte Sharif belehrend. Er lächelte spöttisch. „Sag bloß, du hast das wieder vergessen, mein uralter Freund. Dieser Jyliere hätte deinem Mann ernsthaften Schaden zufügen können, wäre er zu Hause gewesen.“

Lasgo verzog keine Miene, doch man konnte deutlich spüren, wie sehr er es hasste, dass Sharif ihn zur Ordnung rief. Früher oder später würde er vor Wut in die Luft gehen, soviel war sicher. Sharif freute sich schon sehr auf diesen Tag.
 

„Was ist jetzt mit dem Oberen?“, wechselte Lasgo schließlich das Thema. „Bringen wir ihn um?“

„Nein.“

„Und warum nicht?“ Wieder war dieses Zähneknirschen zu hören. Lasgo würde wohl früher in die Luft gehen, als erwartet.

Sharif musterte sein Gegenüber eingehend. „Alec wird das erledigen.“

Lasgo runzelte die Stirn. „Alec? Er kommt hierher?“
 

Sharif konnte sehen, wie wenig begeistert der Vampirführer diese Neuigkeit aufnahm. Das war aber schließlich auch kein Wunder, immerhin war Alec genau wie Sharif: durch und durch anders. Ein Vampir und doch wieder nicht. Eine andere Gattung, eine völlig andere Stufe.

„Ja, er kommt hierher“, bestätigte Sharif nickend. „Er wird schon sehr bald hier eintreffen. Und du kannst mir glauben, wenn Alec erst einmal angekommen ist, dann bleibt hier kein Stein auf dem anderen. Er ist ziemlich temperamentvoll.“

„Das hab ich auch schon gehört“, murmelte Lasgo. Er schien sogar ein wenig eingeschüchtert zu sein, zumindest war er nicht mehr ganz so vorlaut wie vorhin. „Und was machen wir bis dahin?“

Ihr könnt euch ein bisschen in der Stadt amüsieren, aber lasst euch bloß nicht von großen Magiern erwischen. Ich werde währenddessen dem Palast einen kleinen Besuch abstatten.“
 

„Aber hast du nicht gerade gesagt –“

„Ich habe nicht vor, Te-Kem zu töten, falls du das meinst“, unterbrach Sharif ihn. „Nein, nein, wenn wir unsere Rache schon bekommen, dann sollten alle anwesend sein und dem Sterben dieses niederen Menschen beiwohnen.“

„Und was hast du dann im Palast vor?“

„Ich werde mich bloß ein bisschen umsehen.“ Sharif zuckte mit den Schultern. „Ein wenig die Lage überprüfen, wie San-jul sagen würde. Vielleicht finde ich sogar das, weswegen wir überhaupt erst hierher gekommen sind.“

Lasgo schwieg einen Moment. „Denkst du wirklich?“

„Keine Ahnung. Wir wissen nur, dass es im Schloss versteckt ist. Irgendwo ganz tief unten, in den finstersten Abgründen.“
 

* * * * *
 

„Was ist los mit dir, Neyo? Wirst du krank? Du bist ganz blass.“ Hingegen seiner Natur klang Calvio richtiggehend besorgt. Er musterte sein Gegenüber eingehend.

„Es ist ... nichts“, log Neyo mehr schlecht als recht. „Ich habe heute Nacht nur nicht besonders gut geschlafen.“
 

Im Grunde hatte er sogar gar nicht schlafen können, doch diese Information behielt er lieber für sich. Er wollte Calvio nicht unnötig beunruhigen. Außerdem legte er keinen besonders großen Wert darauf, zuviel Aufmerksamkeit zu erlangen. Wenn er schon krank war, dann besser still und heimlich für sich als in aller Öffentlichkeit. So hatte Neyo es stets gehandhabt, noch eine alte Angewohnheit aus seiner Zeit auf der Straße. In der Gosse hatte niemand Schwäche zeigen dürfen, sonst wäre man äußerst schnell irgendwelchen skrupellosen Kerlen ausgeliefert gewesen.
 

Neyo ließ seinen Blick durch die Küche schweifen. Alles war wie immer, nichts deutete darauf hin, was vor einer Woche in dieser Villa passiert war. Das Fenster war repariert und der Schock einigermaßen bewältigt worden. Nun versuchten die Hausbewohner, wieder ihren gewohnten Alltag zu leben. Man sprach zwar noch darüber, aber bei weitem nicht mehr so häufig. Nach und nach war dieses Ereignis immer mehr in den Hintergrund gerückt.

Auch die verstärkten Sicherheitsmaßnahmen trugen dazu bei, dass sich alle allmählich wieder beruhigten. Te-Kem hatte ihnen mehrere Wachposten zur Verfügung gestellt und außerdem um die Villa eine starke Barierre errichtet. Zwar war sich Neyo nicht wirklich sicher, ob dies alles gegen die Vampire nützen würde, aber wenigstens half es dabei, dass sich die Bewohner nach und nach entspannen konnten.
 

Zumindest die meisten.
 

Auf Neyo traf dies leider nicht zu. Obwohl er sich redlich darum bemühte, Gorscos teuflisches Gesicht zu vergessen, so gelang es ihm dennoch nicht wirklich. Immer wieder hörte Neyo dieses dämonische Lachen und spürte die kalten Finger, die sich um seinen Hals gelegt hatten.

Seit dieser Nacht hatte Neyo kein Auge mehr zugetan. Zwar war es ihm gelungen, mal ein bis zwei Stunden in einen Schlaf voller Albträume zu gleiten, aber das reichte bei weitem nicht aus. Sein Körper verlangte nach Ruhe, doch sein Geist erlaubte es nicht.
 

Dies war wahrscheinlich auch der Grund, warum er sich so elend fühlte. Er war schwach und ausgelaugt. Im Grunde überraschte es ihn sogar, dass er nicht schon längst vor Erschöpfung zusammengebrochen war.
 

Das Schlimmste jedoch war diese ständige Flüstern, das nach und nach immer mehr an seinen Nerven zehrte und ihn schier wahnsinnig machte.
 

Nach Gorscos Erscheinen war es zum ersten Mal aufgetaucht, dieses merkwürdige Klingeln in seinen Ohren. Neyo hatte es für eine Nebenwirkung der harten Misshandlungen des Vampirs gehalten und sich nichts weiter dabei gedacht.

Aber mit jedem Tag war es drastischer geworden. Inzwischen hatte sich dieses dumpfe Pochen in ein permanentes Geräusch verwandelt, das wie das Flüstern hunderter Stimmen klang. Als würden unzählige Menschen durcheinanderreden – zwar leise, aber dennoch bohrend und nervenaufreibend. Ein nicht enden wollender Chor.
 

Neyo hatte sich bis jetzt niemanden anvertraut. Irgendwie wusste er, dass es Schlimmes mit sich bringen würde, würde er es jemanden verraten. Man würde ihn wahrscheinlich für verrückt erklären und in irgendeine Anstalt sperren, wo er den Rest seines Lebens mit idiotischen Zurückgebliebenen verbringen würde.

Zwar war er mehr als einmal kurz davor gewesen, es Jyliere zu erzählen, aber jedes Mal hatte er sich zurückgenommen. Der alte Magier hatte mehr als genug zu tun, er schien immer blasser zu werden. Seit Gorscos Eindringen hatte er kaum noch geschlafen, sondern in irgendwelchen alten Zauberbüchern nach einer Lösung für ihr Problem gesucht. Jyliere war angespannt, schon fast einem Kollaps nahe. Weitere schlechte Nachrichten hätten seinen Zustand nur noch weiter verschlechtert, somit hatte Neyo sich entschieden, vorerst seinen Mund zu halten.
 

Es würde sich wahrscheinlich schon bald alles wieder einrenken. Diese imaginären Stimmen waren bestimmt nur Nebenwirkungen seiner starken Kopfverletzung, nichts weiter. Sie würden schon sehr bald verklingen.

Zumindest hoffte Neyo dies sehr ...
 

„Du brauchst einen Arzt.“ Calvio kaute auf einem zähem Stück Fleisch herum und starrte Neyo unverwandt an. „Du siehst nicht besonders gut aus.“

„Ach was“, winkte Neyo ab. „Ich brüte wahrscheinlich nur irgendwas aus. Eine Erkältung oder so.“

„Schon möglich“, meinte Calvio schulterzuckend. Er klang jedoch alles andere als überzeugt. Weiterhin beäugte er seinen Freund misstrauisch, als würde er irgendwo auf Neyos Stirn die Antwort lesen können.

„Lass das!“, stieß Neyo hervor. „Das nervt!“ Er stand dermaßen impulsiv auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte. Während einige in der Küche vor Schreck zusammenzuckten, beachtete Neyo dies nicht weiter. „Ich bin nur ein bisschen krank, das ist alles. Wenn es dich beruhigt, werde ich mich jetzt ein wenig ins Bett legen, einverstanden?“

„Tu, was du willst.“ Calvio wollte wohl den Eindruck erwecken, dass ihm Neyos Zustand mehr oder weniger gleichgültig war, aber man musste nicht sonderlich begabt sein, um zu erkennen, dass der einstige Piratenmörder ein wenig verunsichert war. Er machte sich wirklich Sorgen. Eigentlich recht ungewöhnlich für diesen hartgesottenen Typen.

„Und erzähl Jyliere nichts davon“, meinte Neyo, kurz bevor er die Küche verließ. „Er hat schon genug um die Ohren.“

„Ja, ja“, hörte er Calvio noch missmutig murmeln.
 

Neyo schritt langsam durch die Gänge. Seit Gorscos Einbruch hatte sich einiges in der riesigen Villa verändert. Immer wieder traf man einen oder zwei Wachposten, die schwatzend und schwer bewaffnet durch die Flure streiften und selbst bei der kleinsten Bewegung sofort reagierten. Vor gut zwei Tagen hätte einer dieser Wächter beinahe einen von Jylieres Hunden attackiert, weil sich dieser geräuschlos genähert hatte. Glücklicherweise war aber nichts weiter passiert, ansonsten wäre der alte Magier garantiert ausgerastet. Wenn es um seine Hunde ging, kannte Jyliere keine Gnade.

Auch die zahlreichen Glocken, die überall in den Gängen aufgehängt worden waren, gehörten zu den neuen Schutzmaßnahmen. Geriet man in Bedrängnis oder fiel einem irgendwas Merkwürdiges auf, so musste man diese nur läuten und gleich zehn grimmig dreinblickende Wächter standen bereit. Diese Glocken waren magisch verstärkt worden, sodass sie eine Lautstärke erreichen konnten, die selbst Te-Kem in seinem Palast aus dem Bett geworfen hätte. Für die empfindlichen Ohren eines Vampirs mussten sie eine wahre Qual darstellen.
 

Neyo seufzte schwer. Aber dennoch würden all die Maßnahmen nicht besonders viel bewirken bei übernatürlichen Wesen, denen nicht mal Magie etwas anhaben konnte. Im Grunde konnte man nur noch hoffen, dass diese Untoten nicht erneut das Bedürfnis verspürten, das Buch zu stehlen. Allerdings bezweifelte Neyo stark, dass die Vampire dies so einfach auf sich beruhen lassen würden. Gorsco hatte schließlich versprochen, irgendwann zurückzukehren.
 

Neyo kam an der Bibliothek vorbei und warf einen flüchtigen Blick hinein. Es verwunderte ihn wenig, dass er dort Claire vorfand, die sich über ein Buch gebeugt hatte und hochkonzentriert den Text las. Seit Jyliere ihnen diese Sache mit den Vampiren erzählt hatte, war Claire mehr als erpicht, jede einzelne Kleinigkeit, mochte sie auch noch so unbedeutend sein, herauszufinden. Bereits seit Tagen wälzte sie sich durch alle Bücher und Schriftrollen, um soviel wie möglich über diese geheimnisumwitterten Untoten zu erfahren.
 

„Und? Hast du schon was Neues herausbekommen?“ Neyo trat näher auf Claire zu. Als er direkt neben ihr stand, hielt er inne und runzelte verwundert die Stirn.
 

Dieses Flüstern ... es war plötzlich weg!
 

Wie von Geisterhand verschwunden, als hätte es nie existiert. Wie war das nur passiert?

Neyo rieb sich die Schläfen. Allmählich begann er, ernsthaft an seinem gesunden Menschenverstand zu zweifeln. Mal hörte er merkwürdige Stimmen, dann wieder nicht ... alles schien verrückt zu spielen.

Ich brauche ganz dringend Urlaub, dachte er frustiert.

Claire bemerkte seine Verwirrung nicht, ihr Blick war fest an den ihr vorliegenden Text gefesselt. Voller Elan schien sie jedes einzelne Wort aufzusaugen. „Ich habe noch nicht besonders viel erfahren können“, sagte sie. „Aber diese Vampire werden in vielen Texten erwähnt, älteren wie neueren. Manchmal nur am Rande, aber oft genug sind sie auch die Hauptakteure. Sie werden als 'Dämonen', 'Bestien' oder 'Monster' bezeichnet.“ Sie schnaubte. „Irgendwie sehr zutreffend, nicht wahr?“

Neyo war überrascht, dass Claire sich überhaupt dazu herabgelassen hatte, ihm eine Antwort zu geben. Unter normalen Umständen hätte sie ihm einen bösen Blick zugeworfen und ihm irgendwelche wenig damenhaften Flüche entgegengeschleudert. Aber seit Gorscos Erscheinen schien sie sich ihm gegenüber ein wenig verändert zu haben. Er war zwar noch weit davon entfernt, sie 'nett' zu nennen, aber wenigstens war sie bei weitem nicht mehr so bissig. Ab und zu hatte sie sogar so etwas wie ein gequältes Lächeln zustande gebracht.
 

Neyos Aufmerksamkeit fiel auf das Buch. Ihm war plötzlich ein Gedanke gekommen. „Sag mal, steht da auch irgendetwas über die Opfer der Vampire, die überlebt haben? Was ... nun ja, was danach mit ihnen passiert?“

Nun schaute Claire von ihrer spannenden Lektüre auf und musterte ihn argwöhnisch. „Was meinst du?“, fragte sie irritiert.

„Na ja“, Neyo kratzte sich am Hinterkopf. Wie sollte er es bloß erklären, ohne verdächtig zu wirken? „Gibt es vielleicht Aufzeichnungen darüber, dass sich diese Opfer ... plötzlich seltsam benahmen? Oder gar irgendwelche Stimmen hörten?“
 

Claire starrte ihn noch eine Weile stillschweigend an, dann schüttelte sie den Kopf. „Wie kommst du denn auf solch eine abstruse Idee?“ Sie schien fast schon amüsiert zu sein. „Wenn jemand Stimmen hört, dann ist er eindeutig verrückt, doch ich denke nicht, dass das irgendwas mit Vampiren zu tun hat.“

Neyos Stimmung sank rapide. „Verrückt?“

Calire nickte bestätigend. „Verrückt! Geisteskrank! Wahnsinnig! Möchtest du noch mehr Synonyme hören oder reicht dir das?“

Neyo schluckte. „Danke, das reicht für die nächsten zwanzig Jahre.“

Sie schenkte ihm ein falsches Lächeln. „Gern geschehen“, meinte sie. „Und jetzt verschwinde bitte, falls es nicht zuviele Umstände macht. Ich bin am Recherchieren.“
 

Neyo hatte keine Lust, länger mit ihr zu diskutieren. Dafür fehlte ihm einfach die Kraft. Vielleicht sollte er das, was er Calvio vorgelogen hatte, wirklich beherzigen und sich etwas ins Bett legen. Er wusste zwar, dass das nicht viel bringen würde, aber es war besser als gar nichts.
 

Als er sich langsam der Tür näherte und schon fast auf den Flur hinaustrat, kehrte das dumpfe Flüstern unvermittelt wieder. Er seufzte resigniert. Er lebte bereits seit mehreren Tagen mit dieser ständigen Begleitmusik, irgendwie hatte er sich schon damit abgefunden. Es war zwar nicht besonders angenehm, doch er würde es überleben. Dieses Klingeln in seinen Ohren würde sicherlich bald irgendwann wieder verschwinden.
 

Neyo warf einen Blick zurück zu Claire. Sie hatte bereits ihre Nase wieder ins Buch gesteckt und machte nicht den Eindruck, als würde sie das Flüstern ebenfalls hören. Offenbar hatte Gorsco wirklich die falsche Stelle erwischt, als er Neyo geschlagen hatte, und dort irgendetwas beschädigt.
 

Aber warum hatte es dann eben für kurze Zeit aufgehört?
 

Neyos Augen blieben erneut an dem blonden Mädchen haften. War sie etwa der Grund dafür? Oder besser gesagt: Ihre Magie?

Dieser Gedanke war gar nicht so abwegig, wie Neyo fand. Die übernatürliche Energie eines Magiers drang auch in geringen Maßen nach außen. Man konnte es zwar nicht sehen, aber näherte man sich einem von ihnen, so konnte es vorkommen, dass die Haut leicht kribbelte.
 

Neyo musste plötzlich grinsen. Wenn er also in Ruhe schlafen wollte, dann müsste er Claire mitnehmen. Sie könnte sich neben sein Bett setzen und weiter in ihren Büchern lesen. Oder sie könnte sich gleich zu ihm legen.
 

Er fand diese Vorstellung ausgesprochen lächerlich ... aber irgendwie gefiel sie ihm auch.

Im Palast

Hier kommt schon das nächste Kapitel ^^

Es ist nicht sonderlich lang, aber ich hoffe, es gefällt euch trotzdem ^^

Wie versprochen werde ich dann auch im nächsten Kapitel auflösen, was nun eigentlich mit Neyo los ist. Aber keine Angst, die Geschichte ist damit noch nicht zu Ende ^^

An dieser Stelle wollte ich bei meinen treuen Lesern Kaguyashi und berner-ib bedanken *fühlt euch ganz doll geknuddelt* ^^
 

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Diese Menschen ... sie hielten sich für so schlau und überlegen, doch im Grunde waren sie minderwertige Tiere, die nicht einen Tag in freier Wildbahn überleben konnten. Doch leider hatte ihr ausgeprägter Verstand, der mit Machtgier und verdrehten Wertvorstellung vollgestopft war, und ihr unzerstörbarer Ehrgeiz sie weit aufsteigen lassen. Nun bevölkerten sie die ganze Welt und hatten überall ihre Nester verteilt. Wie eine Krankheit.

Sharif hatte die Menschen noch nie leiden können. Selbst, als er einer von ihnen gewesen war, war man ihm nur mit Verachtung und Hass entgegengetreten. Jeder hatte nur an sich selbst gedacht, niemand hatte Mitleid für einen armen Obdachlosen wie ihn aufopfern können. Menschen waren nun mal eigennützig und egoistisch. Das lag in ihrer Natur.

Und obendrein waren sie viel zu selbstgefällig, wie die plumpen Schutzmaßnahmen von Te-Kems Palast bewiesen. Sie schienen wohl zu glauben, einige böse dreinschauende Wächter und eine schwache, magische Barriere würden reichen, um unfreiwillige Gäste fernzuhalten.
 

Wie sehr sich diese Idioten doch getäuscht hatten.
 

Es war für Sharif schon fast zu leicht. Ohne Schwierigkeiten trat er durch die verzauberte Abpserrung. Er spürte nur ein leichtes Kribbeln in der Magengegend, sonst nichts. Soviel also zur ruhmreichen, starken Magie des heißgeliebten Herrschers Mysticas ...

Niemand bemerkte ihn, als er durch die spärlich beleuchteten Gänge des Schlosses spazierte. Mindestens fünfmal kam er an irgendwelchen Wachposten vorbei, doch diese nahmen Sharif überhaupt nicht wahr. In der Dunkelheit der Nacht war er wie ein Schatten, unsichtbar für die unterentwickelten Sinne eines Menschen. Der Vampir konnte mühelos an ihnen vorbeischlendern, ohne dass sie überhaupt etwas davon mitbekamen. Zum Spaß pustete er einem der Wächter in den Nacken. Amüsiert beobachtete er, wie der Mann vor Schreck aufschrie und herumhampelte wie ein kleines Kind.

Diese Menschen waren so einfach zu überlisten ...
 

Trotz alledem war Sharif fast schon ein wenig enttäuscht. Von diesen menschlichen Wachposten hatte er wahrlich nicht sehr viel erwartet, aber Te-Kem war da schon ein ganz anderes Kaliber. Über ihn waren viele Geschichten im Umlauf, von großen Taten und ehrwürdigen Heldenmut wurde gesprochen. Die meisten bezeichneten ihn als das mächtigste Oberhaupt, das Mystica je gesehen hatte.

Sharif hatte bis jetzt allerdings nur sehr wenig von Te-Kems Glanz zu Gesicht bekommen. Ganz im Gegenteil – der so hochgepriesene Herrscher schien sich schon seit Wochen in seinem Palast zu verkriechen, nur noch selten zeigte er sich in der Öffentlichkeit. Das erste und einzige Mal, das Sharif ihn gesehen hatte, war auf irgendeinem alljährlichen Volksfest in einer Stadt in der Nähe von Rashitar gewesen. Es war seine Verpflichtung als Oberhaupt gewesen, sich wenigstens für ein paar Stunden dem gemeinen Volk zu präsentieren und so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung.
 

Dabei war gar nichts in Ordnung.
 

Aus Te-Kems sonderbaren Verhalten zog Sharif die Schlussfolgerung, dass es den Magiern in Mystica tatsächlich irgendwie gelungen war, das Buch der Zukunft – in Vampirkreise Ty'lyar genannt – zu entschlüsseln. Und der alte Magier hatte in diesem geheimnisumwitterten Werk gelesen, was das Auftauchen der Vampire in Rashitar für ihn bedeuten würde.

Te-Kem hatte schlicht und ergreifend Angst. Angst vor dem Tod, so wie es jeder Mensch früher oder später einmal hatte. Auch Sharif selbst, noch vor seiner Zeit als Untoter, hatte diese Furcht kennen gelernt, die einen innerlich auffressen und zerstören konnte. Somit hatte Sharif in gewisser Weise Verständnis für Te-Kem.
 

Dennoch war es irgendwie frustrierend. Sharif hatte mit einer großen Herausforderung gerechnet, mit einem kräftestrotzenden Magier, der sich durch nichts einschüchtern ließ und die ungebetenen Eindringlinge aufs schärfste bekämpfte. Stattdessen hatten sie es jetzt mit einem ängstlichem, alten Mann zu tun, der sich in seinem Zimmer verschanzte und wahrscheinlich zu allen bekannten Göttern betete, dass die Vampire wieder verschwanden.

Irgendwie ein wenig erbärmlich.
 

Sharif erspähte plötzlich einen einzelnen Wachposten, der an der Steinmauer gelehnt stand und irgendwas in den Händen hielt, das stark an ein Weingefäß erinnerte. Offenbar hatte er sich von seinen Kumpanen abgeseilt, um seinen Gelüsten zu frönen. Dass er sich noch im Dienst befand, schien ihn nicht sonderlich zu stören.

Sharif lächelte. Das kam ihm durchaus gelegen. Dieser Palast war unheimlich groß und er hatte wenig Lust, das ganze Gebäude abzusuchen. Da wäre er noch bis nächsten Morgen beschäftigt gewesen. Ein Fremdenführer war in dieser Situation genau das richtige.
 

Der Mann stank geradezu unerträglich nach billigem Wein und beißendem Schweiß. Sharif musste seinen Geruchssinn betäuben, damit sich ihm nicht der Magen umdrehte.

Der Mann stieß einen spitzen Schrei aus, als Sharif unvermittelt vor ihm auftauchte. Der Krug zerschellte lautstark am Boden und ergoss seinen Inhalt über den Stiefeln des Vampirs. Sharif zog daraufhin die Munwinkel nach unten.

„Den Gestank werd ich wohl niemals rauskriegen“, beschwerte er sich.
 

„Wer ... wer ...?“, stammelte der Wächter vollkommen perplex. Er drückte sich gegen die kalte Mauer, sein Gesicht verlor zusehend an Farbe. Er schien wohl zu glauben, Sharif sei irgendein Geist, der aus dem Schatten getreten war.

„Du hast wirklich eine ausgesprochen klare Ausdrucksweise.“ Sharif lächelte teuflisch. „Ich könnte deine Hilfe gebrauchen, mein Freund. Na, was sagst du? Zur Belohnung darfst du vielleicht am leben bleiben.“

Der Wächter schluckte schwer und tastete nach seinem Schwert. In seiner Aufregung zitterte er aber dermaßen stark, dass er partout den Griff seiner Waffe nicht zu fassen bekam. Der beträchtliche Anteil Alkohol, den er bereits intus hatte, spielte dabei sicher auch eine gewisse Rolle. Sharif hätte ihn bereits fünfmal töten können, wäre das sein Wunsch gewesen.
 

„Es ist sinnlos, mich bekämpfen zu wollen.“ Sharif schüttelte den Kopf und ließ seine Augen ein wenig übernatürlich aufleuchten. Der Wächter winselte erbärmlich. „Ich brauche nur einen Fremdenführer, das ist alles.“

Sharif packte den grobschlachtigen Mann am Arm und drückte fest zu. Der Wachposten schrie vor Schmerz auf und wäre auch sicherlich auf den Boden gesackt, hätte der Vampir es nicht verhindert.

„Also, hilfst du mir nun oder nicht?“, verlangte Sharif zu erfahren.

„ ... Ja ... ja ...“ Der Kerl nickte so heftig, dass ihm fast der Kopf abgefallen wäre.

Sharif setzte ein zufriedenes Lächeln auf. „Na also, es geht doch. Bring mich in den Kerker ... dort, wo die Magier etwas versteckt halten, das keiner je zu Gesicht bekommen darf.“
 

Der Wächter schien zu verstehen. Offenbar kannte jeder dieses unausgesprochene Geheimnis in den tiefsten Winkeln des Palastes.
 

Aber was dort wirklich verborgen lag, das wussten nur die wenigsten.
 

Der Wachposten führte Sharif tiefer ins Innere des Schlosses. Auf ihrem Weg begegnete ihnen niemand, die Flure waren wie ausgestorben. Beinahe so, als wüssten die Menschen unterschwellig, dass sich dort unten etwas befand, dem sie lieber nicht zu nahe kamen.

Selbst Sharifs Führer wurde mit jedem Schritt unruhiger. Bei dem kleinsten Geräusch zuckte er zusammen und er war penibel darauf bedacht, die Fackel, die er in seiner Hand hielt, weit in den Gang vor sich leuchten zu lassen, als befürchtete er, dort in den Schatten könnte etwas lauern. Als sie schließlich einer finsteren Treppe hinab in den Keller folgten, schien seine Angst dermaßen zuzunehmen, dass er richtiggehend zu klappern begann. Sharif konnte sich ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen.
 

„Hier ... hier ist es“, sagte der Wächter schließlich nach weiteren zehn Minuten Marsch. Unvermittelt blieb er stehen, als hätte es ihm jemand befohlen. Sein Gesicht war weißer als der feinste Marmor.

Sharif runzelte die Stirn. Er sah sich einer magischen Barriere gegenüber, die den Gang abschottete. Dahinter, in einiger Entfernung, konnte er eine schwere Eisentür ausmachen.
 

„Du weißt, was dort versteckt liegt?“, erkundigte sich Sharif.

Der Wächter schüttelte hastig den Kopf. „Das weiß niemand“, erklärte er rasch. „Keiner spricht darüber, aber ...“

„Aber was?“

Der Mann wich einen Schritt zurück, offenbar von der dunklen Tür am Ende des Flurs zunehmend eingeschüchtert. „Es ist unheimlich“, meinte er knapp.

Sharif starrte den Wächter noch einen Augenblick an, dann lächelte er. Er war alles genau so, wie er es sich gedacht hatte.
 

Diese kalte Eisentür, die diesen kümmerlichen Menschen in Schweiß ausbrechen ließ ... diese gespannte Atmosphäre ... diese Absperrung ...
 

Sharif untersuchte die Barriere etwas genauer. Sie war bei weitem nicht so schwach und plump, wie jene, die den Palast schützen sollte. Nein, sie war um einiges machtvoller, gespeist von Generationen der Magie. Sie wurde wahrscheinlich regelmäßig mit neuer Energie verstärkt, sodass sie niemals verblasste oder in irgendeiner Weise nachgab.

Diese Absperrung war dermaßen stark, dass selbst Sharif sie nicht durchschreiten konnte. Soviel Magie war selbst für einen hartgesottenen Vampir wie ihn zuviel.
 

„Hast du Familie?“, wandte sich Sharif plötzlich an den immer noch zitternden Wächter, der voller Furcht auf die Tür starrte und sich offenbar bereits seinen eigenen Tod ausmalte. Als sein ungebetener Gast ihn so unvermittelt ansprach, schrak er zusammen.

„J-ja ...“, antwortete der Mann ein wenig verwirrt. „Eine Frau ... und eine kleine Tochter.“

Sharif nickte, dann bedeutete er dem Kerl mit einem Wink, dass er verschwinden könnte. Der Wachposten war darüber dermaßen erstaunt, dass er sich zunächst nicht von der Stelle bewegte.

„Nun geh schon!“, fuhr Sharif ihn an. „Ich habe keine Lust, dich zu töten, aber wenn du weiter hier verharrst und mich so dumm anglotzt, dann überlege ich es mir vielleicht nochmal.“
 

Das ließ sich der Typ nicht zweimal sagen. Hastig machte er kehrt und stürmte davon. Mit ihm die brennende Fackel, sodass es binnen weniger Sekunden in dem Gang stockdunkel wurde. Doch Sharif war das gleichgültig, er konnte in der Finsternis sogar besser sehen als am Tag.
 

Er drehte sich wieder zu der Tür, die so nah erschien und gleichzeitig doch so fern war.

Nur zu gerne hätte er sie geöffnet und das geholt, was sich dahinter befand. Zu gerne hätte er das zurückgefordert, was diese Magier ihnen vor knapp hundert Jahren gestohlen hatten.
 

Aber noch war es nicht soweit. Im Augenblick gab es für ihn keine Gelegenheit, seinen Wunsch in die Tat umzusetzen.
 

Doch schon bald würde sich das ändern.
 

Schon sehr bald.
 

* * * * *
 

Neyo tapste durch die dunklen Gänge. Es war kurz nach Mitternacht, das ganze Haus schlief seelenruhig. Selbst Gustav, der gerne über die Strenge schlug und mit ein paar Freunden bis spät in die Nacht aufblieb und dabei beträchtliche Mengen Alkohol konsumierte, war bereits vor Stunden zu Bett gegangen.
 

Es war niemand mehr da ... außer Neyo.
 

Und diesen Stimmen.
 

Ihm waren bereits Tränen in die Augen getrieben. Mit aller Gewalt drückte er die Hände auf die Ohren, sodass er schon fast das Gefühl bekam, er würde seinen Kopf zerquetschen. Schmerz durchzuckte seinen Körper, ließ ihn taumeln.

Aber seine Bemühungen nutzten alle nichts. Der Chor wurde dadurch nicht leiser, ganz im Gegenteil. Immer mehr Stimmen schienen auf ihn einzureden, ihn schier wahnsinnig zu machen.

Er hatte sogar seinen Kopf ein paar mal gegen eine Steinmauer geschlagen, doch außer schier unerträglichen Qualen und Sternchen vor den Augen hatte auch das ihm nicht viel eingebracht. Es wurde von Minute zu Minute schlimmer.
 

Neyo war bereits an einen Punkt angekommen, an dem ihn fast jegliche Hoffnung verloren gegangen war. Dieser durcheinanderwirbelnde Sturm von Stimmen schien weit mehr zu sein als bloß die Nebenwirkungen von Gorscos Misshandlungen. Sie erschienen unnatürlich und nicht von dieser Welt, doch gleichzeitig erinnerten sie Neyo an das große Stimmengewirr beim Jahrmarkt.
 

Übersinnlich und gleichzeitig real ...
 

Orientierungslos schlingerte er durch die Flure. Er wusste nicht mehr, wo oben oder unten war, alles drehte sich. Nichts ergab mehr einen Sinn.

Nur eins wusste er: Er musste dringend jemanden finden, der der Magie mächtig war! Ob nun Jyliere oder Claire, es war ihm gleich. Solange nur die Stimmen endlich verstummten. Solange er endlich erlöst würde.
 

Am Rande seines Bewusstseins nahm er eine schwere Eichentür wahr. Vage entsann er sich, dass Claire eine ähnliche Tür zu ihren Gemächern besaß. Vielleicht war es ja sogar dieselbe, er konnte es in seinem geschwächten Zustand nur schwer unterscheiden.

Mit aller Kraft warf er sich gegen die Tür und hämmerte darauf herum. Ihm war klar, dass er ebenso gut gegen die Tür einer Besenkammer klopfen konnte, doch ihm war das egal. Er konnte sowieso keinen Schritt mehr gehen. Er würde hier und jetzt zusammenbrechen, ob es sich nun um Claires Zimmer handelte oder um eine bedeutungslose Abstellkammer.
 

Als jedoch die Türe von innen geöffnet wurde, brachte er sogar ein gequältes Lächeln zustande.
 

„Du?“, stieß die Person vor ihm in einem verärgerten Tonfall hervor. „Was fällt dir denn ein, mitten in der Nacht so einen Krach zu machen?“

Claire schien von ihm aus dem Schlaf gerissen worden zu sein. Ihr Haar war zerzaust und ihr dünnes Nachthemd offenbarte mehr, als ihr wahrscheinlich bewusst war. Sie war offensichtlich sofort aus dem Bett gesprungen und zur Tür geeilt, um den nächtlichen Störenfried zur Rede zu stellen. Nun funkelte sie Neyo wutentbrannt an. Sie schien offenbar darüber zu sinnieren, ob sie ihn zur Strafe in eine Kröte verwandeln sollte.
 

„Kannst du mir verraten, was dieser Lärm zu bedeuten hat?“, zischte sie zornig. „Wenn du keinen triftigen Grund hast, dann schwöre ich dir ...“

„Ich ...“ Neyo bekam kaum ein Wort über die Lippen. Zwar war durch Claires Nähe die Stimmen in seinem Kopf abrupt verstummt, doch sein Körper war immer noch schwach. Das Fieber raubte ihm sämtliche Kraft. Ohne dass er es irgendwie verhindern konnte, sank er auf die Knie. Er hörte, wie Claire erschrocken aufkeuchte.

„Was ist mit dir?“, fragte sie. Es schien sogar so etwas wie Sorge in ihrem Tonfall mitzuschwingen.
 

„Sie ... sie sind ruhig.“ Er starrte zu ihr hoch. Er merkte bereits, dass sein Sichtfeld verschwamm. Ihm war klar, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, bevor er das Bewusstsein verlor. „Wenn du ... da bist ... dann sind die Stimmen verschwunden ...“ Er schluckte schwer. Sein Hals war wie ausgetrocknet. „Schick mich nicht fort ... Bitte!“
 

Und mit diesen Worten wurde um ihn herum alles schwarz.

Neyos Geheimnis

So, hier ist schon das neue Kapitel ^^

Eigentlich hatte ich nicht gedacht, dass ich es so schnell schon fertigbekomme, aber als ich einmal angefangen hatte zu schreiben, konnte ich nicht mehr aufhören ^^

Ich hoffe, es gefällt euch ^^
 

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Im ersten Moment war Claire wie versteinert. Fassunglos starrte sie auf den bewusstlosen Neyo hinab, welcher zu ihren Füßen lag. Schwer atmend und mit einem glänzendem Film auf der Stirn, der eindeutig vom hohem Fieber zeugte. Schwach und entkräftet.

Aber schnell fasste Claire sich wieder. Mitilfe ihrer Magie sandte sie eine Druckwelle aus, die die zahlreichen Glocken in der ganzen Villa betätigten. Diese erfüllten das Anwesen mit ihrem ohrenbetäubenden Lärm, dass es selbst Tote hätte aufwecken können.
 

Innerhalb kürzester Zeit traf der erste aus dem Schlaf Gerissene bei ihr auf. Es war Marie, die schon etwas in die Jahre gekommene Magd, die nun mit einem Krückstock bewaffnet in Claires Zimmer auftauchte und sich suchend umschaute. Ihre Augen glitzerten gefährlich, sie schien zu allem entschlossen. Jeden Einbrecher hätte sie zu Tode geprügelt, da war sich Claire sicher.

Die junge Magierin hätte bei diesem Anblick sicherlich gelacht, wäre ihr danach zumute gewesen. Es sah einfach viel zu komisch aus, wie diese kleine rundliche Frau den Stock schwang und nach Schwerverbrechern Ausschau hielt, die sie vermöbeln konnte.
 

Dann jedoch fiel ihr Blick auf den bewusstlosen Neyo und ihre Wut war vergessen. „Was ist geschehen?“, fragte sie sorgenvoll.

„Er ist einfach zusammengebrochen“, erklärte Claire. Sie war erstaunt, dass ihre Stimme zitterte. „Ich weiß auch nicht genau, was geschehen ist.“

Nur wenige Augenblicke später kamen weitere Rettungstruppen an. Fünf der grimmigen Wächter Te-Kems, die ebenfalls nach mutmaßlichen Eindringlingen zu suchen begannen, und einige neugierige Diener und Mägde.

Das größte Theater veranstaltete wohl Catherine, die freizügige und hübsche Tochter des Kochs. Bei Neyos Anblick heulte sie hemmunglos drauflos und versuchte, ihn durch kräftiges Rütteln wachzubekommen. Als dies nicht gelang, fixierte sie Claire mit einem zornigen Blick und machte sie für die ganze Miesere verantwortlich. Sie brabbelte irgendetwas von Flüchen und Eifersucht, während ihr Vater sein völlig aufgelöstes Kind aus dem Zimmer schaffte.
 

„Was ist denn hier los?“

Claire atmete erleichtert auf, als sie Jylieres Stimme hörte. Augenblicklich machten alle Bediensteten Platz, um ihren Herrn durchzulassen. Dieser hatte sich wohl in aller Eile einen Morgenmantel übergezogen und war losgestürmt, ohne noch einen kurzen Blick in den Spiegel zu werfen. Seine Haare waren dermaßen zerzaust, als wäre er vom Blitz getroffen worden.

Jyliere starrte seine Ziehtochter fragend an, doch als er Neyo entdeckte, welchen zwei der Wachposten auf Claires Bett gelegt hatten, riss er erschrocken die Augen auf.

„Was ...?“ Er stockte, schien keine Worte zu finden. Fassungslos starrte er auf den bewegungslosen Körper vor sich hinab.
 

„Er ist einfach plötzlich hier aufgetaucht“, berichtete Claire. „Hat wie ein Verrückter gegen meine Tür gehämmert. Und dann hat er das Bewusstsein verloren.“

„Ihm ging's schon heute Mittag nicht besonders gut.“ Calvio war es gelungen, sich durch die Schar Schaulustiger zu quetschen. Mühevoll rang er daraufhin nach Luft, als hätte er einen langen Marsch hinter sich. „Er war ziemlich blass. Er hat versucht, es zu verbergen, aber es war ziemlich offensichtlich.“

„Vielleicht ... eine Grippe?“ Marie hatte eine Schale klares Wasser und ein frisches Tuch besorgt und stellte dies nun vorsichtig neben Claires Bett. „Immerhin wird es Winter. Zwei der Küchenjungen haben im Moment auch eine ziemlich schlimme Erkältung.“

Jyliere nickte, obwohl er immer noch etwas perplex wirkte. „Ja ...“, murmelte er. „Das wird es sein. Nichts weiter.“ Es klang beinahe so, als wollte er sich selbst beruhigen.

„Aber warum redet er dann von irgendwelchen Stimmen?“, fragte Claire.
 

Jyliere warf ihr einen Blick zu, der undeutlicher nicht hätte sein können. Nichts war daraus zu lesen und gleichzeitig auch irgendwie alles. Claire fand es auf gewisse Weise unheimlich. Fast schon automatisch wich sie ein Stück von ihm zurück.

„Stimmen ...?“, fragte Jyliere fast schon zaghaft nach. Er wirkte angespannt.

Claire nickte eifrig. „Er hat gesagt, dass die Stimmen in meiner Nähe stumm wären.“ Sie krauste ihre Stirn. „Ich hab nicht ganz verstanden, was er damit gemeint hat. Aber gestern in der Bibliothek hat er mich noch gefragt, ob die Opfer von Vampiren im Nachhinein irgendwelche Stimmen gehört hätten. Ich fand diese Frage zwar sehr merkwürdig, aber ich habe mir nichts dabei gedacht.“
 

Jyliere wandte sich plötzlich zu der versammelten Mannschaft hinter ihm. Alle Anwesenden zuckten bei dieser unvermittelten Bewegung zusammen, selbst die Wächter Te-Kems, die sich noch vor gar nicht allzu langer Zeit damit gerühmt hatten, dass sie sich vor nichts und niemanden überraschen ließen.

„Geht bitte!“, sagte Jyliere. „Geht bitte alle!“

Einige warfen sich erstaunte Blicke zu, doch niemand wagte es, dem Magier zu widersprechen. Selbst Calvio, der sonst kein Blatt vor den Mund nahm, hielt sich dieses Mal zurück und verschwand mit den anderen. Er schien wohl gespürt zu haben, wie ernst es Jyliere damit war.
 

„Was ist denn los, Jyliere?“ Claire hatte sich das feuchte Tuch genommen und tupfte behutsam Neyos fiebrige Stirn ab. Der junge Mann stöhnte kurz auf, ansonsten zeigte er keinerlei Reaktion. „Ich kann fühlen, dass was nicht stimmt. Was bedrückt dich?“

Jyliere starrte geradezu widerwillig zu dem ehemaligen Dieb, den er einst aus dem Gefängnis befreit hatte. „Er hört Stimmen ... er bricht zusammen ...“ Der alte Mann seufzte schwer. „Es ist wohl soweit.“
 

Claire konnte hingegen nur verwundert dreinschauen. „Was ist soweit?“

Jyliere starrte sie eine Zeit lang durchdringend an, dann fasste er plötzlich ihre Hände und drückte sie fest. „Willst du es wirklich wissen? Es könnte dein Leben für immer verändern ... so wie es meins verändert hat.“

Claire legte ihren Kopf schief. Sie verstand zwar immer noch nicht, worauf Jyliere hinauswollte, aber sie konnte spüren, wie sehr es ihn quälte, dieses Geheimnis mit niemanden teilen zu können. Ein Teil von ihm wollte Claire schonen und ihr nichts erzählen, doch andererseits schien er diese drückende Last unter allen Umständen abwerfen zu wollen. Er war hin- und hergerissen.

„Hast es denn dein Leben zum Negativen verändert?“, erkundigte sie sich.

Jyliere musste über diese Frage eine Zeit lang nachdenken. „Ja ... und Nein.“

Viel schlauer war Claire nun auch nicht, aber dennoch nickte sie. „Erzähl's mir. Was ist los?“

„Es geht um Neyo. Um sein Geheimnis.“

Damit hatte Claire schon gerechnet. Sie strich ihm eine Haarsträhne aus dem Stirn und musterte sein blasses Gesicht. Normalerweise hatte seine Haut eine gesunde Brauntönung, nun aber war er weißer als die Unschuld selbst.
 

„Du weißt, warum das passiert ist, nicht wahr?“ Im Grunde war es keine Frage, sondern eine Feststellung. „Du weißt, wieso er plötzlich Stimmen hört.“

Jyliere senkte seinen Blick. „Ja“, flüsterte er.

„Und warum?“, wollte sie wissen.

Der Magier zögerte einen Augenblick und betrachtete Neyo mit leidlicher Miene. Dann antwortete er: „Er ist ein Sa'onti.“
 

Claire hob eine Augenbraue. Diesen Begriff hatte sie noch nie gehört, dessen war sie sich absolut sicher. „Und was bedeutet das?“

Jyliere presste die Lippen aufeinander. „Wir haben es mit 'auserkoren' übersetzt“, erklärte er. „Aber wörtlich heißt es ... 'geboren, um zu sterben'.“
 

Claire schaute ziemlich verdattert drein. Immer noch konnte sie sich keinen rechten Reim daraus machen, was Jyliere ihr eigentlich sagen wollte. „Ich verstehe nicht“, gestand sie.

„Das wundert mich auch nicht“, meinte der Magier. Die Sa'onti werden in keinem uns bekannten Werk erwähnt – nur im Buch der Zukunft.“

Claire zuckte unwillkürlich zusammen, als Jyliere diesen Namen aussprach. Sie selbst hatte das Buch in Händen gehalten und dabei etwas Böses gespürt, dass es ihr den Atem geraubt hatte. Als würde es irgendwie leben.
 

„Sa'onti sind ... Menschen, die ...“ Jyliere schien nicht so recht zu wissen, wie er es erklären sollte. Seine Stimme klang brüchig. „Menschen, die im Grunde keine Menschen sind.“ Er rieb sich an den Schläfen und seufzte schwer. „Sie sind ... anders.“
 

„Anders? Inwiefern?“, fragte Claire. Irgendwie fürchtete sie sich ein wenig vor der Antwort, doch andererseits wollte sie es unbedingt erfahren.

„Sie werden geboren wie Menschen. Sie leben wie Menschen. Aber irgendwann ... irgendwann beginnt es.“ Jyliere nagte nervös auf seiner Unterlippe wie ein kleiner Junge. „Plötzlich vollbringen sie Dinge, die man nicht für möglich gehalten hätte. Sie bewegen sich schneller. Sie können nachts nicht mehr schlafen.“

Claire erinnerte sich daran, wie sie kurz vor Gorscos Auftauchen Neyo in der Bibliothek begegnet war. Er hatte ihr erzählt, dass er öfters in der Dunkelheit durchs Haus streifte. Vollkommen gelassen hatte er es gesagt, hatte gleichgültig mit den Schultern gezuckt.

Er hatte wohl gedacht, dies sei völlig normal ...
 

„Und weiter?“, drängte Claire. Immer noch hatte sich ihr nicht der Sinn des Ganzen erschlossen. „Was hat das alles zu bedeuten?“

Jyliere zögerte einen Moment, schließlich aber meinte er: „Sa'onti sind Menschen, die vom Schicksal auserkoren wurden.“ Er warf einen geradezu verzweifelten Blick zu Neyo. „Auserkoren, um Vampire zu werden.“
 

Claire verschlug es die Sprache. Fassungslos weiteten sich ihre Augen, ungläubig starrte sie Jyliere an. Hatte sie das gerade richtig verstanden oder erlaubte er sich nur einen üblen Scherz mit ihr? Das konnte doch alles nicht wahr sein!

„W-was ...?“, stotterte sie vollkommen durcheinander. Es war viel zu spät in der Nacht für solch abstrusen Geschichten.

Sie hoffte inbrünstig, dass sie noch am schlafen war. Dass sich das alles nur als ein verrückter Traum entpuppte. Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass dem nicht so war. Es war die Realität – so verquer ihr das auch erschien.
 

„Irgendwann nehmen diese Menschen die Eigenschaften von Vampiren an“, fuhr Jyliere fort. „Es ist kein bestimmter Zeitpunkt, bei manchen geschieht es schon recht früh, bei anderen wiederum sehr spät. Der ausschlaggebende Auslöser bei Neyo war wohl die Begegnung mit diesem Gorsco.“

Nun, wo Jyliere dies erwähnte, wurde es auch Claire bewusst. Seit diesem Ereignis war Neyo um einiges stiller und zurückhaltender geworden, er hatte mit jedem Tag ein wenig kränklicher gewirkt. Selbst seine frechen Bemerkungen waren seit dieser Nacht vollkommen ausgeblieben.

Eigentlich hatte Claire angenommen, dies sei nur eine Art Trauma. Dass er etwas Zeit bräuchte, um sich von dem Erlebten zu erholen. Auch sie selbst war darüber noch nicht hinweg, oft genug sah sie Gorscos funkelnde Augen vor sich. Es würde wahrscheinlich eine Weile dauern, bis sie diesen Kerl endgültig vergessen würde.

Aber dass Neyos Gemütswandel auf etwas ganz anderes zurückzuführen war, hätte Claire nie für möglich gehalten.
 

„Und ... was heißt das jetzt?“, fragte sie zaghaft nach. „Was sind das für Stimmen, die er hört?“

Jyliere setzte sich ächzend auf die Bettkante. „Das weiß ich auch nicht genau. Es handelt sich um eine weitere Eigenschaft der Vampire. Manche vermuten, es seien Stimmen aus dem Jenseits. All die Opfer dieser Monster. Andere wiederum behaupten, es seien die Stimmen der Natur. Dass die Untoten die Bäume reden und die Flüsse flüstern hören könnten.“

„Und was glaubst du?“ Claire sah ihn erwartungsvoll an.

„Vampire verfügen über ein ausgesprochen gutes Gehör“, meinte Jyliere. „Sie selbst sind in der Lage, es zu kontrollieren, aber Neyo ... er hört die Stimmen von anderen Menschen, vielleicht aus hundert Kilometer Entfernung, und er hat keine Ahnung, wie er sie abstellen kann. Ich denke, er ist dazu auch gar nicht in der Lage.“

Claire beschlich ein ungutes Gefühl. „Was willst du damit sagen?“

„Sa'onti sind zwar auserwählt, aber sie sind in dem Sinne keine Vampire. Die Fähigkeiten der Untoten, die irgendwann bei ihnen erwachen, überfordern ihre schwachen, menschlichen Körper. Wenn sie also nicht rechtzeitig in Vampire verwandelt werden ...“ Jyliere verstummte.
 

„Was? Was passiert dann?“

Eine einzelne Träne glitzerte im Augenwinkeln des Magiers. „Dann gehen sie zugrunde“, erklärte er matt. „Ihre Körper sind für so was nicht geschaffen, kein Mensch könnte das aushalten.“

Wie zur Antwort stöhnte Neyo plötzlich auf. Claire legte ihm hastig das kühle Tuch auf die Stirn und redete ermunternd auf ihn ein. Binnen weniger Augenblicke beruhigte er sich auch schon wieder.
 

„Und ... was hat das alles für einen Zweck?“ Claire spürte einen Knoten im Hals. „Was soll das Ganze?“

„Du erinnerst dich doch sicher noch an Sharif und Alec?“, erkundigte sich Jyliere.

Sicher, wie könnte sie die vergessen? Diejenigen, die vorhatten, Te-Kem zu ermorden und Mystica ins Chaos zu stürzen. Obwohl Claire diese beiden noch nie zu Gesicht bekommen hatte, wusste sie instinktiv, dass sie sogar noch um einiges gefährlicher waren als Gorsco. Nicht nur Jylieres düstere Erzählungen hatten sie davon überzeugt, sondern auch ihr eigenes übersinnliches Gefühl. Allein bei der Erwähnung ihrer Namen zog sich Claires Magen zusammen.

„Was ist mit den beiden?“, wollte sie wissen.

Jylieres Miene wurde finster. „Sie sind auch Sa'onti!“
 

Claire blinzelte mehrere Male perplex. „Wie bitte?“, stammelte sie.

Jyliere nickte eifrig. „Es ist wahr. Auch sie sind vom Schicksal erwählt worden, Vampire zu werden. Und so ist es schließlich auch geschehen. Ich weiß zwar nichts genaues, aber zumindest Alec war kurz vorm Sterben, ehe man ihn verwandelte. Er befand sich wahrscheinlich damals in einer ähnlichen Situation wie Neyo.“

Claire wurde mit einem Mal richtig schlecht. Der Vergleich zwischen Alec und Neyo gefiel ihr absolut nicht. Die beiden waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht.
 

„Sharif und Alec werden als außergewöhnliche Vampire beschrieben“, erklärte Jyliere. „Als Wesen, die den anderen Untoten bei weitem überlegen sind. Eine völlig neue Gattung, wenn du so willst. In ferner Zukunft werden sie große Herrscher sein.“

Claire hob eine Augenbraue. Sie hoffte bloß, dass sie nicht lang genug leben würde, um das mitzubekommen. Wenn die Welt von Vampiren beherrscht würde, dann wäre das das Ende.
 

„Und was machen wir jetzt? Sollen wir Neyo von einem Vampir beißen lassen, damit er nicht stirbt?“ Claire zog ihre Mundwinkel nach unten. Diese Situation missfiel ihr sehr.

Bei Jyliere jedoch schien kurz ein Hoffnungsschimmer aufzuleuchten. „Ich glaube, das ist gar nicht nötig.“

„Ach nein?“ Claire legte ihren Kopf schief. „Aber sagtest du eben nicht –?“

„Ja ja, ich weiß“, unterbrach Jyliere sie. „Aber ich glaube, wir können Neyo retten, ohne diesen Schritt zu wagen. Magie ist der Schlüssel.“

„Magie?“

„Ganz recht“, stimmte der alte Mann zu. Sogar ein leichtes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Die Stimmen in Neyos Kopf verstummten, als er in deiner Nähe war. Das hat er doch gesagt, nicht wahr? Außerdem konnte er Gorscos Attacke ausweichen, als er an der Türschwelle stand. Als er jedoch bei dir gewesen ist, hat der Vampir ihn erwischen können. Verstehst du, worauf ich hinauswill?“
 

Claire legte ihre Stirn in Falten, dann nickte sie zögerlich. „Ich glaube schon“, meinte sie. „Du denkst, dass die Magie, die wir ausstrahlen, diese Vampireigenschaften in irgendeiner Weise unterdrückt. Nicht wahr?“

Jyliere schien stolz, dass sie seinen Gedankengängen so ohne weiteres hatte folgen können. „Genau das denke ich. Hast du eine andere Erklärung?“

Nein, die hatte sie nicht. Es klang sogar irgendwie logisch – sofern man davon absah, dass das Ganze sowieso eigentlich total verrückt war.
 

„Das heißt, Neyo muss jetzt immer in unserer Nähe bleiben?“, hakte sie nach. Ein Traum wird wahr, dachte sie frustriert.

„Vorerst ja.“ Jyliere rieb sich nachdenklich am Kinn. „Aber auf Dauer werden wir eine andere Lösung finden müssen. Doch ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingt. Neyo wird kein Vampir werden.“

„Deinen Optimismus möchte ich haben“, brummte Claire.

„Das ist kein Optimismus, das ist eine Tatsache“, erwiderte Jyliere. „Neyo wird nämlich mit keiner Silbe im Buch der Zukunft erwähnt.“

Claire runzelte die Stirn. „Und das heißt?“

„Jeder andere Sa'onti, der verwandelt worden ist, ist dort aufgelistet“, meinte der Magier. „Jeder einzelne. Angefangen von Sharif bis hin zu Sa'onti, die erst Jahrtausende später erschaffen werden. Neyo hingegen ist dort nirgends zu finden. Entweder er wird nie zu einem Vampir oder ...“

„Oder er stirbt, bevor es dazu kommen kann“, vollendete Claire den Satz. Diese Variante sagte ihr am wenigsten zu.

„Er wird überleben!“, entgegnete Jyliere. Er klang zwar über alle Maßen überzeugt, dennoch entging Claire nicht der kurze Funke des Zweifels, der in seinen Augen aufblitzte.
 

„Und was unternehmen wir jetzt wegen der Vampire?“, erkundigte sich die junge Magierin. „Sie werden sicher zurückkommen, um Neyo zu holen.“

„Oh, sie wissen gar nicht, wer oder was Neyo ist“, widersprach Jyliere.

„Also sind sie gar nicht seinetwegen hier?“, fragte Claire überrascht. „Aber weswegen dann?“

Nun zögerte Jyliere erneut. Man sah ihm an, dass er es bereute, dies überhaupt angesprochen zu haben. Er hätte sich wahrscheinlich liebend gerne selbst geohrfeigt.

„Nun spuck's schon aus!“, drängte Claire. „Weswegen sind sie hier? Wegen dem Buch?“

„Nein.“ Jyliere schüttelte den Kopf. Sein Blick war hinüber zum Fenster gewandert, welches einen herrlichen Ausblick über Rashitar bot. Te-Kems Palast leuchtete in der Ferne. „Zumindest nicht, dass ich wüsste.“
 

„Und weswegen dann?“

Jyliere schluckte schwer. „Wegen dem Geheimnis, welches tief unterhalb des Schlosses verborgen liegt.“

Claire stutzte einen Moment. Mit jeder Minute schien es verworrener zu werden. „Und was liegt dort verborgen?“

Jyliere senkte den Kopf. „Asrim.“
 

Claire blickte verwundert drein. „Und wer oder was ist das?“

Als der Magier sein Haupt ganz langsam wieder hob und seine Ziehtochter ansah, zuckte diese zusammen. Jylieres Gesichtsausdruck war einfach nur erschreckend. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit hatten sich seiner bemächtigt.
 

„Asrim ist der Schöpfer von Sharif und Alec. Der älteste und gefährlichste Vampir, den die Welt jemals zu Gesicht bekommen hat.“

Werkzeuge

So, das neuste Kappi ^^

Irgendwie ging es schneller als gedacht. Ich kann gar nicht mehr aufhören, an dieser Geschichte zu schreiben XDD
 

Also, viel Spaß ^^
 

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Ein einzelner Schrei hallte durch die dunklen Gassen Rashitars. Gellend und voller Schmerz. Verzweifelt.
 

Dann war es wieder ruhig.
 

Sharif hielt den leblosen Körper einer jungen Frau in seinen Armen. Sie hatte sich ganz schön zur Wehr gesetzt, getreten und gekratzt wie eine Furie. Aber letztendlich hatte sie dem Vampir nichts entgegensetzen können. Sie war gestorben, noch bevor sie es richtig hatte realisieren können.

Sharif stieß den Leichnam von sich weg. Die Frau landete in einer brackigen Pfütze, ihr Körper unnormal verdreht. Im Gegensatz zur vorhin erhob sie jedoch keinerlei Einwände. Ihr Gezeter blieb aus, nur ihre toten Augen starrten Sharif anklagend an.

Ihr Blut hatte den Vampir wieder ein wenig lebendiger gemacht. Es war zwar nicht das beste gewesen, was er je zu sich genommen hatte, aber immerhin besser als gar nichts. Seit geschlagenen zwei Wochen hatte er kein Blut mehr getrunken gehabt, und obwohl er es sicherlich auch noch eine Zeit ohne den Lebenssaft ausgehalten hätte, so hatte er sich trotzdem dazu hinreißen lassen.

Die Ereignisse in Te-Kems Palast hatten ihn aufgewühlt.

Trotz all der Magie hatte Sharif die Anwesenheit seines Schöpfers gespürt. Irgendwo, ganz tief versteckt. Nur noch ein Hauch dessen, was er einst gewesen war.
 

Der Vampir schaute wieder zu dem toten Mädchen. Er spürte, wie sich Bedauern in ihm regte. Normalerweise vergriff er sich niemals an jungen Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. Er empfand zwar wenig Liebe für sie, dennoch fand er es nicht rechtens. Außerdem schmeckte das Blut von Reiferen sowieso viel besser.

Aber diesmal war Sharif kaum eine Wahl geblieben. Rashitars Straßen waren verlassen, nur diese einsame Hure hatte sich noch hier herumgetrieben. Ihre Arbeitskolleginnen hielten sich wahrscheinlich irgendwo verborgen, abgeschreckt durch all die Mordgerüchte, aber dieses junge Ding hatte sich offenbar nicht entmutigen lassen, sondern hatte weiterhin unbesonnen nach Freiern Ausschau gehalten.

Eine verhängnisvolle Entscheidung.
 

Sharifs Gedanken kehrten zu Asrim zurück. Auch er hatte einst eine Situation maßlos unterschätzt und dies kurz darauf bitter bereut. Nun war er im Keller von Te-Kems Schloss eingesperrt und fristete dort sein Dasein.

In einem ewigen Schlaf gefangen.

Sharif seufzte schwer, als er an die Geschehnisse von damals dachte. Asrim hatte die hohen Magier in hellen Aufruhr versetzt, als er die junge – und noch dazu verheiratete – Tochter des einstigen Oberen verführt und anschließend getötet hatte.

Für ihn war es nur ein Spaß gewesen. Er hatte sich ein bisschen amüsieren wollen. Nach über funftausend Jahren musste man sich schließlich etwas einfallen lassen, um nicht in Langeweile zu versinken.

Aber für die Magier war es eine Kriegserklärung gewesen.

Und sie hatten mit aller Macht zurückgeschlagen.
 

Asrim hatte nichts dagegen tun können, er war viel zu überrumpelt gewesen. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass alle Magier Mysticas – damals an die rund hundert Männer und Frauen – ihre Kräfte vereinen würden, um ihn besiegen zu können.

Sie hatten ihn mit einem unglaublich hohen Maß an Magie angegriffen.

Und hatten ihn trotz der Anstrengungen nicht töten können.

Sie waren nur in der Lage gewesen, einen Bann zu erschaffen, wie ihn die Welt noch nie gesehen hatte. Einen Bann, der den mächtigsten Vampir im Zaum hielt.

Bei dieser Aktion hatten viele der Magier ihr Leben verloren. Sie hatten sich überangstrengt, ihre eigenen Fähigkeiten falsch eingeschätzt. Es waren schwarze Tage für Mystica gewesen.

Deswegen wussten auch nur die wenigsten Bescheid. Selbst unter den Magiern wurde diese Geschichte nur äußerst selten erzählt. Es war viel zu schmerzvoll, sich daran zu erinnern.

Vampire wie Menschen hatten damals etwas Wichtiges verloren.
 

„Du bist schon wieder zurück?“ Zwei Augenpaare leuchteten in der Finsternis auf. Lasgo trat aus den Schatten heraus, als wären sie ein Teil von ihm, den er einfach hinter sich lassen konnte. „Und, wie war dein kleiner Exkurs?“

Sharif zog seine Mundwinkel nach unten. Eigentlich hatte er wenig Lust, mit diesem aufgeblasenen Kerl zu reden. Wäre es unter Vampiren nicht strengstens verboten gewesen, einen anderen seiner Rasse zu töten, so hätte Sharif sicherlich nicht lange gezögert.

„Sehr informativ“, erklärte er steif. „Te-Kems Palast ist wirklich voller Überraschungen.“

Auf Lasgos Lippen breitete sich ein fieses Grinsen aus. „Aber du hast nicht das gefunden, was du gesucht hast, nicht wahr?“

Dieser herabfallende Tonfall ... Sharif war im Moment wirklich nicht in der Stimmung für so was. „Doch, das hab ich. Und ehrlich gesagt ist alles so abgelaufen, wie ich es mir gedacht habe.“

Lasgo hob eine Augenbraue. „Du hast Asrim tatsächlich gefunden? Und wieso hast du ihn nicht gleich mitgebracht?“

„Eine magische Barriere“, erklärte Sharif knapp. „Eine ziemlich mächtige.“
 

Lasgo schien amüsiert, dass Sharif keine Erfolge hatte verzeichnen können. Dabei ließ er völlig außer acht, dass der Ägypter sowieso nur in Te-Kems Palast eingedrungen war, um sich ein wenig umzusehen. Mehr hatte Sharif gar nicht erreichen wollen.

„Und hast du eine Ahnung, wie wir da durch kommen?“, fragte Lasgo, gespielt interessiert. Er schien zu merken, dass Sharif durch die Ereignisse etwas durcheinander war, und er nutzte diese Situation selbstverständlich sofort aus.

„Kein Vampir kann sie durchqueren“, meinte Sharif. „Aber auch ein Mensch ist dazu sicherlich nicht in der Lage. Diese große Konzentration an Magie würde jeden Normalsterblichen von den Füßen reißen.“

Lasgo starrte hinab auf die Leiche, die einst eine hübsche junge Frau gewesen war. Nun lag sie dort, achtlos weggeworfen wie Abfall, und schon sehr bald würden die Ratten an ihr nagen.

„Ich hätte da vielleicht eine Idee“, sagte der Vampirführer mit einem selbstzufriedenen Lächeln. „Weder Untote noch Menschen können diese Barriere passieren ... aber was ist mit denjenigen, die sie geschaffen haben?“

Sharif schaute auf.

„Gorsco kennt da eine nette kleine Magierin. Wir könnten sie doch einfach mal fragen, ob sie Lust hat, uns zu helfen.“
 

Sharif musste sich eingestehen, dass dieser Vorschlag gar nicht mal so schlecht war. Unter Umständen würde er vielleicht sogar darauf zurückgreifen.

„Das klingt gar nicht mal so dumm“, lobte Sharif Lasgo. „Aber wir werden uns erstmal in Geduld üben. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass Asrim die Situation selbst regelt.“

Lasgos darauffolgender Gesichtsausdruck ließ Sharif schmunzeln. Er sah über alle Maßen verwirrt aus. „Aber ... Asrim ist gefangen.“

„Das hast du wirklich gut erkannt“, spottete Sharif. „Aber denkst du etwa, dadurch sei seine Macht gebrochen? Glaub mir, Asrim verfügt über Fähigkeiten, die nicht mal wir uns richtig vorstellen können. Selbst ein mächtiger Bann und ein tiefer Schlaf können daran nichts ändern.“ Er grinste diabolisch. „Sein Einfluss ist immer noch unglaublich stark.“
 

Lasgos überhebliche Miene war verschwunden. Er versuchte zwar mühevoll, sein Erstaunen zu verbergen, doch es gelang ihm nicht. Mit solch einer Antwort hatte er offenbar nicht gerechnet.

„Asrim wird sich selbst befreien, da kannst du dir sicher sein“, meinte Sharif zuversichtlich. „Wir müssen ihn nur ein wenig unterstützen. Ihm ein paar Werkzeuge in die Hand spielen.“

„Werkzeuge?“

Sharif nickte zustimmend. „Genau. Werkzeuge sind Dinge, die man als Hilfsmittel gebrauchen kann – nur falls du nicht weißt, was dieses Wort bedeutet.“

Lasgos schnaubte erbost. „Natürlich weiß ich das!“, knurrte er. „Aber an was für Werkzeuge hattest du gedacht?“

Sharif warf einen letzten Blick auf die tote Hure in der Pfütze. „Gorscos kleine Magierin ist für den Anfang gar nicht mal so schlecht ...“
 

* * * * *
 

Neyo lag ausgestreckt auf Claires Bett und starrte auf die Decke. Bereits seit Stunden verharrte er in dieser Position. Er hatte zwar versucht, sich zur Seite zu drehen oder gar aufzustehen, doch sein geschundener Körper schrie bei jeder Bewegung qualvoll auf. Er fühlte sich vollkommen ausgelaugt. Als hätte irgendwas seine ganze Energie gestohlen.

Eine Obstschale stand gar nicht allzu weit von Bett entfernt auf einem kleinen Tisch und lächelte Neyo schon seit geraumer Zeit einladend an. Etwas zu Essen wäre in dieser Situation genau das Richtige gewesen, doch unglücklicherweise war sie für ihn viel zu weit weg. Er konnte sie bloß sehnsuchtsvoll anstarren.

Zwar hätte er Claire wecken und sie bitten können, mal kurz den Arm auszustrecken, doch Neyo hatte es nicht über sich gebracht. Sie hockte auf einem gepolsterten Sessel direkt neben dem Bett und schlief seelenruhig. Eingekuschelt in eine Decke wirkte sie fast wie ein unschuldiges Kind. Nichts auf der Welt hätte ihn dazu bringen können, dieses friedliche Bild zu zerstören.

Auch Jyliere war vor gar nicht allzu langer Zeit noch im Zimmer gewesen. Im Dämmerschlaf hatte Neyo mitbekommen, wie der alte Mann unruhig hin- und hergelaufen war oder in irgendwelchen Büchern geblättert hatte. Dann war er plötzlich verschwunden.
 

Neyo seufzte schwer. Warum musste das Leben nur so kompliziert sein? War es nicht schon schlimm genug, dass er die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens in der Gosse hatte verbringen müssen, ausgenutzt von einer Mutter, die den Begriff 'Liebe' noch nie gehört hatte? Stets hatte sie ihren Sohn durch die Gegend gescheucht und ihn angehalten, zu stehlen. Natürlich war ein Großteil seiner Beute ihr zugekommen, er hatte nur einen kümmerlichen Rest für sich behalten dürfen. Trotz der ungerechten Bedingungen war er jedoch bei ihr geblieben. Er war immerhin nur ein kleiner Junge gewesen, wo hätte er sonst hingehen können?

Als sie eines Tages tot neben ihm gelegen hatte, gestorben im Schlaf, da war für Neyo die Welt zusammengebrochen. Sein eh schon trostloses Leben war noch ein Stück finsterer geworden. Aber schon bald hatte er erkannt, dass er ohne sie besser dran gewesen war.

Neyo runzelte die Stirn. Warum musste er ausgerechnet jetzt an seine Mutter denken? An jene Frau, die ihn eher wie einen Sklaven als wie ihr eigen Fleisch und Blut behandelt hatte?

Doch er kannte die Antwort, noch bevor er sich die Frage in seinem Kopf gestellt hatte.

Seine Abstammung ...
 

Nichts wusste Neyo darüber. Seinen Vater hatte er nie zu Gesicht bekommen, geschweige denn seinen Namen erfahren. Vielleicht war er ein angesehener Edelmann gewesen, möglicherweise aber auch nur ein lumpiger Straßendieb. Nicht mal das hatte Neyo erfahren können, seine Mutter hatte ihm nie etwas verraten. Nur ab und zu hatte sie seinen Vater als 'verfluchten Mistkerl' bezeichnet, ansonsten hatte sie ihn so gut wie gar nicht erwähnt.

Auch seine Mutter selbst war ein Geheimnis gewesen. Hatte sie schon immer in den Straßen Rashitars vor sich hinvegetiert oder hatte sie einst ein besseres Leben gehabt? Manchmal war es Neyo so vorgekommen, als wäre sie an die Welt der Obdachlosen, Taschendiebe und leichten Mädchen nicht wirklich gewöhnt gewesen. Zumindest ihre Künste im Stehlen war nicht sehr ausgeprägt gewesen, sodass sie immer ihren Sohn vorgeschickt hatte.

Vielleicht war es wirklich wahr, dass seine Mutter früher ein schöneres Dasein gefristet hatte. Unter Umständen hatte sie ein Dach über dem Kopf gehabt, eine liebende Familie und vielleicht sogar einen Mann. Hübsch war sie schließlich unter all dem Dreck gewesen.

Doch im Grunde waren das alles bloß dumme Fantasien. Neyo würde nie die Wahrheit erfahren. Die einzige, die es ihm hätte sagen können, war schon vor langer Zeit gestorben.

Damals, in einer dunklen Gasse.
 

Sie würde ihm nie verraten können, woher er stammte. Wie es möglich war, dass er ein ... ein Sa'onti war!

Er hatte alles mitangehört, als Jyliere Claire die ganze Geschichte erzählt hatte. Nun endlich wusste er, wieso er seit geraumer Zeit nachts nicht mehr schlafen konnte. Wieso all diese Stimmen in seinem Kopf durcheinanderredeten.

Und dennoch ... es klang einfach nur verrückt.

Er ... vom Schicksal auserwählt?

Nie zuvor hatte er einen größeren Quatsch gehört. Wo, bei allen Göttern, hatte der alte Magier nur dieses schräge Märchen aufgeschnappt?

Es war total absurd ...

... und trotzdem wahr.
 

Neyo hatte die letzten Stunden damit verbracht, sich einzureden, dass Jyliere auf dem Holzweg war. Dass der greise Kerl sich was zusammenreimte, was unmöglich stimmen konnte. Immerhin war er nicht mehr der Jüngste und mit der Zeit wurde jeder mal senil. Das konnte man Jyliere nicht mal zum Vorwurf machen.

Aber es war vergebliche Liebesmüh gewesen. Neyo wusste tief in seinem Inneren, dass nichts davon eine Lüge gewesen war. Alles passte dermaßen perfekt zusammen, dass es einfach nicht falsch sein konnte.

Immer noch klangen ihm Jyliere Worte in den Ohren: „Geboren, um zu sterben.“

Besonders aufmunternd klang das nicht gerade. War sein Todesurteil etwa schon unterschrieben? War sein Leben wirklich vorherbestimmt?
 

„Du bist ja wach!“ Claires Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Gähnend hatte sich die junge Magierin auf dem Sessel aufgerichtet und rieb sich das letzte bisschen Schlaf aus den Augen. Ihre Haare standen kreuz und quer in alle Richtungen und ließen Neyo unwillkürlich lächeln.

„Na, dir scheint's ja besser zu gehen, wenn du schon so blöd grinsen kannst.“ Claire wollte wahrscheinlich schnippisch klingen, doch irgendwie gelang es ihr nicht so wirklich. In Wahrheit schien sie sogar irgendwie erleichtert.

Konnte es tatsächlich sein? Hatte sie sich etwa Sorgen gemacht? Dieses kaltblütige kleine Biest, das sonst nie ein nettes Wort für ihn übrig hatte?

„Du bist ... die ganze Nacht bei mir geblieben?“, fragte er.

Claire zuckte zusammen, fühlte sich offenbar ertappt. Sie wandte schnell ihren Blick ab und brummte: „Bild dir bloß nichts darauf ein. Jyliere hat mich dazu gezwungen, sonst würde ich mich bestimmt nicht mit dir abgeben. Außerdem bist du im meinem Zimmer, falls es dir noch nicht aufgefallen ist.“

Neyo konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Selbst wenn ich kurz vorm Tode stünde, wärst du noch überheblich, nicht wahr?“

Claire schnaubte. „Ich glaube eher, dass du überheblich bist. Schon seit deiner Geburt.“
 

Neyo war plötzlich wieder elend zumute. Dieses Wort – Geburt – ... früher war es für ihn ein Synonym für Leben gewesen. Etwas durch und durch Gutes.

Und nun? Er wusste es selbst nicht genau. Als Claire es ausgesprochen hatte, war ihm unvermittelt ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen und er hatte wieder Gorscos funkelnde Augen vor sich gesehen. Die Mordlust, die sich darin gespiegelt hatte.

War er etwa auch so ein Monster?
 

„Was ist denn?“ Claire schaute ihn fragend an. Durch ihr übersinnliches Gespür hatte sie seinen Stimmungswechsel offenbar wahrgenommen.

Neyo starrte wieder zur Decke. Irgendwie konnte er ihr nicht mehr in die Augen blicken. „Ich bin wie Gorsco“, flüsterte er.

„Was meinst du damit?“, wollte Claire wissen.

„Ich habe alles gehört“, gestand Neyo ihr. „Was du und Jyliere gestern besprochen habt. Über mich.“

Eine Zeit lang herrschte Stille. Claire hatte ihre Lippen aufeinandergepresst und schaute Neyo einfach nur an. Ihrem Gesichtsausdruck war nichts zu entnehmen. Neyo konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie ihn bemitleidete oder sich einen spöttischen Kommentar zurechtlegte.
 

„Du bist immer noch Neyo“, sagte sie schließlich. „Ein ungehobelter, dreister und respektloser Straßenköter, der noch nie etwas von Manieren gehört hat. Und so wird es für den Rest deines Lebens auch bleiben. Die Götter wissen, dass ich alles versucht habe, um dich zu ändern, aber du bist einfach ein Sturkopf.“

Zwar war es im Grunde nicht besonders nett gewesen, was sie da von sich gegeben hatte, aber Neyo wusste, dass sie ihn damit auf verquere Weise aufmuntern wollte. Claire hatte einfach ihre ganz eigene Art, mit Menschen umzugehen.
 

„Wir sind jetzt wohl aneinandergebunden, nicht wahr?“ Neyo grinste, obwohl ihm eigentlich nicht wirklich nach Lachen zumute war.

Claire zog ihre Mundwinkel nach unten. „Jyliere sucht bereits verbissen nach einer dauerhaften Lösung. Er und ich können dir schließlich nicht bis in alle Ewigkeit auf Schritt und Tritt folgen.“

„Und du denkst, er wird etwas finden?“

„Natürlich.“ Claire schien felsenfest davon überzeugt. Wahrscheinlich blieb ihr auch nichts anderes übrig, sonst wäre sie sicherlich verzweifelt. Der Gedanke, die ganze Zeit seine Gesellschaft zu genießen, musste sie sehr missmutig stimmen.

„Vielleicht sollten wir uns einfach auf die Dauer, die wir miteinander verbringen müssen, vertragen“, schlug Neyo vor. „Was meinst du?“

Claire überlegte einen Moment. „Das heißt dann aber auch, dass du nicht frech wirst oder mich in irgendeiner Weise beleidigst?“

„Selbstverständlich“, versprach Neyo. „Ich werde dich sogar mit Komplimenten überschütten, wenn das dein Wunsch ist.“

Claire hob skeptisch eine Augenbraue. „Ich glaube kaum, dass du im Zusammenhang mit mir auch nur ein Kompliment finden wirst.“
 

Mühevoll rappelte Neyo sich auf, unter Ächzen und Stöhnen. Nie hätte er gedacht, einmal dermaßen geschwächt zu sein, dass jede Bewegung höllisch schmerzte. Als er langsam seinen Oberkörper aufrichtete, hatte er das Gefühl, von tausend Nadeln durchbohrt zu werden.

Dennoch grinste er schief. „Claire?“

„Hm?“

„Die offenen Haare stehen dir. Du siehst noch hübscher aus als sonst.“

Und dieses hauchdünne Nachtgewand war auch sehr ansprechend, doch das erwähnte er lieber nicht. Sonst hätte sie ihn noch für lüstern gehalten.

Claire schaute ihn einen Augenblick überrascht an, dann jedoch verfinsterte sich ihre Miene. „Idiot!“, murmelte sie.

Doch Neyo entging nicht, dass sie leicht errötete, als sie sich von ihm wegdrehte.

Mäusejagd

Das nächste Kapitel ^__________^

Ich hoffe, es gefällt euch ^^ Ich selbst bin nicht wirklich zufrieden damit, es ist irgendwie nicht ganz so geworden, wie ich es mir vorgestellt hatte ...

Aber ich hoffe, ihr denkt da anders drüber XDDD
 

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Es war totenstill in der riesigen Villa. Kein Laut drang durch das Haus, welches einst reichen Bürgern gehört hatte, und nun den Vampiren als Unterschlupf diente.

Der Morgen war bereits vor mehreren Stunden angebrochen und hatte die Untoten dazu veranlasst, sich in ihre Zimmer zurückzuziehen und sich der wohlverdienten Ruhe hinzugeben. In verdunkelten Räumen hatten sie es sich in edler Bettwäsche gemütlich gemacht und hingen ihren Träumen nach.

Nur zwei Vampire hatten noch keine Zeit zum schlafen gefunden. Der eine war rastlos und aufgewühlt, der andere bloß einer derjenigen, die stets gerne aus der Art schlugen und nur das taten, was ihnen beliebte.
 

„Vielleicht solltest du dich was hinlegen“, schlug Gorsco vor. Er sah dem hin- und herlaufendem Sharif schon seit mehreren Minuten wortlos zu, ohne sich zu beklagen. Obwohl die Unruhe des Jüngeren sehr an Gorscos Nerven zehrte, hatte er bis jetzt geschwiegen.

„Ich brauche keine Ratschläge“, erwiderte Sharif. „Ich will das alles nur schnell hinter mich bringen. In diesem Land voller Magier gefällt es mir nicht besonders.“

„Das kann ich verstehen“, stimmte Gorsco zu. Auch er war es langsam leid, all diesen Sicherheitswachen und magischen Schutzvorrichtungen auszuweichen und sich ständig im Verborgenen zu halten. Zwar war es für ihn kein Problem, mit den Schatten eins zu werden, aber auf die Dauer wurde das ziemlich lästig. Er sehnte sich geradezu danach, ungehindert durch die Straßen zu schlendern und dummen Mädchen irgendwelchen Quatsch auf die Nase zu binden, damit sie ihm bereitwillig folgten. Seit sie in Mystica waren, hatte er kaum Gelegenheit gehabt, sich diesem kleinen Spielchen hinzugeben. Stattdessen mussten sie ihre Opfer schnell und möglichst ohne Aufsehen töten. Gorsco empfand dies als nicht besonders amüsant.
 

„Lasgo hat mir von einer jungen Magierin erzählt“, meinte Sharif. „Die du letztens im Haus dieses Jyliere getroffen hast. Sie könnte uns vom Nutzen sein.“

Ein Lächeln breitete sich auf Gorscos Lippen aus. Eine wahre Schönheit war sie gewesen, köstlich in jedweder Hinsicht. Gerne erinnerte er sich an ihr hübsches Gesicht und an den verlockenden Geruch ihres Blutes. Eine Trophäe, die er sich noch zu holen gedachte. Ein Mädchen, das er unbedingt haben wollte.

„Inwiefern könnte sie uns denn helfen?“, fragte Gorsco. Nun gut, sie war eine Magierin – und zwar eine gar nicht mal so schlechte –, aber war es wirklich deswegen?

„Das erklär ich dir später.“ Der dunkelhäutige Mann fuhr sich durchs Haar. „Erst einmal erzählst du mir mehr über den Jungen.“

„Den Jungen?“
 

„Lasgo hat ihn zwar nur so nebenbei erwähnt, aber es hat meine Aufmerksamkeit erregt.“ Sharifs Augen leuchteten für einen Moment auf. „Ein gewöhnlicher Mensch, der dir einfach so ausweichen kann?“

Gorsco verzog missmutig das Gesicht. An diesen arroganten Kerl wurde er eigentlich nicht gerne erinnert. „Er hatte nur Glück“, entgegnete er. „Nichts weiter.“

„Glück?“ Sharif schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, mein Freund. Das war was ganz anderes.“
 

Gorsco hob skeptisch eine Augenbraue. Worauf wollte der Typ denn hinaus? „Und was war es?“

Sharif schenkte ihm ein geheimnisvolles Lächeln, das Gorsco auf unerklärliche Weise zusammenzucken ließ. Dieser Ägypter war durch und durch seltsam, soviel stand fest. Obwohl so jung, konnte er selbst den Ältesten Angst einjagen.

Wirklich beachtlich.
 

„Behalt den Jungen im Augen“, ordnete Sharif an. „Zu gegebener Zeit werden wir uns seiner annehmen.“

„Zu gegebener Zeit?“ Gorsco verstand immer noch nicht, was der Kerl eigentlich wollte. „Was soll das? Der Idiot gehört mir, verstanden? Er hat mich gedemütigt und dafür wird er büßen.“

Sharif warf Gorsco einen ernsten Blick zu. „Das wirst du wohl verschieben müssen. Du krümmst ihm kein Haar, ansonsten werde ich äußerst ungehalten darauf reagieren. Hab ich mich klar ausgedrückt?“

Gorsco setzte eine trotzige Miene auf. Wie sehr er es doch hasste, herumkommandiert zu werden. „Ja, ja“, meinte er. „Aber würdest du mir wenigstens verraten, warum ich ihn verschonen soll?“

Sharifs darauffolgendes Lächeln war heimtückisch und eiskalt. Erneut überkam Gorsco unwillkürlich ein Frösteln.

„Er wird unsere Trumpfkarte sein.“
 

* * * * *
 

Es herrschte geschäftiges Treiben in der Küche. Marie hatte vor gut einer halben Stunde eine Maus zwischen den Mehlsäcken entdeckt und vor lauter Schreck das ganze Haus zusammengeschrien. Unnötig zu erwähnen, dass in diesem Augenblick unzählige Teller und Gläser zu Bruch gegangen waren, weil die erschrockenen Küchenjungen sie hatten fallen lassen.

Nun befand sich fast die ganze Dienerschaft auf der Suche nach diesem kleinen Störenfried. Nach Maries äußerst unfreundlicher Begrüßung war der Nager irgendwo verschwunden und hatte sich seitdem nicht mehr blicken lassen. Wahrscheinlich war er in irgendein Loch geschlüpft und würde nicht so schnell wieder herauskommen.

Doch das minderte den Ehrgeiz des großen Suchtrupps in keiner Weise. Fässer wurden zur Seite gerollt, Möbelstücke verschoben ... im Grunde wurde die ganze Küche auf den Kopf gestellt. Die Jüngsten krauchten auf dem Boden und hielten Ausschau nach winzig kleinen Spuren, während die Größeren sogar auf riesigen Schränken nachschauten, als würden sie tatsächlich glauben, die Maus wäre dort hochgefolgen.
 

„Der ganze Aufstand wegen einer einzelnen Maus.“ Calvio hockte unbeeindruckt auf einem Stuhl und paffte genüsslich an seiner Pfeife. Unter normalen Umständen hätte ihn Gustav sicherlich hart dafür gerügt, doch im Moment befand sich der Koch irgendwo unterhalb des Herdes und hatte noch gar nichts von Calvios Gesetzesübertritt mitbekommen.

„Ich glaube, die langweilen sich alle.“ Catherine saß neben ihm, ihre Mundwinkel nach unten verzogen. Diesen ganzen Zirkus fand sie maßlos übertrieben. „Die müssen sich irgendeine Beschäftigung suchen.“

Calvio seufzte. „Du hast wahrscheinlich Recht“, gab er zu. „Seit dieser Einbrecher hier war, sind schon fast drei Wochen vergangen. Nun müssen sie halt Mäuse jagen.“

Catherine schnaubte. Irgendwie war das Ganze absolut lächerlich. Selbst einige Wachen Te-Kems beteiligten sich voller Eifer bei der Suche, durchwühlten Schränke und krochen auf der Erde. Anscheinend hatten sie nichts Besseres zu tun, schon seit längerer Zeit war nichts Ereignisreiches mehr geschehen.

„Neyo würde dieser Anblick bestimmt gefallen.“ Calvio grinste breit. „All diese hochtrabenden Männer und Frauen, die auf dem dreckigen Fußboden liegen, um eine kleine Maus zu finden.“
 

Ja, Neyo hätte dies sicherlich gefallen ...

Doch war er schon lange nicht mehr bei ihnen gewesen. Früher hatte er sich tagtäglich in der Küche und im Dienstbotentrakt aufgehalten, inzwischen jedoch ließ er sich nicht mehr blicken. Stattdessen schien er plötzlich die Gesellschaft der Magier zu bevorzugen.

Catherine knirschte mit den Zähnen. Dauernd hielt er sich in ihrer Nähe auf. Wich kaum noch von ihrer Seite.

Claire ... diese falsche Schlange!!

Stets hatte sie allen vorgeheuchelt, dass Neyo ihr nichts bedeuten würde. Dass er in ihren Augen bloß ein schäbiger Straßenköter sei.

Nun jedoch verbrachte sie die meiste Zeit mit ihm. Redete geradezu ausgelassen und fröhlich, wie Catherine sie noch niemals in der Gegenwart eines Dieners hatte sprechen sehen.
 

„Du bist eifersüchtig, nicht wahr?“ Calvio betrachtete sie amüsiert. „Tja, Schätzchen, was soll ich dazu sagen? Vergiss Neyo einfach, er war nie für dich bestimmt.“

Catherine hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst. Was fiel diesem Proll überhaupt ein, ihr Vorschriften machen zu wollen?

Nun gut, es stimmte, sie war durch und durch eifersüchtig auf diese süße kleine Magierin, die sich von einen Tag auf den anderen von einem gefühllosen Tyrannen zu einem einigermaßen passablen Menschen verwandelt hatte.

Auch ihr Aussehen hatte sich verändert. Früher war sie äußerst bieder und bis oben hin zugeknöpft gewesen, nun aber schien sie in dieser Hinsicht ein wenig lockerer zu werden. Besonders auffällig waren ihre Haare, die sie nun immer offen trug und sie erstaunlicherweise wie eine richtig nettes Mädchen aussehen ließen. Sie wirkte plötzlich nicht mehr wie eine strenge Gouvernante, sondern wie ein hübsches, unschuldiges Ding. Selbst die pubertären Küchenjungen starrten ihr ab und zu hinterher, wenn sie glaubten, unbeobachtet zu sein.
 

Catherine ballte ihre Hände zu Fäusten. Männer!!! Kaum änderte Claire ein wenig ihre Gaderobe, schien wohl jeder zu denken, sie sei nun ein völlig anderer Mensch.

Aber da irrten sie gewaltig!

Claire war immer noch Claire und so würde es auf ewig bleiben. Sie würde bis zu ihrem Tod eine arrogante, verwöhnte Prinzessin bleiben, die den Dienstboten keines Blickes würdigte.

Auch Neyo würde das schon bald erkennen, da war Catherine sich ganz sicher.
 

„Du solltest dir nicht allzu viele Hoffnungen machen“, meinte Calvio in einem belustigten Tonfall.

Catherine warf ihm einen giftigen Blick zu. „Ach ja? Kannst du etwa Gedanken lesen?“

Calvio lachte auf. „So in etwa, Süße. Man kann es deinem hübschen Näschen ansehen, worüber du gerade nachgrübelst. Aber das ist vergebliche Liebesmüh, mein Engel. Ich kenne Neyo besser, als er sich vielleicht selber kennt, und ich weiß genau, wie er tickt.“

„Worauf willst du hinaus?“, zischte Catherine.

Calvio lächelte verwegen. „Da bahnt sich was zwischen den beiden an. Und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst.“
 

Catherine zog missbilligend eine Schnute. Schon wieder nervte er sie mit seinen überflüssigen Kommentaren.

Als sie gerade darüber nachdachte, ob sie diesem berüchtigten Piratenmörder für seine Dreistigkeiten nicht eine scheuern sollte, bemerkte sie plötzlich, dass alle Aufmerksamkeit auf ihr lastete. Verwirrt starrte sie an all die Gesichter, die sich ihr unvermittelt zugewandt hatten. Jeder einzelne in der Küche starrte sie durchdringend an.
 

Was war denn los? Was wollten die alle von ihr?

Plötzlich vernahm sie ein Piepsen. Überrascht schaute sie nach unten und entdeckte die kleine Maus, nach der so eifrig gefahndet wurde. Sie befand sich direkt neben Catherines Füßen und tat sich an einem Brotkrümel gütlich.

Die Augen aller Anwesenden leuchteten gierig auf. Man konnte ihnen ansehen, dass jeder von ihnen diese winzige Trophäe für sich beanspruchen wollte.

Und sie würden dafür über Leichen gehen. Alles aus den Weg räumen, was sich ihnen entgegenstellte. Oder auch gerade nur vollkommen zufällig in der Nähe war.

Catherine schluckte schwer.

Oh nein!!!

Der Lärm und die Schreie, sie daraufhin in der Küche ausbrachen, waren in der ganzen Villa zu hören.
 

* * * * *
 

Claires Zimmer war kaum noch wiederzuerkennen. Die aquribische Ordnung, auf die sie immer so stolz gewesen war, hatte einem Chaos Platz gemacht, wie man es nur selten sah. Bücher und Schriftrollen, vom Alter bereits vergilbt und brüchig, lagen überall im Raum verstreut und hatten beinahe den ganzen Boden bedeckt. Man wusste kaum noch, wo man seine Füße hintun konnte.

„Es ist wirklich faszinierend.“ Claire hockte im Schneidersitz auf ihrem Bett, knabberte an einem Stück Apfel und starrte geradezu hingerissen auf das aufgeschlagene Buch vor sich. „Ich hätte nie gedacht, dass es soviele Informationen über sie gibt.“

Neyo, der gar nicht allzu weit entfernt auf einem Stuhl saß und geradezu schreckliche Angst hatte, sich irgendwie zu bewegen, um zu verhindern, dass er aus Versehen auf eines der kostbaren Schriftstücke drauftrat, hob eine Augenbraue. „Und diese Bücher handeln alle von Vampiren?“

„Mehr oder weniger“, bestätigte Claire weiterhin kauend. „In einigen steht ziemlich viel, in anderen gibt es nur ganz knappe Erwähnungen. Aber es ist interessant zu sehen, wie weit die Legenden über diese Untoten verbreitet sind. Hier, sogar ein Bericht aus den fernen Ländern des Ostens. Faszinierend, nicht wahr?“

„In der Tat“, meinte Neyo, jedoch bei weitem nicht so begeistert. Er starrte nur voller Unbehagen auf all die Werke, als würden sie ihn in der nächsten Sekunde anfallen.
 

„Es wird ziemlich oft das Problem mit dem Sonnenlicht angesprochen“, sagte Claire. „Viele behaupten, dass Vampire einfach verbrennen würden, wenn sie damit in Berührung kämen. Denkst du, das stimmt? Es klingt irgendwie etwas merkwürdig.“

„Von diesen Gerüchten hat Jyliere mir auch schon erzählt“, meinte Neyo. „Aber er hat mir gleich gesagt, dass das bloß ein dummer Aberglaube wäre. Es stimmt zwar, dass Vampire Kreaturen der Nacht sind und am Tage eigentlich nur selten herauskommen, doch das heißt noch lange nicht, dass das Sonnenlicht sie töten würde. Im Grunde ist es wie mit uns Menschen. Wir leben am Tag und schlafen in der Nacht – nun ja, zumindest die meisten von uns –, aber deswegen bringt das Mondlicht uns nicht um.“
 

Claire nickte. „Das hab ich mir gleich gedacht. Es klang zu verrückt, um wahr zu sein.“ Sie blickte wieder auf das Buch hinab. Ihre Augen blieben an der Zeichung eines Vampirs hängen, welche erstaunliche Ähnlichkeit mit der Darstellung aus Jylieres mysteriösen Zukunftsbuch hatte. Unwillkürlich lief ihr ein Schauer über den Rücken, als sie wieder an Gorsco denken musste.

„Was hast du?“, wollte Neyo wissen.

Claire schaute auf. Unsicher biss sie auf ihrer Unterlippe herum, ehe sie zu einer Antwort ansetzte: „Es ist nur, dass ... sie sind tot, Neyo. Tote Körper, die dennoch irgendwie leben.“ Sie zog missmutig ihre Mundwinkel nach unten. „Das ist widernatürlich.“

Neyo starrte sie eine Weile mit einem undefinierbaren Blick an. „Also bin ich auch widernatürlich?“
 

Claire zuckte zusammen. Das hatte sie nun wirklich nicht gemeint. „Du verstehst mich falsch“, erwiderte sie hastig. „Du bist vollkommen normal, aber sie ... Wer weiß, wie alt sie schon sind? Wer weiß, wann sie gestorben sind?“ Ihr schauderte es. „Irgendwie ist diese Vorstellung sehr abstrus, findest du nicht?“
 

Neyo legte seinen Kopf schief und lächelte plötzlich schelmisch. „Du fragst mich in letzter Zeit öfters nach meiner Meinung, hast du das bemerkt? Früher hast du dich nicht darum geschert, was ich gedacht habe.“

Claire fühlte sich viel zu verlegen, als dass ihr die Tatsache aufgefallen wäre, dass Neyo nicht auf ihre Frage geantwortet hatte. „Nun ja ... ich ...“

„Ich frage mich, warum du nicht schon viel früher so nett zu mir gewesen bist“, fuhr Neyo fort. „Wir verstehen uns doch ziemlich gut. Wieso hat das früher nicht geklappt?“

Claire fuhr sich durchs Haar. Irgendwie nahm dieses Gespräch eine unangenehme Wendung, die ihr gar nicht gefiel. Über solche Themen wollte sie eigentlich nicht diskutieren, doch Neyo setzte offenbar alles daran, sie von den zahlreichen Legenden der Vampire abzulenken.
 

„Du bildest dir nur was ein.“ Claire versuchte, hochnäsig und abweisend zu klingen, aber zu ihrer eigenen Verwunderung gelang es ihr nicht wirklich. Was war bloß los mit ihr?

„Ich glaube nicht.“ Neyo grinste wieder. Lausbübisch und frech. Früher hatte Claire dieses Lächeln zur Weißglut gebracht, sie hatte darin nichts weiter als Spott und Hohn gesehen. Nun jedoch bemerkte sie, dass ihr Herz unwillkürlich schneller schlug. Langsam wurde diese ganze Angelegenheit immer skurriler.

„Wenn ich mir das alles nur einbilde, wieso hast du dann meinen Rat beherzigt und trägst deine Haare jetzt offen?“, wollte Neyo wissen.

Claire kaute auf ihrer Unterlippe. Was sollte sie darauf schon erwidern?

Tatsache war es schließlich, dass sie es wirklich getan hatte, weil sein Kompliment sie irgendwie berührt hatte. Sie hatte gespürt, dass er es ehrlich gemeint hatte. Und das war mehr gewesen, als sie je gedacht hätte.
 

„Ich glaube, du bist gar nicht so unhöflich, wie du immer tust.“ Neyo stand auf und bewegte sich mit geradezu übertriebener Vorsicht an all den Büchern vorbei. „In der Tiefe deines Herzens bist du eigentlich ein freundlicher Mensch. Du bist nur zu stolz, es zuzugeben.“

Claire verzog missmutig ihr Gesicht. Eine Moralpredigt von jemanden, der früher die Reste aus Abfalleimern gegessen hatte ... besser konnte es ja gar nicht mehr kommen.
 

„Du hältst dich wohl für weise, was?“, knurrte sie.

„Ich bin nicht weise“, entgegnete Neyo. „Ich sehe nur. Das ist alles.“ Mit seiner typischen Gelassenheit ließ er sich neben sie aufs Bett plumpsen, als wäre dies das Natürlichste der Welt.

Claire schnaubte. „Und was siehst du?“

„Dass du im Grunde nur so kaltherzig und distanziert bist, weil du keine Gefühle zulassen willst“, meinte Neyo. „Seit dem Tod deines Vaters hast du kaum jemanden an dich herangelassen, nur Jyliere ist zu dir durchgedrungen. Andere jedoch stoßen bei dir auf eine hohe Mauer.“

„Fantastisch“, sagte Claire trocken. „Du hast mich durchschaut.“

„Du brauchst gar nicht sarkastisch zu werden, das ist mein voller Ernst“, entgegnete er. „Du hast nur Angst, verletzt zu werden. Genau wie damals mit deinem Vater.“
 

Claire hob argwöhnisch eine Augenbraue. Sollte das alles nur ein dummer Scherz sein? Immerhin war Neyo dafür bekannt, dass er Leute auf eine gewisse Art und Weise verspotten konnte, ohne dass diese es so recht bemerkten. Er ließ seinen Charme spielen, sodass man am Ende nicht wusste, ob das alles nur ein schlechter Witz gewesen war oder nicht. Er war ein Meister der Täuschung und schaffte es immer wieder aufs Neue, sein Gegenüber heillos zu verwirren.

Und so auch dieses Mal?

Ihr Verstand riet Claire, nicht dem Trugschluss zu erliegen, dass es Neyo tatsächlich ehrlich meinte. Stets war er ungehobelt ihr gegenüber gewesen, ob nun völlig offen oder versteckt hinter schönen Worten und einem breiten Lächeln.

So war es immer gewesen.

Aber andererseits spürte Claire Zweifel. Zwar war es im Grunde nur ein vages Gefühl der Unsicherheit, trotzdem existierte es und machte sie irgendwie nervös. Die Tatsache, dass sie fast schon gewillt war, Neyo zu glauben, war ihr einfach nicht geheuer. Früher wäre ihr so etwas niemals passiert.
 

„Du denkst, dass ich Recht habe, nicht wahr?“ Neyo klang über alle Maßen selbstzufrieden.

Claire bedachte ihn mit einem eisigen Blick. Ob er Recht hatte oder nicht, spielte für sie eigentlich gar keine Rolle. Sie wollte einfach nur wissen, ob er sich über sie lustig machte oder es diesmal wirklich ernst meinte.

Und trotzdem ... hatte er denn überhaupt Recht? Stimmte es wirklich, dass sie sich vor menschlichen Emotionen zurückzog, um nicht wieder solch ein Leid erfahren zu müssen wie damals nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters?
 

„Du solltest mehr aus dir herausgehen“, schlug Neyo vor. „Lach öfters. Sei ein bisschen offener anderen Menschen gegenüber. Du wirst sehen, das wirkt wahre Wunder. Im Grunde bist du nämlich ziemlich sympathisch. Ich weiß, wovon ich spreche. Und ich finde es schade, dass all die anderen die echte Claire nicht erleben dürfen.“

Die Magierin spürte, wie ihr unvermittelt Röte ins Gesicht schoss. Sie versuchte zwar, es mit allen Mitteln zu unterbinden, stellte aber rasch fest, dass dies nicht wirklich möglich war. Hastig wollte sie sich wegdrehen, doch Neyo griff sie sanft am Kinn und zwang sie, ihn direkt anzusehen.

„Du solltest es wirklich mal probieren“, sagte er. „Was hast du schon großartig zu verlieren? Deinen Stolz? Deine harterkämpfte Anerkennung? Vergiss den ganzen Mist.“

Claire verengte ihre Augen zu Schlitzen. Nun verspottete er sie aber wirklich ...
 

„Die anderen sollen auch das sehen können, was ich sehe“, meinte er leise, fast schon flüsternd.

Irrte sie sich oder war er tatsächlich ein Stückchen näher zu ihr gerückt? Zumindest hatte sich der Abstand zwischen ihnen deutlich verringert.

Claire schluckte. Was sollte das? Was hatte er nur vor?

Und die weitaus wichtigere Frage: Wieso ließ sie es überhaupt geschehen?

Inzwischen war Claire hundertprozentig davon überzeugt, dass sie ihren Verstand verloren hatte. Früher hätte sie ihm ohne Zögern eine schallende Ohrfeige verpasst oder ihm irgendeinen Fluch an den Hals gehetzt, nun jedoch hockte sie einfach stocksteif da, ihr Herz wild pochend, und ließ es zu, dass Neyo ihr dermaßen nah kam.

So nah ...
 

„Wirklich überaus entzückend. Es tut mir fast schon leid, diese romantische Stimmung zu unterbrechen.“
 

Claire lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als sie diese Stimme hörte. Die Stimme, die ihr seit geraumer Zeit ständig in ihren Albträumen begegnete und sie nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Ebenso die dazugehörigen funkelnden Raubtieraugen.

Sie wagte es kaum, sich umzusehen. Viel zu sehr hoffte sie, dass das alles bloß eine Illusion war. Nichts weiter als dumme Einbildung.
 

Doch Neyos Gesichtsausdruck sprach Bände. Auch er hatte es gehört, es war also nicht nur ein Produkt ihrer Fantasie gewesen. Es war echt.
 

Gorsco war nicht allein gekommen, wie Claire zu ihrem Entsetzen feststellen musste. Neben dem gierig grinsenden Vampir befanden sich noch drei weitere Personen, die ebenfalls nicht sehr vertrauenswürdig erschienen. Einer wirkte unheimlicher als der andere. Sie alle machten den Eindruck, mehr Schatten und Dämonen als Menschen zu sein.
 

Claires Blick blieb jedoch an jemand ganz Bestimmten hängen. Sie hatte diesen jungen Mann mit der kupferfarbenen Haut und den langem dunklen Haar noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen und doch kam es ihr gleichzeitig so vor, als würde sie ihn kennen. Als würde es irgendeine Verbindung zwischen ihnen geben, die sich die Magierin einfach nicht erklären konnte.

Unter normalen Umständen hätte Claire diesen Mann sicher anziehend gefunden. Seine Ausstrahlung war enorm, seine Aura sowohl geheimnisvoll als auch irgendwie verführerisch. Sicherlich hatte dieser Kerl schon unzählige Herzen gebrochen.

Oder er hatte die Frauen, die ihn angehimmelt hatten, einfach umgebracht.

Dass er ebenfalls ein Vampir war, stand außer Frage. Man spürte es förmlich, das ganze Zimmer war davon erfüllt. Und er war ganz gewiss kein niederer Untoter, soviel war klar. Dieser Kerl hatte Macht ... vielleicht sogar noch mehr Macht als Gorsco und die anderen beiden Vampire.

Claire schluckte. Das waren ja äußerst rosige Aussichten.
 

„Was wollt ihr hier?“ Neyo war aufgesprungen und hatte sich schützend vor Claire gestellt. Seine Hände verkrampften sich zu Fäusten. Offenbar war er bereit, sich mit den Eindringlingen anzulegen ... so verrückt dies auch sein mochte.

„Ein kleines freches Mundwerk.“ Der besagte Vampir war vorgetreten und bedachte sein Gegenüber mit einem interessierten Blick. „Du musst Neyo sein, nicht wahr?“

Neyo schnaubte. „Und wer will das wissen?“

Der Vampir grinste. „Man nennt mich Sharif. Vielleicht habt ihr schon von mir gehört.“
 

Claire lief ein kalter Schauer über den Rücken. Obwohl sie eigentlich damit gerechnet hatte, war es dennoch irgendwie erschreckend. Immerhin hatte Jyliere ihn als großen Vampir bezeichnet, den man in ferner Zukunft als König ansehen würde.

Die Magierin schüttelte es unvermittelt. Sharifs Stimme war wie klirrendes Eis, das sich in ihre Haut bohrte. Tief und unbarmherzig. Und der Blick, mit dem er Neyo bedachte, wollte Claire auch nicht so recht gefallen. Fast schon fasziniert ... als wüsste er ganz genau, was Neyo eigentlich wirklich war.

Vielleicht war es ja tatsächlich so.
 

„Ihr habt meine Frage nicht beantwortet: Was wollt ihr hier?“ Neyo knirschte mit den Zähnen. Er ließ sich in keiner Weise anmerken, ob er sich fürchtete oder nicht. Selbst Claire konnte seine genauen Gefühle nicht ergründen. Es schien beinahe so, als hätte er eine Barriere errichtet.

Sharif schmunzelte amüsiert. „Was für ein mutiges kleines Bürschchen du doch bist“, meinte er. „Dumm, einfältig und komplett verrückt ... aber trotzdem mutig. So etwas schätze ich sehr. Größenwahnsinn ist immer überaus belustigend.“

Neyo machte den Anschein, als wollte er sich ohne Rücksicht auf Verluste auf den Vampir stürzen. Claire packte ihn noch rechtzeitig am Arm und holte ihn damit in die Realität zurück.

„Im Grunde brauchen wir dich gar nicht“, meldete sich einer der Untoten zu Wort. Er hatte langes silbernes Haar, ein fast schon aristokratisches Auftreten und den Blick eines Massenmörders. „Unser Interesse gilt mehr deiner entzückenden Freundin.“

Und mit diesen Worten richtete er seine glühenden Augen auf Claire.
 

Die Magierin fuhr zusammen. Sie spürte, wie sie erneut die Angst zu übermannen drohte. Und diesmal war es sogar noch schlimmer als bei ihrer ersten Begegnung mit Gorsco in der Bibliothek. Sie waren nicht hinter irgendeinem verdammten Buch her, sondern hinter ihr.

Warum auch immer ...
 

Claire zwang sich, einen klaren Kopf zu behalten. Es brachte niemanden etwas, wenn sie nun die Fassung verlor und somit den Vampiren die Gelegenheit bot, sie ohne größere Schwierigkeiten zu überrumpeln.

Die junge Frau versuchte, die bösartigen Augen dieser Kreaturen zu ignorieren und sich stattdessen ganz und gar auf die Glocken zu konzentrieren, die überall im Haus verteilt waren. Te-Kems Wächter und vor allen Dingen Jyliere selbst würden auf ihren Hilferuf binnen weniger Sekunden reagieren. Die Vampire würden überhaupt keine Chance haben, zu begreifen, was eigentlich geschah.

Und dann? Claire bezweifelte zwar, dass Jyliere und das Schutzpersonal stark genug waren, um diese Kerle zu überwältigen, aber möglicherweise könnten sie sie wenigstens verwirren. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.
 

„Denk nicht mal dran.“ Sharif starrte sie unverhohlen an.

Claire wich ein Stück zurück. Hatte er etwa durchschaut, was sie vorhatte? Aber wie? Konnte dieser Vampir etwa Gedanken lesen?

„Solltest du es wagen, irgendwen zu alarmieren, wird es um deinen Freund äußerst schlecht bestellt sein.“ Innerhalb eines Wimpernschlags stand er plötzlich unvermittelt neben Neyo und hatte ihm seine kalten Finger demonstrativ in den Nacken gelegt. „Es ist für mich ein Leichtes, das Genick eines kümmerlichen Menschen zu brechen.“
 

Claire schluckte schwer. Soviel also zu ihrem Plan ...

„Was wollt ihr denn nun von uns?“ Immer noch ließ Neyo keine Furcht erkennen. Er schien sich nicht mal daran zu stören, dass ein Vampir gerade sein Leben in der Hand hielt.

Sharif legte den Kopf schief. „Wir machen einen kleinen Ausflug“, erklärte er. „Ich will euch nämlich unbedingt meinen Vater vorstellen.“

Einfluss

Wie schon zuvor war es ein Kinderspiel, in Te-Kems Palast einzudringen. Selbst mit der Magierin, die ihre Angst offenbar vergessen und wild zu fluchen begonnen hatte, und dem mürrisch dreinblickenden Jungen im Schlepptau war es kein Problem gewesen.

„Menschen sind so blind“, war San-juls nüchterner Kommentar dazu gewesen. Er hatte den Wächtern einen abwertenden Blick zugeworfen und verständnislos den Kopf geschüttelt.

Nun standen sie wieder dort, wo Sharif bereits ein paar Tage zuvor stundenlang ausgeharrt hatte. Lange hatte er auf diese Tür gestarrt und jegliches Gefühl für Zeit verloren. War wie in Trance gewesen. Nichts hatte ihn wegbewegen können. Nur mit Mühe und Not war es ihm dann irgendwann gelungen, sich umzudrehen.
 

Asrim ...
 

Dort war er, versteckt hinter dieser Eisentür, die die Vampire spöttisch anzugrinsen schien. Schon seit fast einem Jahrhundert trennte sie den großen Untoten von der Außenwelt. Hatte ihn zu einem Geist werden lassen, einer bloßen Erinnerung.

Nur wenige Jahre nach Sharifs Verwandlung war Asrim von den Magiern Mysticas überrumpelt worden. Lange hatte man ihn für tot gehalten, niemand hatte gewusst, was eigentlich genau passiert war. Es hatte nur Gerüchte und Mutmaßungen gegeben, mehr nicht.

Aber Sharif hatte gespürt, dass sein Schöpfer noch lebte.

Irgendwo.

Auch das Buch der Zukunft, das nur wenige Zeit danach durch Zufall in ihre Hände gelangt war, hatte ihn in seinem Empfinden bestätigt. Asrim war damals nicht getötet, sondern nur verflucht worden. In einem ewigen Schlaf gefangen.

Und es würde wahrlich nicht leicht sein, ihn wieder aufzuwecken.
 

„Und dort ist es?“ Lasgo kräuselte die Stirn und betrachtete die dunkle Eisentür argwöhnisch. „Sieht irgendwie nicht sehr imposant aus.“

Er wollte überzeugend klingen und in den Ohren eines normalen Sterblichen hätte er auch sicherlich so gewirkt. Doch Sharif erkannte sofort, dass der Clanführer log. Seine Stimme zitterte unterschwellig vor Unruhe. Selbst Claire schien dies zu bemerken, zumindest warf sie Lasgo einen wissenden Blick zu.

„Diese Barriere ist stark.“ San-jul trat nahe an die magische Absperrung heran und untersuchte sie eingehend. „Du hattest Recht, Sharif. Wir könnten sie niemals durchqueren.“

„Aber hoffentlich kann es meine Süße.“ Gorsco stieß die Magierin, die er die ganze Zeit äußerst grob am Arm gepackt hatte, in Richtung des Schutzwalls. Das Mädchen geriet ins Stolpern, doch Sharif konnte sie noch rechtzeitig abfangen und somit verhindern, dass sie unsanft auf dem harten Steinboden aufkam. Aber anstatt sich artig zu bedanken, weiteten sich Claires Augen vor Angst, als Sharif sie berührte. Schnell wich sie etwas vor ihm zurück.
 

„Ich ... ich soll da durch?“ Unsicher starrte sie auf die Barriere, die leise knisterte. „Aber ...“

„Du bist eine Magierin“, meinte Sharif schulterzuckend. „Ihr habt diese Mauer erschaffen, also müsst ihr auch einen Weg kennen, sie zu durchschreiten.“

Er erwähnte hierbei nicht, was er insgeheim befürchtete. Zwar war es möglich, dass sich die Magier wirklich noch einen Zugang offen gehalten hatten, jedoch nicht zwingend erforderlich. Vielleicht hatten sie es auch für immer und ewig versiegelt, sodass niemand jemals seine Hände auf die Klinke dieser Eisentür würde legen können.

Aber dennoch war es einen Versuch wert. Irgendwie mussten sie Asrim schließlich dort heraus bekommen.

„Das ist ein ungeheures Maß an Magie“, erwiderte Claire. „Soviel hab ich noch nie in meinem Leben gesehen. Ich weiß nicht –“
 

„Ach, hör endlich auf mit den Sprüchen und mach endlich das, wofür wir dich hierher gebracht haben.“ Gorsco war nicht sonderlich galant, als er die junge Frau Richtung Barriere schubste ...
 

... und sie mit einem lauten Knall davon abprallte.
 

Für einen kurzen Moment vibrierte der Boden und es wurde dermaßen hell, dass alle Anwesenden die Augen zukneifen mussten. Es schien, als würde die magische Absperrung aufschreien.

Claire landete hart auf dem kalten Stein. Sie schürfte sich dabei ihre Hände auf, der Geruch von Blut stieg Sharif sofort in die Nase. Sie bebte am ganzen Körper und schien keine Kraft mehr zu haben, aufzustehen.

Als hätte die Schutzmauer ihr sämtliche Energie entzogen.

Sich etwas von ihrer Magie geborgt.
 

„Verdammter Mist!“, fluchte Gorsco. Er rieb sich mit schmerzverzerrter Miene seine Augen. „Und was machen wir jetzt? Hat irgendwer noch so eine glorreiche Idee?“

Während Lasgo seinen Untergebenden zur Ruhe maßte und San-jul sich daran machte, die entkräftete Claire wieder auf die Beine zu stellen, war Sharifs Aufmerksamkeit ganz und gar auf Neyo gerichtet.
 

Dieser schien sich nicht daran zu kümmern, dass das Mädchen, mit dem er vor kurzem noch so heftig geflirtet hatte, eigentlich seiner Hilfe und seines Trostes bedurfte. Er schenkte ihr nicht mal einen einzigen Blick.
 

Er war von etwas vollkommen anderen gefesselt.
 

Seine Augen hatten einen ganz merkwürdigen Glanz angenommen. Sharif hatte so etwas zuvor noch nie gesehen und er musste zugeben, dass es ihn über alle Maßen verwirrte.

Irgendwas stimmte mit dem Jungen nicht.

Es mussten schon höhere Mächte im Spiel sein, wenn er plötzlich vier überaus reizbare Vampire und die hübsche Frau, die ihm augenscheinlich etwas bedeutete, plötzlich gar nicht beachtete. Als würde all das für ihn keine Rolle mehr spielen.

Sein Blick war einzig und allein auf die Eisentür gerichtet.
 

Und ein Lächeln zierte seine Lippen. Ein Lächeln, das irgendwie nicht sehr menschlich wirkte.
 

„Asrim ...“, flüsterte er, als er ohne Vorwarnung unvermittelt auf die Barriere zutrat.
 

* * * * *
 

Neyo bemerkte, wie ihn alle Umstehende anstarrten. Überracht. Erstaunt. Irritiert.

Die harte Fassade der Vampire war für einen Sekundenbruchteil wie verschwunden, alles Dämonische fiel von ihnen ab. Sie schauten ihn bloß verblüfft an und vergaßen dabei völlig, ihre dunklen Masken aufzubehalten.

Neyo musste lächeln. Nun wirkten sie gar nicht mehr furchteinflößend. Sie schienen nur noch normale Menschen zu sein ... so, wie sie es auch wahrscheinlich einst gewesen waren, bevor sie in Untote verwandelt worden waren.
 

Komm zu mir.
 

Schon wieder diese Stimme. Erneut dröhnte sie in seinen Ohren und ließ alles andere unwichtig und nichtig erscheinen.

Aber im Gegensatz zu den Stimmen, die Neyo vor gar nicht allzu langer Zeit krank gemacht hatten, war diese ganz anders. Wohltuend, fast schon erfrischend.

Verführerisch.

Als Neyos Blick zum ersten Mal auf diese Tür gefallen war, war sie plötzlich erklungen. Die anderen schienen sie gar nicht zu hören, nur er selbst konnte ihr lauschen. Und das war auch gut so. Er wollte dieses Erlebnis auf keinen Fall mit irgendjemanden teilen.

Sein Unterbewusstsein, das ihn zur Vorsicht mahnte, ignorierte er völlig.
 

Komm zu mir. Erlöse mich.
 

„Asrim ...“, kam es erneut über seine Lippen. Er wusste nicht, wieso er dies sagte, es war fast wie ein Reflex. Er konnte es nicht steuern.

Ebenso hatte er keinerlei Kontrolle über seinen Körper, als dieser sich plötzlich unvermittelt auf die Barriere zubewegte. Der rationale Teil in ihm schrie entsetzt auf und drängte ihn, sofort stehenzubleiben, doch es blieb ohne Wirkung. Neyo war viel zu sehr von dieser Stimme gefesselt, als dass er auf irgendwelche Warnungen reagiert hätte.

Am Rande bekam er mit, dass dieser Vampir mit Namen Sharif ihm irgendetwas sagen wollte, aber Neyo nahm es nicht zur Kenntnis. Er sah bloß, wie sich die Lippen des Mannes bewegten, nichts weiter. Und es interessierte ihn auch eigentlich herzlich wenig, was dieser Kerl mit ihm zu besprechen hatte.
 

Erlöse mich.
 

Als Neyo schließlich durch die Absperrung trat, spürte er nichts. Weder einen harten Rückstoß, wie es bei Claire der Fall gewesen war, noch sonst irgendwas. Als hätte es nie eine magische Schutzmauer gegeben.

Als wäre das alles nicht existent.

Neyo bemerkte, wie alle Anwesenden fassunglos die Luft einsogen. Offenbar hatte niemand mit solch einer Aktion gerechnet, selbst dieser überhebliche Gorsco wirkte vollkommen verdattert.
 

Die Luft schien immer dünner zu werden, je mehr er sich dieser Tür näherte. Augenscheinlich wirkte sie gewöhnlich, ganz und gar durchschnittlich so wie tausend andere Türen auch, doch man spürte, dass irgendwas nicht mit ihr stimmte. Große Mengen von Magie schien sie durchströmen, sie war ganz und gar erfüllt davon. Selbst Neyo als nichtmagisches Wesen konnte dies fühlen.

Vorsichtig streckte er die Hand aus, fuhr mit seinen Finger zögernd über die kalte Klinke. Obwohl er von der Energie, die dieser Tür innewohnte, nicht von den Füßen gerissen wurde, fühlte er sich trotzdem unwohl in seiner Haut. Mit einem Mal war er sich gar nicht mehr so sicher, ob das, was er gerade tat, auch wirklich das Richtige war.
 

Zweifel beschlichen ihn. Er wusste ganz genau, was in dem Zimmer verborgen lag. Sharifs 'Vater', wie es der Vampir so schön formuliert hatte. Ein Untoter, bei dessen Erwähnung Jyliere schon vor Schreck erbleicht war. Ein Monster, das eigentlich nicht wieder freigelassen werden sollte.

Wieso also tat er das hier überhaupt?

Warum brachte er sich freiwillig in Gefahr?

Warum nur?
 

Zweifel sind für Narren. Lasse dich nicht davon blenden.
 

Diese Stimme ... sie war so vertraut. Aus irgendeinem Grund konnte sich Neyo ihr nicht entziehen. Er versuchte es nicht einmal.

Als er die Klinke schließlich herunterdrückte und den bis dahin verschlossenen Raum betrat, schlug ihm eine bittere Kälte entgegen, die ihn für einen kurzen Moment wieder zögern ließ. Selbst die schlimmsten Winter Mysticas hatten beileibe noch wärmere Temperaturen gehabt als der Innenraum dieses Verlieses. Neyo war fast schon erstaunt, dass er nicht sofort an Ort und Stelle erfror.
 

Zaghaft ließ er seinen Blick durch den kargen Raum schweifen. Es gab keine einzige Lichtquelle, doch auf seltsame Art und Weise vermochte Neyo, Umrisse zu erkennen. Zwar waren es im Grunde nur Schemen, die er ausmachen konnte, dennoch verblüffte es ihn. Dieser Kerker hatte weder ein Fenster, noch sonst irgendwas, durch das Licht hätte dringen können. Eigentlich hätte es stockdunkel sein müssen.

Ein leichtes Lächeln umspielte die Lippen des jungen Mannes. Offenbar noch eine übermenschliche Fähigkeit, dachte er bei sich. Obwohl der rationale Teil in ihm dies überhaupt nicht witzig fand, verspürte er dennoch so etwas wie Genugtuung aus den Tiefen seiner Seele.
 

Neyo schaute über die Schulter zurück. Claire und die Vampire standen in einiger Entfernung hinter der magischen Barriere und starrten ihn an. Ihre Gesichter konnte er zwar nicht wirklich ausmachen, doch er spürte förmlich ihre Anspannung.
 

Komm zu mir. Lass mich endlich frei.
 

Neyo richtete seine Aufmerksamkeit wieder ins Innere des Raumes. Sein Blick blieb auf einem großen Gegenstand in der Mitte hängen, der im Grunde die alleinige Einrichtung darstellte. Ansonsten war das kleine Verlies vollkommen leer.

Im ersten Moment wirkte es bloß wie eine große Holzkiste, doch bei näherer Betrachtung stellte Neyo fest, dass es sich um einen Sarg handelte.

Er hob eine Augenbraue. Ein Sarg ... was für ein Klischee!
 

Neyo trat vorsichtig einige Schritte näher, blieb aber augenblicklich stehen, als er die wahre Natur dieser Holzkiste erkannte. Der Sarg knisterte und knirschte, war geradezu mit Magie überladen. Selbst in der Eisentür und in der Absperrung zusammengenommen hatten nicht soviel Energie gesteckt.

Neyo biss sich auf die Unterlippe. Diese Macht war für einen kleinen Menschen wie ihn viel zuviel. Erneut stiegen Zweifel in ihm auf.
 

Doch wie von unsichtbarer Hand gelenkt, setzte er sich wieder in Bewegung und begann, den Sargdeckel zu bearbeiten. Obwohl die konzentrierte Magie über ihn herfiel wie ein wildgewordener Bienenschwarm, konnte er nicht zurückweichen. Der Bann, der ihn gefangenhielt und manipulierte, verhinderte es.

Der Deckel schien zwar nur locker auf dem Kasten zu liegen, rührte sich jedoch keinen Zentimeter. Neyo mobilisierte alle ihm zur Verfügung stehende Kräfte, was sich jedoch als ziemlich schwierig erwies. Die fremde Energie durchfuhr seinen Körper, zerrte an seinen Muskeln und machte ihn schwach. Er biss zwar die Zähne zusammen, doch auch das konnte ihm nicht darüber hinweghelfen, dass er eher früher als später genauso zurückgestoßen werden würde wie Claire. Entkräftet und schlapp.
 

Aber aufgeben kam für ihn nicht infrage. In seinem Inneren regte sich etwas, das Neyo zuvor noch nie verspürt hatte. Es klang fast wie das Brüllen eines Raubtieres.
 

Eine hungrige Bestie, die nur darauf wartete, freigelassen zu werden.
 

Neyo bemerkte fast zu spät, dass es ihm gelungen war, den Deckel ein wenig zu bewegen. Es war zwar nur ein kleines Stück, aber dies schien offenbar mehr als ausreichend zu sein.

Denn mit einemmal schwang der Sargdeckel wie von Geisterhand zur Seite und landete polternd auf dem harten Steinboden.
 

Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen. Nichts rührte sich.
 

Neyo hielt die Luft an und wich zaghaft einen Schritt zurück. Eine unsichtbare Macht hielt ihn zwar weiterhin an diesen Ort gebunden, doch er besaß wenigstens noch genug Geistesgegenwart, um vor dem schwarzen Nebel, der aus dem Sarg waberte, zurückzutreten.

Wie ein lebendes Wesen schlängelte sich dieser dicht über den Boden und ließ den eh schon eisigen Raum um ein paar Grad kälter werden. Neyo klapperten unwillkürlich die Zähne, hastig umschlang er seinen Oberkörper, um es zumindest ein bisschen wärmer zu haben.
 

Als er jedoch das Schauspiel beobachtete, das sich vor seinen Augen abspielte, wich auch der letzte Rest Wärme aus seinem Körper.
 

Als Neyo zum ersten Mal von Asrim gehört hatte, hatte er sich so einiges unter diesen Kerl vorgestellt. Ständig hatte er an eine noch bösartigere Ausgabe von Gorsco denken müssen. An etwas durch und durch Dunkles.
 

Doch niemand hätte ihn darauf vorbereiten können!
 

Auf einen Mann mit einer solch starken Aura, dass es Neyo die Sprache verschlug. Dass ihm gleichzeitig heiß und kalt wurde.

Neyo schluckte schwer. Selbst seine erste Begegnung mit Gorsco hatte ihn nicht dermaßen aus dem Konzept gebracht, wie es nun der Fall war. Für einen kurzen Moment wusste er nicht einmal, wo oben und unten war. Alles wirkte verzerrt und irreal.
 

Niemals im Leben hätte Neyo es für möglich gehalten, je einem Mann gegenüberzustehen, der solch einen Einfluss auf ihn ausüben könnte. Er vermochte nicht mehr klar zu denken, seine Aufmerksamkeit war einzig und allein auf die finstere Gestalt gerichtet, die dort im Sarg lag. Er konnte zwar nur die Umrisse erkennen, doch mehr war im Grunde auch nicht nötig.
 

Man spürte die Macht dieses Mannes in jeder einzelnen Faser des Körpers. Als würde sie durch den Raum strömen und jede Person befallen, der sie habhaft wurde.

Wie eine schreckliche Krankheit.
 

Doch aus irgendeinem Grund verspürte Neyo keinerlei Angst. Er war zwar unsicher und auch ein wenig fassungslos, aber so etwas wie Panik stieg nicht in ihm hoch.

Stattdessen fühlte er sich sogar auf seltsame Art und Weise mit diesem Vampir verbunden. So verrückt ihm das Ganze auch erscheinen mochte, es war nun mal so. Er konnte nichts dagegen tun.
 

Asrim erhob sich mit solch einer Geschmeidigkeit aus dem Sarg, dass man hätte denken können, er hätte nur einen kleinen Mittagsschlaf hinter sich. Seine Bewegungen nahm man kaum wahr, er war im Grunde wie ein einziger fließender Schatten. Der schwarze Nebel wich vor dem großen Untoten zurück. Als wäre er erleichtert, endlich dem Sarg und der fragwürdigen Gesellschaft Asrims entkommen zu können.
 

Ein dämonisches Lächeln zierte Asrims Lippen, welches Neyo trotz des schlechten Lichts bestens erkennen konnte. „Es freut mich, dir endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, Neyo.“
 

Diese Stimme ...! Im Grunde hätte es Neyo nicht überraschen sollen, dass es dieselbe war, die ihn in dieses Zimmer gelockt hatte. Wie auch immer dieser Vampir es angestellt hatte, er hatte sich irgendwie in Neyos Kopf geschlichen und ihm Befehle erteilt, denen sich der junge Mann nicht hatte verweigern können.

„Du ... du kennst meinen Namen?“ Neyo war wirklich verblüfft, dass er überhaupt noch sprechen können. Eigentlich hatte er angenommen, der große Schreck und die klirrende Kälte hätten seine Stimmbänder abgeschnürt.

„Ich weiß alles über dich, mein Junge.“ Asrims Stimme war eisig und gleichzeitig schmeichelnd. Wie schaffte der Kerl das nur?
 

Neyo kniff seine Augen zusammen und versuchte, noch mehr von dem Vampir auszumachen als nur sein von Zähnen gespicktes Lächeln. Doch unglücklicherweise vermochte er rein gar nichts zu erkennen, obwohl Asrim fast unmittelbar vor ihm stand. Einzig seine Augen leuchteten dumpf, ansonsten aber blieb er Teil der Dunkelheit.
 

Neyo fröstelte es. Offenbar schien dies eine weitere Eigenschaft der Vampire zu sein, auch Gorsco war mit der Finsternis eins gewesen. Anscheinend konnten sich Untote in den Schatten bewegen, wie es ihnen beliebte.
 

„Ich bin dir überaus dankbar, dass du mich aus diesem dreckigen Loch befreit hast“, fuhr Asrim fort. „Dafür hast du eine Belohnung verdient.“

Neyo schluckte. Er wollte lieber gar nicht wissen, wie diese 'Belohnung' aussah.

„Doch dazu werden wir noch später Gelegenheit haben, mein kleiner Freund“, meinte der Vampir. „Deine Zeit wird kommen, das verspreche ich dir.“
 

Neyo versuchte, seinen Körper dazu zu zwingen, hastig das Weite zu suchen. Er flehte seine Beine geradezu an, sich endlich in Bewegung zu setzen und zu flüchten.

Doch nichts geschah. Er blieb stehen wie festgewurzelt.
 

Neyo malte sich bereits die schlimmsten Szenarien aus. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie Asrim ihm den Hals umdrehte, ihm das Blut aussaugte und ihn in Stücke riss. Und das alles auch noch kurz hintereinander.

Kurzum: Neyo hatte mit seinem Leben bereits abgeschlossen.
 

Aber merkwürdigerweise spürte er immer noch keine Angst.
 

„Du fragst dich bestimmt, wie ich es geschafft habe, dich dazu zu bringen, zu mir zu kommen, nicht wahr?“ Asrims Lächeln wurde breiter.

Neyo brachte nur ein kraftloses Nicken zustande, zu mehr war er gar nicht mehr fähig.
 

Der Vampir trat noch einen Schritt näher auf ihn zu. Neyo verkrampfte sich unweigerlich, sich der Anwesenheit dieses lebenden Toten plötzlich überdeutlich bewusst. Und zu seiner eigenen Überraschung war es ihm bei weitem nicht so unangenehm, wie es ihm eigentlich hätte sein sollen.
 

„Frag dich lieber, warum es dir nicht gelungen ist, dich dagegen zu wehren.“
 

Und mit diesen Worten verschwand der Schatten so unerwartet, dass Neyo erschrocken aufkeuchte. Wie vom Erdboden verschluckt. Als hätte es ihn nie gegeben. Selbst dieser merkwürdige schwarze Dunst war mit einemmal weg.
 

Neyo warf einen Blick zurück und bemerkte, dass auch die anderen Vampire nicht mehr da waren. Nur Claire hockte dort auf dem Boden, etwas perplex, aber augenscheinlich unverletzt.

Neyo gestattete sich einen erleichterten Seufzer. Die Gefahr war offenbar gebannt, anscheinend war es diesen Untoten wirklich nur darum gegangen, Asrim zu befreien. Auf eine kleine Zwischenmahlzeit zur Feier des Tages hatten sie glücklicherweise verzichtet.
 

Allerdings fühlte sich Neyo alles andere als wohl. Zwar war dieser schreckliche Druck nach Asrims Verschwinden von ihm abgefallen, doch er war überzeugt, dass die ganze Sache noch nicht ausgestanden war. Asrim würde zurückkehren, soviel stand fest.
 

Immerhin wollte er sich noch bei Neyo bedanken ... wie auch immer diese 'Belohnung' aussehen mochte.

Der Vampirkönig

So, kurz vor Weihnachten noch das nächste Kapitel ^^

Es passiert zwar nichts allzu Ereignisreiches, aber ich hoffe, es gefällt euch trotzdem ^^
 

Auf diesen Weg wünsche ich vorab schon mal schöne Feiertage ^_______^
 

Und vielen Dank an meine fleißigen Kommischreiber Kaguyashi, berner-ib, Etschunga, Chrolo und Lylly-chan ^^ Fühlt euch ganz doll geknuddelt ^______^
 

Liebe Grüße
 

Eure Nochnoi
 

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„Wie konntest du nur so unverantwortlich und töricht handeln?“ Te-Kems erhobene Stimme hallte durch seine privaten Gemächer. „Du hast Mystica in den Untergang geführt.“

Jyliere beobachtete seinen alten Freund, wie er unruhig hin- und herstreifte und offenbar nicht so recht zu wissen schien, ob er Neyo nun den Kopf abreißen sollte oder nicht. Noch nie hatte Jyliere den Oberen dermaßen wütend erlebt.
 

Neyo hockte auf einem Sessel und ließ Te-Kems Anschuldigungen und Vorwürfe stumm über sich ergehen. Der junge Mann machte sowieso nicht den Eindruck, als würde er zuhören. Mit seinen Gedanken schien er ganz woanders zu sein.

Nach dem Zusammenbrechen der Barriere, die Asrim nun fast hundert Jahre eingesperrt hatte, war der ganze Palast informiert gewesen. Selbst die gewöhnlichen Wächter ohne die geringste magische Begabung hatten die Veränderung sofort gespürt. Ein eiskalter Wind war plötzlich durch die Gänge des Palastes gefegt und hatte die Menschen frösteln lassen. Allen war das Herz schwer geworden.

Die Vampire waren verschwunden, noch bevor die ersten Soldaten im Keller eingetroffen waren. Einzig Neyo und Claire hatte man vorgefunden, verstört und blass. Es hatte einiger Überredungskunst bedurft, sie aus dem Verlies zu bekommen. Sie waren zu Salzsäulen erstarrt gewesen, unfähig, sich zu bewegen.
 

„Jetzt hackt nicht so auf ihm herum!“ Claires schneidende Stimme ließ den Oberen inne halten. Sie war die ganze Zeit völlig ruhig gewesen und hatte reglos ins Leere gestarrt, nun aber schien sie endlich aus ihrer Lethargie zu erwachen. Und es missfiel ihr offenbar sehr, wie Te-Kem Neyo behandelte. „Er hatte doch gar keine andere Wahl. Die Vampire hätten uns getötet, wenn wir nicht das getan hätten, was sie von uns verlangt haben.“

„Da gebe ich ihr Recht“, meinte nun auch Jyliere. „Sie sind doch noch Kinder, sie können nichts dafür.“

Te-Kem fuhr sich durch das schüttere Haar, welches in den letzten Wochen sichtbar ergraut war. „Ist ja schon gut“, lenkte er seufzend ein. „Ich bin nur ein wenig ...“

Er beendete den Satz nicht, doch Jyliere war klar, was der Obere hatte sagen wollen. Asrims Erweckung hatte schwerwiegende Konsequenzen, Mystica sah finsteren Zeiten entgegen. Außerdem bedeutete es, dass bald Alec auftauchen würde, um seinem Schöpfer tatkräftig zur Seite zu stehen. Und diesen Vampir fürchtete Te-Kem mehr als jeden anderen.
 

„Außerdem, was macht es schon?“ Claire sah zwischen den zwei alten Magiern hin und her. „Nun gut, Asrim ist offenbar gefährlich, aber das sind die anderen Vampire auch. Ob nun einer mehr von ihnen da ist oder nicht, spielt doch sicherlich keine große Rolle.“

Te-Kem schnaubte verächtlich. „Du weißt nichts, mein Kind. Asrim ist sowas wie ihr König, ihr Gott. Gefährlicher als alles, was du bis jetzt gesehen hast.“
 

Claire schien etwas erwidern zu wollen, doch es war Neyo, der sie unterbrach. „Es stimmt“, sagte er tonlos. „Er ist ... unglaublich mächtig.“

Jyliere trat neben den jungen Mann und legte ihm beruhigend seine Hand auf die Schulter. „Was kannst du uns über ihn sagen, Neyo?“

Neyo schien wenig Lust zu haben, das Erlebte nochmal aufzuarbeiten. Er zog die Mundwinkel nach unten und machte den Eindruck, als wollte er nicht antworten. Dann jedoch seufzte er resigniert. „Seine Stimme ... sie war in meinem Kopf und hat mich ...“ Er brach jäh ab, senkte den Blick zu Boden. Er wirkte beschämt.
 

„Verführt?“, hakte Te-Kem nach. Neyo nickte daraufhin stumm.

„Das hatte ich befürchtet.“ Der Obere rieb sich die Schläfen. „Hast du dich nie gefragt, warum du bis jetzt noch nie in meinem Palast gewesen bist, Neyo? Wieso ich dich nie eingeladen habe, obwohl du doch fast schon so etwas wie ein Sohn für meinen engsten Freund bist?“

Neyo schaute auf und sah Te-Kem stirnrunzelnd an. Auch Claire wirkte mit einemmal sehr interessiert.
 

„Asrims Körper war gefangen“, erklärte der Obere. „Aber sein Geist ... nun, der war es nicht. Zumindest nicht völlig.“

„Wollt Ihr damit etwa sagen, er war gar nicht in einem tiefen Schlaf versunken?“, fragte Claire verblüfft. Sie schüttelte sich unwillkürlich, erinnerte sich wahrscheinlich an die unzähligen Male, als sie in Te-Kems Schloss gewesen war.
 

„Asrims Einfluss ist groß, geradezu unermesslich“, fuhr der alte Magier fort. „Und besonders die Macht seines Geistes ist nicht zu unterschätzen. In den ersten Jahren nach seiner Bannung war es immer wieder passiert, dass Menschen, die zuvor völlig normal erschienen waren, sich plötzlich seltsam benahmen oder gar wahnsinnig wurden. Einige griffen ohne erfindlichen Grund aus heiterem Himmel ihre Freunde an, andere wiederum spielten regelrecht verrückt und schlugen alles kurz und klein, was ihnen in die Quere kam. Und die meisten von ihnen starben einen qualvollen Tod in dem Versuch, jene magische Barriere unten im Keller zu durchschreiten.“

Claire wirkte entsetzt und trat unwillkürlich näher an Neyo heran. Dieser hingegen schien wenig überrascht.

„Zunächst wusste keiner, was überhaupt geschah“, meinte Te-Kem. „Die Magier waren ahnungslos. Schließlich aber fand ein hochdekorierter Zauberer heraus, dass dies alles Asrims Werk war. Obwohl sein Körper versiegelt gewesen war, konnte er immer noch einen nicht zu verachtenden Einfluss auf die Menschen nehmen.“
 

„Und was wurde daraufhin unternommen?“ Claire hing wie gebannt an Te-Kems Lippen.

„Die Macht der Barriere wurde verstärkt“, erklärte dieser schulterzuckend. „Fast um das Doppelte. Damit endete der Spuk abrupt. Asrim konnte keine direkte Gewalt mehr auf die Menschen ausüben.“ Er verstummte jäh und nagte unsicher auf seiner Unterlippe herum, sodass er fast wie ein Kind wirkte. „Aber ehrlich gesagt bin ich nicht der festen Überzeugung, dass es damit zu Ende war.“

Claire furchte ihre Stirn. „Was meint Ihr?“

Te-Kem ließ sich seufzend auf einen reich verzierten Sessel fallen, in dem er plötzlich ganz klein und nichtig erschien. „Einige Magier – unter anderem unser verehrter Jyliere und ich – vertreten die These, dass Asrims Einfluss damit noch lange nicht gebrochen war. Zwar war er nicht mehr in der Lage, die Menschen unmittelbar zu kontrollieren, aber wir glauben, dass er trotzdem noch etwas Macht ausüben konnte. Im Grunde wie ein kleiner Mann im Ohr, der dir Ratschläge zuflüstert. Du selbst glaubst, die Ideen stammen von dir, aber eigentlich wirst du nur benutzt.“
 

„Und wie kommt Ihr darauf, dass es so gewesen ist?“, fragte Claire. Sie wirkte eingeschüchtert, fragte sich wahrscheinlich, ob Asrim auch in ihrem Kopf herumgespukt war, ohne dass sie etwas davon bemerkt hatte.

„Im Grunde ist es nur eine Ahnung, ein Gefühl“, antwortete Jyliere. „Wir haben keinerlei Beweise dafür. Es gab sogar schon Debatten darüber, ob man Asrim nicht lieber verlegen sollte. In ein unbewohntes Gebiet, wo er keinen Schaden anrichten könnte. Aber der Großteil fand dies viel zu gefährlich ... besonders, da man sich überhaupt nicht sicher sein konnte, ob Asrim noch Einfluss hatte oder nicht. Tatsache jedoch ist, dass schon seit vielen Jahrzehnten keiner mehr den Verstand verloren hat, der hier im Palast lebt.“

„Und dennoch bleibt diese Angst allgegenwärtig“, fuhr Te-Kem mit belegter Stimme fort. „Jedes Mal, wenn einer meiner Magier entgegen seiner Natur handelte – und wenn er auch nur einen Apfel aß, obwohl man eigentlich wusste, dass er die überhaupt nicht ausstehen konnte – dann habe ich mich immer wieder gefragt, ob dies nun auf Asrim zurückzuführen ist.“
 

Claire sah stumm von einem zum anderen. Sie brauchte offenbar einen Moment, bis sie diese Informationen zumindest ansatzweise verdauen konnte. Ihr Blick fiel auf Neyo, dessen Gesichtsausdruck vollkommen ausdruckslos erschien.

„Und was hat Neyo nun mit der ganzen Sache zu tun?“, fragte Claire. „Wieso durfte er nie in den Palast?“
 

„Er ist ein Sa‘onti“, stellte Te-Kem unumwunden klar. Er klang herablassend, als er dies aussprach, sogar ein wenig feindselig. „Mir war sofort bewusst, dass es für Asrim ein Leichtes sein würde, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Und so ist es ja auch schließlich gewesen. Der Junge hatte keinerlei Kontrolle mehr über seine Handlungen, Asrim konnte ihn benutzen wie eine Puppe. Er hat ihn mit seinen Verlockungen verführt und ihm somit seinen freien Willen genommen.“ Er warf Neyo einen harten Blick zu. „Zumindest hoffe ich, dass du nicht aus freien Stücken gehandelt hast.“
 

Jyliere wollte augenblicklich protestieren und den jungen Mann in Schutz nehmen, aber nachdem er kurz zu Neyo geschaut hatte, versiegte sein Widerstand. Neyo machte ein überaus bekümmertes Gesicht und Jyliere erkannte sofort, dass er selbst sich nicht mal sicher war, ob er nun von fremder Hand geführt worden war oder es freiwillig getan hatte. Und diese Unsicherheit schien ihn mehr zu quälen als alles andere.
 

„Aber wie ist Neyo überhaupt durch die Barriere gekommen?“, erkundigte sich Claire. „Magie unterdrückt seine übermenschlichen Eigenschaft doch. Er hätte genauso zurückgestoßen werden sollen wie ich.“

Te-Kem seufzte schwer. „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung“, gab er zu. „Ich kann im Grunde auch nur raten. Aber ich denke, dass es Asrim irgendwie gelungen ist, Neyos Fähigkeiten trotz der Magie aufleben zu lassen. Die Mauer war extra dafür konzipiert worden, niemand Untoten hindurchzulassen. Und für Menschen und selbst für Magier war sie viel zu stark, als dass sie sie hätten durchqueren können. Aber Neyo war zu diesem Zeitpunkt keines von beiden: Weder war er untot, noch war er ein Mensch. Er war irgendwas dazwischen, was die Magie der Barriere nicht hat erkennen können. Ich denke, dass er für sie regelrecht unsichtbar war.“
 

Neyo nahm diese Neuigkeit relativ gefasst auf, wahrscheinlich hatte er so etwas bereits vermutet. Oder aber er versteckte seine wahren Gefühle äußerst gut.

„Und was macht Asrim nun so gefährlich?“, wollte er wissen. Sein ernster Blick war auf den Oberen gerichtet, er wirkte fast herausfordernd.

„Er ist unglaublich alt“, meinte Te-Kem. „Soweit unsere Informationen stimmen, ist er weit über fünftausend Jahre.“
 

„Fünftausend Jahre?“, entfuhr es Claire entsetzt.

„Vielleicht sogar noch älter“, bestätigte Jyliere nickend. „Und je älter ein Vampir wird, desto mehr nimmt seine Macht zu. Es ist nicht wie mit uns Menschen, die wir im hohen Alter klapprig und gebrechlich werden. Vampire werden stärker. Aber ehrlich gesagt ist das noch gar nicht mal das Schlimmste.“

„Nicht?“, hakte Claire geradezu verzweifelt nach.

„Nein.“ Jyliere senkte mutlos den Kopf. „Wir haben zwar nicht allzu viel Informationen über ihn, aber wir wissen, dass Asrim vor seiner Zeit als Vampir ein bedeutender Mann gewesen war. Soweit uns bekannt ist, gehörte er sogar zur herrschenden Familie eines Königreichs weit im Osten. Und er war einer der ersten Magier, die je in den Geschichtsaufzeichnungen erwähnt werden.“

Claire blinzelte verdutzt. „Magier?“
 

„Was denkst du denn, wie er all das bewerkstelligt hat?“, sagte Te-Kem abfällig. Normalerweise hätte Jyliere ihn für den rüden Ton, den er gegenüber seiner Ziehtochter anschlug, gerügt, doch ihm war klar, dass Te-Kem es im Grunde nicht so meinte. Wenn er nervös war, vergaß er ab und zu seine guten Manieren und wurde hochnäsig. Damit wollte er nur seine Angst überspielen.

„Asrim war einst ein Magier“, bestätigte Jyliere, nachdem Te-Kem in brütendes Schweigen verfallen war und verdrossen vor sich hin sah. „Und durch seine Verwandlung sind seine Kräfte enorm angestiegen. Ich würde sagen, seine magischen Fähigkeiten sind nun zehnmal so groß, wie sie vorher waren. Vielleicht sogar noch mehr. Und zusätzlich kommen noch die übermenschlichen Eigenschaften eines Vampirs hinzu.“
 

Claire zog ihre Mundwinkel nach unten. Sie wirkte wenig begeistert. „Also haben wir es nicht nur mit einem uralten Vampir zu tun, der sich auf den Höhepunkt seiner Macht befindet, sondern gleichzeitig auch noch mit einem unfassbar starken Magier, der uns alle in den Schatten stellt?“

Jyliere nickte. „Genau so ist es.“

„Na toll“, brummte Claire. „Der Tag wird immer besser.“
 

Jylieres Blick fiel wieder auf Neyo. Der junge Mann war ungewöhnlich ruhig, schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Und diese waren offenbar nicht besonders rosig, wie man seiner Miene entnehmen konnte.

Der Magier seufzte. Alles lief aus dem Ruder, nichts befand sich mehr unter ihrer Kontrolle. Obwohl Jyliere gewusst hatte, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, so hatte er es dennoch nicht wahrhaben wollen. Es irgendwie zu leugnen versucht.
 

Doch nun war es soweit und nichts konnte daran etwas ändern. Die Vampire hatten Asrim befreit, Alec würde auch nicht mehr lange auf sich warten lassen und Neyo befand sich in einem Teufelskreis. Jyliere spürte, wie sehr der Junge litt. Er schämte sich geradezu, dass die Vampire ihn faszinierten, dass er sich von Asrim hatte verführen lassen. Es riss ihn beinahe entzwei.

Jyliere hätte liebendgern etwas unternommen, um Neyo ein wenig aufzumuntern, doch ihm fiel nichts Gescheites ein. Wie auch? Solch ein Fall wurde in keinem ihm bekannten Lehrbuch behandelt.
 

„Und was machen wir jetzt?“ Claire sprach dermaßen leise, dass Jyliere sie beinahe nicht verstanden hätte. „Können wir überhaupt irgendwas tun außer tatenlos zuzusehen?“

Jyliere presste die Lippen aufeinander. Nichts hätte er lieber getan, als ihr zu versichern, dass alles wieder gut werden würde. Doch das wäre eine Lüge gewesen. Das Buch der Zukunft hatte ihnen bereits prophezeit, wie alles ausgehen würde ...

Die Vampire würden gewinnen. So und nicht anders war es niedergeschrieben worden. Und bis jetzt hatte sich das Buch noch nie geirrt.
 

* * * * *
 

Alles schien sich verändert zu haben. Selbst die Luft roch anders. Doch gleichzeitig war alles noch genauso, wie Asrim es in Erinnerung hatte.

Ein Paradoxon, das er sich nicht so recht erklären konnte. Vielleicht lag es auch daran, dass er Ewigkeiten in einem Sarg zugebracht hatte und von der Außenwelt abgeschnitten gewesen war. Ein Toter, begraben unter der Erde. Nach solch einer langen Zeit der Gefangenschaft war es immerhin sehr gut möglich, dass die Sinne ein wenig verrückt spielten.
 

Im Grunde war es ihm auch egal, ob sich alles gewandelt hatte oder nicht. Er war bloß froh, dass es ihm nun endlich gestattet war, all diese Eindrücke in sich aufzunehmen. Die beengende Finsternis war verschwunden und hatte einer weiten Welt Platz gemacht. Nun konnte er wieder der sein, der er einst gewesen war. Keine Fesseln hielten ihn mehr zurück. Keine verfluchten Magier, deren Gesichter er all die Jahren immer wieder vor Augen gehabt hatte.
 

„Du siehst sehr zufrieden aus“, stellte Sharif fest. Der junge Vampir hatte die ganze Zeit stumm neben seinem Schöpfer gestanden und ihn dabei beobachtet, wie er den Blick über Rashitar hatte schweifen lassen. Beide waren sie im weitläufigen Garten des Herrenhauses, welches die Untoten als ihr Versteck nutzten, und schauten hinab auf die schlafende Stadt.

„Alles scheint so friedlich.“ Für Asrim war es ungewohnt, nach all der Zeit seine Stimme wieder zu hören. Sie klang in seinen Ohren merkwürdig verschroben.

„Das macht nur den Eindruck.“ Der Ägypter grinste breit. „Sieh dir nur Te-Kems Palast an. Das Licht ist schwach, kurz vorm Erlöschen. Deine Flucht scheint ihn sehr mitgenommen zu haben.“
 

In der Tat war das Schloss bei weitem nicht mehr so prachtvoll, wie es einst gewesen war. Als Asrim zum ersten Mal nach Rashitar gekommen war, hatte ihn dieses Phänomen des schimmernden Palastes außerordentlich fasziniert und er hatte Stunden damit zugebracht, es zu betrachten. Doch der Glanz von damals war nur noch Geschichte, das Schloss wirkte fast wie all die anderen umliegenden Gebäude. Stumpf und matt.

„Der hochgeschätzte Obere hat offenbar furchtbare Angst“, stellte Asrim genüsslich fest. „Wie jämmerlich. Aber genau so soll es sein. Alles veläuft nach Plan.“

Sharif nickte bestätigend. „Schon bald wird Te-Kem Fehler machen. Seine Panik macht ihn blind, er wird die Kontrolle verlieren. Ich freue mich schon sehr darauf.“

Asrim lachte auf. „Alec wird sich auch darauf freuen, das kann ich dir versichern.“
 

Sharif schwieg einen Moment und starrte in die Ferne. Asrim fiel gleich auf, dass sein Blick nicht mehr auf dem Palast ruhte, sondern auf einem viel entfernteren Ort. Für menschliche Augen wäre die Villa, die am Stadtrand lag, kaum zu erkennen gewesen, doch der Vampir konnte sie ohne Probleme ausmachen.

„Und was ist mit Neyo?“, fragte Sharif schließlich. „Immerhin ist er einer von uns.“

Asrim sah wieder das Gesicht des Mannes vor sich, der zwischen Entsetzen und Faszination hin- und gerissen gewesen war. Einerseits hatte er den uralte Vampir gefürchtet, andereseits war er in seinem Bann gefangen gewesen.

„Zu gegebender Zeit nehmen wir uns seiner an“, meinte Asrim. Mehr hatte er dazu nicht zu sagen. Sharif würde es verstehen.

Und so war es dann auch. Der Vampir nickte knapp und stellte keinerlei weitere Fragen.
 

Asrim trat ein paar Schritte nach vorne, spürte das feuchte Gras unter seinen Sohlen. Lautstark sog er die kalte Nachtluft ein.

„Mystica ist schon ein seltsames kleines Örtchen“, meinte er amüsiert. „So fortschrittlich. So durch und durch anders.“
 

Asrim hatte diese Tatsache schon damals vor gut hundert Jahren, als er zum ersten Mal Mystica aufgesucht hatte, nicht weiter überrascht. Es mochte Menschen geben, die diesen Umstand überaus erstaunlich fanden, Asrim hingegen hatte solcherlei schon etliche Male gesehen.

Es war immer wieder das Gleiche. Magier rotteten sich zusammen, schufen eine eigene kleine Welt und entwickelten sich in einem viel höheren Tempo, als es die gewöhnlichen Menschen je geschafft hätten. Aber am Ende gingen sie auch immer sehr schnell unter.
 

Mit Mystica war es nicht anders. Nachdem sich die Magier von ihren menschlichen Herren getrennt hatten und jenes kleine Land jenseits des Schwarzgebirges gegründet hatten, waren alle frohen Mutes gewesen. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich die Gesellschaft Mysticas immer weiter, bahnbrechende Erfindungen sorgten für einen raschen Aufschwung. Während die gewöhnlichen Menschen dort draußen noch wie die Nomaden von einem Ort zum anderen zogen und so etwas wie Politik und Gesetze gar nicht wirklich kannten, lebte man in Mystica in Saus und Braus. Man hatte eine stabile Regierung, Steinhäuser, Kutschen, Reichtum, Magie und Bücher.

Doch auch das würde irgendwann zugrunde gehen, soviel war sicher. Mystica entwickelte sich viel zu schnell, als dass es lange Bestand haben würde. So war es auch mit all den anderen kleinen Magierwelten passiert, die es überall auf der Erde gegeben hatte.
 

„Mir gefällt es hier nicht“, meinte Sharif mit heruntergezogenen Mundwinkeln. „Ich bin viel lieber in Ägypten. Oder Griechenland.“

„Soweit ich weiß, soll es auch eine aufstrebende Stadt geben, die sich Rom nennt“, sagte Asrim. „In ein paar Jahrhunderten wird dort richtig die Hölle los sein.“

„Ist mir im Grunde egal, nur weg von hier. Dieser magische Ort macht mich ganz verrückt. Lass uns endlich Te-Kem den Hals umdrehen und von hier verschwinden.“

Asrim lächelte. Diese jugendliche Ungeduld war wirklich ziemlich amüsant. „Gemach, mein Freund“, meinte er. „Sei nicht so ungestüm.“

„Diese Magier gehen mir nur unheimlich auf die Nerven“, brummte Sharif übellaunig. „Ich kann das hier alles nicht mehr ertragen. Eine Ewigkeit haben sie dich da unten festgehalten und sich damit gerühmt, den größten Vampir der Welt bezwungen zu haben. Hätten unsere Spione nicht herausgefunden, wo du versteckt warst, würdest du immer noch in diesem Keller vor dich hingammeln.“
 

„Es grämt dich doch nur, dass ihr so lange gebraucht habt, um mich zu finden“, stellte Asrim fest.

Sharif knirschte mit den Zähnen, erwiderte darauf aber nichts. Es war mehr als offensichtlich, dass er sich richtiggehend schämte, dass er fast ein ganzes Jahrhundert benötigt hatte, um seinen Schöpfer endlich zu befreien.

„Die Magier haben mich wirklich sehr gut verborgen“, versuchte Asrim, den Ägypter wieder ein wenig aufzumuntern. „Es kommt eigentlich einem Wunder gleich, dass ihr mich überhaupt gefunden habt.“

„Ja, ja“, knurrte Sharif. „Du brauchst gar nicht so zu tun, als ob du nett und fürsorglich wärst. Das kauf ich dir nicht ab.“

Asrim grinste. „Vor dir kann man auch wirklich nichts geheim halten.“ Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem dumpf leuchtenden Palast zu. „Aber du sollst deine Rache bekommen, mein junger Freund. Schon morgen Nacht.“

Das Buch der Zukunft

So, das neue Kapitel ist endlich da!! ^_____^

Ich will jetzt keine großen Vorreden schwingen, ehrlich gesagt fällt mir auch nichts Tiefsinniges ein ^^'

Viel Spaß damit ^^

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Wie ein Wirbelsturm fegten die Dienstmädchen durch Claires Zimmer. Sie rissen Schränke auf und steckten alles in Beutel, was nicht niet- und nagelfest war. Kleidung, Bücher, Notizen, Badeutensilien – nichts blieb verschont.

Schon am frühen Morgen hatten sie Claire aus dem Schlaf gerissen. Hatten irgendwas vor sich hingeträllert, erbarmungslos die Vorhänge zur Seite geschoben, sodass Claire die volle Ladung Sonnenlicht abbekommen hatte, und die junge Magierin schließlich äußerst unsanft aus dem Bett geworfen. Claire war viel zu müde und verwirrt gewesen, um sich irgendwie verteidigen zu können.

Nun starrte sie, an eine Wand gelehnt, auf das rege Treiben in ihrem Zimmer und hoffte bloß, dass bei dem Arbeitseifer der Mädge nichts zu Bruch ging. Ein äußerst kostbares Buch war erst vorhin beinahe in einem Wassereimer gefallen, Claire war einem Herzinfarkt nahe gewesen. Glücklicherweise hatte das Stück gerettet werden können, doch nun achtete die junge Frau äußerst genau darauf, was ihre Dienerinnen trieben. Sich ihnen in den Weg stellen wollte sie aber lieber nicht, sie fürchtete um ihr Leben.
 

„Die sind wie die Raubtiere“, sagte Neyo kopfschüttelnd. Er hockte neben ihr auf dem Boden und beobachtete geradezu fasziniert das große Packen. „Man sollte ihnen besser nicht in die Quere kommen. Calvio hat mir erzählt, dass sie erst gestern die ganze Küche auf den Kopf gestellt haben ... und das wegen einer einzelnen Maus.“

Claire hob eine Augenbraue. „Und? Haben sie die Maus erwischt?“

Neyo konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Nein. Im allgemeinen Schlachtgetümmel konnte sie offenbar entkommen. Aber Catherine wurde der Schreck ihres Lebens eingejagt. Die Ärmste erholt sich immer noch von diesem Schock.“

Claire schnaubte bloß, sagte daraufhin aber nichts. Ihrer Meinung nach hatte dieses hochnäsige Frauenzimmer auch nichts anderes verdient. Sie merkte kaum, wie sie unwillkürlich lächelte.
 

„Weißt du eigentlich, wo uns Jyliere hinschicken will?“, erkundigte sich Neyo. Schlagartig schien seine kurzweilige gute Laune verschwunden, er wirkte wieder ungewöhnlich ernst.

Claire seufzte. „Keine Ahnung. Vielleicht zu seinem alten Freund Baptiste nach Fielle. Möglicherweise will er uns sogar ganz aus Mystica rausschaffen.“

Noch letzte Nacht, auf ihrem Weg zurück zur Villa, hatte Jyliere ihnen eröffnet, dass er es für das Beste hielt, wenn sie für unbestimmte Zeit untertauchten. Er stufte die Situation als viel zu gefährlich ein, als dass er das Risiko eingegangen wäre, die zwei Menschen, die er am meisten liebte, bei sich zu behalten. Besonders Neyo war gefährdet, schließlich wusste Asrim, dass er ein Sa‘onti war. Er würde sicherlich nicht lange ruhen, sondern alles in die Wege leiten, um das zu bekommen, was er wollte.
 

„Ich war noch nie außerhalb von Mystica“, meinte Neyo. „Ich kann mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen, wie es dort wohl aussieht.“

„Das sind allesamt Hinterweltler“, sagte Claire abschätzend. Sie hatte im Unterricht mehr als genug über die Welt der Gewöhnlichen erfahren. Unzivilisiertes Gebarden und ständige Konflikte gehörten dort zum Alltag, die Menschen führten sich auf wie die wilden Tiere. So etwas wie eine Ordnung suchte man bei diesen Barbaren vergebens.

„Ist doch egal“, entgegnete Neyo schulterzuckend. „Ich würde es trotzdem gerne sehen. Dort soll alles so anders sein.“

„Ich denke sowieso nicht, dass Jyliere uns dorthin schicken wird“, erwiderte Claire. „Er wird wollen, dass wir in Mystica bleiben. Irgendwo in Sicherheit. Und glaub mir, die Welt hinter dem Schwarzgebirge ist alles andere als sicher. Immerhin sind von dort auch die Vampire gekommen.“
 

Neyo schien zu einem Gegenargument ansetzen zu wollen, doch er kam nicht mehr dazu. Eines der Dienstmädchen, die geschäftig alles zusammensuchten, wäre beinahe über seine ausgestreckten Beine gestolpert. Sie warf ihm daraufhin einen vorwurfsvollen Blick zu, als ob sie ihm sagen wollte, dass er gefälligst nicht im Weg zu stehen habe.

„Ich glaube, wir verziehen uns besser“, meinte Neyo, nachdem er das Dienstmädchen mit einem entschuldigendem Lächeln etwas besänftigt hatte. „Sonst werden wir noch vom Hauspersonal massakriert, bevor die Vampire überhaupt ihre Chance dazu erhalten.“

Claire verließ nur äußerst ungern ihr Zimmer. Sie fürchtete, dass die Mägde in ihrem Arbeitseifer noch irgendetwas zerstören würden, doch als Neyo sie bei der Hand packte und mit sich zog, erhob sie keinerlei Einwände. Vielleicht war es sogar besser so, diesen großen Tumult hätte sich die Magierin wahrscheinlich sowieso nicht viel länger anschauen können. Es brach ihr fast das Herz, wenn sie zusehen musste, wie diese Mädchen achtlos mit Wertgegenständen umgingen, die in ihren Augen wohl nur billiger Ramsch zu sein schienen.
 

Neyo führte Claire in die Bibliothek. Ihr war schon früher aufgefallen, dass sich Neyo ausgesprochen gerne dort aufhielt. Er schien sich zwischen all den Büchern und Schriftrollen wirklich wohl zu fühlen.

Doch Claire stand im Augenblick der Sinn nach etwas anderem. „Lass und lieber erst was frühstücken gehen“, schlug sie vor. „Ich habe Hunger.“

Aber Neyo schüttelte den Kopf. „Ich wollte erst was mit dir bereden.“

Claire runzelte die Stirn. Er klang wieder so ernst, so völlig untypisch. Irgendwie gefiel ihr das nicht besonders. „Und was?“

Neyo zögerte. Er wich ihrem erwartungsvollen Blick aus, schaute stattdessen hinaus aus dem Fenster hinüber zu Te-Kems Palast. Etwas Trauriges lag in diesem Moment in seinen Augen.

„Te-Kem wird sterben, nicht wahr?“, sagte er plötzlich.

Claire sah Neyo überrascht an. Eigentlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass er ausgerechnet mit ihr über dieses Thema sprechen wollte.

„Nun“, meinte sie etwas zögernd, „er ist mächtig. Er wird sicher wissen, was zu tun ist.“

„Daran zweifle ich nicht“, sagte Neyo. „Dennoch wird er sterben. Und wir können nichts dagegen tun.“

Claire biss sich auf die Unterlippe. Was hätte sie darauf auch antworten sollen? Selbst Te-Kem und Jyliere schienen diese Tatsache auf gewisse Art und Weise akzeptiert zu haben, auch wenn sie immer noch so taten, als sei alles in bester Ordnung.
 

„Es ist, wie es ist“, meinte die Magierin schulterzuckend. Ein besserer Spruch fiel ihr in dieser Situation nicht ein. „Außerdem wolltest du mit mir gar nicht über Te-Kem sprechen, hab ich Recht? Das war nur ein dummer Vorwand.“ Sie sah ihm fest in die Augen. „Was also wolltest du nun bereden?“

Auf Neyos Lippen breitete sich wieder sein typisches lausbübisches Lächeln aus. „Wir haben unser Gespräch von gestern noch nicht beendet.“

Claire runzelte die Stirn. „Welches Gespräch?“

„Das von Gorsco und den anderen unterbrochen worden ist.“
 

Im ersten Moment verstand Claire nicht wirklich, worauf er eigentlich anspielte, dann jedoch, nachdem sie angestrengt nachgegrübelt hatte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

Sie hatten über sie, Claire, gesprochen, über das, was sie Neyos Meinung nach vor aller Welt verbarg. Und er war immer näher gekommen ...

Unsicherheit befiel Claire. Darüber wollte er sprechen? Sie hatte eigentlich gehofft, dass er die ganze Sache schon wieder vergessen hatte.

„Das Gespräch war beendet“, meinte sie. Sie wollte herrisch und entschieden erscheinen, doch ihre Stimme klang bloß zaghaft.

Neyos Lächeln wurde sogar noch etwas breiter. „Nun gut, das Gespräch war vielleicht wirklich beendet ...“, gab er zu. „Aber dennoch hat Gorsco uns gestört.“
 

Claire nagte auf ihrer Unterlippe. Hatte er tatsächlich das vor, was sie befürchtete? Eigentlich hätte er nicht so dumm sein sollen, sich einer Dame aus besserem Hause zu nähern, doch andererseits war Neyo nicht dafür bekannt, dass er besonders besonnen handelte. Er folgte nur seinem Instinkt und tat das, wonach ihm der Sinn stand.

Aber warum hatte er ausgerechnet sie zum Objekt seiner Begierde auserkoren? Jahrelang waren sie nicht allzu gut aufeinander zu sprechen gewesen, eine Beleidigung war der nächsten gefolgt. Es hatte sogar so etwas wie eine Art Kleinkrieg zwischen ihnen geherrscht. Zumindest hatte Claire das immer so betrachtet. Herrje, vor ein paar Wochen hatte sie Jyliere sogar vorgeschlagen, Neyo wegen seiner Dreistigkeiten auszupeitschen!

Und nun?

Nun grinste er sie an und man konnte seinem Blick entnehmen, was gerade in seinem Kopf vorging. Die Verachtung, die er ihr einst entgegengebracht hatte, war verschwunden und hatte überaus sündigen Gedanken Platz gemacht.

Claire gefiel diese Situation ganz und gar nicht. Lieber wäre es ihr gewesen, Neyo würde einige unverfrorene Kommentare zum Besten geben und sich wieder wie ein rebellischer Diener benehmen, dem es Spaß bereitete, seine Herrin zu kränken.
 

„Du bist ein Idiot!“, murmelte sie. Sie wich einige Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken gegen ein Bücherregal stieß. Keine Sekunde ließ sie dabei Neyo aus den Augen, der ihr schmunzelnd gefolgt war.

„Ich weiß, dass ich ein Idiot bin“, meinte er amüsiert. „Das hast du mir schon oft genug vorgehalten.“

„Dann sollte dir auch klar sein, dass das hier –“, sie sprach es geradezu verächtlich aus, „– der reinste Irrsinn ist! Du brauchst dringend ein kaltes Bad, um wieder zur Vernunft zu kommen.“

Neyo legte seinen Kopf schief und tat so, als würde er ihre Worte tatsächlich in Erwägung ziehen. Dabei machte er sich nur über sie lustig.

Claire schnaubte. Wahrscheinlich war ihre Unsicherheit überaus unterhaltsam für ihn. Für ihn war das alles sicherlich nur ein dummer Scherz.

„Ich weiß, was du denkst.“ Neyos Augen funkelten kurz auf. „Aber es ist nicht so.“

Claire stutzte. Konnte dieser Kerl etwa Gedanken lesen? „Und ... und was ist es dann?“
 

Er kam noch ein Stück näher, sodass sich Claire unweigerlich an das Bücherregal presste. Die harten Einbände bohrten sich zwar in ihren Rücken, doch das war es wert. Sie wollte so viel Abstand wie möglich zwischen ihnen wahren, selbst wenn es sich nur um ein paar lausige Zentimeter handelte.

Neyo hingegen schien ihr Verhalten zu amüsieren. „Wovor hast du Angst?“, wollte er wissen.

Claire knirschte mit den Zähnen. Es ärgerte sie, wie unbesonnen er mit ihr umging. Beinah so, als wäre sie eines dieser Mädchen, die sich ohne große Probleme um den Finger wickeln ließen. Aber noch mehr ärgerte es sie, dass Neyo solch einen Einfluss auf sie ausüben konnte. Zwar war sie stark in Versuchung, ihn in einen Frosch zu verwandeln, doch sie brachte es einfach nicht übers Herz.

Denn eine andere Versuchung war noch um einiges größer.
 

„Ich ... ich habe keine Angst.“ Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, bereute sie es schon. Dieses Gestammel musste ihn ja unweigerlich vom Gegenteil überzeugen.

Und so schien es dann auch wirklich zu sein, Neyos Lächeln sprach Bände. Er wusste ganz genau, was in ihr vorging. Schon immer hatte er sie durchschauen können.

„Du brauchst keine Angst zu haben, ich werde dich schon nicht auffressen“, meinte er belustigt. Als er seine Hand hob und ihr sanft durchs Haar strich, verkrampfte sich Claires Magen. Kurz dachte sie darüber nach, ihn einfach wegzustoßen, aber wie schon zuvor schaffte sie es nicht, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Und zwar aus einem vollkommen simplen Grund: Es gefiel ihr! Verdammt, sie gab es wirklich ungern zu, aber im Grunde hatte sie nichts gegen Neyos Annäherungsversuche einzuwenden. Zwar versuchte ihr Verstand ihr einzureden, wie dumm das Ganze doch war, doch nach und nach verlor er an Überzeugungskraft.

Aber trotzdem wollte sie standhaft bleiben. Neyo nicht bedingungslos verfallen, wie es sicherlich viele Frauen getan hätten, allen voran natürlich Catherine. Immerhin besaß Claire noch so etwas wie Stolz.
 

„Du warst einst ein Straßenjunge“, sagte sie. „Ein Dieb. Ein Niemand. Und ich stamme aus der gehobenen Gesellschaft. Wir sollten nicht –“

„Red nicht solchen Schwachsinn!“, unterbrach Neyo sie. Er schien zornig, dass sie auf den Ständeunterschied zu sprechen gekommen war. Bei diesem Thema hatte er schon immer ziemlich empfindlich reagiert. „Aus welcher Schicht wir auch immer kommen, wir sind doch alle noch Menschen, oder sehe ich das etwa falsch? Was unterscheidet dich denn sosehr von mir?“

„Nun, ich ...“ Claire nagte unsicher auf ihrer Unterlippe. Ihr fiel keine passende Antwort ein. Wahrscheinlich gab es auch gar keine.

„Bin ich deiner Meinung nach unwürdig?“, fragte er. „Bin ich weniger wert? Wenn du das wirklich so siehst, dann lass ich dich wohl besser in Ruhe.“

Claire erkannte, dass er es tatsächlich ernst meinte. Es war keiner seiner dummen Scherze, es war ihm ungemein wichtig. Für ihn war es schon immer ungerecht gewesen, dass Menschen danach beurteilt wurden, wie groß ihr Landbesitz und prachtvoll ihre Häuser waren.
 

Neyo wollte sich von ihr zurückziehen, aber Claire packte ihn am Arm und hinderte ihn so daran. Sie wusste selbst nicht, was sie dazu bewogen hatte, aber zu ihrem eigenen Erstaunen fühlte sie sich gut dabei.

„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich. Sie fühlte sich fast wie ein kleines Mädchen, das bei seinem Lehrer wegen einer dummen Bemerkung um Verzeihung bitten musste. „Ich werde so etwas bestimmt nie wieder sagen. Versprochen.“

Neyos darauffolgendes Lächeln zeigte ihr, dass er mit nichts anderem gerechnet hatte. Offenbar hatte er sie nur dazu bringen wollen, es sich selbst einzugestehen.
 

„Du willst mich bloß ärgern, hab ich Recht?“, meinte Claire mit heruntergezogenen Mundwinkeln.

Dieser beleidigte Gesichtsausdruck schien Neyo nur noch mehr zu amüsieren. „Ich tue nichts lieber als das, das müsstest du doch eigentlich wissen“, sagte er lachend. Er kam noch ein bisschen näher, ihre Nasenspitzen berührten sich leicht. Durch Claires Körper lief ein Schauer, den sie nicht zu unterbinden vermochte. Und den sie im Grunde auch gar nicht unterbinden wollte.

„Hast du Angst?“, fragte Neyo erneut. Er umschlang mit den Armen ihre Taille und drückte sie an sich.

„Ein bisschen“, sagte Claire wahrheitsgemäß.

Neyo nahm dies mit einem Nicken zur Kenntnis, ging jedoch nicht weiter darauf ein. Claire war dankbar dafür, ihr wäre es äußerst schwer gefallen, ihre jetztigen Gefühle zu beschreiben. Ihr war nicht mal klar, was sie eigentlich genau empfand.

„Und denkst du, es ist falsch, was wir tun?“, wollte er wissen.

„Ich denke, dass Catherine schrecklich eifersüchtig sein wird“, erwiderte Claire mit einem Grinsen. „Und ehrlich gesagt freue ich mich darauf, sie vor Wut herumspringen zu sehen.“

Neyo lachte auf. „Du bist immer noch die Alte“, meinte er.

Doch als sich seine Lippen auf die ihren legten und sie zum ersten Mal solch ein aufwühlendes Gefühlschaos erlebte, da wusste sie, dass von nun an alles anders sein würde.
 

* * * * *
 

Sharif schaute schon seit geraumer Zeit aus dem Fenster hinaus. Voller Ungeduld beobachtete er die Sonne, wie sie langsam aber sicher hinter dem Horizont verschwand. Der Himmel hatte sich bereits blutrot gefärbt. Fast wie ein Omen schien es zu sein.

„Endlich zeigen wir es diesen arroganten Magiern.“ Lasgo hatte sich zu dem Ägypter gesellt und starrte die Sonne dermaßen intensiv an, als wollte er sie irgendwie beschwören, schneller unterzugehen. „Ich kann es kaum noch erwarten, ihnen ihre blassen, dünnen Hälse umzudrehen.“

„Und ihr köstliches, magisches Blut zu trinken“, fügte Sharif grinsend hinzu. „Das wird ein großes Festmahl.“

Lasgo nickte zustimmend. Seine unbändige Vorfreude hatte ihn offenbar vergessen lassen, dass er Sharif eigentlich nicht leiden konnte. „In der Tat. Wann kommt eigentlich Alec?“

„Den treffen wir im Palast“, antwortete Sharif.

Lasgo wandte seinen Blick von der Sonne ab und sah den Vampir überrascht an. „Ach, Alec ist schon hier?“

Sharif gestattete sich ein amüsiertes Lächeln. „Ehrlich gesagt ist er schon länger hier. Ich habe dir bloß nichts gesagt.“

„Und warum nicht?“, fragte Lasgo ein wenig schroff. Nun schien er sich plötzlich wieder daran zu entsinnen, dass er den Ägypter nicht mochte. „Vertraust du mir etwa nicht?“
 

Sharif lag bereits ein spöttischer Kommentar auf der Zunge, doch diesen schluckte er herunter, als plötzlich Asrim wie aus dem Nichts erschien und sich zu ihnen gesellte. Lasgo zuckte bei seinem unerwarteten Auftauchen erschrocken zusammen und auch Sharif war ein wenig überrascht. Normalerweise war es Vampiren nicht möglich, sich unbemerkt an ihre Artgenossen heranzuschleichen, ganz gleich, wie begabt man auch war. Nur Asrim schaffte es immer wieder.

„Natürlich vertrauen wir dir.“ Die Stimme des alten Vampirs schien emotionslos, doch Sharif erkannte einen unterschwelligen Hohn. Asrim hatte nicht allzu viel für Lasgo übrig, im Grunde war er nur Mittel zum Zweck. Bloß ein Werkzeug. „Aber hätte es etwas geändert, wenn wir es dir erzählt hätten? Was für einen Unterschied macht es schon?“
 

Lasgo biss sich auf die Unterlippe. Jeden anderen hätte er spätestens ab diesem Zeitpunkt eine leidenschaftliche Strafpredigt zukommen lassen, doch Asrim gegenüber wagte er es nicht, die Stimme zu erheben. Man merkte, dass die schier grenzenlose Macht des uralten Vampirs diesen vorlauten Untoten ziemlich einschüchterte.

Lasgo wandte sich wieder dem Fenster zu und suchte ausgiebig die Stadt ab. Offenbar schien er zu glauben, auf diese Art und Weise irgendwie Alec aufspüren zu können.

Idiot! Er würde Alec niemals im Leben finden.
 

„Und was ist mit diesem Jungen?“, wollte Lasgo wissen. „Diesem Neyo?“

Asrims Lippen umspielte ein schwaches Lächeln. „Ich habe ihm eine Belohnung versprochen. Und die wird er auch bekommen.“

Lasgo beäugte den Vampir mit leicht gerunzelter Stirn, war aber klug genug, nicht weiter auf dieses Thema einzugehen. Sharif musste ihm zugute halten, dass, auch wenn er daran gewohnt war, herrisch Befehle durch die Gegend zu brüllen, so wusste er dennoch, wann es Zeit war, sich zurückzuhalten und jemand anderem das Kommando zu überlassen. Sharif hätte es zwar nie für möglich gehalten, dass Lasgo so etwas wie Demut zeigen konnte, aber offenbar war er wirklich dazu fähig, wenn die Situation es erforderte.
 

„Und das Buch?“, hakte Lasgo nach.

„Das Buch?“ Asrim sah ihm im ersten Augenblick verwundert an, dann jedoch verstand er. „Ach, du meinst das Buch der Zukunft? Was soll damit sein?“

Lasgo schnaubte leicht verärgert. „Diese verfluchten Magier haben es!“, sagte er. Seinem Tonfall war nicht zu entnehmen, wie sehr es ihn grämte, dass Asrim ihn wie ein Kind behandelte. Sein funkelnder Blick hingegen sprach Bände. „Wir sollten es ihnen nicht so ohne weiteres überlassen.“

Asrim lächelte matt, beinahe gelangweilt. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was es mit diesem Buch auf sich hat? Woher es kommt, wer es geschrieben hat?“
 

Lasgo war im ersten Moment vor den Kopf gestoßen, außer unverständlichem Gemurmel brachte er nichts zustande. „Ähm, also ... nun ja, nicht so wirklich“, gab er kleinlaut zu.

„Und wieso bestehst du so darauf, dass wir es uns zurückholen?“, fragte Asrim. „Die Zukunft ist ein Fluch, mein junger Freund. Bis jetzt hat dieses Buch jeden ins Verderben gestürzt. Willst du etwa auch dazu gehören?“
 

Sharif betrachtete voller Genugtuung, wie Lasgo nach Worten rang. Er schien mit allem möglichen gerechnet zu haben, aber nicht mit solch einer Antwort. Asrim hatte ihn damit völlig aus dem Konzept gebracht.

Er brauchte eine Weile, bis er endlich seine Sprache wiederfand. „Und ... wer hat es denn geschrieben?“

Asrim grinste. „Ich!“, meinte er vollkommen gelassen. „Zumindest glaube ich das.“
 

Noch größere Verwirrung schien Lasgo zu befallen. „Du?“, stieß er hervor. „Aber ...? Du glaubst?“ Im Kopf des Vampirs schien alles verrückt zu spielen.

Asrim zuckte nur belanglos mit den Schultern. „Ich bin mir nicht ganz sicher. Es ist meine Handschrift, also muss ich es wohl gewesen sein.“
 

Sharif grinste fröhlich vor sich hin. Lasgos geradezu verzweifelter Gesichtsausdruck war wirklich überaus amüsant.

Allerdings konnte er den Vampirführer durchaus verstehen. Auch für Sharif selbst war es anfangs sehr irritierend gewesen, als Asrim ihm die Wahrheit über dieses ominöse Buch offenbart hatte. Er hatte eine Weile gebraucht, bis er diese merkwürdigen Informationen hatte verdauen können.
 

„Was ... was soll das heißen?“, stammelte Lasgo perplex. Ihn stottern zu hören, versetzte Sharif in Hochstimmung.

Asrim seufzte schwer. Im ersten Augenblick machte er den Anschein, als wollte er Lasgos Frage nicht beantworten, schließlich aber sagte er: „Du hast das Buch doch gelesen, nicht wahr? Hast du dich nie gewundert, wieso es in der Vergangenheitsform geschrieben ist?“

Lasgo blinzelte verdutzt. „Ich dachte, es wäre einfach ein besonderer Erzählstil“, murmelte er.

„Oh Nein, mein kleiner Freund.“ Asrim lächelte süffisant. „Es steht in der Vergangenheitsform, weil zu dem Zeitpunkt, als dieses Buch geschrieben worden ist, alles längst geschehen war. Es ist im Grunde nichts weiter als ein simples Geschichtsbuch.“
 

„Es ... es kommt aus der Zukunft?“, hakte Lasgo vorsichtig nach. Trotz seiner Verwirrung schien er noch einigermaßen kombinieren zu können.

Asrim hob hierauf seine Schultern. „Offenbar“, meinte er gelassen. „Ich weiß es selber nicht. Das Buch hat seinen ganz eigenen Kopf, es taucht auf und verschwindet wieder. Es wird vor einem starken Zauber beherrscht, den ich vielleicht sogar selbst ausgesprochen habe. Oder besser gesagt: irgendwann aussprechen werde.“

Lasgo fuhr sich durch das lange Haar und atmete tief durch. Langsam aber sicher schien er seine Selbstbeherrschung zurückzuerlangen. „Und wieso ist es hier? Warum jetzt?“

„Weil es an der Zeit ist.“ Asrim grinste. „Es hat einen Auftrag zu erfüllen.“

„Und welchen, wenn ich fragen darf?“, wollte der Vampirführer wissen. Er hatte eine Augenbraue hochgezogen und musterte Asrim skeptisch. Er konnte sich anscheinend nur schwerlich vorstellen, dass ein Buch eigene Entscheidungen traf oder gar Aufträge ausführen konnte.

Und in dieser Hinsicht musste Sharif ihm zustimmen. Es war in der Tat durch und durch verrückt, doch Asrim war felsenfest davon überzeugt. Und Sharif wagte nicht, seinem Schöpfer zu widersprechen.
 

„Das Buch ist hier, um Te-Kem seine Zukunft zu offenbaren“, erklärte Asrim. „Er soll sehen, was ihm blüht. Was Alec mit ihm anstellen wird.“

Lasgo legte seinen Kopf schief. „Aber was hat das für einen Zweck?“, wunderte er sich. „Wieso soll Te-Kem erfahren, was wir mit ihm vorhaben? So ist er vorbereitet.“
 

Asrim lächelte dermaßen teuflisch, dass Lasgo unweigerlich einen Schritt zurückwich. „Er soll Angst bekommen!“, meinte der Älteste voller Genugtuung. „Todesangst! Panik! Er wird die Kontrolle verlieren, Fehler machen. Und genau darauf warten wir.“
 

Lasgo machte zwar nicht wirklich den Anschein, als hätte er alles verstanden, doch er fragte nicht weiter nach. Asrims übermenschlich funkelnde Augen hatten ihm offenbar gehörigen Respekt eingeflößt, sodass er es für das Beste hielt, zu schweigen.

Doch Lasgo würde es schon sehr bald begreifen, dessen war sich Sharif sicher. Schon bald würde er miterleben, warum allerorts behauptet wurde, das Buch der Zukunft brächte seinem Besitzer nur Unglück und Verderben.

Schon bald würde er begreifen, weshalb das Buch sich ausgerechnet Te-Kem ausgesucht hatte.
 

Asrim warf noch einen letzten, leicht herablassenden Blick auf Lasgo, dann wandte er sich ins Innere des Raumes, in dem bereits einige von Lasgos Leuten ungeduldig darauf warteten, dass es endlich losging. Sie hockten auf Sesseln oder auf dem Teppich und diskutierten leise miteinander. Als sie merkten, dass Asrims Aufmerksamkeit auf ihnen lastete, verstummten sie abrupt.

Die Augen des uralten Vampirs ruhten auf einem ganz bestimmten Mann. Auf demjenigen Spion, der vor gar nicht allzu langer Zeit Asrim durch Zufall in Mystica aufgespürt hatte. Seinen intensiven Recherchen war es zu verdanken, dass der große Vampirfürst nicht mehr in seinem finsteren Verlies ausharren musste.
 

„Ich will, dass der Junge und die Magierin dabei sind“, sagte Asrim. „Sie sollen es mit eigenen Augen sehen.“

„Und wieso?“, fragte der Angesprochene verdutzt. „Wenn Neyo das Ganze miterlebt, wird er nicht allzu gut auf Euch zu sprechen sein. Ihm wird es dann sicherlich nicht sonderlich gefallen, dass ihr ihn zu Euch holen wollt.“

„Tu einfach, was ich dir sage“, befahl Asrim, ohne eine Miene zu verziehen.

Der Vampirspion namens Calvio nickte untergeben. „Wie Ihr wünscht.“

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So, das war's schon wieder ^^ Ich hoffe, es hat einigermaßen gefallen ^^

Und wie man merkt, geht es langsam aber sicher aufs Ende zu. Es wird wahrscheinlich noch 3 Kapitel plus Epilog geben, das war's dann aber auch ...

Ich hoffe, ich kann eure Erwartungen erfüllen ^^
 

Liebe Grüße

Nochnoi

Schatten

Das neue Kapitel ^.^

Es ist im Grunde nur ein kleines und angenehmes Übergangskapitel, bevor es so richtig losgeht ^.~ Ich hoffe aber, es gefällt euch trotzdem ^^
 

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Neyo schaute besorgt Richtung Horizont. Die Sonne verschwand bereits hinter den Hügeln und die Nacht würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Jene Zeit, die die Vampire bevorzugt zur Jagd nutzten.
 

Schon längst hätten Neyo und Claire die Stadt verlassen sollen, doch die Reisevorbereitungen hatten sich schwieriger gestaltet, als zunächst angenommen. Man hatte am Morgen mehrere blutleere Leichen in Rashitar gefunden, den Gerüchten zufolge sechs an der Zahl. Offen ausgestellt auf dem großen Marktplatz, für jedermann sichtbar.

Panik war daraufhin ausgebrochen, alles Alltägliche war zum Erliegen gekommen. Angst hatte die Menschen befallen, viele hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen. Der Markt war wie ausgestorben gewesen, wenn man von den unzähligen Soldaten Te-Kems absah, die den Tatort begutachteten und die Opfer wegschafften. In Decken eingehüllt waren diese armen Seelen an irgendeinen Ort gekarrt worden, an dem niemand sie je wieder zu Gesicht bekommen sollte.
 

Neyo war sofort klar gewesen, wem sie dieses grauenvolle Schicksal zu verdanken hatten. Asrim war schließlich eine unglaubliche lange Zeit in diesem Sarg eingeschlossen gewesen, sein Durst musste ihn beinahe umgebracht haben. Kein Wunder also, dass er sich sofort auf Nahrungssuche begeben hatte.

Neyo fuhr ein kalter Schauer über den Rücken. Nahrungssuche ... was für ein schreckliches Wort! Als wären Menschen nur irgendwelche Lebensmittel.
 

Neyo verzog sein Gesicht. Niemals wollte er so werden wie diese Vampire! Sie waren nur seelenlose Monster, die keinerlei Respekt vor dem Leben hatten. Da wäre es ihm sogar lieber gewesen zu sterben, als zu solch einem Ungeheuer zu werden.

Neyo seufzte. Er wollte nur noch weg von diesem Ort, weg von den Vampiren. Da war es ihm sogar egal, dass man aufgrund der Panik in der Stadt keinen Reiseproviant hatte besorgen können. Das Wenige, das sie noch hatten, würde wenigstens für einen Tag reichen, vielleicht auch für zwei.

Er wollte einfach bloß weg!
 

Neyo blickte ins Innere des Zimmers, ein Lächeln legte sich unvermittelt auf seine Lippen. Claire saß dort an einem bulligen Schreibtisch, ihr Haar schimmerte im flackernden Kerzenlicht in den verschiedensten Facetten. Sie saß über einem Buch gebeugt, hochkonzentriert. Wahrscheinlich hätte nicht mal ein Gewitter sie aus ihren Gedanken reißen können.

Neyo grinste. Sie sah einfach wunderschön aus.

So unschuldig und rein.

Aber das Buch, das sie vor sich liegen hatte, verkörperte das genaue Gegenteil. Dunkel und kalt war es, auch wenn es nur ein Buch war. Irgendwas stimmte damit ganz und gar nicht.

Warum es Claire danach verlangte, ausgerechnet in dem Buch der Zukunft zu lesen, war Neyo ein Rätsel, aber wenigstens lenkte es sie von ihren Sorgen und Ängsten ab. Sie war so sehr in ihren Gedanken vertieft, dass sie die drohende Gefahr fast schon vergessen hatte.

Jyliere hatte ihr das Buch, kurz bevor er am frühen Morgen zum Palast aufgebrochen war, auf ihre Bitte hin überreicht, zusammen mit einem Vokabelbuch, welches die seltsamen Symbole entschlüsseln sollte. Es war von unzähligen Magiern über viele Jahre hin angefertigt worden, damit auch zukünftige Generationen das Buch lesen konnten.

Claire war bereits seit Stunden am Übersetzen, offenbar relativ erfolgreich. Sie blätterte dermaßen unbekümmert in dem Buch der Zukunft, als wäre es in ihrer Muttersprache verfasst. Es verwunderte Neyo sehr, wie schnell sie damit zurecht gekommen war.
 

„Und? Hast du einige interessante Dinge erfahren können?“, erkundigte sich Neyo. Er trat neben sie und starrte auf das Buch hinab. Ein Vielzahl von merkwürdigen Symbolen breitete sich vor ihm aus, die Neyo in solcher Form noch nie irgendwo gesehen hatte.

„In der Tat.“ Claire schien ganz begeistert, fast wie ein Schulmädchen. Ihre fröhlich leuchtenden Augen entlockten Neyo ein Lächeln. „Es ist wirklich ungeheuer informativ. Wusstest du, dass die Menschen irgendwann Gebäude bauen werden, die bis in die Wolken reichen?“

Neyo hob eine Augenbraue. Irgendwie konnte er sich das nur schwer vorstellen. „Und wozu soll das gut sein?“, fragte er verwundert.

„Ich weiß nicht.“ Claire zuckte ahnungslos mit den Schultern. „Vielleicht wollen sie damit ihren Göttern näher sein. Ist im Grunde auch egal. So ein Wolkenkratzer – ein überaus seltsame Bezeichnung, wenn du mich fragst – wird erst in über zweitausend Jahren errichtet.“

Neyo nickte knapp. Zweitausend Jahre – das war wahrlich eine Zeitspanne, die er sich nicht mal in seinen kühnsten Träumen ausmalen konnte.

Und Asrim war sogar noch um einiges älter. Wie, bei allen Mächten dieser Erde, konnte man so lange leben, ohne verrückt zu werden? Irgendwann müsste man dem allem doch überdrüssig werden.
 

„Außerdem wird einiges über wichtige Persönlichkeiten erwähnt“, fuhr Claire fort, während sie eifrig die Seiten umblätterte. „Männer und Frauen, die irgendwann zu Berühmtheiten aufsteigen werden.“

„Und was ist mit den Vampiren?“, wollte Neyo wissen.

„Auch die werden hier vermerkt“, meinte Claire. „Jeder einzelne Sa'onti, genau, wie es Jyliere bereits gesagt hat.“

Neyo beugte sich noch etwas weiter vor. „Und was steht da über Asrim?“

„Nun ja, es sind im Grunde nur oberflächliche Informationen“, berichtete sie. „Wie wir bereits wissen, war er Mitglied der herrschenden Königsfamilie in einem der östlichen Länder. Er war wohl so etwas wie ein Fürst, zumindest bekleidete er einen nicht zu verachtenden Rang. Auch die Tatsache, dass er ein mächtiger Magier war, hat ihm großes Ansehen beschert.“

Mit nichts anderem hatte Neyo gerechnet. Wenn er sich an die Begegnung mit Asrim zurück erinnerte, lief ihm jedes Mal unweigerlich ein kalter Schauer über den Rücken. Der Vampir hatte eine ungeheure Ausstrahlung besessen, der man sich einfach nicht hatten entziehen können. Er war die geborene Führungsperson.
 

„Anscheinend hat er auch eine Frau und einen kleinen Sohn gehabt.“ Claire hob ihre Augenbrauen, als könnte sie es nicht so recht glauben. Sich Asrim als Ehemann und Familienvater vorzustellen, war aber wirklich nicht besonders leicht. „Was letztendlich aus ihnen geworden ist, steht hier allerdings nicht. Vielleicht hat Asrim sie ja umgebracht.“

Neyo schüttelte hierauf entschieden seinen Kopf. „Das denke ich nicht“, entgegnete er. Ihm war zwar nicht ganz klar, woher diese Erkenntnis rührte, doch er war felsenfest davon überzeugt.

Claire warf ihm einen undefinierbaren Blick zu, ehe sie fortfuhr: „Wie auch immer, auf jeden Fall ist er irgendwann zu einem Vampir geworden. Wie genau, wird nicht gesagt. Ob er gebissen wurde – und wenn Ja, von wem – oder ob er gar der erste seiner Art war. Fest steht nur, dass er der älteste noch lebende Vampir ist. Und er hat in dieser langen Zeit eine Menge Unfug angestellt.“

„Unfug?“ Neyo musste grinsen. Irgendwie traf dieser Begriff nicht ganz auf Asrim zu, wie er fand. „Was zum Beispiel?“

Claire zog ihre Mundwinkel nach unten. „Ehrlich gesagt möchte ich da nicht näher drauf eingehen. Es war schon schrecklich genug, das alles zu lesen. Mir ist richtig schlecht geworden.“
 

Neyo presste die Lippen aufeinander. Er hatte bereits erwartet, dass Asrim in seinem langen Leben bestimmt nicht nur Frohsinn und Freude unter die Menschen gebracht hatte, dennoch ließ es ihn für einen kurzen Moment erschauern. Allein bei dem Gedanken, dass er einem allmächtigen Massenmörder gegenüber gestanden hatte, drehte sich ihm der Magen um. Vielleicht war es so gesehen auch wirklich besser, wenn Claire mit ihren Ausführungen nicht weiter fortfuhr.
 

„Und Sharif?“, erkundigte sich Neyo stattdessen. „Was steht dort über ihn?“

„Offenbar stammt er aus Ägypten“, erklärte Claire. Als sie Neyos verständnislosen Blick bemerkte, fuhr sie lächelnd fort: „Ein recht fortschrittliches Reich irgendwo im Süden. Ein Wüstenstaat, der sich in den letzten Jahrzehnten einen ziemlich berühmten Namen gemacht hat.“

„Und gehörte Sharif auch zu der Königsfamilie? Genau wie Asrim?“

„Oh Nein, ganz im Gegenteil“, widersprach Claire. „Offenbar hat er auf der Straße gelebt, war ein Dieb und Tagelöhner. Sein Leben muss ziemlich hart gewesen sein, ständig hat er um sein Leben kämpfen müssen.“

Ihre Stimme klang sogar ein wenig mitleidig. Auch Neyo musste sich eingestehen, dass dies Sharif in ein völlig anderes Licht stellte. Er hatte anscheinend eine Menge durchmachen müssen. Neyo konnte dies sehr gut nachempfinden, immerhin hatte er auch die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens in der Gosse verbracht.
 

„Als Asrim ihn gefunden hat, muss er wohl ziemlich stark angeschlagen gewesen sein“, meinte Claire. „Offenbar war er von irgendwelchen Typen halbtot geschlagen worden. Ich schätze mal, er wäre sogar gestorben, hätte Asrim ihn nicht in einen Vampir verwandelt.“

Neyos nickte verstehend. „Und dann als Untoter hat er sich selbstverständlich an den Kerlen gerächt, die ihn verprügelt hatten, nicht wahr?“

Claire nickte bestätigend. „Natürlich. Und das war nur der Anfang einer langen Serie von schlimmen Verbrechen. Als Asrims 'Kind' – so nennen die Vampire offenbar diejenigen, die sie verwandelt haben – hat er einen gewissen Status inne. In ferner Zukunft wird er geradezu als König verehrt und ist außerdem oberstes Mitglied der Großen Sieben.“

„Die Großen Sieben?“, fragte Neyo verwundert.

„Offenbar sieben Sa'onti, die allesamt von Asrim gebissen worden sind“, erklärte Claire. „Alec gehört auch dazu, er steht direkt unter Sharif. Ihre Clans werden auf der ganzen Welt gefürchtet sein.“
 

Neyo lief ein kalter Schauer über den Rücken, als er sich dies vorstellte. Sieben Vampirsippen, die die Menschen in Angst und Schrecken versetzten. Wie würde die Welt bloß in dieser Zeit aussehen? Würden die Untoten regieren?

Neyo erkannte an Claires Blick, dass sie sich dasselbe zu fragen schien. Grübelnd hatte sie ihre Stirn in Falten gelegt, wirkte etwas verunsichert. Um sie und auch sich selbst zu beruhigen, strich er ihr zärtlich durchs Haar. Ihre Züge entspannten sich daraufhin und sie brachte sogar ein Lächeln zustande.
 

„Auch Alec wird erwähnt, aber er erscheint etwas undurchsichtiger“, fuhr Claire schließlich fort. „Über seine Vergangenheit ist so gut wie nichts bekannt. Aber offenbar war sein Leben dermaßen scheußlich, dass sich dies auch auf sein Dasein als Vampir ausgewirkt hat.“ Sie hielt kurz inne und presste die Lippen aufeinander. „Er ist als unberechenbares Monster bekannt. Niemand kann voraussehen, was er nächstes tun wird. Er gilt als verrückt und hochgradig größenwahnsinnig. Angeblich haben sogar die Vampire Angst vor ihm.“
 

Neyo seufzte. Das klang alles andere als gut, kein Wunder, dass Te-Kem so in Panik war. Alec schien offenbar keinerlei Skrupel zu kennen. Neyo hoffte bloß, dass er diesem Kerl nie begegnen würde.
 

Er starrte wieder hinab auf das Buch und versuchte das, was Claire ihm soeben erzählt hatte, auf dem Papier wiederzufinden. Doch es war vergeblich, er sah nur unverständliche Hieroglyphen. Selbst mithilfe dieses Vokabelbuches musste es unglaublich schwierig sein, dies alles zu übersetzen.

„Und du kannst das wirklich alles lesen?“, erkundigte sich Neyo fasziniert.

„Es ist gar nicht so schwer, wenn man erstmal den Bogen raus hat“, meinte Claire schulterzuckend. Für sie war das Ganze anscheinend ein Spaziergang gewesen.

Neyo konnte hierauf nur lächeln. Claire war immer wieder für eine Überraschung gut.
 

Er beugte sich zu ihr hinunter und grinste breit. „Du bist wirklich erstaunlich, weißt du das?“, flüsterte er. Er gab ihr einen sanften Kuss, den sie zunächst nur zaghaft erwiderte. Doch schon einen Augenblick später hatte sie ihn fast schon grob am Kragen gepackt und näher an sich gedrückt. Die Leidenschaft, mit der sie ihn daraufhin küsste, hätte ihn fast von den Füßen gerissen.

Ja, Claire war in der Tat immer wieder für eine Überraschung gut.

Und Neyo hatte auch nichts dagegen einzuwenden.
 

Ein verhaltenes Räuspern unterbrach sie jäh. Neyo löste sich von Claire und wandte sich zur Tür. Dort stand eine Gestalt mit einem ungehörig dreckigen Grinsen auf den Lippen.

„Verzeihung, dass ich störe.“ Calvio klang alles andere als aufrichtig. Er genoss die Situation richtig.

Während Claire errötete und den Anschein erweckte, auf der Stelle im Erdboden versinken zu wollen, lächelte Neyo gelassen zurück. „Du störst doch immer, Calvio, daran müsstest du doch gewöhnt sein. Was willst du, alter Freund? Spannen?“

Calvio zog die Mundwinkel nach unten und tat gespielt beleidigt. „Also wirklich“, meinte er kopfschüttelnd. „Hältst du mich für so niveaulos? Außerdem, wenn ich hätte spannen wollen, hätte ich euch bestimmt nicht bei eurem kleinen Liebesspiel unterbrochen.“

Claire wurde daraufhin nur noch roter und versank, so gut es möglich war, in ihrem Sessel. Neyo warf ihr einen amüsierten Blick zu, ehe er sich wieder an Calvio wandte. „Da hast du nicht Unrecht“, gab er zu. „Also, was willst du?“

Calvio zuckte bloß belanglos mit den Schultern. „Jyliere schickt mich“, sagte er. „Ich soll euch zum Palast bringen. Er kann sich dort offenbar nicht loseisen, aber er möchte sich auf jeden Fall von euch verabschieden, bevor ihr wegfahrt.“
 

„Ach tatsächlich?“ Claire schaute besorgt aus dem Fenster. Inzwischen war es deutlich dunkler geworden. „Ich weiß nicht so recht ...“

Calvio schenkte ihr ein Lächeln, das wahrscheinlich beruhigend wirken sollte, aber einfach nur unverfroren erschien. „Nur keine Panik, mein Täubchen. Jyliere würde das sicherlich nicht von euch verlangen, wenn es gefährlich wäre.“

Claire hatte ihre Augenbraue gehoben und bedachte Calvio mit einem eisigen Blick. „Täubchen?“, zischelte sie.

Der Angesprochene lächelte nur versonnen. „Sei bloß nicht so steif, Schätzchen. Ich hab noch viel nettere Spitznamen für dich, wenn du willst.“

Claire verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn verärgert an. Neyo erkannte sofort, dass sie in ihrem Kopf nach irgendwelchen passenden Bannflüchen suchte, um Calvio angemessen zu bestrafen.

„Also, was ist nun?“ Calvio ließ sich von Claires Miene in keiner Weise beeindrucken. „Kommt ihr nun mit oder nicht? Ich will hier schließlich nicht überwintern.“

Neyo wechselte noch einen kurzen Blick mit Claire, dann zuckte er mit den Schultern. „Wenn Jyliere denkt, dass es ungefährlich ist ...“, murmelte er.

„Sicher, sicher“, meinte Calvio eine Spur zu zuversichtlich. Sein breites Grinsen wirkte auf Neyo auf irgendeine Art und Weise ein wenig merkwürdig, doch er konnte sich nicht im geringsten erklären, woher diese Zweifel plötzlich kamen. „Ach, ihr sollt übrigens auch das Buch mitbringen. Ihr wisst schon, diesen Schinken mit diesen gruseligen kleinen Bildchen von Untoten.“
 

Neyo hob skeptisch eine Augenbraue. Wozu brauchte Jyliere denn das Buch?

Misstrauisch musterte er seinen alten Freund. Irgendwie hatte Neyo das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Fast wie ein Schatten, der unvermittelt auftauchte.

Vielleicht war das aber auch alles nur Einbildung ...
 

Bevor er sich versah, hatte er das Buch der Zukunft gepackt, Claire bei der Hand genommen und war Calvio gefolgt. Was auch immer dieses seltsame Grummeln in seiner Magengegend ausgelöst hatte, mit Calvio hatte dies sicherlich nichts zu tun.

Neyo vertraute seinem Freund blind. Niemals würde er etwas tun, das ihnen schaden könnte.

Niemals.
 

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So!! ^.^ *trommelwirbel anstimm* Das Finale rückt näher ^^ Irgendwie fast schon ein wenig traurig *schnief*

Aber 2 Kapitel und einen kleinen Epilog habt ihr noch vor euch ;p
 

Dann bedanke ich mich schonmal im Voraus für eure lieben, aufmunternden Kommis ^_______^

Habt vielen Dank ^.^

Abgründe

So, kaum haben die Semesterferien angefangen und ich liefer euch schon das neue Kapitel ;p Aber als ich erstmal mit dem Schreiben angefangen hatte, konnte ich gar nicht mehr aufhören ^.^

So, ich hoffe, es gefällt euch ^^ Okay, ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass ihr das Ende nicht mögen werdet, aber da habt ihr leider Pech gehabt XDDDD

So und jetzt viel Spaß ^____^
 

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Claire beschlich ein seltsames Gefühl, als sie langsam durch die verlassenen Gänge des Palastes schritten. Schon am Eingang hatte sie verwundert zur Kenntnis genommen, dass keinerlei Wachtposten aufgestellt gewesen waren. Zugegeben, früher waren dort nie Wächter postiert gewesen, aber seit dem Eindringen der Vampire hatte Te-Kem jegliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen, die ein Magier seines Standes aufzubringen hatte.

Doch nun war alles leer. Vollkommen verlassen.

Claire überlief unweigerlich eine Gänsehaut. Dieser trostlose und stille Flur machte ihr mehr Angst, als sie sich eingestehen wollte. Es erinnerte sie unwillkürlich an den dunklen Keller, in dem Asrim all die Zeit eingesperrt gewesen war.

„Jyliere erwartet euch im großen Ratssaal“, verkündete Calvio mit einem breiten Grinsen. Ihn schien diese unheilvolle Ruhe nicht im geringsten zu stören. Wahrscheinlich genoss er es sogar, dass Claire so eingeschüchtert war.

Die Magierin verzog ihr Gesicht. Diesen proletenhaften Verbrecher hatte sie noch nie leiden können. Wieso Jyliere diesen Kerl unter seine Fittiche genommen hatte, konnten nur die Götter allein wissen. Claire hatte ihn damals für verrückt erklärt, als er Calvio angeschleppt hatte. Und sie ertappte sich immer wieder dabei, dass sie ernsthaft Jylieres gesunden Menschenverstand in Frage stellte, wenn es um diesen Typ ging. Bis heute hatte Claire nicht verstanden, was Jyliere in Calvio zu sehen glaubte.
 

„Du denkst gerade über mich nach, nicht wahr, Schätzchen?“ Calvio hatte sie die ganze Zeit über amüsiert betrachtet. „Bist du etwa am überlegen, wie du mich am besten verführen kannst? Jetzt, wo du mit Neyo fertig bist?“

Claire zog demonstrativ ihre Mundwinkel nach unten. Dieser Kerl war nicht nur ein unfreundlicher und respektloser Verbrecher, sondern er litt offenbar auch noch an Wahnvorstellungen.

Neyo hingegen lächelte nur belustigt. Ihm schienen diese Streitigkeiten anscheinend sehr zu unterhalten. Claire schwor sich, dass er schon bald dafür büßen würde.

„Da sind wir!“ Calvio blieb vor einer großen, mit reichlich Verzierungen geschmückten Doppeltür stehen und machte ein Gesicht, als wäre er überaus stolz auf seine Führerqualitäten. Claire ging nicht weiter darauf ein, sie war nur verwundert, dass Calvio überhaupt wusste, wo sich der Ratssaal befand. Eigentlich hatte sie angenommen, dass er das Innere des Palastes noch nie gesehen hatte.

Calvio legte seine Hand auf die Klinke und wandte sich an die beiden anderen. „Bevor wir reingehen, möchte ich euch noch etwas sagen“, meinte er bedeutungsschwanger.

Claire knirschte ungeduldig mit den Zähnen. „Und was soll das sein?“

Calvios Lächeln verschwand plötzlich, mit einem mal wirkte er vollkommen ernst. Claire musste sich eingestehen, dass ihr bei diesem Anblick ein jäher Schauer über den Rücken lief. Mehr denn je spürte sie, dass irgendetwas nicht stimmte.

„Was auch immer nun kommen mag, Neyo, du warst mir ein guter Freund.“ Calvio schaute Neyo fest in die Augen. Nichts deutete darauf hin, dass er sie irgendwie auf den Arm nehmen wollte. „Und es tut mir wirklich Leid.“

„Es tut dir Leid?“ Offenbar war auch Neyo ziemlich verwirrt über Calvios unvermittelten Stimmungswechsel. „Was tut dir Leid?“

Calvio gab keine Antwort, stattdessen stieß er die Tür auf.

Und nun wurde ihnen klar, worauf Calvio angespielt hatte.
 

Eine ganze Armee von Vampiren hatte sich im Ratssaal breit gemacht, Männer und Frauen mit funkelnden Augen und einem breiten Raubtierlächeln. Es mussten mindestens an die zwanzig sein, wenn nicht noch mehr. Alle hatten beim Öffnen der Tür ihre Aufmerksamkeit auf die Neuankömmlinge gerichtet.

Claire keuchte entsetzt auf, Panik stieg in ihr hoch. Im ersten Moment überkam sie der Drang, einfach fortzulaufen und sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Doch sie spürte bereits, dass ihr vor Angst gelähmter Körper nicht mitspielen würde. Außerdem wurde ihr nach der ersten Schreckenssekunde bewusst, dass es sowieso nicht viel Sinn gemacht hätte, vor diesen übernatürlichen Kreaturen zu fliehen. Sie waren schließlich unmenschlich schnell und hätten sie binnen weniger Sekunden eingeholt.
 

„Wie nett, dass ihr auch zu unseren kleinen Feier erscheint.“ Das Grinsen Sharifs, der im Mittelpunkt der ganzen Horde stand, war über alle Maßen teuflisch. Claires Magen verkrampfte sich unweigerlich. „Wir hatten schon angenommen, ihr würdet die beiden Herren hier bei uns versauern lassen.“

Claire folgte seinem Fingerzeig und schnappte erschrocken nach Luft, als sie entdeckte, worauf der Vampir angespielt hatte. Te-Kem und Jyliere befanden sich etwas weiter im Hintergrund, eingekeilt von mehreren Untoten, die sich mit grimmigen Mienen bewachten. Die beiden Magier schienen nicht ernsthaft verletzt – immerhin konnten sie noch aus eigener Kraft stehen –, aber das konnte sich jederzeit ändern. Claire war klar, dass die Vampire sicherlich nicht unbedingt zimperlich mit ihren Opfern umgehen würden.

Sie ließ ihren Blick durch den Ratssaal schweifen. Hungrige Augen begegneten ihr, voller Gier und Verlangen. Nichts Menschliches haftete mehr an diesen Kreaturen. Die Kleidung von einigen war blutbesudelt, was Claire mit einem Schaudern daran erinnerte, dass sie auf ihrem Weg hierhin keinen einzigen Wachtposten gesehen hatten. Offenbar hatten sich die Vampire nicht zurückhalten können und die Wächter kurzerhand zu ihrer Mahlzeit erkoren.

Claire lief ein kalter Schauer über den Rücken. Wie viele von ihnen mochten überhaupt noch am leben sein? Hatten diese Bestien etwa alle getötet?
 

„Jetzt, wo ihr endlich hier seid, können wir mit unserem Spielchen fortfahren.“ Lasgo warf einen abschätzenden Blick auf die beiden Magier neben sich. „Aber erst einmal könntest du mir das Buch geben, Calvio. Es ist wirklich nett, dass du es mitgebracht hast.“

„Du wolltest es unbedingt haben und ich hab's dir besorgt“, meinte Calvio schulterzuckend. „Keine große Sache.“

Claire spürte, wie sich Neyos Körper verkrampfte. Fassungslos weiteten sich seine Augen, als Calvio ihm das Buch aus den Händen riss, ihm ein triumphierendes Lächeln schenkte und sich schließlich an die Vampire wandte. Lasgo und Calvio unterhielten sich kurz in einer fremden Sprache und warfen schließlich den beiden Menschen einen selbstgefälligen Blick zu.

Neyo schnappte derweil entsetzt nach Luft. „Du ... du gehörst zu ihnen?“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht glauben.

Calvio setzte sein typisch dreckiges Grinsen auf. „Dir ist doch schon immer klar gewesen, dass ich es faustdick hinter den Ohren habe“, meinte er gelassen. „Jetzt spiel nicht den Überraschten.“

Neyo schien nicht so recht zu wissen, ob er schockiert oder wütend sein sollte. Seine Gefühle wirbelten wild durcheinander. „Du Verräter!“, zischte er unheilvoll. Claire spürte, wie er kurz davor war, die Selbstbeherrschung zu verlieren.

Calvio hingegen lachte nur. „Verräter?“, fragte er amüsiert. „Wie kann ich euch denn verraten, wenn ich von Anfang an nie zu euch gehört habe? Hab ich denn je behauptet, ich wäre kein Vampir? Wenn ihr mich danach gefragt hättet, hätte ich ohne zu zögern die Wahrheit gesagt. Aber mich hat niemand danach gefragt.“

Claire hob skeptisch eine Augenbraue. Die Logik dieses Kerls war ihr schon immer unbegreiflich gewesen. Als würde er glauben, dass es selbstverständlich wäre, jeden einzelnen, den man begegnete, danach zu fragen, ob er ein Untoter sei oder nicht.
 

Neyo brachte keinen einzigen Ton mehr heraus, er war viel zu sehr von all dem überrumpelt worden. Sein harter Blick war eine halbe Ewigkeit auf Calvio fixiert, seine Mimik verriet die bittere Enttäuschung und den Zorn. Schließlich jedoch ließ er seine Augen durch den Raum schweifen, er schien jedem einzelnen Vampir ins Gesicht zu blicken. Letztendlich blieb seine Aufmerksamkeit an einem hochgewachsenen Mann hängen, der direkt neben Lasgo und Sharif stand.

Claire schnappte entsetzt nach Luft, als ihr in der nächsten Minute klar wurde, dass es sich um Asrim handeln musste. Immerhin hatte sie ihn unten im Keller nicht zu Gesicht bekommen, sie hatte nur einen kühlen Lufthauch gespürt. Bloß ein dunkler, schneller Schatten war er gewesen.

Nun jedoch konnten sie ihm direkt ins Antlitz blicken.

Und Claire lief unweigerlich ein kalter Schauer über den Rücken.
 

Er wirkte wie ein lebendiger Toter, wie eine zum Leben erwachte Leiche. Seine Haut war so dermaßen blass, dass man die feinen Adern selbst aus der Entfernung bestens erkennen konnte. Seine Hände waren feingliedrig, fast wie bei einer Fledermaus. Und sicherlich hervorragend dafür geeignet, sie jemanden um den Hals zu legen und fest zuzudrücken. Seine Haare waren lang und dunkel, vereinzelt mit einigen silbernen Strähnen durchzogen, die im Licht sanft strahlten.

Am faszinierendsten war jedoch zweifellos sein Gesicht. Der Begriff 'zeitlos' kam ihr dabei unwillkürlich in den Kopf. Allein bei bloßer Betrachtung hätte man nicht schätzen können, wie alt er war. Er hätte zwanzig sein können, aber ebenso gut auch fünfzig. Claire hätte es nicht mit Bestimmtheit sagen können.

Und seine Augen ... solche Augen hatte sie noch nie gesehen. Rot strahlend, als kämen sie direkt aus der Unterwelt. Als würden sie Dinge sehen, die niemand sonst zu Gesicht bekommen konnte.

Als wären sie nicht von dieser Welt.

Auch die schwarze Aura des Vampirs ließ Claire erschauern. Sie erschien mindestens zehnmal stärker und intensiver als die der anderen, ihr Pulsieren bereitete der Magierin geradezu Kopfschmerzen. Als würde sie ein Eigenleben besitzen, sich im ganzen Rum verteilen und unbemerkt Einfluss auf alle Anwesenden nehmen.

Wahrscheinlich war es sogar so.
 

„Verräter und Freund.“ Asrims Stimme schien sich durch Claires Haut zu fressen. Automatisch suchte sie hinter Neyo Schutz. „Mörder und Vertrauter. Das ist nun mal die Natur der Vampire, Neyo. Allmählich müsstest du das doch begriffen haben.“

Neyo schwieg. Selbst gegenüber Sharif hatte er vor nicht allzu langer Zeit ein loses Mundwerk bewiesen, aber Asrim gegenüber schien er es nicht zu wagen. Er presste bloß die Lippen aufeinander und starrte den Vampir weiterhin an.

„Ich habe dir eine Belohnung versprochen, mein Freund“, fuhr Asrim fort. „Und die sollst du auch bekommen. Sobald Alec hier ist, kann das Spiel beginnen.“

Claire zuckte zusammen. War es etwa soweit? Würde die Prophezeiung im Buch der Zukunft nun hier und jetzt in Erfüllung gehen?

Die Magierin schluckte schwer. Eigentlich hatte sie nicht dabei sein wollen, wenn Te-Kem sein Ende fand. Im Grunde hatte sie über diese Möglichkeit nicht mal nachgedacht.

Ihr Blick fiel auf den Oberen. Er wirkte bleicher und älter als jemals zuvor. Selbst seine prächtige Kleidung erschien irgendwie farblos und dumpf.

Er hatte bereits mit seinem Leben abgeschlossen, soviel war sicher. Sein verzweifelter Gesichtsausdruck sprach Bände. Seine blutunterlaufenden Augen waren auf Asrim gerichtet, der ihm kurz ein gehässiges Lächeln zuwarf und ihn ansonsten mit völliger Nichtbeachtung strafte.
 

„Was sollen wir nur tun?“, flüsterte Claire. Sie rückte ein Stück näher zu Neyo und schaute verängstigt zu ihm auf.

Dieser hatte eine harte Miene aufgesetzt und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich fürchtete, doch Claire durchschaute ihn. Asrims Worte hatten ihn aufgewühlt. Er hatte Angst vor dem, was der Vampir mit ihm vorhatte.

Vor der Belohnung.

Auch Claire erzitterte jäh, als sie daran dachte. Aber gleichzeitig kam ihr in den Sinn, dass es eigentlich unmöglich war, dass Asrim Neyo zu seinesgleichen machte. Immerhin stand sein Name nicht im Buch, nirgendwo war er erwähnt.

Außer natürlich, Asrim hatte mit seiner Belohnung etwas völlig anderes im Sinn.
 

„Lauf weg!“, wisperte Neyo ihr zu.

Claire schaute verdutzt drein. „Was?“, fragte sie verwirrt.

„Du sollst weglaufen!“, wiederholte er mit Nachdruck. „Sie interessieren sich nicht für dich, nur für mich. Wenn du jetzt verschwindest, werden sie dir bestimmt nicht folgen.“

Claire hob skeptisch eine Augenbraue. Irgendwie konnte sie sich das nur schwer vorstellen. Zugegeben, Asrim hatte wirklich nur Augen für Neyo und würde Claire ohne Zweifel laufen lassen, doch die mindestens zwanzig anderen Vampiren sahen das wahrscheinlich ein bisschen anders. Potenzielle Beute würden sie sicherlich nicht entkommen lassen. Allein schon beim Anblick ihrer blutbesudelten Kleidung wurde Claire klar, dass diese Wesen zu allem fähig waren und sich einen kleinen Leckerbissen nicht durch Lappen würden gehen lassen.

Abgesehen davon wollte Claire Neyo unter keinen Umständen alleine zurücklassen. Sie würde bei ihm bleiben, ganz gleich, was passiert.

Das stand für sie fest.
 

Neyo schien zu erkennen, wie ihre Entscheidung ausfiel. Er wirkte nicht besonders froh darüber, aber andererseits fühlte er sich geschmeichelt, dass sie ihn nicht im Stich ließ. Ein zaghaftes Lächeln huschte über seine Lippen, das aber sofort wieder einer besorgten Miene Platz machte.

Asrims kalte Stimme ließ die beiden erschrocken zusammenfahren. „Wie überaus romantisch“, höhnte er. „Aber gebt euch keinen Illusionen hin, ihr seid schon so gut wie tot. Auf die eine oder andere Weise. Heldenmut und Tapferkeit ist nur was für Idioten.“ Sein breites, überaus dämonisches Grinsen ließ erneut Panik in Claire aufsteigen. „Aber es ist sowieso zu spät. Riecht ihr es nicht?“ Er lachte schallend. „Alec ist endlich eingetroffen.“
 

* * * * *
 

Neyo schluckte. Also würde Alec bald hier sein, offenbar befand er sich bereits im Palast. Neyo überlief ein eisiger Schauer, als er daran dachte. Claires Beschreibung war ihm bestens im Gedächtnis haften geblieben. Verrückt und hochgradig größenwahnsinnig, so hatte sie es ausgedrückt.

Nun war es also soweit. Das Buch der Zukunft hatte wie immer Recht gehabt ...

Te-Kem würde sterben – und das vor ihrer aller Augen.
 

Neyo erschreckte es, dass er dies dermaßen gelassen hinnahm, aber andererseits fiel ihm auch nicht ein, was er hätte tun können, um die Ermordung des Oberen zu verhindern. Immerhin konnte er sich nicht einer ganzen Armee von Untoten entgegenstellen. Selbst mit einem einzelnen wäre er nicht fertig geworden.

Dennoch war Neyo ein wenig stutzig geworden. Wieso warteten sie überhaupt auf Alec? Warum sollte gerade er Te-Kem töten? Der alte Magier war schließlich von unzähligen Vampiren umgeben und hätte schon längst das Zeitliche segnen können. Nur einer dieser Mörder hätte seine Hand ausstrecken und Te-Kems das Genick brechen müssen.

Doch sie taten es nicht. Sie warteten ... warum auch immer.
 

„Alec hat ein Vorrecht darauf.“ Neyo zuckte erschrocken zusammen, als er Asrims Stimme vernahm. Der Vampirführer hatte ihn die ganze Zeit über im Auge behalten und offenbar genau geahnt, was in dem jungen Mann vorgegangen war. Vielleicht hatte er sogar irgendwie Neyos Gedanken gelesen.

„Ein Vorrecht?“ Claire runzelte verwundert die Stirn.

Asrim nickte bestätigend, während er sich den beiden langsam aber sicher näherte. Neyos Körper spannte sich, je mehr der Abstand zwischen ihnen verringert wurde. Er wollte nicht, dass dieser Vampir ihm nochmal so nah kam wie im Verlies. Er wollte nicht erneut seinen Verstand verlieren.

Und dennoch rührte sich Neyo kein Stück, seine Beine waren wie festgewachsen. Er war sich nicht ganz sicher, ob die Angst ihn lähmte oder doch irgendwie Asrims selbst. Immerhin war ein uralter Magier zu fast allem fähig.

„Sagen wir einfach, es wird Alec ein wahres Vergnügen sein, euer mickriges Oberhaupt umzubringen.“ Asrim grinste dämonisch. „Er wird es genießen.“

Neyo blinzelte verdutzt. Hieß das etwa, dass Te-Kem und Alec sich kannten? Dass es eine Verbindung zwischen ihnen gab, die Alec dazu veranlasste, den Tod des Oberen herbei zu sehnen?

Neyo warf einen fragenden Blick zu Te-Kem, doch dieser wirkte völlig ratlos. Er schien sich offenbar aus Asrims Worten keinen Reim machen zu können.

„Er weiß davon nichts“, meinte Asrim. „Ihm ist nicht klar, dass er Alec bereits begegnet ist.“
 

Aus Te-Kems Gesicht wich jegliche Farbe, seine Kinnlade klappte nach unten. Auch Jyliere, der die ganze Zeit eine mürrische Miene aufbehalten hatte und sich von den Vampiren nicht weiter hatte einschüchtern lassen, konnte nicht umhin, überrascht dreinzuschauen. Offensichtlich war diese Information für die beiden Magier ein ziemlicher Schock.

Auch Neyo war beunruhigt. Mochte es stimmen, was Asrim gesagt hatte? War Alec wirklich schon in Te-Kems unmittelbarer Nähe gewesen?

Neyo erschauerte, als er daran dachte, wie leicht sich die Vampire in ihre Welt einschleichen konnten. Er warf einen kurzen Blick zu Calvio, der neben Jyliere stand und dem Magier irgendetwas zuflüsterte, worauf dieser sein Gesicht verzog.

Auch er hatte sich mühelos als Mensch ausgeben können, Neyo hatte ihm vollstes Vertrauen entgegengebracht. Nicht eine Minute wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass sich Calvio als Verräter entpuppen könnte. Zugegeben, Claire war weitaus weniger erstaunt gewesen als er – schließlich hatte sie nie ein gutes Haar an Calvio gelassen –, dennoch schien auch sie nicht geahnt zu haben, dass er tatsächlich ein Vampir sein könnte.

Schon alleine der Gedanke war absurd gewesen. Und dennoch hatte es sich als Wahrheit herausgestellt.
 

Neyo biss sich auf die Unterlippe und versuchte krampfhaft, die Tränen der Wut zu unterdrücken. Er hasste Calvio dafür, dass er ihn so hatte hintergehen können ... und gleichzeitig wünschte er sich, dass alles wieder so sein könnte wie früher. Wehmütig stiegen alte Erinnerungen in ihm hoch: Wie sie sich nachts stundenlang über irgendwelchen Blödsinn unterhalten hatten, wie sie Claire immer zur Weißglut getrieben hatten und wie Calvio einst stundenlang an Neyos Bett ausgeharrt hatte, als dieser an einer schweren Krankheit gelitten hatte.

War das etwa alles nur gespielt gewesen? War er wirklich nur nach Mystica gekommen, um einen Weg zu finden, Asrim zu befreien?

War das tatsächlich der einzige Grund gewesen?

Aber wieso hatte er dann, kurz bevor sie in den Ratssaal getreten waren, gesagt, dass es ihm Leid täte? Warum hatte er sich entschuldigt? Wenn ihm ihre sogenannte 'Freundschaft' gleichgültig gewesen wäre, hätte er sich nie dazu herabgelassen, solche Worte in den Mund zu nehmen.

Oder war es nur Spott gewesen? Hatte Calvio ihn verhöhnen wollen?
 

Neyo raufte sich durchs Haar. Er wusste kaum noch, wo oben und unten war. Jahrelange Freunde entpuppten sich plötzlich als Feinde, sodass Neyo ernsthaft an seiner Menschenkenntnis zu zweifeln begann. Früher hatte er immer angenommen, er könnte jeden durchschauen, aber offenbar war dies ein Irrtum gewesen. Ein Mann, dem er bedingungslos vertraut hatte, hatte ihn ohne weiteres verraten können.

„Mein Junge, gräme dich nicht.“ Asrims säuselnde Stimme drang wieder an sein Ohr und erneut war er der Versuchung erlegen, sich diesem Untoten zuzuwenden. Er fühlte bereits, wie sein anfänglicher Widerstand zu bröckeln begann. Allein die Stimme dieses Vampirs reichte aus, um ihn in den Bann zu schlagen. Vielleicht war es mit Calvio nicht anders gewesen. Möglicherweise hatte er sie alle, Jyliere eingenommen, mit seinen Worten verblendet, sodass sie die Wahrheit nicht hatten erkennen können.

„Du solltest dir nicht dein kleines Köpfchen zerbrechen.“ Asrim streckte die Hand aus und wollte Neyo offenbar wie bei einem Kind über die Haare streicheln, doch der junge Mann wich hastig zurück. Er hatte wenigstens noch genug Willensstärke, um sich von diesem Kerl nicht berühren zu lassen. Aber wie lange würde es dauern, bis auch diese letzte Barriere brach?

Asrim lächelte wissend. Ihm war anscheinend völlig klar, was für Gedanken Neyo durch den Kopf schossen. Der Vampir schien genau zu wissen, wie sehr sich sein Gegenüber quälte. Wie hin- und hergerissen er war.

Und Neyo spürte, wie er mit jeder Minute schwächer wurde. Allein die Gegenwart Asrims reichte aus, um seinem Körper Kraft zu entziehen.

Offenbar hatte Te-Kem wirklich Recht behalten. Da Neyo ein Sa'onti war, konnte Asrim frei über ihn verfügen. Er war nichts weiter als ein Spielzeug.
 

Plötzlich merkte er, wie sich eine Hand in die seine schob. Als er sich umwandte, entdeckte er Claire, die ihm ein aufmunterndes Lächeln schenkte. Sie wirkte zwar verängstigt, tat aber alles, um ihm wieder etwas Mut einzuflößen.

Neyo lächelte sanft. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren ...
 

Als sein Blick jedoch auf Asrim fiel, stutzte Neyo. Der Vampir hatte seine Augen auf die ineinander verschlungenen Hände gerichtet, auf seinen Lippen lag ein überaus dämonisches Grinsen. Die Verbindung zwischen ihnen schien ihn zu belustigen.

Neyo runzelte die Stirn. Irgendwie stieg ein merkwürdiges Gefühl in ihm auf. Ihm gefiel der Gesichtsausdruck Asrims ganz und gar nicht.

Als hätte der Kerl irgendwas vor. Etwas Teuflisches.
 

Bevor Neyo jedoch weiter darüber nachdenken konnte, ertönte unvermittelt ein lauter Knall, der alle außer Asrim erschrocken zusammenzucken ließ. Von einem Moment auf den anderen war der ganze Saal plötzlich in gleißendes Licht getaucht.

Neyo bemerkte, dass einige der Vampire eilig Schutz suchten. Wie Tiere krauchten sie in Ecken oder hinter Stühle, aus ihren Kehlen drangen Knurrlaute wie bei aufgebrachten Wölfen. Sie schienen mindestens ebenso überrascht zu sein wie Neyo und Claire. Es war mehr als offensichtlich, dass sie diesen drastischen Stimmungsumschwung nicht einzuordnen wussten.

Auch Neyo konnte sich keinen Reim darauf machen. Woher kam dieses grelle Licht? Was war denn nur los?
 

Neyos Magen zog sich zusammen, sein Herz klopfte wie wild. Die Atmosphäre in dem Saal war von einer Minute auf die andere umgeschlagen, die bedrohliche Aura der Vampire schien verschwunden und hatte etwas anderem Platz gemacht.

Aber was?

Neyo konnte nicht mal genau definieren, ob es gut oder böse war. Er spürte bloß ein unangenehmes Kribbeln auf der Haut. Er hatte immer ein ähnliches Gefühl, wenn ein schlimmes Gewitter anstand.

War es etwa das? Würde ein Sturm losbrechen?
 

Für einen kurzen Moment hatte Neyo angenommen, es wäre Asrims Werk oder gar Alec, der sich einen großen Auftritt verschaffte. Aber nach den verschreckten Reaktionen der Vampire zu urteilen, schien das unwahrscheinlich. Aus den Augenwinkeln bekam er mit, dass selbst Lasgo und Sharif Deckung suchten.

Einzig und allein Asrim stand an Ort und Stelle, seine Lippen zu einem fast wahnsinnigen Lächeln verzogen. Er wirkte wie ein Dämon, dem soeben ein wunderbares Geschenk gemacht worden war.
 

Neyo spürte, wie Claire seine Hand drückte. „Es ist Te-Kem“, meinte sie. Ihr Gesicht erschien durch das Licht blass und seltsam verzerrt.

Neyo richtete seine Augen mitten in den Raum. In der Tat, es war wirklich Te-Kem. Der junge Mann schnappte überrascht nach Luft.

Was genau mit dem Oberen geschah, konnte Neyo beim besten Willen nicht sagen. Er war nur in der Lage, fassungslos mit anzusehen, wie sich der Körper Te-Kems in der gleißenden Helligkeit verlor. Er war ummantelt von Licht, eingehüllt in einen schützenden Kokon. Knirschend und knisternd erinnerte es Neyo an die magische Barriere, die Asrim fast ein Jahrhundert von der Außenwelt abgeschottet hatte.

„Das ist viel zuviel Magie!“ Claires Stimme zitterte, ihre Augen waren weit aufgerissen. „Viel zuviel! Er zerstört damit nur sich selbst.“

Neyo nickte. Er verstand zwar nicht allzu viel von Magie, aber dennoch war ihm klar, dass dies nichts Gutes verheißen konnte.

Te-Kem schien augenscheinlich die Kontrolle zu verlieren. Die Vampire, die ihn verspottet und verhöhnt hatten, hatten ihn bis zu diesem Punkt getrieben.

Er war nur ein verzweifelter Mann, der sich mit letzter Kraft zu wehren versuchte.

Vielleicht wollte er auch lieber Selbstmord begehen, als darauf zu warten, von einem Untoten umgebracht zu werden. Neyo hätte es ihm nicht mal verübelt.

Tatenlos auf seinen Tod zu warten war schließlich alles andere als ruhmreich.
 

Zu der Verblüffung aller schossen plötzlich blendend weiße Blitze von der Oberfläche der Barriere in alle Richtungen. Viele der Vampire schrien erschrocken auf und vergaßen dabei völlig, ihr kühles und unerschütterliches Wesen aufrecht zu erhalten. Sie wichen nur hastig den Geschossen aus.

Es dauerte nicht lange und der große Ratstisch, an dem so unendlich viele Versammlungen stattgefunden hatten, war von den Blitzen in tausend Stücke zerfetzt worden. Holzsplitter flogen in alle Himmelsrichtungen davon und wurden zu gefährlichen Waffen. Auch der Kronleuchter hoch oben an der Deckel wackelte schon bald bedenklich.

Neyo warf einen kurzen Blick zu Asrim. Dieser schien sich immer noch seines Lebens zu freuen, dieses Feuerwerk bereitete ihm offenbar großes Vergnügen. Während seine Artgenossen flohen, amüsierte er sich königlich. Selbst als ein Blitz knapp neben ihm in die Steinmauer einschlug, schien sich seine Stimmung nicht zu trüben.

„Die Menschen sind so schwach.“ Trotz des Lärms war Asrim bestens zu verstehen. „Sie verlieren so leicht ihre Kontrolle und lassen sich von ihren Gefühlen leiten.“

Neyo musste ihm insgeheim Recht geben. Te-Kem schien in der Tat jegliche Gewalt über seine Kräfte eingebüßt zu haben. Seine Geschosse schlugen den ganzen Ratssaal kurz und klein, nichts blieb verschont. Seine Angriffe hatten keinerlei Ordnung, er feuerte einfach wild um sich.
 

„Wir sollten von hier verschwinden!“, schlug Claire aufgeregt vor. „Bald steht hier kein Stein mehr auf dem anderen. Lass uns Jyliere holen und von hier –“

Sie brach plötzlich mitten im Satz ab. Sie wirkte einen Augenblick vollkommen verwirrt, dann verzog sie schmerzerfüllt ihre Miene.

„Oh Nein!“, murmelte sie bloß. Ihr Blick glitt hinunter ... direkt auf das klaffende Loch in ihrem Bauch.
 

Einen Moment schaffte sie es noch, auf ihren Beinen stehen zu bleiben, schließlich aber sackte sie zur Seite. Sie schien sich wie in Zeitlupe zu bewegen, ganz langsam. Und dennoch brauchte Neyo lange, um darauf zu reagieren. Es gelang ihm gerade noch rechtzeitig, sie aufzufangen, bevor sie auf den harten Steinboden aufschlug. Schützend drückte er sie an seinen Körper.

Seine Gedanken waren völlig abgeschaltet, er hatte nur rein instinktiv gehandelt. Es kam ihm beinahe so vor, als würde er jemand anderen beobachten, wie er Claire in die Arme nahm.
 

In seinem Inneren herrschte plötzlich nur noch Leere.

Und Kälte.

Eisige Kälte.
 

Der Schock hatte ihn ohne jede Vorwarnung überrumpelt. Für einen kurzen Augenblick war er sogar gewillt, zu glauben, dass dies alles nicht real war.

Nur ein schrecklicher Traum.

Die Vampire, Asrims teuflisches Grinsen, Te-Kems unkontrollierter Ausbruch ...

Das konnte doch alles nicht wahr sein! Das konnte doch alles nur ein furchtbarer Scherz sein!
 

Neyo nahm um sich herum gar nichts mehr wahr. Das gleißende Licht, die fliehenden Vampire, die ganzen Stimmen ... das alles war nicht mehr wichtig. Ohne die geringste Bedeutung.

Seine Aufmerksamkeit war ganz und gar auf Claire gerichtet. Auf das junge Mädchen, das ihn oft genug in den Wahnsinn trieb und die er mit der Zeit zu lieben gelernt hatte.

Ihr Gesicht war so blass ... so unsagbar blass.

Und ihre Augen hatten mit einem mal ihren wundervollen Glanz verloren. Neyo konnte zwar noch ein zaghaftes Strahlen erkennen, aber es wurde bereits schwächer.

Immer schwächer.
 

„Claire ...“ Seine Stimme war brüchig, bei dem Lärm wahrscheinlich nicht mal zu hören.

Unweigerlich fühlte Neyo sich an den Tag zurückversetzt, als er als achtjähriger Junge eines Morgens aufgewacht war und seine tote Mutter neben sich gefunden hatte. Dieses Bild hatte sich für ewig in sein Gedächtnis gebrannt und war ihm auch Jahre danach immer wieder in seinen Albträumen begegnet. Ständig sah er ihr bleiches Gesicht vor sich. Sie hatte den Anschein erweckt, als würde sie nur schlafen und jede Minute wieder aufwachen.

Doch es war nicht geschehen. Sie hatte nie wieder ihre Augen geöffnet.

Neyo war damals noch ein kleiner Junge gewesen, vollkommen allein gelassen. Er hatte nicht gewusst, was er hätte tun sollen. Er hatte sich einfach nur hilflos gefühlt.
 

Und so war es nun auch. Er hielt Claire in seinen Armen und spendete ihr Wärme und Nähe, doch Neyo war klar, dass ihr dies nicht das Leben retten würde.

Er wollte sich umdrehen, um nach Jyliere Ausschau zu halten, aber Claire legte unvermittelt ihre Hand auf seine Wange und lächelte ihm mühevoll entgegen.

Auch Neyo rang sich zu einem Lächeln, auch wenn ihm wenig danach zumute war. Ihre Hand war so kalt, dass ihm unwillkürlich Tränen in die Augen schossen. Er konnte einfach nichts dagegen machen, er war wieder dieser achtjährige, völlig hilflose Junge von damals.
 

„Zu ... spät ...“, presste Claire mühevoll hervor. „Jyliere ... er kann mir nicht mehr ...“ Sie brach ab. Ob aus Kraftlosigkeit oder um Neyo zu schonen, war nicht genau zu bestimmen.

„Du brauchst keine Angst zu haben“, meinte er, verzweifelt um einen zuversichtlichen Tonfall bemüht. Seine Stimme hörte sich in seinen Ohren seltsam fremd an. Als würde jemand anderer für ihn sprechen. „Es wird alles wieder gut. Du darfst nur nicht aufgeben, hörst du?“

Claire nickte zögerlich, doch Neyo war absolut bewusst, dass sie ihm nicht glaubte. Nichts würde wieder in Ordnung gehen.

„Ich ... ich wollte dir sagen, dass du ... Recht hattest ...“, flüsterte Claire.

Neyo war viel zu aufgelöst, um ihre Worte richtig zu verstehen. „Womit hatte ich Recht?“

„Du hast gesagt, ich ... sei so gemein gewesen ... um meine Gefühle zu verbergen ...“ Ihre Stimme war nur noch ein zarter Windhauch. „Du ... du hattest ... Recht ...“

Ein letztes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. „Vielen Dank ... für alles ...“

Und mit diesen Worten erlosch das letzte bisschen Licht in Claires Augen für immer.
 

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So, ich hab euch ja gesagt, dass euch das Ende nicht gefallen wird >.< Ich hoffe mal, ihr steinigt mich jetzt nicht O.o
 

Das finale Kapitel und der Epilog werden übrigens sicher nicht mehr allzu lang auf sich warten lassen. Ich hab ja jetzt endlich wieder ein bisschen mehr Freizeit ^.^

Dunkelheit

So, hier kommt bereits das neue Kapitel ^^ Eigentlich wollte ich euch noch ein bisschen schmoren lassen, aber Kaguyashi hat mich dazu gedrängt, es endlich hochzuladen ;p Also bedankt euch bei ihr, dass es so schnell ging ^.~
 

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Sharif grinste. Alles lief genau nach Plan, er selbst hätte es nicht besser arrangieren können. Es war genauso gekommen, wie sie sich das gedacht hatten.
 

Te-Kem hatte seine machtvollen, aber letzten Endes nutzlosen Angriffe eingestellt, als er bemerkt hatte, was er angerichtet hatte. Nun stand er dort, mit weit aufgerissenen Augen, starr vor Entsetzen. Man sah ihm deutlich an, wie sehr er seinen Fehler bereute.

Tja, zu spät, alter Mann, dachte Sharif amüsiert. Du hast es verbockt.

Jyliere war augenblicklich zu seiner Ziehtochter geeilt. Er kniete sich neben sie und flehte sie an, wieder aufzuwachen. Er begann, hemmungslos zu weinen, als er schließlich realisierte, wie sinnlos dieses Unterfangen war. Das Mädchen würde nie wieder seine Augen öffnen.

Sie war tot. Endgültig.
 

Neyo hatte den leblosen Körper an sich gedrückt und wiegte ihn in seinen Armen wie ein neugeborenes Baby. Doch das lenkte nicht davon ab, wie er am ganzen Leibe zitterte. Tränen standen ihm in den Augen und zeugten von tiefem Schmerz und heißen Zorn.

Und diese Wut war auf Te-Kem gerichtet. Anklagend starrte Neyo ihn an, sein Blick erinnerte an ein zerstörerisches Feuer. Selbst Sharif musste sich eingestehen, dass ihm unwillkürlich ein Schauer über den Rücken lief. Diese heiße Glut in Neyos Augen würde nur schwer zu löschen sein.

Asrim hingegen genoss die Situation sichtlich. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, er war jedoch redlich darum bemüht, dass Neyo dies nicht zu Gesicht bekam. Er wollte den Jungen schließlich nicht gegen sich aufbringen.
 

„Du hast äußerst töricht gehandelt, Mensch.“ Der uralte Vampir starrte den Oberen unverwandt an. Die Vorfreude war ihm deutlich anzusehen. „Ein Führer, der seine eigenen Leute tötet, ist in meinen Augen nicht mehr als ein Tyrann und hoffnungsloser Versager. Uns Vampiren würde es nie in den Sinn kommen, einen von unserer Art umzubringen, doch ihr jämmerlichen Menschen tut es tagtäglich.“ Er warf einen Blick zu Claire, die ihn ihrerseits mit ihren toten Augen anzusehen schien. „Und es trifft immer die Unschuldigen.“

Asrim trat an Sharifs Seite und schenkte seinem alten Freund ein breites Lächeln. „Spürst du es? Alec ist nicht mehr weit.“

Auch der Ägypter grinste. „Er ist schon sehr nah.“

Aus Te-Kems Gesicht war jegliche Farbe gewichen. Die Erkenntnis, dass er gegen die Vampire vollkommen machtlos war, hatte ihm offenbar den letzten Rest Hoffnung gestohlen. Nun wirkte er wie jemand, der sein Schicksal voll und ganz akzeptiert hatte, so wenig es ihm auch gefiel.

Sharif musste ein Lachen unterdrücken. Der Magier würde schon sehr bald seine Augen vor Schreck wieder weit aufreißen. Alecs Anblick würde ihm die Sprache verschlagen, soviel war sicher.
 

Neyo war in der Zwischenzeit aufgestanden. Er hatte den toten Körper in die Obhut Jylieres gegeben, der diesen eng an sich presste und heiße Tränen darüber vergoss. Der alte Mann war vollkommen aufgelöst, er schien sich seiner Umgebung gar nicht mehr wirklich bewusst zu sein. Er strich Claire eine Haarsträhne aus dem Gesicht und murmelte vor sich hin. Ob nun im Wahnsinn oder einfach nur, um sich selbst zu beruhigen, konnte Sharif nicht genau verstehen. Allerdings interessierte es den Vampir auch nicht besonders, seine ganze Aufmerksamkeit war auf Neyo gerichtet.

Dieser starrte Te-Kem die ganze Zeit unverwandt an. Im Gegensatz zu Jyliere schien er bei klarem Verstand zu sein, Hass verzerrte sein Gesicht. Rachedurst flammte in seinen Augen auf. Der Obere hatte seine Geliebte getötet und das wollte der junge Mann offenbar nicht so einfach auf sich beruhen lassen.

Mörder!“, zischelte er finster. Sein ganzer Körper bebte, er rang verzweifelt um Selbstbeherrschung.

Te-Kem wich einen Schritt zurück. Obwohl Neyo ein mehr oder weniger normaler Mensch ohne magischen Fähigkeiten war, schien sein eisiger Blick den Herrscher Mysticas ein wenig einzuschüchtern.

„Ich ... ich ...“ Te-Kems Stimme war brüchig. Es war mehr als offensichtlich, dass er die Situation noch nicht wirklich erfasst hatte. In seinem Kopf musste alles verrückt spielen. „Das wollte ich nicht“, rang er schließlich mühsam hervor. „Du musst mir glauben ...“

Neyos Augen verengten sich zu Schlitzen. Er erweckte nicht den Eindruck, als würde er irgendetwas von Vergebung halten.

Und genau das machte Asrim sich zunutze.
 

Er trat zu Neyo und umrundete den Jungen, als wollte er ihn von allen Seiten betrachten. Ein Lächeln huschte über Sharifs Lippen, als er dies sah. Genau dasselbe hatte Asrim auch mit ihm gemacht ... kurz bevor er ihn schließlich in einen Vampir verwandelt hatte.

„Er empfindet keine Reue.“ Asrim flüsterte Neyo ins Ohr, seine Worte Verlockungen, denen man nur schwer widerstehen konnte. Sharif wusste das, auch er hatte es am eigenen Leib erfahren. „Es ist ihm gleichgültig, was mit dem Mädchen passiert ist. Aus seiner Sicht ist sie nur eine von vielen. Entbehrlich.“

Neyos Züge verdüsterten sich zusehend. „Entbehrlich ...“, wiederholte er in einem unheilvollen Tonfall.

„Du spürst es doch auch, nicht wahr?“, wisperte Asrim. „Es tut ihm nicht im geringsten leid. Nur sein armes, jämmerliches Leben kümmert ihn.“

„Ich spüre es ...“ Neyos Stimme war nur noch ein Flüstern. Er fixierte Te-Kem wie ein Raubtier, das seine Beute anvisierte.

Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf Asrims Lippen aus. Es war genauso gekommen, wie sie es erwartet hatten. Alles war perfekt.

„Ich kann dir Macht geben“, säuselte Asrim verführerisch. „Macht, um diesen unbedeutenden Wurm zu besiegen.“

„Eine Macht, wie wir sie alle besitzen“, schloss Sharif sich an. „Du bist einer von uns, Neyo. Komm zu uns und wir geben dir, wonach es dir verlangt.“
 

„NEIN!“ Te-Kems Ruf hallte durch den ganzen Saal. „Ihr macht ihn nicht zu einem Vampir! Er steht nicht im Buch, das wisst ihr genauso gut wie ich!“

Der Obere schien felsenfest überzeugt. Er machte den Eindruck, dass nichts, was man sagen würde, ihn von seiner Meinung abbringen konnte.

Sharif schmunzelte. Dieser dumme Narr. Er wusste gar nicht, wie tief er schon drinsteckte.

„Er steht nicht im Buch?“ Asrim legte den Kopf schief. Er hatte einen Tonfall aufgelegt, als würde er mit einem dreijährigen Kind sprechen. „Oh doch, mein Freund, das tut er! Nur an einer Stelle, wo ihr es nicht erwartet hättet.“
 

Te-Kem erbleichte. Mit solch einer Antwort hatte er offenbar nicht gerechnet. Auch Jyliere wurde aus seiner Lethargie gerissen und schaute alarmiert auf.

„Die Menschen haben dir nichts als Leid beschert“, fuhr Asrim fort, Neyo zu bearbeiten. „Niemand hat sich je um dich gekümmert. Und sie haben dir auch noch jene genommen, die du geliebt hast.“

„Hör nicht auf ihn!“ Jyliere wirkte reichlich mitgenommen, dennoch war seine Miene entschlossen. „Es mag sein, dass du vieles durchmachen musstest, aber denke doch auch an die guten Tage. Ich habe dich aus dem Gefängnis befreit, um dir ein besseres Leben zu ermöglichen.“

Asrim grinste. Er hatte nur darauf gewartet, dass dieses Ereignis erwähnt wurde. „Und genau da liegt das Problem. Du hast Neyo nicht aus Nächstenliebe oder Mitleid herausgeholt. Ganz im Gegenteil, du hättest ihn wahrscheinlich dort schmoren lassen, wenn ich es nicht verhindert hätte.“

„Was?“ Jyliere schien über alle Maßen irritiert.

„Ich war vielleicht eingesperrt, dennoch besaß ich noch einen gewissen Einfluss“, erklärte Asrim genüsslich. „Ich habe dich dazu gebracht, Neyo aus dem Kerker zu holen. Du selbst hattest keine Ahnung, was dich dazu bewogen hat, nicht wahr? Du hast wahrscheinlich geglaubt, irgendeiner inneren Stimme gefolgt zu sein. Im Grunde hast du das sogar – und zwar mir!“

Jyliere riss entsetzt die Augen auf. Er war ziemlich bestürzt, brachte kein einzig vernünftiges Wort mehr über die Lippen. Tränen drohten wieder, hervorzubrechen. Er wusste, dass Asrim die Wahrheit sprach, so wenig ihm das auch gefiel.
 

Asrim schenkte dem greisen Magier noch ein letztes spöttisches Lächeln, ehe er sich wieder Neyo zudrehte. „Dieser alte Mann hat dich nur gerettet, weil ich es so wollte“, fuhr er fort. „Er hat dich aufgenommen, dich gepflegt und sich selbst einzureden versucht, dass er dich liebt. Doch in Wahrheit hatte er Angst vor dir. Angst vor dem, was du warst und noch hättest werden können.“

Jyliere schien protestieren zu wollen, doch noch bevor er überhaupt einen Ton herausgebracht hatte, sackte er auch schon wieder kraftlos zusammen. Er hatte die Ausweglosigkeit der Situation erkannt.
 

Sharif richtete seinen Blick wieder auf Neyo. Voller Ungeduld wartete er darauf, wie der junge Mann nun reagieren würde. Auch Lasgo und die anderen Vampire schauten gebannt auf die Szenerie, die sich vor ihnen bot.

Neyos Augen waren nun kalt wie Eis, keinerlei Emotion war darin zu sehen. Der lebenslustige und überaus vorlaute Bengel, den Sharif kennen gelernt hatte, war verschwunden.

Nur noch Hass war übrig geblieben.

Hass auf denjenigen, der seine Geliebte umgebracht hatte.
 

„Ich will so werden wie ihr.“ Neyos Stimme war leise, fast nur ein Flüstern. „Ich will Rache.“
 

Jyliere zuckte bei diesen Worten zusammen. Er schien irgendetwas sagen zu wollen, um Neyo von seinem Vorhaben abzubringen, doch nach einem Blick auf das tote Mädchen in seinen Armen schloss er seinen Mund wieder. Er hatte offenbar erkannt, dass er zu dem Jungen nicht mehr durchdringen konnte.

Dass er ihn endgültig verloren hatte.

Nichts, was er sagen zu hatte, würde Neyos Entschluss ändern. Der junge Mann schien den Magier nicht mal mehr wahrzunehmen. Er hatte alles um sich herum ausgeschlossen, einzig Te-Kem war für Neyo noch wichtig.
 

Asrim grinste breit. Auf diesen Augenblick hatte er schließlich lange genug warten müssen. „Wie du willst, mein Freund“, meinte er. „Aber ich hoffe, dir ist bewusst, dass danach alles anders sein wird.“

Neyos Augen blitzten kurz auf. „Das ist mir bewusst.“ Seine Stimme klang beinahe drängend. Er wollte das Ganze offensichtlich schnell hinter sich bringen, bevor erste Zweifel ihn beschleichen konnten. Bevor er wieder zur Vernunft kam und die dunklen Gefühle, die ihn beherrschten, schwächer wurden.

Asrim ließ sich selbstverständlich nicht zweimal bitten. Er stellte sich direkt hinter Neyo, seine Augen glänzten voller Vorfreude. Ein neuen Sa'onti in ihren Reihen begrüßen zu dürfen, war immerhin nichts Alltägliches, selbst für Asrim nicht.

„Sei willkommen, mein Sohn“, flüsterte der Vampirführer ...

... und vergrub seine langen Zähne in Neyos Hals.
 

Neyo zuckte kurz, ansonsten zeigte er jedoch keinerlei Reaktion. Während sich Asrim an ihm gütlich tat, verzog er keine Miene. Sein kalter Blick war bloß die ganze Zeit auf Te-Kem gerichtet, der wiederum nicht genau zu wissen schien, was er nun tun sollte. Verzweiflung verzerrte seine Züge, er war mit der Situation heillos überfordert.
 

„Der Kerl ist mir unheimlich.“ Lasgo tauchte neben Sharif auf und musterte Neyo argwöhnisch. „Er ist so bar jeder Emotion.“

Sharif musste ihm stillschweigend Recht geben. Er erinnerte sich an seine eigene Verwandlung und an die Schmerzen, die damit verbunden gewesen waren. Schließlich kam man den Tod näher als jemals zuvor, Sharif hatte damals bereits seinen eisigen Atem auf seiner Haut spüren können. Und es hatte ihm Angst gemacht. Er gab es zwar nur ungern zu und vor Lasgo oder irgendwem sonst hätte er es sofort bestritten, doch er hatte sich wirklich gefürchtet. Diese Erfahrung hatte Panik in ihm aufsteigen lassen.

Neyo hingegen schien gar nichts zu fühlen. Seine Haut wurde immer blasser, seine Augen dumpfer, aber er schien es nicht mal zu bemerken. Er schenkte seinem sterbenden Körper keinerlei Beachtung.

Man musste wahrlich mutig sein, um dies dermaßen wacker ertragen zu können.

Oder total verrückt.
 

Als Asrim schließlich von ihm abließ, erschien es zumindest für einen kurzen Moment so, als würde Neyo kraftlos auf die Knie sinken wollen. Doch er hielt sich weiterhin auf den Beinen, er schien sich keinerlei Schwäche erlauben zu wollen.

Sharif überlief bei diesem Anblick ein eisiger Schauer. Dieser Junge war keinesfalls normal, soviel stand fest. Wenn selbst der schleichende Tod ihn nicht einschüchtern konnte, was dann?

Asrim jedoch schien über alle Maßen zufrieden, er wirkte sogar ein wenig stolz. Er flüsterte Neyo irgendwas zu, ehe er sich selbst in den Arm biss und dem jungen Mann die blutende Wunde an seinem Handgelenk präsentierte.

Neyo zögerte einen Augenblick, schließlich aber packte er Asrims Arm und nahm das kostbare Blut in sich auf.

Kurz breitete sich ein Ausdruck von Verzückung auf seinem Gesicht aus, der Geschmack der roten Flüssigkeit schien ihn zumindest für einen kleinen Moment aus der Gefühllosigkeit zu befreien. Doch dies dauerte nur einen Atemzug lang.
 

„Ich versteh das alles nicht.“ Lasgo kratzte sich am Hinterkopf. „Ich dachte, Alec sollte den alte Zausel töten. Wir haben doch extra auf ihn gewartet. Er hat schließlich ein Vorrecht darauf, das hat Asrim doch gesagt. Wieso darf der Bengel den Magier plötzlich töten? Hat das Buch etwa falsch gelegen?“

Sharif schmunzelte. „Der Buch gibt nur einen kurzen Ausschnitt der Ereignisse wider, alle Einzelheiten sind dort nicht aufgeführt.“

„Und was soll das jetzt heißen?“ Lasgo runzelte die Stirn und gab sich keine Mühe, seine Verwirrung irgendwie zu überspielen.

Sharif konnte nur grinsen. Er hatte wirklich nichts verstanden.

„Du bist ziemlich schwer von Begriff, was?“, fragte der Ägypter in einem spöttischen Tonfall. „Benutz dein Gehirn, dann kapierst du es vielleicht.“

Lasgo erschien verärgert wegen Sharif herablassender Art, doch er verzichtete auf einen Streit. Stattdessen legte er seine Stirn in Falten und schien äußerst angestrengt nachzudenken. Sein Blick wanderte zu Neyo.

Und dann endlich schien er zu begreifen.
 

„Oh Mann“, murmelte er erstaunt. „Das ist ...“

Offenbar hatte er endlich verstanden, wozu ihre ganzen Pläne gut gewesen waren. Wieso es unbedingt notwendig gewesen war, dass Te-Kem die Kontrolle verliert.

Warum das Buch der Zukunft überhaupt hier war.
 

„Wahnsinn!“, meinte Lasgo. Er setzte ein schiefes Lächeln auf. „Damit hätte ich nie gerechnet. Wieso habt ihr nichts gesagt?“

Sharif sparte sich eine Antwort, Lasgo wäre nur wieder wütend geworden. Und der Ägypter hatte im Moment wenig Lust auf eine hitzige Diskussion.

Seine ganze Aufmerksamkeit galt Neyo.

Dem neuen Vampir in ihrer Mitte.
 

Asrim war ein paar Schritte zurückgetreten und betrachtete sein Meisterwerk wie ein überaus stolzer Vater. Nun war es endlich vollbracht, ihr Plan war aufgegangen.

Auch Sharif musterte den jungen Vampir. Seine Aura war dunkler als alles, was der Ägypter bis jetzt wahrgenommen hatte. Nur Hass und der Wunsch nach Vergeltung waren darin zu finden. Bloß finstere Empfindungen.

Seine leuchtenden Augen glänzten rachsüchtig, auf seinen Lippen hatte sich ein diabolisches Lächeln ausgebreitet, welches seine Fangzähne bestens zur Geltung brachte.

Mehr als alles andere wünschte er sich Te-Kems Tod. Nur deswegen hatte er sein altes Leben weggeworfen und war zu einem Vampir geworden.
 

Und genau so hatte es Asrim von Anfang an geplant. Schon als er Neyo zum ersten Mal dort unten im Verlies begegnet war, hatte er gewusst, dass alles auf diese Art enden würde.

Genau aus diesem Grund hatte der Vampirmeister auch Claire am Leben gelassen, obwohl ihm zu diesem Zeitpunkt, kurz nach seiner Erweckung, ein quälender Durst beherrscht hatte. Doch ihm war klar gewesen, dass das Mädchen noch eine entscheidende Rolle zu spielen hatte. Neyos Liebe zu ihr war der ausschlaggebende Punkt gewesen.

Nur diese Liebe und ihr überaus abruptes Ende hatten es ermöglicht, dass Asrims Worte letztendlich zu Neyo durchgedrungen waren.

Nun war er einer von ihnen.
 

„Ihr ... ihr ...“ Te-Kem war weiß wie eine Kalkwand, er erschien vollkommen aufgelöst. Fassungslos stolperte er ein paar Schritte zurück, als wollte er versuchen, sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen. Er blickte zwischen Asrim und dem neu erschaffenen Vampir hin und her. „Aber ... Alec ... So steht es im Buch!“

Asrim lachte spöttisch auf. „Du hast es immer noch nicht begriffen, du alter Narr“, meinte er höhnisch. „Du bist wahrlich blind. Und sowas schimpft sich Magier?“

Te-Kem hatte viel zu viel Angst, als dass er sich in irgendeiner Weise gerechtfertigt hätte. Er konnte bloß immer wieder den Kopf schütteln und leise vor sich hin murmeln. Fast wie ein Wahnsinniger, der mit sich selbst sprach.

„Soll ich dir erklären, wieso Alec ein Vorrecht darauf hat, dich umzubringen?“ Asrim wartete gar nicht erst ab, ob Te-Kem zustimmend nickte, sondern fuhr ohne Unterbrechung fort: „Du warst es immerhin, der sein Mädchen getötet hat.“
 

Te-Kem schien zu einer Salzsäure zu erstarren, entsetzt schaute er den Vampir an. Auch Jyliere wirkte nicht minder geschockt.

„Ich .. ich soll ...?“ Der Obere war über alle Maßen verwirrt. „Aber ich bin Alec nie begegnet. Wie soll ich da ...?“

Er verstummte jäh, Verständnis zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Mit weit aufgerissenen Augen sah er hinüber zu Claire, die immer noch in Jylieres Armen lag.

Tot. Von ihm ermordet.
 

Und endlich begriff auch Te-Kem.
 

„Bei allen Göttern“, flüsterte er entgeistert.

„Ganz genau, mein Freund.“ Asrim Stimme war voller Genugtuung. „Du selbst hast Alec erschaffen, indem du dich von deiner dummen Angst hast blenden lassen. Du selbst bist Schuld an alledem.“ Er grinste breit. „Als Claire starb, ist auch Neyo gestorben. Und das, was übrig geblieben ist, fürchtest du mehr als alles andere. Du ganz allein hast deinen Tod eingeläutet.“

Der Vampirführer wandte sich an den Vampir neben sich. „Töte ihn.“
 

Und der Mann, der einst Neyo geheißen hatte und nun nur noch von allen Alec genannt werden würde, setzte ein teuflisches Lächeln auf.
 

____________________________________________________________________________
 

So, ich hoffe, ich konnte euch mit dem Ende überraschen ^.~

Der Epilog wird auch nicht lange auf sich warten lassen. Es ist im Grunde zwar nur ein kurzer Abschluss, nichts Besonderes, aber ich will es euch trotzdem nicht vorenthalten XDD

Also dann, wir sehen uns beim Epilog XDDDD

Epilog

Es war ein Vergnügen, ihn zu töten. Diesen winselnden Jammerlappen, der nicht mal annähernd mehr wie ein König wirkte.
 

Te-Kem war sein Name, soweit sich Alec erinnern konnte.
 

Im Grunde war es ihm egal.
 

Das Leben, das er einst geführt hatte, war nur noch ein Schatten. Versteckt, dunkel und völlig bedeutungslos. Er war nun Alec und würde es auch immer bleiben. Sein Name würde in die Geschichte eingehen, man würde ihn lieben, hassen und fürchten.

Und heute war es endlich soweit. Von seiner Menschlichkeit war nicht mehr viel übriggeblieben.
 

Als Te-Kem tot zu Boden sackte, spürte Alec eine unterschwellige Befriedigung. Offenbar ein letzter Funken seines früheren Ichs. Der Mann, der er einst gewesen war, ließ das Ableben dieses Magiers kurz aufglühen, bevor er endgültig starb.
 

Fort ... für immer.
 

Alec warf einen Blick zurück. Dort kauerte ein alter Mann auf dem Boden, völlig aufgelöst und mitgenommen. In seinen Armen hielt er eine junge Frau, die sich nicht mehr bewegte.

Der Vampir betrachtete das Mädchen näher. Sie war schön ... schön und tot. Etwas regte sich in ihm für einen kleinen Moment bei ihrem Anblick. Wie eine alte Erinnerung.

Ihr Name fiel ihm nicht ein. Ihm war bewusst, dass er ihn mal gekannt hatte, aber das war nun vorbei. Sie war nur ein gesichtsloses Mädchen, das er schon bald vergessen haben würde.
 

„Neyo ... was hast du getan?“ Der alte Mann starrte mit großen Augen zu ihm auf. Entsetzen spiegelte sich in seiner Miene, gekennzeichnet von Verlust. Trauer und Schmerz lagen in der Luft.

Und ebenso bittere Enttäuschung.
 

Alec schaute zu dem greisen Mann herab.
 

Neyo ...
 

Alec glaubte, diesen Namen schon mal irgendwo gehört zu haben, doch er konnte sich nicht daran entsinnen, wo das gewesen war. Ein Teil von ihm wollte sich auch gar nicht erinnern. Aus irgendeinem Grund tat es weh.
 

„Wer bist du?“ Alec sah den Alten unverwandt an. Er spürte eine Art Verbindung, die er sich nicht so recht erklären konnte. Fremde Bilder schossen ihm durch den Kopf. Bilder aus einem Leben, das nicht das seine gewesen war.

Der alte Mann zuckte bei Alecs Frage zusammen, als ob man ihn geschlagen hätte. Er schien immer blasser zu werden, der Schock fuhr ihm durch sämtliche Glieder.

Diese drei Worte waren offenbar für ihn schlimmer gewesen als jegliche Todesqualen.
 

„Er braucht dich nicht zu interessieren.“ Asrim trat an Alecs Seite. „Er ist nur ein weiterer kümmerlicher Mensch. Beachte ihn nicht weiter.“

Alec nickte, obwohl er sich nicht ganz sicher war, ob er das konnte. Der verzweifelte Blick dieses alten Mannes war überaus eindringlich für den jungen Vampir. So schnell würde er diese Augen wahrscheinlich nicht vergessen.
 

„Lass uns gehen, Alec“, flüsterte Asrim ihm zu. „Hier gibt es nichts mehr für uns.“

Alec folgte gehorsam den Anweisungen seines Schöpfers. Es gab in der Tat hier in Mystica nichts mehr für sie. Alles, was sie hatten erreichen wollen, war geschafft.

Asrim war befreit und der Obere tot.

Und Alec war endlich da, wo er hingehörte. Der Mensch in ihm war gestorben. Er war nun ein mächtiger Vampir, den alle mit Respekt behandeln würden.
 

Mit einem letzten Blick auf den zusammengekauerten Mann am Boden, der bereits resigniert den Kopf gesenkt hatte, wandte Alec sich ab.
 

Er ließ all das hinter sich, was ein Mann namens Neyo einst geliebt hatte.
 

Für immer.
 


 

____________________________________________________________________________
 

So, kurz und knackig ^.~ Wie gesagt, nichts Besonderes, aber ich wollte Alec auch mal kurz zu Wort kommen lassen ;p Der arme Kerl ist in meiner Story ja viel zu kurz gekommen XD
 

Und nun ist es vorbei *schnief* Irgendwie schon ein bisschen traurig ...

Sollte es noch irgendwelche unbeantworteten Fragen geben, könnt ihr mit gern ne ENS schicken oder in mein GB schreiben. Ich beantworte euch gern alles ^.^
 

Und jetzt am Schluss wollte ich nochmal ganz lieb meinen Kommischreibern danken ^^ So eine treue Leserschaft ist echt selten und ich bin wirklich dankbar für euer reges Interesse ^_______^

Also vielen Dank Kaguyashi, berner-ib, Black_Shell und Lylly-chan ^_______^ Eure Kommis haben mir immer wieder Mut gemacht, sodass ich es endlich geschafft habe, diese Story zu beenden ^^

Ich hoffe wirklich, es hat euch gefallen ^^
 

Liebe Grüße

Nochnoi



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Von:  astala7
2012-01-22T12:39:30+00:00 22.01.2012 13:39
Sodata... Es ist kurz nach zehn, ich komme gerade aus dem Musical Tanz der Vampire und da dachte ich mir, es wäre doch mal an der Zeit, diese ff durchzulesen, die da schon so lange auf meiner Favoliste versauert. Also frisch ans Werk. Mach dich auf ein 2418-Wörter-Kommi gefasst.

Prolog
Die grässlichen Zellen des Gefängnisses kann man sich wunderbar vorstellen. Sehr schöne (ächem) Beschreibungen, die Ratten mag ich besonders. Aber irgendwie scheint mir Neyo hier noch zu wenig Angst zu haben. Gerade weil die Umgebung so gut beschrieben fehlt, macht sich der Mangel an Gefühlsbeschreibungen bemerkbar.
Ein paar kleine Schreibfehler sind auch drin, aber nichts, was den Fluss stören würde.
„Neyo begann ein völlig neues Kapitel.
Doch er wäre sicherlich im Gefängnis geblieben, wenn er davor gewusst hätte, was ihm noch bevorstand.“
Das gefällt mir besonders. Macht Lust auf das nächste Kapitel!

Neyo und Claire
Claire kommt mir um einiges... dankbarer vor als Neyo. Sie haben beides furchtbares durchgemacht und Jliere hat sie beide gerettet. Aber Claire opfert sich ja geradezu für ihn auf. Es wird zwar nicht gesagt, aber ich denke, dass sie diese strenge Herrin nur spielt, damit Jyliere möglichst wenig Sorgen hat und sich um nichts zu kümmern brauch. Aber das weiß Neyo nicht...
Ich mag Jyliere. Fand ich toll, wo er Claire gesagt hat, sie soll doch Neyo selber auspeitschen, wenn ihr das so wichtig ist. Guter Konter!

Unheilvolle Schatten
Der Anfang dieses Kapitels lässt das Ende des letzten in einem völlig anderen Licht erscheinen. Jyliere ist also nicht einfach nur besorgt – er glaubt, das Ende seiner Welt ist nah. Da erklärt sich natürlich sein Verhalten. Erst recht, wenn er durch dieses Buch schon so genau weiß, was passieren wird. Bin nur gespannt, was diese Bedrohung sein soll.
Ich kann auch Jylieres Rührung anhand deiner Beschreibungen nachvollziehen. Trotzdem frage ich mich immer wieder: Warum ausgerechnet Neyo? Ich meine, da müssen doch Dutzende Diebe in den Katakomben versauern, wie kam er auf ihn? An genau diesem Tag? Zu großer Zufall, da wäre ich auch misstrauisch.
In der Küche kommt währenddessen ganz wunderbar diese vertraute Schwätzer-Atmosphäre auf. Alle scheinen dort sehr interessant und sympathisch zu sein. Calvio mag ich besonders.
„Er verirrte sich nur in Jylieres prachtvolle Bibliothek, wenn er aus Versehen die falsche Abzweigung genommen hatte.“ Das sagt ja schon mal viel aus. Und: „Ach, nur so. Einfach reines, unschuldiges Interesse.“ Wers glaubt wird selig.

Das Grauen rückt näher
Hm, ich dachte, über Neyo gibt es vllt eine Prophezeihung oder so, weil er anfangen soll, sich komisch zu benehmen. Warum hat Jyliere Claire danach gefragt, wenn er doch zugibt, nicht die geringste Ahnung zu haben, warum er damals so gehandelt hat?
An der einen Stelle habe ich gestutzt. Rache? Diese Wesen wollen Rache für das, was ihnen angetan wurde? Nun, dann gibt es doch ganz offensichtlich etwas, das man ihnen antun, mit dem man sich vor ihnen wehren kann.
Ich weiß nicht, was ich von San-jul halten soll. Mal ist er vorlaut und abenteuerlustig, mal zurückhaltend, vorsichtig und demütig. Und diese Stimmungsschwankungen kommen im 5 Sekundenabstand!

Der Eindringling
Hm,was soll ich sagen? Jetzt sind sie wohl endlich angekommen. Ich finde ja merkwürdige Gestalten unheimlicher, wenn sie nicht so viel reden. Dieses Kapitel erinnert mich ein wenig an den Prolog, nur umgekehrt. Diesmal waren Neyos Gefühle wunderbar beschrieben, nicht aber die Situation. Ich habe nicht wirklich verstanden, was denn jetzt so grauenvoll gewesen sein soll.

Aufruhr in der Bibliothek.
Die Vorstellung, Gorsco könne seelenruhig Buch für Buch untersuchen, während Claire zitternd in einer Ecke hockt, ist irgendwie... sehr amüsant. Langsam beginne ich diesen Typ zu mögen. Allerdings scheint ihm die Situation mehr und mehr zu entgleiten. Neyo scheint irgendetwas zu haben, das er nicht versteht (merkwürdiges Verhalten setzt ein^^) und er verliert ja vollkommen die Fassung. Ein wenig enttäuschend, wo alle doch so große Angst vor ihm haben.

Erklärungen
...sind bitter nötig.
Also, sie müssten doch auf die Idee kommen, dass die Zahlen Jahre sind, oder? Sie haben doch bestimmt auch einen Kalender, vllt keinen gregorianischen, trotzdem... Und wenn man dann von einem Ereignis weiß, wann es war, weil es schon geschehen ist, kann man doch auch die andere umrechnen.
Wie auch immer ich bin gespannt, was für eine Art vom Vamps das hier sind. Welche Legenden alle zutreffen, ob die von Sonnenlicht, Verwandlungen, Holz usw, dann hätten sich ja auf jeden Fall eine Chance. Offensichtlich brauchen sie aber keine Einladung, um ein Haus zu betreten^^
Langsam nehme ich an. Dass das Buch die Geschichte der Vamps beschreibt und zwar aus ihrer Sicht, sodass alle Morde als Heldentaten aufgelistet sind. Das muss natürlich für die Magier grässlich sein.

Stimmen
Looooooooooooooool. Ich mag die Vamps.
Also, so wie ich das sehe, ist unsere Menschenwelt noch recht jung, ja? Die Pharaoen scheinen jedenfalls noch nicht alle eingewickelt zu sein, wenn Sharif sie als fortschrittlich bezeichnet. (Gab es damals schon Bücher???) Dann ist es auch kein Wunder, dass die Magier über die Gewöhnlichen so abwertend denken. Dann kennen sie auch die Schwächen der Vamps nicht und sind damit ein gefundenes Fressen für sie – warum kommen sie erst jetzt? Ich bin jetzt schon gespannt auf das Kapitel, in dem Magie in die Menschenwelt reisen um mehr über die Vamps herauszufinden.
Wirklich neugierig mach mich aber diese neue Art, diese Andersartigkeit von Alec und Sharif (übrigens tolle Namen, ganz anders als Gorsco)
Auch komisch, dass Lasco keine Ahnung hat, dass Alec kommen und den Oberen töten will, wenn er doch das Buch in und auswendig kennt, indem genau das drinsteht.
„Ich brauche ganz dringend Urlaub, dachte er frustriert.“
Urlaub? Sowas gibt es für Dienstboten? Erstaunlich, dass er überhaupt das Wort kennt.
Also, die Stimmen kommen definitiv nicht von den Vamps, das widerspricht jeglicher Legende... Aber durchaus möglich, dass das endlich das erwartete komische Verhalten ist. Mal sehen, was das noch wird.

Im Palast
Also sind sie doch nicht so absolut immun gegen Magie. Wär ja auch langweilig für sie, wenn die Magie überhaupt keine Herausforderung wären. Ich mag es, wenn du aus der Sicht von Sharif schreibst. Der wird mir immer sympathischer und hey! er lässt ja sogar den Trunkenbold leben. Warum auch nicht? Niemand wird ihm glauben, bei der Menge, die er intus hat. Wenn er am nächsten Morgen überhaupt noch was davon weiß.

Neyos Geheimnis
Juhahahuha...! Hab es geahnt, kaum das Jyliere angefangen hat zu reden. Ich wette, Sharif und Alec waren auch Sa'onti, nicht wahr? Deswegen hat Jyliere sich so um ihn gekümmert, deswegen war er bestrebt, sein Vertrauen zu gewinnen. Damit sie sozusagen einen Mann in den Reihen des Feindes haben. Nur, warum sind die Stimmen – gutes Gehör oder Gedankenlesen? - in der Nähe von Magiern still?
Huhuhu! Ich hatte recht, die beiden waren Sa'onti, na gut, war jetzt auch mehr oder weniger offensichtlich, schätze ich.
„Und was machen wir jetzt? Sollen wir Neyo von einem Vampir beißen lassen, damit er nicht stirbt?“
Hääää? Woher weiß Claire, dass Vamps durch den Biss verwandelt werden? Hab ich was überlesen oder hat ihr das irgendwer gesteckt?
Nun, und wenn die Magier so selten dämlich waren, den Macher von genau diesen zwei Vamps gefangen zu nehmen (wie haben sie das nur geschafft? Warum glauben sie, so machtlos zu sein, wenn sie das geschafft haben?), dann ist Mystica wirklich dem Untergang geweiht.

Werkzeuge
Asrim braucht natürlich nur etwas Blut, um wieder zu Kräften zu kommen... will Sharif das damit sagen? Und sie werden ihm ein Opfer reinschicken, eine Magierin, weil nur die da durch kann. Na, Prost Mahlzeit! Dann muss natürlich auch Nayo mitkommen, wenn er Clarie auf Schritt und Tritt begleitet. Mal sehen was das wird

Mäusejagt
Drei Wochen sind schon vergangen? Worauf warten die Vamps denn? Etwa immer noch auf Alec? Man, der lässt sich aber Zeit...
Ich fand es richtig lustig, dass Claire jetzt offene Haare trägt, weil Neyo ihr einmal gesagt hat, das sehe besser aus! Lol, seine Meinung scheint ihm ja doch wichtig zu sein. Rofl, dann kommt auch noch die Maus. Kann ich mir richtig vorstellen, wie die Augen der Meute gierig aufblitzenXD
Neyo ist ein wirklich guter Menschenkenner, das muss man ihm lassen. Ob er auch Vamps so durchschauen könnte?
Sharif will ihnen seinen Vater vorstellen? Der Ausdruck gefällt mir^^ Trotzdem seltsam, dass die gleich mit einem ganzen Bataillon da auftauchen. Das hätte Shari doch auch allein hingekriegt.

Einfluss
Natürlich haben sich die Magier einen Weg offen gehalten. Immerhin gäbe es sonst keine Tür, oder? Türen sind dazu da, geöffnet zu werden. Wenn auch nur von bestimmten Personen. Sonst hätten sie auch einen Raum ohne jede Öffnung wählen können. Mit Magie kriegt man da schon irgendwie einen Vamp rein. Zu Not wird er eingemauert.
Lol, stell ich mir grad vor wie Claire wie ein Gummiball von der Mauer abprallt.
Sehr schön beschrieben, wie Asrim Neyo ruft und dieser ganz verzaubert ist. Lässt die Vamps irgendwie ziemlich doof aussehen, sie haben Claire hingebracht, Neyo lediglich mitgenommen, dabei war er der Schlüssel genau vor ihrer Nase.
Hier könnte die ff bereits zuende sein... Aber irgendwie glaube ich, dass gewisse Vamps auf Rache aus sein werden. Ich freue mich darauf, dass du gleich das Wiedersehen von Vater und Sohn beschreiben wirst.

Der Vampirkönig
Ja, Magie kombiniert mit uraltem Vapirismus ergibt zwangsläufig eine sehr starke Mischung. Mich würde wirklich mal interessieren, ob Asrims Magie auch Vamps beeinflusst? Immerhin sind die ja für gewöhnlich immun gegen Magie. Was wiederum nur zeigt, dass er noch ganz andere Qualitäten besitzen muss.
„Soweit ich weiß, soll es auch eine aufstrebende Stadt geben, die sich Rom nennt“, sagte Asrim. „In ein paar Jahrhunderten wird dort richtig die Hölle los sein.“
Looool. Ich hab so ein Failbe für alte Vampire. Die sind wirklich wie Wein, je älter desto besser. Verlieren nie wirklich ihren Humor. Die beiden reden wirklich wie Vater und Sohn miteinander. Und mal ehrlich, was ist ein läppisches kleines Jahrhundert für einen 5000jährigen? Für einen nicht mal 200jährigen ist das was anderes, aber so? Kein Wunder, dass Sharif ungeduldig ist. Vermutlich hat Asrim auch gar nicht vor sich hin gegammelt sondern das Ganze wirklich wie einen kleinen Mittagsschlaf empfunden.

Das Buch der Zukunft
Ich werde dich schon nicht auffressen? Wir sind doch alle Menschen? Und das aus dem Mund eines Halbvampirs. Nun, dem würde ich auch nicht glauben, liebe Claire! Da sind ein paar gravierende Lücken in seiner Argumentation. Aber was sich liebt, das neckt sich eben. War ja irgendwie von Anfang an klar, trotzdem hast du es geschafft, die Beziehung nicht allzu kitschig zu gestalten.
WTF!? Das wäre ja echt mal ein starkes Stück. Asrim hat das Buch in der Zukunft geschrieben^^. Naja, als es hieß, es tauchnen die wichtigsten Ereignisse auf, hab ich auch gleich an ein Geschichtsbuch gedacht. Und vllt wird Neyo dann doch zum Vampir und Asrim hat das nur nicht erwähnt und die Geschichte einfach umgeschrieben, weil er aus der Vergangenheit noch wusste, was für eine Schlüsselrolle das Buch hat. Immerhin schlottern die Magier schon beim Gedanken daran. Nunja, würde aber passen, dass ein Buch mit einem so schrecklichen Autor auch selbst so schrecklich ist... Und ausgerechnet CLAVIO ist der Spion? Okay, das überrascht mich jetzt wirklich. Daran hätte ich nicht gedacht. Eine gute Story braucht auch Nebencharaktere, die einfach nur Freunde der Hauptcharas sind und als solchen hatte ich Calvio eigentlich abgeschrieben. Aber du hast seien Person viel besser genutzt und jetzt macht es auch Sinn, dass er immer mal wieder zwischendurch verschwunden ist.

Schatten
Oh, wir sind doch schon so weit vorn in der Geschichte? Jahr Null sozusagen? Und ich dachte, Pharaoen wären noch aktuell... *schmoll*
„Wie, bei allen Mächten dieser Erde, konnte man so lange leben, ohne verrückt zu werden?“
Wer sagt, dass Asrim nicht schon komplett verrückt ist?XD
Zu den Großen Sieben habe ich eine Theorie... Könnte Asrim nicht einfach Neyo beißen und ihm dann per Vampirtradition einen anderen Namen geben? Schwubs würde er nicht mehr im Buch auftauchen, jedenfalls nicht als Neyo. Wie wäre es mir... Nero?

Abgründe
Ich hätte jetzt gedacht, dass Calvio einfach ein Mensch ist dem man, keine Ahnung, versprochen hat ihn zu verwandeln oder so. Aber dass er bereits ein Vamp ist? Ich denke, die sind alle so schattenhaft und haben glühende Augen? Man muss sie doch irgendwie von Menschen sichtbar unterscheiden können. Bisher haben die doch immer gespürt, wenn ihr Gegenüber tot war.
„Nun war es also soweit. Das Buch der Zukunft hatte wie immer Recht gehabt ...
Te-Kem würde sterben – und das vor ihrer aller Augen.“
Bevor ich hier weiterlese und es mir keiner mehr glaubt, das sich selbst drauf gekommen bin, wenn auch recht spät, will ich hier nochmal eine Theorie loswerden: Kann es sein, dass Asrim Neyo verwandelt und sein neuer Name.... ist Alec!? Und Er tötetet den Oberen, weil (Ich bin grad hier: „Ein Vorrecht?“ Claire runzelte verwundert die Stirn.) er persönliche Gründe hat, weil Asrim ihm jetzt verrät, dass der sein Vater ist oder so? … (nach einigem weiterlesen) oder weil er Claire rächen will? Langsam finde ich Gefallen an meiner Theorie.

Dunkelheit
Ich habe Neyos Verführung wirklich genossen. Wie sehr Asrim ihn eingewickelt hat... All diese ungeklärten Fragen, warum Jyliere ihn gerettet hat... Alles macht Sinn. Und meine Theorie wird immer klarer. Ich hätte am Anfang dieser ff nie gedacht, dass es so kommen würde. Aber du hast alles genaustens durchgeplant und überall waren Hinweise, an die ich mich jetzt erinnere. Alle Achtung, das ist wirklich ein Meisterwerk.
Selbst nach all den Vampirgeschichten, die ich schon gelesen habe, ist das hier krass. Dass Neyo einfach so stehen bleibt, während er gebissen wird. Vollkommen kalt und unberührt. Krass krank.
Die Vampire haben alles genau geplant. Ohne Gefühl. Neyo bedeutet ihnen nichts, er wurde manipuliert. Ich nehme an, das weiß er auch, aber es ist ihm egal. Er wird ihnen trotzdem folgen – oder sie anführen.
Und... auch wenn ich es erst im letzten Kapitel erkannt habe... ICH HATTE RECHT!

Epilog
Diese ff ist so dermaßen göttlich gut. Am Anfang hat es etwas gehapert und zwischendurch mag es etwas schleppend gewesen sein, aber sie war so aufeinander aufgebaut und das Ende war so Teuflisch! Der Charakter des Vampirismus kam wunderbar zur Geltung, besonders im Epilog, in dem Alec alles vollkommen hinter sich gelassen hat. Erinnert mich ein wenig wieder an Tanz der Vampire, das hat ähnlich geendet. Trotzdem lässt Alec Jyliere am Leben, obwohl er Hunger haben muss... Das hat trotz allem noch ein gewisse Aussage.
Vielen Dank für diese wunderbare Geschichte. Es war ein Vergnügen, sie zu verschlingen.
Von: abgemeldet
2009-05-23T15:27:47+00:00 23.05.2009 17:27
so bin jetzt schon beim vierten kapi angelangt *sehr stolz auf sich ist*

also jetzt sind nicht nur die alten männer bei dir als, sonder auch junge frauen. alos sarah du musst irgendiwe jeden alt machen, oder?

so das war also die erste begegnung mit einem vampir, aber ich frag mich was mit neyo ist. wieso hat er das klirren gehört? ist er was besonderes?
und was wird mit claire? wird sie ausgesaugt oder noch etwas viel schlimmeres passieren?
das seht ihr alles in der nächsten folge von Dunkelheit ^^

HDL Tami
Von: abgemeldet
2009-05-19T14:25:53+00:00 19.05.2009 16:25
so bin bei dritten kapitel angelangt^^

also i-wie sind alle älteren männer bei dir so richtig alt. naja ich mein sie sind total blass und klapprig^^

und endlich sind die bösen aufgetaucht.
"sie dürsten nach blut"
ja sie haben halt hunger, dafür können die ja auch nichts, oder? liegt halt in ihrer natur. ich glaub ich weiß endlich, warum becky sharif so mag. zwar ist er noch nicht aufgetaucht, aber deine beschreibung von ihm hat mir schon sehr gefallen.

gleich gibt es reis -^.^-
HDGGGL
Tami
Von: abgemeldet
2009-05-18T16:24:47+00:00 18.05.2009 18:24
jaa, ich hab es endlich geschafft es zu ende zu lesen.
also der jylieres hat aber ein sehr weiches herz. nehmt ja jeden auf dem er auf der straße begegnet. erst neyo im gefängnis und dann noch calvio

dieser zickenkrieg zwischen claire und catherine ist bestimmt immer grandios. den hört man bestimmt schon vom weiten, ich glaub, dann sollte man sich in sicherhet bringen^^

HDL
Tami
Von:  blacksun2
2008-05-25T10:52:31+00:00 25.05.2008 12:52
mein letztes Kommi für diese Fanfic *eine Träne aus den Augen wisch*, schade das war viel zu schnell vorbei (ich weiß meine Schuld, aber ich konnte echt nicht anders)
alles in allen war die Geschichte erste Sahne, hab keine einzige Sekunde bereut, in der ich an der Geschichte gelesen habe
(tut mir nur leid, dass meine Kommis nicht besonders konstruktiv waren)die Story war (bis auf das Ende, das daf ich ja ehrlich sagen, das war nämlich sehr traurig) voller Fantasie und voller Leben, man war mitgerissen, hat mit den Personen gefiebert und hat die Welt Mytica einfach geliebt
dazu dein sehr guter Ausdruck, der nicht ein einziges Mal abgesackt ist, du hast es wirklich verstanden mit den Wörtern zu spielen

deswegen
DANKE für die Fanfic, hat Spaß gemacht sie zu lesen und sie gehört definitiv zu meinen Favoriten
Von:  blacksun2
2008-05-25T10:42:44+00:00 25.05.2008 12:42
yuhuu, das 100.te Kommi kommt von mir (zu ner Fanfic die 10mal so viel verdient hätte)
na dann mal los:

also wirklich, Neyo = Alec, ich bin zwar nicht berauscht davon, aber du hast es alles sehr logisch gestaltet, man kann es nachvollziehen, warum er so reagiert
hätte er einen Tag gewartet, wäre seine Wut vielleicht wenigstens ein wenig abeschwächt wurden und er hätte auf seinen Verstand und nicht auf sein Gefühl gehört, doch so unmittelbar nach claire´s Tod kann man ihm nachempfinden
ob er das igrendwann mal bereuen wird, denn es gibt kein zurück mehr (kann ein Vampir sich überhaupt selbst töten, wüsste jetzt keine Möglichkeit)
und auch für Jyliere muss eine Welt zusammengebrochen sein, er hat alle, die ihm was bedeuteten in einer Nacht verloren
also so wie du Alec beschrieben hast wirkt er mir mächtiger als Sharif, kaum vorstellbar, dass er unter ihm stehen soll
Von:  blacksun2
2008-05-25T10:13:23+00:00 25.05.2008 12:13
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .*grad mittleren Schock erlebt hab und versuch mich zu erholen . . . . . . . . .. . . . . .*noch nicht* . . . . . . . . . . .*immer noch nicht* . . . . . . .

so jetzt geht es wieder einigermaßen,
das find ich megatraurig, arme Claire, armer Neyo, stimmt das gefällt mir nicht (bin doch ein Happy-End Typ)
aber davon abgesehen war das Kapitel wieder megasupergenial
dein Ausdruck war einfach perfekt und hab die ganze Zeit vor Spannung gebebt
Te-Kem´s letzter verzweifelter Versuch *seufz*, auch er tut mir Leid in seiner Todesangst, nur wenn er jetzt dabei drauf geht (das klingt zwar hart), dann erfüllt sich nicht die Prophezeiung, dass Alec ihn tötet

ich würde Asrim am liebsten mal so richtig in die Fresse hauen (so wie du ihn beschreibst, würd ich mir das zwar nicht trauen, weil du es supergut schaffst seine angsteinflößende Persönlichkeit dem Leser nahe zu bringen), naja vielleicht macht Neyo das für mich, aber irgendwie hab ich so eine seltsame Vermutung bezügl Alec . . und wenn dem so ist, dann weiß ich auch den Grund warum Alec Te-Kem töten will
Von:  blacksun2
2008-05-25T09:48:45+00:00 25.05.2008 11:48
zugegeben, ich hab meine Sucht nicht besiegt und den Entzug nicht geschafft, aber ich MUSSTE einfach wissen wie es weitergeht

genau Claire, hetz ihm nen Fluch an den Hals, dann merken die wenigstens
das er nicht auf ihrer Seite steht (glaub ich zumindest, ist er jetzt eigentlich ein Vampir oder nur ein Spion für die Untoten?)
Neyo hat so eine ABneigung gegen Vampire, man kann sich gar nicht vorstellen, dass er auch einer wird . . .wär interessant, ob seine Gefühle für Claire trotzdem gleich blieben, natürlich bin ich dafür, dass er keiner wird

Von: abgemeldet
2008-05-24T23:16:58+00:00 25.05.2008 01:16
Ich habe jetzt einmal angefangen zu lesen und muss sagne, dass ich Sharif sehr mag...seine verächtliche Art
Er hat sich eindeutig zu meinem Liebling gemausert :)
Dafür habe ich mit Neyo überhaupt kein Mitleid XDD
Auch ansonsten muss ich die Geschichte sehr loben, die Charaktere sind alle lebendig und nicht nur oberflächlich
Ich bin gespannt auf weitere Kapitel, obwohl ich hiermit ja erstmal eine Weile zu lesen habe.

Einziger Kritikpunkt: An einer Stelle redest du von dem Wachposten als von einem "Typ"...eine etwas unpassende Bzeichnung für eine Geschichte in einem mittelalterlichen Land
Aber das fällt fast nicht auf und ist wirklich das einige, was ich zu bemängeln habe
Ich lese auf jeden Fall weiter und freue mich auf Fortsetzungen
Liebe Grüße, Diener_des_Feindes
Von:  blacksun2
2008-05-24T20:36:18+00:00 24.05.2008 22:36
yuhuu *Sektkorken knalln lass*, sie ham sich geküsst, das gönn ich den beiden aber voll nach der letzten Zeit
oh mann, ich hab Calvio noch nie gemocht und hab mich die ganze Zeit gefragt, ob er nicht vielleicht zur anderen Seite gehört (nennt man wohl weibliche Intuition) und nun ist er wirklich nur ein mieser, kleiner, dreckiger Spion (also kann ich mich noch einigermaßen auf mein Gefühl verlassen) (wer weiß vielleicht ist er sogar ein Doppelspion *nachdenk ob ich ihm das zutrau*)
Claire hat unter den Dienstmädchen ganz schön an Respekt verloren, wenn die so durch ihr Zimmer wuseln (aber was sie an Respekt verloren hat, hat sie an Liebe gewonnen *g*)
o.O ob die beiden noch vorher aufbrechen? wird sehr knapp werden *ihnen den Daum drück*

so, jetzt bin ich vollkommen süchtig und es gibt nur eine Maßnahme diese Sucht einzudämmen - strenger Entzug für mindestens eine Woche *ah nein, das halt ich doch niemals durch* - na gut sagen wir 24h kein "Dunkelheit* mehr und ich bin geheilt

bis dahin
glg
blacksun




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