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Black, White, Gray

“You can't create a monster, then whine when it stomps on a few buildings.”
von

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A Question Of Time

Es war kurz nach zwei. An einem Donnerstag.
 

Nun möchte man meinen, dass vier Minuten nach zwei an einem langweiligen, verregneten Donnerstag Nachmittag nichts Besonderes ist, und für die meisten mag das auch stimmen.
 

Im Poppo Time jedoch wusste jeder genau, was zu dieser speziellen Zeit der Woche anstand, und obwohl zwei Drittel der Bewohnerschaft dem Ereignis mit Freude bis Neutralität gegenüberstanden, so befand sich das Stimmungsniveau des letzten Drittels, namentlich Jack, bereits am frühen Morgen im Keller.
 

„Jetzt geht DAS wieder los!“, raunzte er seine Teetasse an, die gefährlich auf dem Tisch zitterte als er mit der Faust auf die Platte schlug. „Ich hab WIRKLICH keine Lust auf dieses Theater!“
 

„Momentan bist du der Einzige, der hier Theater macht“, erwiderte Crow mit hochgezogenen Augenbrauen und schnappte sich schnell seine Tasse, damit Jack sie nicht mit seiner nächsten ausladenden Geste vom Tisch befördern konnte.
 

„Du weißt genau, was ich meine!“, donnerte Jack und verschränkte die Arme. „Anderthalb Stunden haben wir hier wieder keine Ruhe!“
 

„Du solltest dich freuen, Jack“, unterbrach ihn eine ruhige Stimme vom anderen Ende des weitläufigen Hauptraums der Werkstatt. Es war Yusei, der emsig damit beschäftigt war, an Crows D-Wheel herumzuschrauben.
 

Der Blonde zischte. „Worüber sollte ich mich da freuen? Besuch haben wir hier schon genug.“
 

Nun platzte Crow der Kragen. „Na hör mal, du tust so als wären das nur unsere Freunde, die uns besuchen kommen! Schließlich ist sie auch deine Freundin, oder etwa nicht?“ Er erhob sich vom Sofa, auf dem er bis eben noch entspannt hatte, und starrte Jack wütend an. Dieser schnaubte nur.
 

„Lass ihn, Crow“, murmelte Yusei. Der Kleinere gehorchte mit einem genervten Stöhnen und ließ sich aufs Sofa zurückfallen.
 

Der Grund für Jacks schlechte Laune und den allgemeinen Tumult war der allwöchentliche Physik-Nachhilfeunterricht für Aki, der vor allem früher für viel Ärger gesorgt hatte. Das Mädchen hatte anfangs die Angewohnheit gehabt, die anderen einem handfesten Wutausbruch auszusetzen, wenn sie ein Problem selbst nach dem fünften Anlauf nicht begriff. Sie war früher um einiges ungezügelter gewesen, und es hatte eine Menge guten Zuspruchs seitens Yusei benötigt, um sie wieder zu beruhigen. Genau das hatte beinahe immer Auseinandersetzungen mit Jack zur Folge gehabt, der sich in seiner heimatlichen Ruhe gestört fühlte, woraufhin normalerweise auch Crow einschritt, um Aki in Schutz zu nehmen, und wenn dann Crow und Jack aneinandergerieten, war an konzentrierten Nachhilfeunterricht nicht mehr zu denken.
 

Doch eigentlich gab es gar keinen Grund mehr für Jack, sich so aufzuregen. Aki hatte sich sehr beruhigt in den letzten Monaten und war auch allgemein viel umgänglicher geworden. Sie wussten, dass Aki es nicht einfach gehabt haben musste. Bis zu ihrem dreizehnten oder vierzehnten Lebensjahr hatte sie kaum Freunde gehabt, wie hätte sie da lernen sollen, sich normal zu verhalten?
 

Doch mit ihrem neuerlichen Eintritt in die Duel Academy hatte sich einiges gebessert. Gemeinsam mit ihren Freunden und Eltern hatte sie begonnen, sich ganz allmählich in die Gesellschaft zu integrieren, Akzeptanz zu erfahren und sie zu erwidern.
 

„Ich kann dieses Geschrei nicht leiden“, grummelte Jack schließlich, um das letzte Wort zu behalten.
 

Yusei sah von seiner Arbeit auf und blickte zu Jack hinüber. „Jack, du weißt, dass sie seit den letzten Wochen keinen einzigen Wutausbruch mehr hatte. Leg es bitte nicht darauf an.“
 

Jack erwiderte Yuseis Blick so lange er konnte, doch schließlich gab er nach und schaute beiseite. Doch mehr als ein verstimmtes „Hmpf“ war ihm nicht zu entlocken.
 

In diesem Moment öffnete sich die Eingangstür ein wenig und Aki spähte herein. Sie erblickte Yusei, öffnete die Tür ganz und trat ein.
 

„Hallo!“, grüßte sie betont freundlich die kleine Runde.
 

Crow grinste zu ihr hoch. „Hey Aki! Na, alles fit?“
 

Aki legte verlegen den Kopf schief. „Naja, nicht so sehr, sonst wär ich wohl nicht hier. Bin in Physik immer noch eine ziemliche Niete.“
 

Yusei erhob sich und kam zu ihr herüber. „Das stimmt nicht, Aki. Nur weil du Hilfe brauchst, heißt das nicht, dass du schlecht bist. Allein die Fähigkeit, um Hilfe zu bitten und sie annehmen zu können, zeigt, wie mutig du geworden bist.“
 

„Ja, andere können das immer noch nicht“, frotzelte Crow mit einem Seitenblick auf Jack, der bereits den Mund aufmachte und Luft holte um dem Kleineren eine Retourkutsche zu bieten, die sich gewaschen hatte, doch Yusei ließ ihn mit einem einzigen Blick verstummen.
 

Auf Yuseis Kompliment hin erschien ein leichter Rotschimmer auf Akis Wangen und sie senkte den Blick. „Danke“, murmelte sie.
 

Mit einem Nicken zog Yusei sich die ölverschmutzten Handschuhe aus. „Ich geh mich nur eben saubermachen, dann kann es losgehen“, lächelte er und verschwand im Bad.
 

Crow klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich um Aki zu deuten, sie solle sich setzen. Vor ein paar Wochen noch hätte sie ihn nur verschüchtert angestarrt und sich keinen Millimeter gerührt, inzwischen war sie in der Lage, der Einladung zu folgen.
 

„Oh bitte, wieso kann sie nicht einfach oben auf ihn warten?“, zischte Jack leise.
 

Das Physikbuch, das Aki bereits aus ihrer Tasche geholt hatte, wurde von Crow gepackt, knallte mit einem unschönen Geräusch gegen Jacks Kopf und fiel zu Boden.
 

„Sag mal, hast du sie noch alle?“ Der Blonde rieb sich die Stirn, pfefferte das Buch zurück gegen Crow, traf jedoch in seiner Rage nur dessen Arm, und stürmte die Treppe hinauf, wo er wütend in seinem Zimmer verschwand. Unterlegt wurde das Ganze mit einem lauten Knallen seiner Tür.
 

„Und wie läuft es ansonsten so?“, fragte Crow und reichte Aki das Buch zurück als sei nichts geschehen.
 

Im Grunde war es das auch nicht. Aki hatte sich inzwischen an Jack und seine Art gewöhnt, und sie wusste, dass er es nicht so verletzend meinte. Immerhin hatte er ihr ebenfalls mehr als einmal aus der Patsche geholfen. Sie musste ein wenig lächeln.
 

„Ganz gut“, antwortete sie. „Ich bin vielleicht in Physik nicht gerade die Beste, aber vor allem wenn es aufs Duellfeld geht, bin ich ziemlich gut.“
 

„War ja auch zu erwarten“, zwinkerte Crow. „Immerhin bist du ein Profi!“
 

„Ach, hör doch auf!“, lachte Aki und gab ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf.
 

Er lachte ebenfalls. „Du musst es denen richtig zeigen! Immerhin hast du von den Besten gelernt!“ Damit warf er sich in die Brust, denn er hatte sich selbst gemeint.
 

Doch bei Aki war der letzte Kommentar wohl etwas anders angekommen, denn ihr Blick wurde leer und abwesend. Crow merkte es und biss sich leicht auf die Unterlippe. Einen Moment wusste er nicht ganz, was er sagen sollte. Er hatte mit Aki nie viel zu tun gehabt. Sicher, sie hatten hin und wieder geredet, und sie waren Freunde. Sie verstanden sich gut und halfen sich wo sie konnten, aber von dem, was in ihrer Vergangenheit geschehen war, wusste Crow von allen am Wenigsten. Er hatte nie mit ihr darüber geredet, und wollte sie auch nicht dazu drängen. Wenn sie es ihm erzählen wollte, dann würde sie das tun. Wenn sie es nicht tat, dann war das auch in Ordnung. Schließlich war es auch nicht so wichtig, was ihr zugestoßen war und wie sie mit Yusei und den anderen Freundschaft geschlossen hatte. Die Hauptsache war, dass sie hier war.
 

„Hey… uhm… alles ok?“, fragte er nach einer Weile besorgt.
 

„Was? Ja! Ja, na klar“, antwortete Aki schnell, und sah ihn entschuldigend lächelnd an.
 

Einen Augenblick lang überlegte Crow, Aki zu fragen, worüber sie nachgedacht hatte. Vielleicht wollte sie ja gerne darüber reden? Aber zum Reden hatte sie Yusei, sie brauchte nicht ihn, Crow, dafür, dass… „Wo warst du gerade?“
 

Die Frage war ihm entwischt, bevor er sie hatte aufhalten können. Über sich selbst erschrocken schlug er schnell eine Hand auf den Mund. „Entschuldige Aki, das… das hätte ich nicht…“
 

Doch Aki lächelte nur weiter.
 

Ihr Blick wirkte anders, beinahe wehmütig. Aber vielleicht bildete Crow sich das auch bloß ein.
 

„Ist schon ok“, sagte sie. „Du kannst es ja nicht wissen.“
 

In diesem Moment spürte Crow eine Reaktion in sich, die er nicht erwartet hatte. Er wurde wütend. Nicht auf Aki, nicht auf sich selbst. Er war einfach wütend über die Tatsache, dass alle wussten, was sie durchgemacht hatte. Sogar Jack war dabei gewesen, als Yusei sie zur Vernunft gebracht hatte! Er allein hatte keine Ahnung von diesem Mädchen, und aus irgendeinem Grund machte ihn das unsagbar wütend.
 

Zuerst diese Frage, die ihm einfach so entwischt war, nun das… Crow fuhr sich mit einer Hand durch das struppige Haar. Er erkannte sich heute selbst nicht mehr.
 

Doch bevor er weiter darüber grübeln oder in noch mehr Fettnäpfchen treten konnte, öffnete sich die Badezimmertür und Yusei betrat den Raum.
 

„Wollen wir dann, Aki?“
 

Wie von einer Sprungfeder getrieben schnellte Aki vom Sofa hoch, ihr Buch in der Hand und der allzu bekannte rote Schimmer auf den Wangen, nickte, und folgte Yusei nach oben. Sie warf Crow noch nicht einmal mehr einen Blick zu.
 

Der zurückgelassene Junge stöhnte auf und drückte sich beide Hände aufs Gesicht sobald die beiden außer Hörweite waren. Was war nur mit ihm los in letzter Zeit? Warum beschäftigte ihn das alles so sehr?
 

Er hörte, wie sich oben eine Tür öffnete und setzte sich hastig wieder normal hin, bis er merkte, dass es nur Jack war, der anscheinend gewittert hatte, dass die Luft rein war.
 

„Ist sie weg?“
 

„Sie ist oben, mit Yusei zusammen.“
 

Wieder ein Schnauben von Jack.

Crow sah ihn zuerst belustigt an, rollte dann die Augen und schüttelte den Kopf. „Du könntest ruhig etwas netter zu ihr sein“, murmelte er, als Jack wieder seinen Platz eingenommen hatte.
 

Der Blonde prüfte seinen Tee, stellte verärgert fest, dass er kalt war, und knallte die Tasse wieder zurück auf den Tisch. Auf diese Art und Weise waren ihnen inzwischen bestimmt schon ein halbes dutzend Tassen flöten gegangen. Und selbstverständlich war es auch nicht Jack, der neuen Tee machte. Er würde jetzt hier sitzen und so lange warten, bis Yusei mit der Nachhilfe fertig war und seiner königlichen Hoheit einen neuen zubereiten würde. Das war ein Spiel, dass sie so ziemlich jeden Tag spielten, und Crow hatte nicht die geringste Ahnung wie Yusei das alles schon sein Leben lang aushielt. Jack als besten Freund zu haben musste damit vergleichbar sein, eine Prinzessin auf der Erbse als Herrin zu haben. „Prinzessin auf der Erbse“, das war allgemein mal ein guter Vergleich mit Jack. Crow speicherte sich den Gedanken mental ab, um ihn in irgendeiner späteren Auseinandersetzung Jack gegen den Kopf pfeffern zu können. Und die war bei den beiden nie fern.
 

„Sie hat hier schon genug Leute, die sie verhätscheln“, grummelte Jack auf Crows Frage hin.
 

„Ich versteh dich nicht.“ Crow schaute ihn an, sein Gesicht ungewöhnlich ernst. „Du magst sie doch auch, oder?“
 

Keine Antwort.
 

Doch Crow ahnte schon wie der Hase hier lief. Nach einem Augenblick Stille fragte er: „Ist es wegen Yusei?“
 

Jack wandte den Kopf ab.
 

Crow hätte jetzt lachen können. Er hätte Jack damit aufziehen können. Und normalerweise würde er die Gelegenheit nutzen. Doch er tat es nicht.
 

Einen Moment herrschte Schweigen zwischen den beiden, schwer und drückend. Dann murmelte Jack „Natürlich mag ich sie auch.“
 

Der Kleinere musste lächeln. Jack war eben doch nicht so unnahbar, wie er tat.
 

Den Rest der anderthalb Stunden sprachen sie kein Wort miteinander. Jeder hing seinen eigenen Gedanken und Überlegungen nach, bis schließlich oben Schritte zu vernehmen waren und eine Tür geöffnet wurde.
 

„Danke, Yusei. Ich denke, ich begreife es jetzt viel besser“, hörten sie Aki sagen. Er brachte sie noch die Treppe hinunter und zur Haustür. Er verabschiedete sie, fragte sie, ob sie wirklich ganz allein nach Haus gehen wolle, was sie bejahte, schließlich habe sogar der Regen aufgehört. Er gab ihr noch einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Dann wurde die Tür geschlossen und die Herren der Schöpfung waren wieder unter sich.
 

„Kein einziger Wutausbruch heute, ich bin beeindruckt“, sagte Jack wie zu sich selbst, jedoch laut genug, dass es alle im Raum hören konnten. Er tat so als würde er einen Schluck von seinem kalten Tee nehmen, sah dann angewidert in die Tasse und hielt sie Yusei hin. „Yusei, mach neuen Tee.“
 

Und ohne ein Widerwort nahm Yusei die Tasse und ging in die Küche um neuen Tee aufzusetzen.
 

Sie hörten ihn dort eine Weile herumfuhrwerkeln und Kannen und Tassen durch die Gegend schieben. Nach einem Augenblick kam er zurück und schaute ernst in die Runde. „Aki hat erzählt, dass es in der Stadt wieder Unruhen gibt.“
 

Seine beiden Freunde blickten auf.
 

„Was für Unruhen?“, fragte Crow besorgt.
 

„Ghost“, war Yuseis knappe, aber eindeutige Antwort.
 

Darauf herrschte Stille. Die bisher zumindest äußerlich halbwegs entspannte Atmosphäre der letzten Stunden war wie weggeblasen. Jeder wusste, was das hieß.
 

Sie hatten nicht mehr viel Zeit.
 

Die Ghosts trieben überall ihr Unwesen, terrorisierten die Menschen und verletzen Unschuldige. Ushio hatte bereits darunter leiden müssen, sowie einige andere Polizisten. Sie hatten sich diesen mysteriösen Gegnern schon einige Male gestellt. Doch wie besiegt man einen Feind, den man nicht sieht? Die Ghosts waren schließlich nicht einfach irgendeine Schlägerbande, die ein bisschen Unruhe stiftete. Sie waren Roboter, eindeutig gelenkt und befehligt von einem Fadenzieher, einer Person, die sie noch nicht gesehen hatten. Und um der Ghost-Plage Herr zu werden würden sie diesen Fadenzieher finden und ausschalten müssen.
 

Nur wie, das wusste noch nicht einmal Yusei, und die Freunde ahnten, dass es diese Frage war, die ihn in den letzten Tagen und Nächten wach hielt. Er saß stundenlang nur hier unten in der Werkstatt, schraubte an ihrem neuen Motor herum und ließ sich kaum dazu bewegen ins Bett zu gehen oder auch nur mal für ein paar Stunden die Augen zu schließen. Ihm war seine Anspannung deutlich anzusehen, auch wenn er versuchte, sie nicht zu zeigen, besonders wenn Aki oder die Zwillinge zu Besuch kamen. Doch die Augenringe ließen sich nicht verbergen.
 

Jack suchte Yuseis Blick, fand ihn, und sagte: „Yusei.“ Nichts weiter. Doch der Angesprochene lächelte nun leicht.
 

Crow wusste, dass Jack und Yusei sich näher standen als jeder andere hier. Er hatte es noch nie ganz nachvollziehen können. Das, was da eigentlich zwischen den beiden war. Sie waren beste Freunde, obwohl sie so gegensätzlich waren wie zwei Menschen nur sein konnten. Jack war laut, hitzköpfig, stur und egozentrisch. Yusei war still, besonnen, mitfühlend und uneigennützig.
 

Sie vertrauten sich blind, obwohl sie keinen Anlass dazu hatten.
 

Sie redeten so gut wie nie.
 

Aber ein einziger Blick von Yusei reichte aus, um den aufbrausenden Blonden zu beruhigen. Und wenn Jack Yusei ansah und seinen Namen sagte, so laut und selbstbewusst, dann war das wiederum genug um Yusei anzuspornen, zu ermutigen und zu bestärken wenn er keine Hoffnung mehr hatte.
 

Crow war nun schon sein ganzes Leben mit den beiden befreundet, aber ganz hatte er es nie begriffen.
 

„Ich bin mir sicher, dass wir das hinkriegen“, meinte Crow und grinste die beiden aufmunternd an. Yusei nickte, Jack ebenfalls.
 

Dann war ein Pfeifen aus der Küche zu hören und Yusei wuselte davon, um sich um den Tee zu kümmern. Jack lehnte sich zurück und lächelte nun ebenfalls.
 

Crow schüttelte den Kopf und seufzte.
 

Er war sich überhaupt nicht sicher, dass sie das „hinbekamen“. Und er wusste, dass es den andern beiden genauso ging.
 

*
 

Yusei war mitten in der Nacht aufgewacht, er hatte wohl einen Albtraum gehabt. Das war in letzter Zeit nichts Ungewöhnliches. Er saß unten auf dem Sofa und schraubte an irgendeiner kleinen Apparatur herum, schlaflos, rastlos.
 

Crow wollte sich eigentlich nur etwas zu Trinken holen oder einen nächtlichen Imbiss nehmen, als ihm der Schwarzhaarige auffiel, wie er dort saß. Die Augenringe tiefer und dunkler denn je, sein Blick starr auf die Arbeit gerichtet, die Bewegungen fahrig und ungeschickt. Schließlich warf er die kleine Maschine, die wahrscheinlich ein Teil des neuen Motors war, beiseite und legte das Gesicht in die Hände.
 

Crow wusste, dass er seinem Freund nicht helfen konnte. Er hatte es schon einige Male versucht, doch er merkte, dass es Yusei noch mehr zu schaffen machte wenn er dachte, er zöge andere in seine Probleme mit hinein. Er wollte, musste immer allein mit allem fertig werden. Leise seufzte der Junge mit dem struppigen orangefarbenen Haar, und wollte zurück in sein Bett schleichen, als er Jack bemerkte, der ebenfalls auf der höheren Etage stand und Yusei beobachtete.
 

In einem stummen Einvernehmen gingen beide die Treppe hinunter und setzten sich zu Yusei, der es stumm hinnahm.
 

„Hey“, machte Crow schließlich und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Mach dich nicht so fertig.“
 

Yusei nickte geistesabwesend, antwortete jedoch nicht, und schien auch nicht wirklich zuzuhören.
 

„Hast du mich gehört, Yusei? Du brauchst das nicht allein durchzustehen! Wir sind hier, bei dir! Und wir lassen dich nicht hängen“, versuchte Crow es erneut.
 

„Niemals“, fügte Jack entschlossen hinzu.
 

Nun sah Yusei doch auf. Er blickte zuerst in Crows, dann in Jacks Gesicht, dann wieder auf die Tischplatte. „Danke“, murmelte er schließlich, doch es klang bedrückt.
 

Jack lehnte sich ein wenig vor, um ihn besser ansehen zu können. „Yusei, was geht dir durch den Kopf?“
 

Zuerst sagte der Schwarzhaarige gar nichts. Es war nicht zu erkennen ob er seine Gedanken ordnete um zu antworten oder ob er die Frage einfach nicht wahrgenommen hatte.
 

Der Regen hatte wieder angefangen und trommelte auf das Dach der Werkstatt, die ihr Zuhause war. Der Wind sauste um die Ecken und säuselte in den Fensterrahmen. Die Nacht war dunkel und wolkenverhangen. Kein Mond erhellte die dunklen Ecken des großen Raumes, nur der kleine Bereich um das Sofa war durch eine Stehlampe erhellt, doch ihr Licht drang nicht weit und wurde schnell von den Schatten verschluckt. Die Schemen der Apparaturen, die überall verteilt herumstanden, wirkten in der Schwärze beängstigend, wie unerkennbare Gestalten, die um den Lichtkegel krochen.
 

„Ich weiß nicht, was ich tun soll“, sagte Yusei schließlich.
 

Seine Freunde wussten: wenn er so etwas zugab, dann musste es wirklich ernst sein.
 

„Sie sind einfach zu mächtig, und ich kann ihnen nichts entgegensetzen, nicht einmal mit eurer Hilfe“, fuhr er fort. „Sie sind zu viele.“
 

„Aber es gab in letzter Zeit viel weniger Angriffe als sonst! Vielleicht geben sie schon auf“, überlegte Crow.
 

Doch Jack schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist nur die Stille vor dem Sturm.“
 

Crow sah ihn finster an. „Fakt ist, dass wir momentan etwas Ruhe haben. Also können wir uns jetzt einen schönen handfesten Plan ausarbeiten, wie wir diese Ghost-Typen ein für allemal fertig machen können!“ Und mit diesen Worten schlug er seine Faust in die andere Handfläche.
 

„Und was für ein brillianter Plan schwebt dir da vor?“, fragte Jack mit zusammengezogenen Augenbrauen. Er verschränkte die Arme und sah Crow herausfordernd an.
 

„Momentan noch keiner, aber wenn Eure Majestät ausnahmsweise mal beim Nachdenken helfen würde, anstatt nur rumzusitzen und sich toll vorzukommen, dann-“
 

„Jungs“, unterbrach sie Yusei. „Das hat jetzt keinen Sinn. Überlegen wir lieber, was wir machen können.“
 

„Es gibt doch noch mehr D-Wheeler in der Stadt. Wir sollten uns alle zusammenschließen!“, schlug Crow vor.
 

„Zu gefährlich. Die meisten davon sind komplette Stümper und würden hochgejagt werden bevor sie ihren ersten Zug abgeschlossen haben“, raunzte Jack zurück.
 

„Aber jetzt wo der WRGP bald anfängt sind doch auch eine Menge Profis da, vielleicht können die uns helfen!“ Crow wandte sich nun an Yusei.
 

Doch der schien mit dem Plan, andere mit in die Sache hineinzuziehen, überhaupt nicht einverstanden und schüttelte den Kopf. „Wir können nicht jemanden anders vorschicken. Ich will nicht, dass so etwas wie die Sache mit Ushio noch mal passiert.“
 

„Aber Yusei…!“, begann Crow, merkte jedoch, dass es keinen Zweck hatte. Erstens war es schwer, Yusei von etwas abzubringen, was er sich erst einmal in den Kopf gesetzt hatte. Zweitens erinnerte er sich noch gut daran, wie schuldig er selbst sich gefühlt hatte, als Ushio ins Krankenhaus eingeliefert worden war, nur weil er sich nicht um die Angelegenheit hatte kümmern wollen. Er biss sich bei dem Gedanken auf die Unterlippe.
 

„Und die Arbeiten an dem Motor gehen auch nur schleppend voran…“, meinte Yusei schließlich mit einem Kopfnicken zu einer der dunklen, unheimlichen Gestalten ein paar Meter entfernt von ihnen. Er seufzte schwer und vergrub das Gesicht in den Händen. „Was wir jetzt brauchen, ist ein Wunder.“
 

Yusei hatte den Satz kaum beendet, da klopfte es an der Tür, so laut und plötzlich, dass Crow vor Schreck einen Satz machte und Yuseis Finger sich tief in Jacks Oberarm gruben.
 

Alle starrten die Tür an. Wer zum Henker würde mitten in der Nacht auf den Gedanken kommen, hier aufzukreuzen?? Es war frühestens um zwei, und draußen regnete es in Strömen!
 

Nachdem der erste Schock überwunden war, erhob sich Yusei und ging langsam auf die Tür zu. Langsamer als man es von ihm gewohnt war, auch ihm schien die Sache nicht geheuer. Ganz abgesehen davon hatte ein beklemmendes Gefühl von den Dreien Besitz ergriffen, eine Art Vorahnung, die vor allem Yusei einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagte. Doch er kam bei der Tür an, hielt für den Bruchteil einer Sekunde inne, überwand sich und zog sie mit einem Ruck auf.
 

Im ersten Moment war es unmöglich zu erkennen, was dort eigentlich stand. Es war dunkel, nass, und bewegte sich unnatürlich. Auch als es eintrat, langsam und keuchend, war kaum etwas zu erkennen.
 

„Gleich, halt noch einen Moment durch!“, hörten sie es sagen, und das mit Akis Stimme! Und endlich begriff Yusei. Aki stützte eine große Gestalt, wahrscheinlich einen Mann. Bestimmt war er verletzt! Sofort tat er einen Schritt auf sie zu, um Aki zu helfen. Doch der Mann, der anscheinend aus eigener Kraft nicht mehr gerade stehen konnte, knurrte ihn so furchteinflößend an, dass er zurückwich.
 

Die beiden traten ins Licht der Lampe, gefolgt von Yusei. Ein drohender Blick von Aki und Jack und Crow waren sofort vom Sofa hochgesprungen und sahen nun zu, wie Aki dem Unbekannten darauf half. Er war in einen schmuddeligen Mantel gekleidet, der überall zerschlissen und verdreckt war, sein Gesicht war von einer Kapuze verborgen, die er festhielt, damit sie ihm nicht vom Kopf rutschte.
 

Die drei Freunde beobachteten alles aus sicherer Entfernung.
 

Dass Aki einen verletzten Fremden auflas, und ihn hier her brachte, war zwar ungewöhnlich, aber nicht weiter erstaunlich. Die Bewohner des Poppo Time waren immer bereit, jemandem in Not zu helfen.
 

Doch eines verwunderte sie wirklich: Aki war völlig außer sich. Sie schien verstört, erfreut, völlig zerrüttet. Sie lief von links nach rechts um das Sofa herum, zog dem Unbekannten die ausgetretenen Schuhe aus, half ihm die Beine hochzulegen. Schließlich begann sie vorsichtig, ihm aus dem klatschnassen Mantel zu helfen, ungeachtet dessen, dass sie selbst bis auf die Knochen durchnässt war. Sie schob ihm den schmutzigen Stoff von den Schultern und zog ihm behutsam, beinahe zärtlich, die Kapuze vom Kopf, und legte den zerschlissenen Mantel beiseite. Als nächstes schnappte sie sich die Decke, die zusammengelegt über der Lehne hing, und breitete sie über dem Mann aus. Sie kniete sich neben das Sofa und legte eine Hand auf die Stirn des Fremden.
 

Spätestens jetzt war allen klar, dass Aki diesen Mann kennen musste, doch noch immer standen die Anderen völlig irritiert in ihrer Ecke, unsicher, ob sie eingreifen sollten.
 

Sie hörten Aki dem Unbekannten leise Worte zuflüstern, die er murmelnd erwiderte. Dann begannen ihre Schultern zu beben, sie verschränkte die Arme auf der Brust des anderen und vergrub das Gesicht darin. Er legte schwach eine Hand auf ihren Kopf. Von ihr war nur leises Schluchzen zu hören und ein einziges Wort zu verstehen:
 

„Divine…“

And Back Again

Hätte man Yusei spontan und ohne irgendeinen Zusammenhang einen Backstein in die Magengrube geschlagen hätte das wahrscheinlich ungefähr denselben Effekt gehabt.
 

Mit weit aufgerissenen Augen stand er da wie angewurzelt. Er konnte es nicht ganz begreifen. Halb glaubte er, er schliefe und habe nur wieder einen Albtraum. Er hatte diesen Mann sterben sehen. Um genau zu sein hatte er selbst ihn in die ewigen Jagdgründe befördert! Er hatte seine Schreie gehört, und dann…
 

Doch dort war er, und nun, da die Kapuze sein Gesicht nicht mehr verdeckte und nur noch einzelne Haarsträhnen ihm in die Augen fielen, erkannte er ihn wieder. Sein Gesicht war ausgezehrt und hager, die Wangen hohl und sein sonst glattes rost-braunes Haar war dunkel und struppig, doch er war es eindeutig. Die Narbe entstellte noch immer die rechte Seite seines Gesichtes. War er ein Schatten seines einst so eleganten Selbsts gewesen, als Yusei ihn das letzte Mal gesehen hatte, so war er jetzt nichts weiter als ein dunkler Abglanz davon.
 

Erinnerungen kamen in ihm hoch. Misstrauen. Immer schon war da dieses Misstrauen gewesen. Dann die Erfahrung, beinahe zu ertrinken. Die Angst, durch einen zehn Meter hohen Fall den Tod zu finden.
 

Yusei wurde speiübel bei dem Gedanken, und noch immer konnte er sich nicht rühren.
 

Auch Jack schien erschüttert.
 

Der Einzige, dem völlig schleierhaft war, was hier vor sich ging, war Crow. „Hey, was ist?“, fragte er ahnungslos in die unheimliche Stille, die sich ausgebreitet hatte. „Wie geht es ihm?“ Er wollte sich Aki nähern, doch sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu, der ihn erstarren ließ. Er hatte sie schon oft wütend, verletzt oder zornig gesehen. Doch dieser Blick war anders. Er war unheimlich. „Fass ihn nicht an!“, fauchte sie.
 

Crow hob beschwichtigend die Hände. „Ja, schon ok“, stammelte er. „Wer ist das, kennst du ihn?“, versuchte er es noch einmal, als er merkte, dass Jack und Yusei nichts sagen würden.
 

Doch Aki antwortete nicht. Sie kniete nur neben dem Sofa, die Augen fest auf das ausgemergelte Gesicht des Mannes gerichtet, als wolle sie den Rest ihres Lebens nichts anderes mehr ansehen.
 

Schließlich flüsterte sie erneut „Divine.“
 

Doch der Mann regte sich kaum, er schien unheimliche Schmerzen zu leiden, seine Miene war verzerrt.
 

Aki wollte sich über ihn beugen um mit ihm reden zu können, doch endlich fasste Yusei sich wieder, tat zwei schnelle Schritte vor, packte Aki bei den Schultern und riss sie zurück. Aki schrie erschrocken auf, wehrte sich gegen Yuseis Griff, doch dieser ließ sie nicht los. „Yusei, lass mich! Lass mich sofort los, oder ich werde…“
 

„Aki! Begreifst du denn nicht?!“ Er ging vor ihr in die Knie und zerrte sie zu sich herum, doch sie wandte das Gesicht von ihm ab, versuchte zurück zum Sofa zu kommen. „Er wollte dich umbringen!“
 

Nun war das erste Mal ein Geräusch von dem Verletzten zu hören. Zuerst klang es wie ein Husten, doch dann ergriff Yusei mit Schauern die Gewissheit, dass es ein Lachen war.
 

„Nein“, murmelte der Mann mit rauer Stimme. Er drehte langsam den Kopf, bis seine grünen Augen Yusei fanden. Ein kraftloses Grinsen lag auf seinen aufgesprungenen Lippen. „SIE wollte DICH umbringen.“
 

Yusei schnellte hoch und wollte auf ihn losstürmen, doch Aki hielt sein Bein fest, und so wäre er beinahe gestürzt, hätte er sich nicht auf dem Tisch abgestützt. Jack und Crow eilten ihm zu Hilfe.
 

„Aki, lass mich los!“, rief Yusei.
 

„Nein!“, schrie sie zurück.
 

Auch als Crow versuchte, sie so sanft wie möglich von Yusei loszubekommen, sie krallte sich nur noch fester. „Tu ihm nichts!“, flehte sie, ihre Stimme inzwischen heiser. „Bitte, tu ihm nichts!“
 

Und Yusei gab auf. Er wollte Aki nicht weh tun, würde sie aber anders nicht dazu bewegen können, ihn loszulassen. So atmete er tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. „Aki“, versuchte er es noch einmal. „Dieser Mann, er darf hier nicht sein! Er… er hat…“
 

Doch auf einmal war auch Aki wieder auf den Beinen. „Es ist mir egal! Verstehst du das nicht?!“
 

Schwer atmend stand sie vor dem Schwarzhaarigen. Jack und Crow starrten die beiden entgeistert an.
 

„Das hab ich dir doch schon mal erzählt! Es ist mir egal!“ Im nächsten Augenblick liefen Tränen über ihre Wangen und sie wischte sie hastig weg. „Wieso darf ich das nicht… wieso?“, schluchzte sie leise.
 

Spätestens nun, da Aki weinte, war Yusei wieder halbwegs Herr seiner selbst. Er legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Und ich habe gesagt, dass ich dich nicht verurteilen werde, Aki.“
 

„Aber wieso darf ich dann nicht glücklich darüber sein, dass er noch lebt??“
 

„Wieso bringst du ihn überhaupt hier her??“, polterte nun Jack dazwischen. „Dieser Kerl, er hat beinahe Yusei umgebracht, und er hat…“, doch weiter kam er nicht.
 

„Wo soll er denn sonst hin?“, rief Aki verzweifelt. „Ich kann ihn nicht mit zu mir nach Hause nehmen, auch wenn ich das würde! Und ins Krankenhaus kann ich ihn auch nicht bringen, die würden ihn doch erkennen…“ Sie schaute beiseite. Noch immer zitterte sie.
 

Yusei seufzte schwer und entkräftet, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. „Ist schon gut, Aki. Zieh dich erstmal um. Nimm dir ruhig was von meinen Sachen.“ Er deutete hoch zu seinem Zimmer.
 

Doch Aki bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle. Sie stand zwischen Yusei und dem Verletzten, nicht bereit, den Weg zu räumen.
 

„Wir werden ihm nichts tun, Aki“, versuchte Yusei, sie zu beschwichtigen.
 

Misstrauisch sah sie ihn an. Der Blick war ungewohnt. Yusei hatte ihn lange nicht mehr bei Aki gesehen.
 

Crow tat einen Schritt vor. „Ich werd ihn davon abhalten. Ehrenwort.“
 

Aki warf ihm einen kurzen Blick zu, dann wieder Yusei, dann einen langen zurück zu dem Mann auf dem Sofa, dann wieder Yusei. „Ich warne dich“, zischte sie. „Wenn ich wiederkomme und ihm ist auch nur ein Haar gekrümmt...!“ Damit stürmte sie die Treppe hinauf.
 

Einen Augenblick war es ruhig, nur der Regen war zu hören, der auf das Dach und gegen die Fensterscheiben trommelte.
 

„Ooookay“, brach Crow schließlich die Stille. „Ich hab absolut keinen Plan was hier eigentlich läuft. Könntet ihr es mir freundlicherweise erklären?“
 

Jack schnaubte.
 

Yusei war sich nicht sicher, ob er wütend, verängstigt oder komplett verrückt war. „Das ist Divine“, antwortete er schließlich als sei damit alles geklärt.
 

„Aha, Divine. Soweit sogut.“ Crow nickte. „…Und wer IST das…?“, setzte er schließlich nach, als keine weitere Reaktion folgte.
 

Keine Antwort.
 

Genervt seufzte Crow und warf einen Blick auf den Mann, den Yusei und Aki Divine nannten und um den so ein Theater gemacht wurde. Er sah ziemlich harmlos aus. Ein armer Hund, verletzt, abgemagert, frierend, müde. Er glaubte kaum, dass an dem Kerl noch ein ungekrümmtes Haar übrig war. Crow legte den Kopf schief. Er sah beim besten Willen nicht, warum seinetwegen so ein Tumult herrschte. Ohne sich wieder zu Yusei umzuwenden forderte er: „Jetzt sagt mir endlich was los ist.“
 

Yusei zögerte einen Moment. „Er… war einmal der Anführer des Arcadia Movements. Das ist eine Bewegung bestehend aus Psychic Duelists, so wie Aki einer ist. Sie hat wohl eine Weile bei ihm gelebt.“ Doch weiter kam er nicht, denn schon kam Aki die Treppe wieder hinuntergestolpert, in einen von Yuseis alten Trainingsanzügen gekleidet, und war sofort wieder an der Seite des Mannes namens Divine.
 

Yusei wollte etwas sagen, überlegte es sich dann jedoch anders und sagte: „Er kann heute Nacht hier bleiben. Morgen bereden wir, was weiter geschieht.“
 

„Danke, Yusei.“ Ein dankbares Lächeln erschien kurz auf Akis Gesicht, doch es hielt nicht lang.

Jack schnappte sich Yusei beim Arm und zerrte ihn grob zur Seite.
 

„Ist das dein Ernst?“, knurrte er leise, aber deshalb nicht weniger bedrohlich.
 

Yusei sah ihn nicht an. Er schien mit seiner Entscheidung selbst alles andere als zufrieden. „Wir haben keine andere Wahl. Wir können uns ihm nicht mal auf einen Meter nähern ohne dass Aki uns an die Gurgel gehen würde. Ich verstehe einfach nicht warum, aber er schient ihr noch immer viel zu bedeuten.“ Er hielt kurz inne und biss sich auf die Unterlippe. „Wie dem auch sei, er ist momentan so oder so zu geschwächt um einem von uns zu schaden. Sieh ihn dir doch an.“ Er deutete mit einer vagen Geste Richtung Sofa. „Er kann kaum gerade stehen. Er muss wirklich schwer verletzt sein.“
 

„Aber vielleicht tut er nur so!“, grummelte Jack trotzig.
 

Yusei warf ihm nur mit gehobenen Augenbrauen einen Blick zu. Der Blonde schüttelte den Kopf. „Also ich werde heute Nacht jedenfalls meine Tür abschließen“, murmelte er.
 

„Du kannst gern heute Nacht hier unten schlafen und Wache halten“, schlug Yusei vor.
 

Jack schaute kurz zu Aki hinüber, nickte dann grimmig, ließ sich in einen Sessel fallen, der nicht fern vom Sofa stand, und machte es sich dort so gut es ging gemütlich.
 

Crow schaute zwischen Yusei und Aki hin und her, meinte schließlich: „Na gut, ich… geh dann mal nach oben“ und verzog sich schleunigst aus der Schusslinie.
 

Yusei sagte kein Wort, doch Aki wusste, dass er sie beobachtete. „Du musst auch ins Bett. Ich bring dich nach Hause.“
 

„Nein.“
 

„Und was ist mit deinen Eltern?“
 

„Die hab ich schon angerufen und gesagt, dass ich heute bei euch übernachte.“
 

Yusei atmete tief aus. „Du kannst hier aber nicht bleiben.“
 

Doch Aki hatte es sich schon am Fußende des Sofas bequem gemacht und kuschelte sich gegen die Rückenlehne, das Gesicht abgewandt.
 

„Aki.“
 

Doch sie reagierte nicht, tat so, als ob sie bereits schliefe.
 

„Du weißt, dass das nicht geht.“
 

Ein kaum merkliches Zittern lief durch Akis Körper.
 

Yusei betrachtete Divine noch eine ganze Weile von der oberen Ebene der Treppe aus bevor er ebenfalls ins Bett ging, doch er schien bereits eingeschlafen zu sein. Er war wohl wirklich ziemlich entkräftet gewesen.
 

„Da ist er nicht der Einzige“, dachte Yusei und konnte ein Gähnen nicht unterdrücken.
 

*
 

Der nächste Morgen begann mit einem fahlen Sonnenaufgang und einem mehr schlecht als recht zusammengestümperten Kaffee von Yusei. Jack ließ es sich nicht nehmen, sich lauthals über eben jenen zu beschweren, bis Crow ihm mit einem Schlag auf den Hinterkopf zuzischte, er solle gefälligst seine hochwohlgeborene Riesenklappe halten wenn er nicht wollte, dass Aki aufwachte, die noch immer am Fußende des Sofas zusammengerollt wie eine Katze lag. Alle wussten, dass er eigentlich ihren neuen Besucher nicht wecken wollte, immerhin hatten sie einiges zu besprechen. Aber selbst wenn Jack vor Frustration begonnen hätte mit einem Presslufthammer die Innenausstattung des Poppo Time auseinanderzunehmen, es hätte Divine wahrscheinlich nicht mal ein Gähnen entlockt. Er schlief tief und fest wie ein Stein.
 

„Seine Verletzungen müssen schlimmer sein, als ich gedacht habe“, murmelte Yusei nachdem die drei sich in die Küche zurückgezogen hatten.
 

„Ich verstehe immer noch nicht, warum dein Kaffee heute Morgen so eine widerliche Brühe ist!“, maulte Jack.
 

„Himmelherrgott, Jack!“, fauchte Crow. „Reiß dich zusammen!“
 

„Ich kann mich nicht konzentrieren ohne vernünftigen Kaffee.“ Jack verschränkte die Arme und blickte den Kleineren herausfordernd von oben herab an.
 

„Es war meine Schuld, ich habe heute früh nicht aufgepasst“, schritt Yusei ein, bevor es zu einer handfesten Zankerei zwischen den beiden Hitzköpfen kam. „Ich habe diese Nacht nicht gut geschlafen.“
 

Das ließ die beiden Streithähne ihre Meinungsverschiedenheit vergessen und aufblicken.
 

„Wieso?“, fragte Jack.
 

Einen Moment schwieg Yusei, schien mit sich zu hadern. „Ich hab schlecht geträumt“, war schließlich seine knappe Antwort, und es war deutlich, dass er nicht mehr dazu sagen würde. Seine Freunde spürten es und merkten, dass es sinnlos war, weiter auf ihn einzureden.
 

„Es gibt viel Wichtigeres zu besprechen“, kündigte der Schwarzhaarige schließlich an und nickte mit dem Kopf zurück Richtung Wohnzimmer.
 

„Du meinst unseren ungebetenen Gast?“, schnaubte Jack.
 

„Sobald Aki mich auf Armeslänge an ihn heranlässt, werde ich ihm sein Deck abnehmen. Das sollte ihm fürs erste die Krallen stutzen.“ Yusei setzte sich auf den Küchentisch und starrte nachdenklich den Kühlschrank an.
 

„Wieso sein Deck?“, fragte Crow verständnislos. „Er ist auch ein Psychic Duelist? Genau wie Aki?“ Dann erinnerte er sich an das, was Yusei ihm in der vergangenen Nacht erzählt hatte. Eine Bewegung voller Psychics...
 

Jack zeigte keine Reaktion, Yusei jedoch nickte. „Ja, und ein verdammt Starker noch dazu. Seinetwegen hätte ich einmal beinahe das Zeitliche gesegnet.“
 

Crow weitete die Augen. „Deshalb also der ganze Aufriss!“
 

Doch Yusei starrte nur weiter auf die Tischplatte. „Es ist vor allem wegen Aki.“
 

Einen Moment wartete Crow und hoffte darauf, dass Yusei von sich aus weitersprechen würde, doch vergeblich. „Nun komm schon, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!“
 

Yusei zögerte. „Er hat eine größere Macht über sie als du dir vorstellen kannst.“
 

„Was denn für eine Macht? Ich begreif gar nichts mehr!“ Langsam spürte Crow wieder diese Wut darüber in sich aufsteigen, dass offensichtlich absolut jeder hier mehr über Aki wusste als er, und dass er nicht wusste wer dieser fremde Mann namens Divine war, der diesen ganzen Trubel verursachte, machte die Sache nicht besser. Doch Yusei schien nicht Willens zu sein, ihm weitere Auskunft zu geben. Auch Jack schwieg. Beide schienen sich einig zu sein, Crow nichts von dem zu erzählen was geschehen war. Innerlich verfluchte er die beiden und ihre telepathisch anmutende Form der Kommunikation. Langsam platzte dem Jungen der Kragen. „Jetzt hört mal, entweder ihr erzählt mir, was hier los ist, oder-“
 

„Crow! Das lässt sich nicht erklären“, unterbrach ihn Jack mit einem Blick auf Yusei. Dieser schien mit den Gedanken weit entfernt zu sein und reagierte kaum, nicht einmal als Crow ihm gegen die Schulter boxte. „Yusei, ich will es wissen. Was geht hier vor sich.“
 

Schweigen.
 

„Ich kann nicht mit euch entscheiden was mit ihm geschieht wenn ich keine Ahnung habe, was er getan hat um euer Misstrauen zu verdienen!“
 

Noch immer keine Reaktion.
 

Crow knirschte mit den Zähnen. Er war es so verdammt Leid dieses Spielchen mit Yusei und Jack zu spielen. War es nicht schon immer so gewesen, dass wenn die beiden etwas wussten, von dem er keine Ahnung hatte, dass sie sich immer nur angeschwiegen hatten, bis er aufgab, danach zu fragen?
 

Endlich erhob Yusei die Stimme. „Er wollte mich umbringen, er hat Lua in Gefahr gebracht, er ist für das verantwortlich was mit Carly geschehen ist, er ist definitiv kein guter Einfluss für Aki, denn er lügt wo er geht und steht. Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen.“ Yusei sah ihn ernst an.
 

Mit gehobenen Augenbrauen schaute Crow auf den sitzenden Yusei hinab. „Mann, das ist eine ganz schöne Liste. Was macht der Kerl dann in unserem Haus, wenn er so gemeingefährlich ist?“
 

Yuseis Miene verdüsterte sich.
 

„Izayoi hätte uns gelyncht wenn wir versucht hätten, ihn rauszuwerfen“, brummte Jack.
 

Crow zuckte mit den Schultern. „Scheint ja bisher auch nichts weiter Schlimmes passiert zu sein. Was ist also das Problem? Solange er keine Karten hat mit denen er uns gefährden kann und zudem noch verletzt ist, sollte er keine Bedrohung für uns darstellen. Wir behalten ihn ein-zwei Tage hier, und dann kann er wieder für sich alleine sorgen.“
 

„Und dann raus mit ihm!“, knurrte Jack.
 

„Nein!“
 

Die Stimme ertönte so plötzlich von der Tür, dass die drei vor Schreck zusammenfuhren. Es war Aki, die leise die Küchentür geöffnet, hineingespäht und ihr Gespräch belauscht hatte. „Er ist schwer verletzt, er hat einen gebrochenen Arm, und seinem rechten Bein geht es auch schlecht! Er würde es allein nicht schaffen!“ Damit betrat sie die Küche und warf einen anklagenden Blick in die Runde.
 

„Wieso bringen wir ihn nicht einfach ins Krankenhaus?“, fragte Crow mit einem Schulterzucken.
 

„Das wird nicht möglich sein, fürchte ich...“ Aki biss sich auf die Unterlippe. „Wenn die Security das Spitz kriegt, dass er hier ist... die würden ihn sicher liebend gern in die Finger kriegen...“
 

„Na wunderbar, gesucht ist unser Gast wider Willen nun auch noch!“ Crow fuhr sich durch das struppige Haar und sah Aki verzweifelt an.
 

„Kann man wohl sagen“, hörte er Jack hinter sich raunen. „Deshalb sollten wir ihn umso schneller loswerden.“
 

„Kommt nicht in Frage!“, rief Aki. „Er bleibt solang bis seine Verletzungen geheilt sind!“
 

Für einen Moment wirkte der Blickkontakt zwischen Jack und Aki, als liefe jeder der in ihre Sichtlinie kam Gefahr, einen Stromschlag zu erleiden. Doch dann stieß sich Jack von der Wand ab an der er bis eben gelehnt hatte. „Wenn du gerne willst, dass er uns alle im Schlaf erdrosselt, bitte sehr!“, knurrte er sie bedrohlich an.
 

„Wie denn, mit nur einem Arm?!“, erwiderte sie schnippisch.
 

„Ich verstehe nicht, wieso du dich überhaupt noch so für ihn einsetzt, nach allem, was er dir angeta-“
 

Doch weiter kam Jack nicht, denn Aki hatte bereits ausgeholt und ihm eine schallende Ohrfeige verpasst. „Wage es nicht so über ihn zu sprechen! Du weißt gar nichts über das, was er alles für mich getan hat!“
 

„Ich weiß, dass er für Carlys Tod verantwortlich ist!“, polterte Jack.
 

„Leute, Leute! Beruhigt euch!“, schritt Crow ein und wäre fast von Jack und Aki gleichzeitig in die Mangel genommen worden, hätte er sich nicht gerade rechtzeitig weggeduckt.
 

Jack trat einen Schritt zurück und schaute einen Moment wütend auf Aki hinab, die ebenso missbilligend zu ihm hinaufstarrte. Dann wandte er sich ab. „Was auch immer ihr hier besprecht, meine Antwort bleibt „Nein“. Ich geh raus und pass darauf auf dass Izayois psychopathischer Ex-Lover nicht unser halbes Haus in Schutt und Asche legt während wir gemütlich in der Küche sitzen und Schwätzchen halten.“ Damit verließ er den Raum und knallte die Tür zu.
 

„Ich werd bald wieder neue Scharniere einsetzen müssen wenn das so weitergeht...“, grummelte Crow.
 

Aki war mittlerweile purpurrot angelaufen und vor Wut traten ihr Tränen in die Augen.
 

Mit einem Seufzen lehnte sich Crow gegen den Kühlschrank.
 

„Er hat es nicht so gemeint“, sagte Yusei und schaute zu Aki auf.
 

Diese blinzelte hastig die Tränen weg. „Mir doch egal.“ Sie fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. „Ich bleibe dabei, er muss hier bleiben. Ansonsten unterschreibt ihr sein Todesurteil.“
 

Yusei wäre beinahe entfahren, dass er das schon einmal getan hatte, doch davon wusste Aki nichts und das sollte auch so bleiben.
 

„Ich bin dagegen“, meinte er schließlich nüchtern. „Crow?“
 

Der Junge blickte überrascht auf. „Was, ich? Ich hab doch immer noch nicht den blassesten Schimmer was hier eigentlich... ach was soll's. Mir ist es egal. Er scheint mit einem gebrochenen Arm und ohne Karten relativ wehrlos zu sein. Wenn Aki unbedingt möchte, dass er ein paar Tage hier bleibt, von mir aus.“
 

Daraufhin geschah etwas, womit Crow nicht gerechnet hatte. Jedenfalls nicht direkt. Das Mädchen wandte sich zu ihm um und schenkte ihm ein strahlendes, dankbares Lächeln. „Danke, Crow!“
 

„Keine Ursache“, murmelte er kleinlaut, während er spürte, dass er rot anlief.
 

„Das heißt es steht zwei gegen zwei. Unentschieden“, fasste Yusei zusammen.
 

In dem Moment hörten sie von draußen Stimmen. Eine kurze Weile schien Unruhe zu herrschen, dann wieder Stille, schließlich öffnete sich langsam die Küchentür. Es waren die Zwillinge, die zu Besuch gekommen waren um Yusei bei der Arbeit zuzusehen. Leise zwängten sie sich in die mittlerweile überfüllte kleine Küche. Kaum hatte Luka die Tür geschlossen, schoss ihr Zwillingsbruder schon los. „Das, das da draußen, das ist ja...!“ Dabei deutete er mit großen Augen und den Armen wedelnd auf die Tür zur Werkstatt. „Das ist ja der Onkel!“
 

Luka schaute ihn halb verängstigt, halb verständnislos an. „Du nennst ihn immer noch so?“ Lua nickte eifrig. „Na klar, der Onkel! So hat er sich bei unserem Duell immer genannt!“
 

Yusei beobachtete die Zwillinge. Wirkte Luka noch eingeschüchtert, zweifellos durch ihre Begegnung mit Divine vor einiger Zeit, so zeigte Lua nicht die geringste Furcht. Das war erstaunlich, war doch er es gewesen, den Divine damals getestet und den er in Gefahr gebracht hatte.
 

„Der Onkel scheint verletzt zu sein“, bemerkte der Junge besorgt.
 

„Lua, du scheinst keine Angst vor ihm zu haben“, stellte Yusei fest.
 

Der Kleine sah zu ihm auf und schüttelte vehement den Kopf. „Er hat mir geholfen!“
 

Luka sah ihren Zwillingsbruder immer noch verunsichert an. Ihr schien seine Ansicht der Dinge nicht zu gefallen.
 

„Wie hat er dir geholfen?“, hakte Yusei nach.
 

Lua hielt kurz inne und sah zu Boden. „Naja, ich... wollte doch mal unbedingt ein Signer sein. Und er wollte mir dabei helfen, den Signer in mir zum Vorschein zu bringen!“
 

Nun erhob Luka die Stimme, was für sie äußerst ungewöhnlich war. „Nein, das wollte er nicht! Hast du es denn immer noch nicht begriffen? Er wollte nur testen, ob du Kräfte wie Aki hast!“
 

Lua ließ die Schultern hängen. „Aber er hat mir wirklich geholfen. Wenn er sich nicht mit mir duelliert hätte und mir nicht gezeigt hätte, wie hart ein Duell wirklich sein kann, hätte ich den Kampf gegen Demak damals nicht überstanden.“ Er ballte die Hände zu Fäusten und schaute wieder entschlossen zu Yusei auf. „Egal ob er mir helfen wollte oder nicht, er hat mir geholfen! Mir ist in unserem Duell einiges klar geworden! Und dafür bin ich ihm dankbar!“
 

Eine unangenehme Stille folgte dieser jegliche Logik entbehrenden, aber erstaunlich ehrlichen und einfachen Aussage. Luka starrte ihren Bruder erstaunt an. „So denkst du wirklich?“, fragte sie kleinlaut.
 

„Ja“, war seine knappe und beherzte Antwort.
 

Aki, die Lua nur mit großen Augen zugehört hatte, tat nun einen Schritt auf ihn zu. „Weißt du, Lua, es geht darum... der Onkel ist sehr schwer verletzt, und ohne unsere Hilfe wird er da draußen nicht lang überleben. Was meinst du, sollen wir ihn hierbehalten bis er wieder gesund ist?“
 

Yusei schaute Aki finster an. „Wieso ziehst du die Kleinen da mit hinein?“, murmelte er, doch Lua war schon in die Luft gesprungen. „Hierbehalten!“, rief er.
 

Aki warf Yusei einen triumphierenden Blick zu. „Drei zu zwei.“
 

„Das zählt nicht“, erwiderte Yusei ein wenig trotzig.
 

„Natürlich zähle ich!“, mokierte sich Lua aufgeregt. „Ich bin zwar kein Signer, aber ich hab auch eine Stimme!“
 

Yusei seufzte leise und beinahe entnervt. „Na gut. Luka, was meinst du?“
 

Das Mädchen sah unsicher zu ihrem Bruder, dann zu Aki, dann zu Yusei. „Ich... ich weiß auch nicht...“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“
 

„Sie enthält sich also“, schritt Aki schnell ein. „Das heißt, wir haben zwei Stimmen dagegen, drei Stimmen dafür, und eine Enthaltung.“ Sie klatschte in die Hände. „Das Ergebnis scheint ziemlich eindeutig zu sein.“ Und mit einem Lächeln strich sie Lua über den Kopf und verließ den Raum mit federnden Schritten.
 

„Schwesterchen Aki scheint ja ganz hin und weg zu sein“, murmelte der Junge und schaute ihr feixend nach.
 

„Tja, Yusei... Sieht so aus als hätte Aki Recht“, meinte Crow vorsichtig und legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter.
 

Einem plötzlichen Impuls folgend schlug Yusei sie weg.
 

Erstaunt sah Crow ihn an. Einen Moment Schweigen.
 

„Tut mir Leid, Crow.“ Yusei blickte ihn entschuldigend an. „Ich... bin einfach nicht begeistert von der Idee ihn hier zu haben.“
 

„Hey, mach dir keinen solchen Kopf. Momentan ist er nur ein Invalide, der wird uns schon nichts tun.“ Crow grinste ihn aufmunternd an und verließ die Küche ebenfalls, gefolgt von Luka und Lua.
 

„Wenn du wüsstest...“, murmelte Yusei und folgte den anderen.

Out Of Reach

Die folgenden zwei Tage vergingen nur langsam und schleppend. Yusei war angespannter denn je. Jeden Moment erwartete er, einen Schrei zu hören, eine Explosion oder sonst etwas. Jedes Geräusch, jedes Türknallen, jeder herunterfallende Schraubenschlüssel, ließ ihn heftig zusammenfahren. Wenn er für ein paar Stunden außer Haus musste und widerwillig Jack die Aufgabe erteilte, Divine nicht aus den Augen zu lassen, erwartete er jedes Mal aufs Neue das Haus bei seiner Rückkehr verwüstet wiederzufinden.
 

Doch nichts dergleichen geschah. Divine war nur hin und wieder bei Bewusstsein, und selbst dann sah er nicht klar und war nicht ansprechbar. Es reichte gerade so aus, dass man ihm etwas zu Trinken einflößen konnte. Diese Aufgabe übernahm normalerweise Aki, die zu Jacks größtem Missfallen in letzter Zeit täglich mehrere Stunden zu Besuch kam, und wenn sie nicht konnte, tat es Crow.
 

Wenn es nach ihr ginge, säße sie Tag und Nacht an Divines Seite, sie hatte sogar vorgeschlagen, die Schule zu schwänzen, um auf ihn aufpassen zu können, was Yusei jedoch vehement abgelehnt hatte. „Bist du denn nicht froh, wieder auf die Schule gehen zu können? Wirf diese Möglichkeit doch nicht einfach weg!“, hatte er sie zurechtgewiesen und sie ihn daraufhin zwei Stunden lang keines Blickes gewürdigt, bis Crow es endlich geschafft hatte, sie zur Tür zu komplimentierten und dazu zu bewegen, endlich nach Hause zu gehen und in einem vernünftigen Bett Schlaf zu finden.
 

Bei anderen war an Schlaf nicht zu denken. Jack war reizbar und mürrisch, was jedoch nichts Neues war, aber vor allem Yusei schien in letzter Zeit missmutiger und aufgebrachter. Unruhig streifte er durchs Haus, die müden Augen immer starr auf das Sofa gerichtet, auf dem Divine regungslos schlief, wie ein Kaninchen das einen Fuchs zu Besuch in seinem Bau hatte.
 

Mehrmals musste Crow ihn anweisen, sich doch wenigstens hinzusetzen während er aß und nicht immer in Hab-Acht-Stellung mitten im Raum zu stehen, als müsste er jederzeit damit rechnen, jemandem das Leben retten zu müssen. Sogar Jack knurrte ihn hin und wieder an, wenn er seinen Hintern nicht schleunigst ins Bett beförderte, würde er es tun.
 

Auch wenn Luka und Lua zu Besuch kamen wurde es nicht besser. Eher im Gegenteil, er schien zusätzlich sprunghaft und gestresst. „Die Kleinen können sich nicht wehren, wenn es darauf ankommt!“, murmelte er nervös, seine Augen immer wieder zurück zum Sofa flatternd.
 

„So ein Quatsch, die könnten auf seinem Bauch Hula tanzen und das wär ihm völlig Schnurz! Jetzt krieg dich ein und iss dein Frühstück!“, versuchte Crow ihn zu beruhigen. Immerhin hatte er es geschafft, alles was er an Wunden an Divine gefunden hatte halbwegs zu reinigen und desinfizieren, ohne, dass er wieder zu Bewusstsein gekommen war.
 

„Was ist, wenn er aufwacht, wenn ich nicht dabei bin?“, murmelte Yusei geistesabwesend.
 

„Dann wird er sich umgucken, sich fragen wo er ist, feststellen dass ihm sein Arm verdammt noch mal weh tut und er nicht aufstehen kann, weil er sich was am Bein getan hat. Daraus wird er schlussfolgern, dass er auf dem Sofa liegen bleiben muss, bis sich was tut. Klingt logisch, oder?“
 

Doch Yusei antwortete nicht. Angespannt starrte er Löcher in die Luft und scharrte mit der Gabel in seinem Rührei herum ohne hinzusehen.
 

„Yusei“, brummte Jack schließlich genervt.
 

Yusei hielt inne.
 

„Hör auf, dich verrückt zu machen.“
 

Yusei nickte.
 

Jack nickte ebenfalls.
 

Doch es schien nicht viel gebracht zu haben, denn zwei Minuten später war wieder das unangenehme Quietschen von Gabel auf Porzellan zu vernehmen während Yusei verkrampft das Besteck auf dem Teller hin und her schob.
 

Das ging ungefähr eine Minute so weiter, bis Jack so schnell aufsprang, dass sein Stuhl nach hinten umflog, und mit der flachen Hand auf die Tischplatte knallte. „Jetzt hör aber auf!“
 

Erschrocken zuckte Yusei zusammen und sah ihn das erste Mal seit Stunden direkt an, anstatt nur leer in die Luft zu starren.
 

Jack starrte wütend zurück, diesmal war es Yusei, der nachgab und zu Boden sah. „Tut mir leid“, murmelte er. „Ich sollte mich vermutlich noch ein bisschen hinlegen, ich fühl mich müde.“
 

„Gute Idee“, meinte Crow und Jack nickte zustimmend. Sie beide waren beruhigt, dass Yusei es von selbst vorschlug. Sie hatten ihn die letzten beiden Nächte unter Todesstrafe dazu zwingen müssen, sich ins Bett zu legen. Dass er es von selbst tun wollte, fassten die Freunde als gutes Zeichen auf. Und so war seit einer Weile das erste Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen, als sie den schwarzhaarigen Jungen dabei beobachteten, wie er sein Geschirr in die Spüle räumte und die Küche verließ.
 

„Siehst du, langsam wird es wieder“, meinte Crow zuversichtlich.
 

Jack hatte kaum Zeit, seinen Stuhl wieder richtig hinzustellen, da hörten sie schon wie Yusei sie von der Werkstatt aus rief. Eilig standen sie auf und hasteten ihm hinterher, der eine beinahe über den anderen stolpernd. Sie betraten die große Garage und erblickten Yusei, der dem Sofa gegenüberstand, auf dem ein halb aufgerichteter, grimmig aussehender und ganz offensichtlich höchst wacher Divine lag. Das Gesicht ihres Freundes konnten sie nicht erkennen, da er ihnen den Rücken zu gewandt hatte.
 

Dann hörten sie wieder diese Stimme, rau und heiser, als leide ihr Besitzer allein schon beim Sprechen Qualen. „Wo bin ich?“, knurrte er leise, doch bestens verständlich.
 

Jack und Crow eilten Yusei zur Seite. Seine Miene wirkte wie eingefroren, eisig und kalt. „Ich an deiner Stelle wäre sehr vorsichtig, was ich sage.“ Auch Yuseis Stimme war gefährlich leise. Crow hatte ihn noch nie so reden gehört.
 

Divine schnaubte, und krümmte sich zusammen. „Du bist Yusei Fudo, nicht wahr? Wir haben uns schon einmal gesehen, beim Fortune Cup.“
 

Yusei schaute ihn überrascht an, begriff dann jedoch. Natürlich, Divine musste nachdem Mistys Jibakushin besiegt worden war wie alle anderen, die der Earthbound Immortal auf dem Gewissen hatte, wieder zurückgekehrt sein. Daher erinnerte sich Divine nicht mehr an ihre Begegnung in dem verfallen Vergnügungspark, und dementsprechend auch nicht daran, dass er, Yusei, für seinen vermeintlichen Tod verantwortlich war. Jeder, der von einem Jibakushin getötet worden und durch dessen Vernichtung wieder zurückgebracht worden war, hatte sein Gedächtnis an alles, was mit den Dark Signers zusammenhing, verloren. Das kam Yusei nur zupass, denn es wäre sicher nicht vorteilhaft gewesen, wäre sich Divine all dessen bewusst gewesen.
 

„Ja“, antwortete er also schlicht.
 

Divine schaute ihn an. Seine grünen Augen waren so kalt und hasserfüllt wie eh und je. „Ich wüsste nicht, was ich bei dir zu suchen habe“, knurrte er mit etwas, das sein Gesicht unnatürlich verzerrte und mit viel Fantasie als Grinsen beschrieben werden konnte.
 

„Du solltest dankbar sein!“, mischte sich nun auch Crow ein. „Mit diesen Verletzungen wärst du da draußen krepiert! Wenn Aki dich nicht hierher gebracht und darauf bestanden hätte, das-“
 

„Aki. Wo ist sie?!“, unterbrach Divine ihn leise und scharf.
 

Yusei warf Crow einen kurzen, missbilligenden Blick zu. Zerknirscht trat der Kleinere einen Schritt zurück. „Nicht hier. Das ist alles, was dich im Moment interessieren sollte“, erwiderte Yusei kühl.
 

Divine lachte düster. „Ich habe keine Ahnung was hier vor sich geht, aber da ich momentan nicht in der Lage bin, mich zu bewegen, bin ich dir wohl hilflos ausgeliefert, Yusei Fudo.“
 

Yusei war überrascht über diese erstaunlich nüchterne Zusammenfassung seiner Lage. Divine schien keine Angst zu haben. Er schien es auch nicht leugnen zu wollen, dass er im Falle einer Auseinandersetzung völlig wehrlos war. Er sah nur ruhig zu ihm auf, sein Grinsen war zu einem geringschätzigen Lächeln geworden. Selbst jetzt, wie er dort lag, sein Haar noch immer verschmutzt und struppig, sein Gesicht hager, er selbst verwundet und beinahe völlig bewegungsunfähig, selbst jetzt strahlte er noch dieses beunruhigende Selbstbewusstsein aus. Er sah Yusei an, mit diesen Augen die ihm bereits mehrmals den Tod versprochen hatten, und es war als würden sie etwas in dem Schwarzhaarigen berühren, als würden sie in ihn hineinsehen, und durch ihn hindurch.
 

Yusei schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf um das unangenehme Gefühl loszuwerden. Er musste sich jetzt konzentrieren und durfte keinen Millimeter nachgeben. „So ist es“, nickte er und verschränkte die Arme.
 

„Und wieso habt ihr mich hier her gebracht? Doch wohl nicht nur weil Aki euch darum gebeten hat. Ihr kennt sie doch kaum.“
 

Anscheinend erinnerte sich Divine ab dem Punkt seines ersten Todes beim Fall des Arcadia Movements an nichts mehr. Yusei hielt es für das Beste, den Großteil der Informationen, die ihm so verloren gegangen waren für sich zu behalten, aber dass Divine nicht wusste wie lange Aki nun schon an Yuseis Seite kämpfte war problematisch.
 

„Doch, das tun wir. Du bist eine Weile fort gewesen, in dieser Zeit hat sich einiges verändert“, erklärte er knapp.
 

Divine verengte die Augen. Er schien zu begreifen, was Yusei sagte. Es musste auch ihm aufgefallen sein, dass in seinem Gedächtnis ein nicht unwesentlicher Teil fehlte. Einen Moment schien er nachzudenken, dann nickte er. „Ich habe noch einige Fragen an dich, aber gehe davon aus, dass du mir so oder so nicht zu verraten gedenkst, was ich wissen möchte.“
 

Yusei nickte. „Gib mir deine Karten.“
 

Divine lächelte so zuvorkommend wie es ihm in seiner momentanen Lage möglich war. „Ich verstehe, ihr habt Angst, dass ich euch trotz meiner Verletzungen schaden könnte.“ Sein Blick wurde verbissen als er Yusei wieder ansah. „Ich möchte nur, dass du dir einer Sache bewusst bist. Wenn es mir nicht gerade völlig unmöglich wäre, mich zur Wehr zu setzen, würdest du meine Karten nicht mal mit dem kleinen Finger berühren dürfen.“
 

„Schon klar, jetzt hör auf große Reden zu schwingen und rück dein Deck raus!“, raunzte Jack ihn an.
 

Widerwillig griff Divine mit seiner gesunden Hand tief in eine seiner Manteltaschen, zog sein Deck heraus und überreichte es Yusei. Dieser nahm es entgegen und ließ es schnellstmöglich in einer seiner Deckboxen am Gürtel verschwinden. „Das waren alle?“, fragte er misstrauisch.
 

„Würde ich dich hintergehen...?“, erwiderte Divine süffisant.
 

Yuseis Antwort war ein Schnauben, er wandte sich kurz ab um das Deck noch einmal hervorzuholen und auf Vollständigkeit durchzuzählen. Er schien zufrieden und nickte den beiden Freunden zu.
 

Crow beobachtete die ganze Szenerie erstaunt. Dieser Mann, dieser Divine... Noch nie hatte Crow so jemanden gesehen. Einen Menschen, der selbst in einer solchen Lage, der Lage seinen Feinden absolut wehrlos ausgeliefert zu sein, so einen kühlen Kopf bewahrte und trotz all seiner Verletzungen so unbeugsam und gelassen wirkte...
 

„Mach den Mund zu“, murmelte Jack ihm verärgert zu.
 

Crow gehorchte und schluckte. Er ahnte jetzt, was Yusei gemeint hatte als er sagte, Divine habe eine große Macht über Aki. Der Junge mit dem orangefarbenen Haar konnte sich gut vorstellen, dass dieser Mann, erst recht wenn er gesund und im Vollbesitz seiner Kräfte war, sehr charismatisch und einnehmend wirkte.
 

Einige Augenblicke herrschte völlige Stille im Raum, nicht einmal der Regen, der in den letzten Tagen nicht aufgehört hatte, in Strömen vom Himmel zu gießen, war mehr zu hören. Divine und Yusei starrten sich an. Ihre Lage war festgefahren. Divine würde keine Informationen mehr aus Yusei herausbekommen, Yusei würde Divine nicht dazu kriegen, klein bei zu geben.
 

Und als der Mann sich ein wenig regte, spürte Crow wie sich jeder Muskel in ihm anspannte, um sich notfalls verteidigen zu können, als rechnete er doch noch tief in seinem Inneren damit, dass Divine seine Verletzungen nur vorgegeben hatte um sie in Sicherheit zu wiegen.
 

Doch er versuchte nicht, ihn anzugreifen. Viel mehr schlang er seinen gesunden Arm um seine Seite, verzog das Gesicht vor Schmerz und fiel zurück aufs Sofa. Er stöhnte leise.
 

Die Anspannung fiel von Crow ab. Dieser Mann würde ihnen nichts tun können. Er hatte die Wahrheit gesagt. Offensichtlich log er doch nicht wo er ging und stand, wie Yusei behauptet hatte.
 

Crow legte den Kopf schief und fragte kleinlaut: „Hast du Hunger?“
 

Divine öffnete die Augen ein wenig und sah zu Crow herüber. Er schien misstrauisch. Doch ihm fiel wohl auf, hätten die Freunde ihm etwas antun wollen, hätten sie schon längst die Möglichkeit dazu gehabt. Er nickte leicht. „Ja. Sehr.“
 

Crow warf Yusei einen kurzen Blick zu. „Ich... geh ihm kurz was holen, ja?“
 

Keine Reaktion. Weder von Yusei noch von Jack. Beide blieben stocksteif stehen und starrten Divine an als könne er sich jeden Moment in ein menschenfressendes Monster verwandeln.
 

Vor allem Yuseis Blick schien ungewohnt. Er wirkte so verachtungsvoll...
 

Schaudernd wandte Crow sich ab und lief Richtung Küche, um ihrem „Gast“ etwas zu Essen zu besorgen.
 

Er kam jedoch nicht dazu, denn schon öffnete sich die Tür und herein kam Aki. Sie blieb beim Anblick des wachen Divine einen Augenblick lang wie angewurzelt stehen, dann jedoch lief sie die Treppe hinunter, zum Sofa, und fiel davor auf die Knie. „Divine!“, sagte sie leise, ein Schluchzen unterdrückend. „Divine, ich bin so froh, dass es dir besser geht!“
 

Aki benahm sich wirklich merkwürdig um diesen Mann.
 

Aber noch merkwürdiger war das Lächeln, dass jetzt auf seinem Gesicht zu sehen war. Es war nicht mehr im Geringsten herablassend oder spöttisch. Es wirkte... sanft.
 

Er hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt und drückte sie leicht. Er öffnete den Mund um etwas zu erwidern, doch schon war Yusei zur Stelle, schnappte sich Aki, zog sie auf die Beine und weg von Divine. „Wage es ja nicht!“, knurrte er den Älteren an.
 

„Yusei, was soll das?!“, fragte Aki gereizt.
 

Divines Augen waren verengt, er hätte gefährlich gewirkt, wäre er in der Lage gewesen, etwas zu unternehmen. Doch auch so war es genug um Yusei einen kalten Schauer den Rücken hinab zu jagen. Seine Kehle schnürte sich zu. Aki wehrte sich noch immer gegen seinen Griff, doch er ließ sie nicht los.
 

„Wage es nicht ihr wieder deine Lügengeschichten einzuflößen!“ Yusei funkelte Divine wütend an. „Du willst sie nur wieder für deine Zwecke missbrauchen.“
 

Dieser zog die Augenbrauen zusammen. Seit er hier war hatte er noch nie so verächtlich ausgesehen. „Was weißt du schon von mir und meinen Zwecken? Was weiß jemand wie du schon davon, was Aki und mich verbindet.“
 

„Belogen hast du sie!“, erwiderte der Kleinere aufgebracht.
 

„Yusei!“, rief Aki zornig.
 

Doch Divines Blick war ruhig und kalt als er antwortete: „Nein.“
 

Dieses eine Wort war so simpel und klar, dass Yusei für einen Augenblick die Worte fehlten. Wäre er nicht der festen Überzeugung gewesen, dass Divine nicht die Wahrheit sagte, er hätte es ihm geglaubt. Ihm fiel daraufhin keine Entgegnung ein, die nicht wieder ein simpler Vorwurf gewesen wäre, und davon wollte er sich eigentlich distanzieren.
 

„Und wenn du mich jetzt bitte entschuldigst, ich würde gerne Aki begrüßen“, fuhr Divine ungerührt fort.
 

Das Mädchen entglitt Yuseis Griff und war sofort wieder an der Seite des Älteren. „Ich dachte du wärst...“, flüsterte sie leise.
 

„Keine Angst“, murmelte er beruhigend. „Ich kann mich zwar nicht rühren, aber ich lebe. Vorerst.“ Bei dem letzten Wort warf er Yusei einen Blick zu.
 

Dieser biss fest die Zähne aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten.
 

„Hast du schon was gegessen?“, fragte Aki besorgt.
 

Da fiel Crow wieder ein, was er eigentlich vorgehabt hatte. „Ich hol ihm grad was!“, verkündete er, verschwand endlich in der Küche, kehrte wieder mit einer Tasse Cup Ramen und einer Kanne heißen Wassers, die er auf die Ramen gab. „Hier, in drei Minuten sind sie fertig.“
 

„Sind das MEINE Ramen...?“, fragte Jack düster.
 

Aki warf ihm einen kurzen vernichtenden Blick zu, der ihn verstummen ließ.
 

Divine bedankte sich bei Crow und nahm die warme Tasse in die Hand. „Ist es möglich, dass ich für einen Moment mit Aki unter vier Augen spreche? Wir haben uns viel zu erzählen“, fragte er betont arglos.
 

„Nein, ganz sicher nicht. Wenn es nach mir ginge würde ich sie keine zwei Meter an dich heranlassen.“
 

„Das lass ich nicht zu!“, protestierte Aki.
 

„Dann werde ich wohl dafür sorgen müssen, dass immer jemand auf euch beide aufpasst, wenn ihr unbedingt reden müsst“, entgegnete Yusei ärgerlich.
 

Aki schaute schmollend zu Divine hinüber, der versuchte etwas, das wie ein Schulterzucken aussah. „Wenn es nicht anders geht.“ Er lächelte Aki beruhigend an, und sofort schien sie sich zu entspannen.
 

Einen Moment standen sie alle da, gefangen in dieser skurrilen Szenerie, bis Divine nüchtern bemerkte: „Die Ramen sind wohl durch“ und begann zu essen. Sehr schnell. Er musste wirklich großen Hunger haben.
 

Yusei ergriff die Gunst der Stunde und nahm Aki beim Arm. „Komm mit, wir müssen reden.“
 

Sie sah Divine an, da dieser gerade kaute, nickte er nur leicht. Nur äußerst widerwillig entfernte sie sich von ihm, immer wieder Blicke zu ihm werfend. Yusei zog sie mit sich in die Küche, rief Jack und Crow zu sie sollten ja auf ihren Gast achtgeben, und schloss die Tür. Aki stand hinter ihm, gegen den Küchentisch gelehnt, Yusei hatte ihr den Rücken zugewandt.
 

„Ist dir klar, was du da tust?“, fragte er, auf einmal wieder erstaunlich ruhig.
 

Er sah Aki nicht, daher konnte er nur davon ausgehen, dass sie auf seinen Rücken starrte. Doch sie schwieg. „Hast du auch nur die leiseste Ahnung, wie gefährlich dieser Mann ist?“, fragte er.
 

„Für dich vielleicht!“, erwiderte sie schnippisch.
 

Yusei seufzte.
 

„...Entschuldige“, murmelte Aki nach einem Augenblick. „Aber... aber versteh doch, er bedeutet mir nun mal sehr viel!“
 

„Das mag ja alles sein, aber er könnte jeden von uns jederzeit angreifen! Und was er mit dir anstellen könnte, davon will ich gar nicht erst anfangen.“
 

„Was soll er denn anstellen? Ich verstehe nicht was du meinst! Er hat mir nie auch nur ein Haar gekrümmt!“ Aki wurde aufgebracht. „Er hat mir nie weh getan, er war immer nett zu mir. Verstehst du, was das bedeutet? Er war der einzige Mensch, der mich damals akzeptiert hat wie ich war!“
 

„Aber... aber er hat...“
 

„Was? Mich benutzt? Das kümmert mich nicht. Wieso sollte es auch? Die Gründe, warum er mich akzeptiert und mir ein Zuhause gegeben hat sind mir egal. Dass er es getan hat, das ist mir wichtig. Und wie er es getan hat. Er war absolut immer für mich da, er hatte immer ein offenes Ohr für mich, hat mich getröstet und... und er hat mich geliebt. Und solang er mich geliebt hat... war mir alles andere egal.“
 

Yusei hörte, dass Akis Stimme wieder belegt klang. Zweifelsohne durchlebte sie gerade wieder alte Erinnerungen, die sie am liebsten vergessen würde.
 

„Er hat dir sehr wohl etwas angetan“, meinte Yusei schließlich.
 

„Ach ja, und das wäre?“ Akis Stimme überschlug sich nun fast.
 

„Erinnerst du dich an den Tag, an dem du dich gegen Misty duelliert hast?“, fragte Yusei. Er war noch immer der Tür zugewandt und senkte nun den Kopf.
 

„Ja“, antwortete Aki, zögerte dann jedoch. „Das heißt... nicht so richtig. Irgendwie... fehlt da etwas.“
 

„Genau. Du erinnerst dich sicher, dass Divine zurückgekehrt ist.“
 

„Ja, ich wäre fast gestürzt und von einer riesigen Spiegelscherbe durchbohrt worden, doch Divine hat mich gerettet. Danach kann ich mich jedoch nur noch an wenig erinnern.“
 

„Er hat dir eine Gehirnwäsche verpasst, Aki. Er hat die Black Rose Witch in dir wieder zum Vorschein gebracht, damit du gegen Misty kämpfst.“ Damit drehte er sich um und sah Aki ins Gesicht. Sie starrte regungslos zurück, brauchte einen Moment, um sich wieder zu fassen. „Deshalb erinnere ich mich an kaum etwas...“, murmelte sie.
 

„Reicht dir das immer noch nicht, um zu begreifen, dass er nichts Gutes im Schilde führt?“, fragte Yusei ernst.
 

Doch Aki hob nur eine Augenbraue. „Genau genommen hat er mir damit geholfen, denn ich habe mich nicht getraut, gegen Misty zu kämpfen. Außerdem meintest du doch, du willst mich nicht verurteilen.“
 

Yusei biss sich kurz und wütend auf die Unterlippe. „Das ist richtig. Ich habe damals gesagt, dass ich nicht das Recht habe, dich für irgendetwas zu verurteilen. Aber damals wusste ich auch noch nicht, zu was Divine fähig ist!“
 

„Du kennst ihn doch gar nicht!“, entgegnete Aki. „Und trotzdem hattest du schon immer etwas gegen ihn.“
 

„Verständlicherweise, das einzige Mal, dass wir uns lang genug gesehen haben um Namen auszutauschen, habe ich mich in der nächsten Sekunde in einem Käfig voller Wasser wiedergefunden!“ Yusei versuchte, sich zurückzuhalten, doch die Erinnerung kam wieder in ihm hoch und schnürte ihm die Luft ab. „Verurteilen hin oder her, dieser Mann ist ein Monster!“
 

Doch das war etwas, das Yusei nicht hätte sagen dürfen, und es wurde ihm selbst einen Augenblick später klar.
 

Aki bebte am ganzen Körper vor Zorn. „Wie kannst du es wagen so etwas zu ihm zu sagen?!“, zischte sie. „Wie kannst du es wagen einen Menschen Monster zu nennen!“
 

„Sei doch vernünftig!“, versuchte Yusei sie zu beruhigen.
 

„Was ist damals eigentlich mit Divine passiert, wo wir gerade davon sprechen? Er hat mir eine Gehirnwäsche verpasst, schön und gut. Aber als meine Erinnerung wieder einsetzt, war er bereits weg und du da.“ Das Mädchen verbreitete eine unheimliche Atmosphäre. Ihre Haarsträhnen wehten im Luftzug einer nicht vorhandenen Brise.
 

Yusei schluckte. Dieser Blick war ihm nur zu bekannt, auch wenn er ihn seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Und er behagte ihm ganz und gar nicht. „Lass uns ein andermal darüber reden, Aki.“
 

„Oh nein, Yusei. Wir reden JETZT darüber. WAS ist damals passiert...? Komm schon, sag es mir! Hast du Divine umgebracht?“
 

Yusei wollte einen Schritt zurückweichen, denn Aki wirkte auf einmal viel größer als sonst, und ihre Augen glühten in einem Licht, das ihm nicht geheuer war. „Du hast keine Ahnung, was er für schreckliche Dinge gesagt hat!“, antwortete er schnell. „Er hat behauptet, du seist sein Eigentum! Er hat gesagt, du gehörst ihm!“
 

Doch Aki ließ nicht mir sich reden. „Hat er das also, Yusei. Und das ist genug, um ihn umzubringen?“
 

„Ich hab ihn nicht umgebracht, es war Mistys Jibakushin! Ich habe nur dafür gesorgt, dass Misty hört, wie er zugibt, dass er ihren kleinen Bruder Toby getötet hat! Er hat Toby getötet Aki, nicht du! Deshalb war Misty überhaupt hinter dir her!“
 

„Du hast ihn verraten!“, grollte Aki, der es inzwischen völlig egal zu sein schien, was Yusei eigentlich sagte.
 

„Ich hatte Angst! Angst um mein Leben, und vor allem Angst um dich! Wenn du dich gesehen hättest, was er mit dir angestellt hat!“
 

Das Mädchen war so außer sich vor Wut, dass sie über Yuseis Worte nicht mehr nachdachte.
 

„Aber er ist doch wieder da! Er ist wieder da, Aki!“
 

„Ja, und das willst du mir nun auch noch nehmen!“, zürnte sie.
 

„Aki, hör doch mir zu! Er wollte mich umbringen!“
 

„Dazu hätte ich momentan auch nicht schlecht Lust!“
 

Yusei presste seinen Rücken gegen die Tür. Es war genau das, was er befürchtet hatte. Aki verfiel wieder in ihre alten Muster zurück, sobald Divine da war. Und es reichte nur ein einziger Satz von ihm und sie würde wieder zu der gnadenlosen Tötungsmaschine werden, der Yusei bereits einmal die Ehre hatte, gegenüberzutreten.
 

„Divine hat versucht dich umzubringen, du hingegen bist für seinen Tod verantwortlich. Im Grunde seid ihr quitt, du und Divine. Nein, eigentlich schuldest du ihm sogar etwas!“, knurrte Aki mit einem breiten, verzerrten Grinsen auf den Lippen.
 

„Aki, beruhig dich doch“, versuchte es Yusei noch einmal, doch Aki dachte nicht daran, seiner Bitte Folge zu leisten.
 

In diesem Moment öffnete sich zu seiner großen Erleichterung die Tür hinter ihm und er wäre beinahe rückwärts aus dem Raum gestolpert, wenn dort nicht Jack gestanden und ihn aufgefangen hätte. „Was geht hier vor?“, fragte er laut.
 

Aki verengte die Augen und starrte Yusei weiter mit diesem unheimlichen Blick an. Sie sagte kein Wort, sondern rauschte nur an ihm vorbei, zurück zu Divine, um von dort aus damit fortzufahren, ihn mit finsteren Blicken zu taxieren.
 

„Was ist denn mit Izayoi los?“, fragte Jack verwirrt.
 

Yusei schaute zu Aki hinüber.
 

„Ich bleibe heute Nacht hier“, verkündete diese, und wandte den anderen den Rücken zu.
 

„Hat sie dir was getan?“, murmelte Jack, der sehr wohl wusste, wozu Aki fähig war.
 

„Nein, aber sie war kurz davor...“, erwiderte Yusei leise. „Je schneller wir diese Divine-Geschichte abgehakt haben desto besser...“

In Need Of Sleep That Doesn't Come

Er stand in der Küche, Aki ihm gegenüber. In seinem Rücken die Tür, doch sie war abgeschlossen. Kein Ausweg, nirgendwo hin. Und vor ihm dieses Mädchen, ihre Strähnen offen vor ihrem Gesicht, das von ihrer Maske verborgen wurde. Ihre Haarspange lag vergessen auf dem Fliesenboden. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, doch er wusste, dass sie lächelte.
 

„Wieso tust du das?“, fragte Yusei und versuchte, so sicher und selbstbewusst wie möglich dabei zu klingen, doch seine Stimme versagte beinahe.
 

Ihre gedämpfte Stimme drang an sein Ohr, sie klang als würde sie von überall gleichzeitig kommen. „Weil es mir Spaß macht.“
 

Der Boden unter seinen Füßen begann sich zu wellen, fühlte sich nun beinahe an wie Morast, weich und klebrig. Düsternis breitete sich in der Küche aus, die nun nicht länger eine Küche war, mit Aki in ihrem Zentrum. Furchteinflößend und gesichtslos stand sie da, im Kern der Schatten, eine Hand erhoben, eine Karte darin haltend.
 

Er hörte sie lachen, hörte, wie ihr Atem schwer und keuchend ging. Ihre Stimme war direkt neben seinem Ohr und doch schien sie weit entfernt wie durch einen langen Tunnel zu ihm durch zu dringen. Leise und schwach, laut und beängstigend zu gleich. Die Augen ihrer ausdruckslosen Maske leuchteten unheimlich und glühend rot wie eine Wunde aus der Schwärze, und die Karte in ihrer Hand verschwand.
 

Für einen Augenblick fühlte Yusei die Realisation greifen. Im Nächsten war es schon zu spät. Er spürte, wie sich dornige Ranken aus dem Boden unter ihm erhoben. Er wollte davonstolpern, doch er konnte sich nicht bewegen, und in seinem Rücken diese unnachgiebige Wand. Die Ranken krochen seine Beine hinauf, langsam, stetig, ihre Dornen zerfetzten den Stoff seiner Hose, schnitten in sein Fleisch. Und weiter krochen sie aufwärts, vorbei an seinen Knien, über seine Oberschenkel.
 

Yusei wollte schreien, doch er bekam keinen Ton heraus, und immer noch war da dieses Gelächter um ihn herum, überall und nirgendwo.
 

Eine Ranke wand sich zwischen seinen Beinen hindurch um seinen Unterkörper, behutsam genug um nicht den Stoff seiner Hose zu zerreißen. Dann, mit einem Ruck, schlang sie sich fest um ihn, sodass Blut hervor trat, den Stoff dunkel färbte und Yusei zum Schreien brachte.
 

Die Pflanzen rankten nun seinen Oberkörper hinauf, um ihn herum, sein Rückgrat entlang, fesselten seine Arme und hielten ihn fest. Die Schmerzen waren kaum noch erträglich, und endlich schaffte Yusei es, einen Ton hervorzubringen. Leise wimmerte er, doch zu mehr war er nicht imstande.
 

Und er merkte, wie Aki, oder vielmehr die Black Rose Witch, langsam auf ihn zu kam, die Augen der Maske gespenstisch leer und glühend. „Wie ich sehe findest du auch Gefallen daran.“ Bei ihren Worten zog sich die Ranke fester um seinen Unterkörper. Er stöhnte leise und hilflos. Sie lachte. Yusei versuchte sich gegen die Fesseln zu wehren, die sich nun auch um seinen Hals schlossen und ihm die Luft abzuschnüren begannen. Die Black Rose Witch hob eine Hand, und strich behutsam mit den Fingerspitzen über seine Wange. „Wieso hast du denn solche Angst...?“, flüsterte sie, und legte die andere Hand auf ihre Maske.
 

Eine der dornengespickten Ranken begann, langsam über sein Gesicht zu kriechen und hinterließ dabei eine Spur aus Blut auf seiner Wange. Yusei begriff. Sie hatte vor, zu seinem Mund zu gelangen um ihn zu erdrosseln. Er versuchte, die Lippen fest geschlossen zu halten. Doch die Pflanze war unerträglich stark und zwang langsam, Stück für Stück, seine Kiefer auseinander.
 

Die Hexe lachte leise, ergriff ihre Maske und zog sie sich vom Gesicht.
 

Mit einem Mal war es keine Frau mehr, und erst recht nicht Aki, die Yusei gegenüberstand.
 

Es war Divine.
 

Mit den Fingern liebkoste er weiterhin die Wange des Kleineren, ein sanftes, beinahe liebevolles Lächeln auf den Lippen. „Halt still, dann tut es nicht so weh“, raunte er leise.
 

Die Ranke zwängte sich tiefer und tiefer in Yuseis Mund und Rachen, das Atmen wurde schwerer. Er bekam kaum noch Luft, keuchte verzweifelt, würgte. Tränen stiegen in seine Augen, doch er konnte sie nicht schließen. Alles was er sah waren Divines furchterregende, raubtierartige grüne Augen, als sich die Dornen seinen Schlund hinabwanden.
 

Mit einem erstickten Schrei schreckte Yusei hoch, fand sich selbst schweißgebadet und zitternd vor Angst. Er atmete schnell und flach, fasste sich mit der Hand an den Hals wie um zu prüfen, dass dort wirklich keine Dornenranken mehr waren. Er fand nicht einen einzigen Kratzer.
 

Mit weit aufgerissenen Augen ließ er sich zurück aufs Bett fallen und starrte die Decke an, die Hand immer noch an seinem Hals. Das widerliche Gefühl des Erstickens und der Dornen tief in seinem Hals hatte ein unangenehmes Echo hinterlassen.
 

Sein Oberteil klebte noch immer an seinem Körper, seine Handflächen waren feucht und auf seiner Stirn stand der kalte Schweiß. Sein Atem ging unregelmäßig, seine Kehle fühlte sich trocken an.
 

Es war alles nur ein böser Traum gewesen.
 

Er hatte immer schon Schlafprobleme gehabt, vor allem bei Vollmond. Und nun kamen in letzter Zeit auch noch diese Albträume hinzu. Jedoch drehten sie sich bisher normalerweise um Ghost und die dunkle Bedrohung, die Yliaster darstellte, nicht um Aki oder Divine...
 

Er fuhr sich kräftig mit beiden Händen durch das unordentliche, verschwitzte Haar.
 

Als hätte er nicht schon genug Probleme. Nein, nun tauchte auch Divine hier auf und machte alles noch hundert Mal komplizierter als es ohnehin schon war.
 

Die altbekannte Unruhe hatte wieder Besitz von ihm ergriffen, und so richtete er sich auf, um zwei-drei Mal im Zimmer auf und ab zu laufen. Doch es half nichts.
 

Er seufzte und beschloss, sich im Bad ein wenig Wasser ins Gesicht zu werfen. Auf dem Weg dorthin begegnete er einem verschlafenen Crow, der sich seinen Bauch kratzte und fragte, ob mit ihm alles in Ordnung sei, er habe einen Schrei gehört. Yusei versicherte ihm, alles sei bestens und er solle schnell ins Bett zurück bevor er sich noch eine Erkältung holte, es sei kalt heute Nacht. Gähnend gehorchte Crow und verzog sich zurück in sein Zimmer.
 

Yusei lächelte, ging ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Er schaltete das Licht ein und wandte sich dem Waschbecken zu, drehte den Wasserhahn auf und ließ sich ein paar Tropfen eiskalten Wassers über die Handgelenke laufen. Dann formte er mit den Händen eine Schale, fing das Wasser auf und warf es sich ins Gesicht, das wiederholte er noch zwei Mal, dann drehte er den Hahn wieder zu.
 

Er fühlte sich schon um Längen besser, wie er zu seiner Erleichterung feststellte.
 

Damit griff er nach einem Handtuch, trocknete sich das Gesicht ab und blickte auf in den Spiegel.
 

Die bleiche Maske der Black Rose Witch starrte zurück, mit leeren, toten Augen. Für eine Sekunde konnte er nicht denken, nicht einmal atmen. Er stand einfach nur da, starrte das Wesen im Spiegel an. Dann schrie er.
 

Und erwachte erneut.
 

Er schnellte vom Bett hoch, hellwach, sein Herz hämmerte gegen seine Rippen. Vor seinen Augen flimmerte es in der Dunkelheit, er hörte sein Blut durch seine Adern rauschen. Ohne zu zögern verließ er das Zimmer, stürmte die Treppe hinab und ins Bad, wo er das Licht anschaltete und sein Spiegelbild anstarrte.
 

Sein Atem ging keuchend, er bekam kaum noch Luft, so stützte er sich auf dem Waschbecken ab. Sein Spiegelbild sah ihn an, blass, mit schreckgeweiteten Augen, übermüdet, verwirrt, panisch. Doch ansonsten normal.
 

Er hustete, keuchte, erbrach ins Becken. Als er fertig war, konnten seine Arme und Beine ihn nicht länger halten, er sackte auf den kalten, gefliesten Boden.
 

Nur ein Gedanke wirbelte in seinem Kopf herum, wieder und wieder... „Was geschieht nur mit mir...“
 

*
 

„Jack...?“
 

„Was?“
 

„Hilf mir mal.“
 

„Wieso, was ist?“
 

„Yusei liegt im Bad auf dem Boden.“
 

„WAS??“
 

Polternde Schritte.
 

„Es scheint ihm ziemlich dreckig zu gehen.“
 

„Himmel, ist das ein Gestank hier drin.“
 

„Er hat ins Waschbecken gekotzt.“
 

„Na super, und wer darf das alles wieder sauber machen?“
 

„Sicher nicht du, so wie ich dich kenne. Jetzt hör auf zu quengeln und hilf mir lieber.“
 

Hände, die ihn ergriffen und vom kalten Boden hoben, Schritte, dann etwas Weiches unter ihm. Er stöhnte.
 

„Ich glaub, er wacht auf.“
 

„Na super, dann kann er uns ja gleich mal erklären was der ganze Zirkus hier soll!“
 

Ein klatschendes Geräusch.
 

„Aua, bei dir piepts wohl!“
 

„Sei still, er macht die Augen auf.“
 

Yusei blinzelte in das Licht, seine Augen waren zugequollen und sein Kopf arbeitete nur langsam.
 

„Er ist ja ganz unterkühlt...“, hörte er die eine der beiden Stimmen sagen, dann fühlte er etwas Warmes und Weiches auf seinem Körper. Man hatte eine Decke über ihm ausgebreitet. „Crow...?“, nuschelte er müde.
 

„Ja Mann, ich bin hier! Alles klar bei dir?“
 

Yusei versuchte den Kopf zu schütteln, doch es schmerzte zu sehr und so machte er nur „Mh-mh...“
 

„Scheiße, was treibst du auch die ganze Nacht auf dem Badezimmerboden?“, fragte die andere Stimme.
 

„Jack?“, fragte Yusei.
 

Doch der schnaubte nur als Antwort.
 

„Du hast uns 'nen ganz schönen Schrecken eingejagt!“, meinte Crow. „Ich mach dir erstmal was zu Essen.“
 

„Divine...“, murmelte Yusei, er wollte sich aufsetzen, doch ihm war schwindelig und Jack drückte ihn zurück aufs Bett. „Auf den haben wir aufgepasst, wie jede Nacht“, brummte er.
 

Crow kam schon bald wieder, und gab Yusei geschälte Apfelstücke in die Hand, die er zum Mund führte und langsam und vorsichtig zu essen begann. „Mach sowas nicht nochmal, hörst du?“
 

Yusei kaute die Äpfel nur langsam, großen Hunger hatte er keinen. Im Gegenteil, ihm war übel. Als er fertig war, rollte er sich auf die Seite und kuschelte sich tief in die Decke.
 

„Ich will wissen, was passiert ist!“, maulte Jack missmutig.
 

„Du kannst dir doch denken, was passiert ist. Er muss im Bad zusammengebrochen sein.“
 

„Was ist, wenn Divine ihn angegriffen hat?“
 

„Ja na klar. Divine haut ihn ohnmächtig, steckt sich noch schnell den Finger in den Hals, kotzt das Waschbecken voll und verdünnisiert sich dann wieder. Ein teuflischer Plan.“
 

Jack grummelte etwas Unverständliches.
 

„Jetzt lass ihn erstmal schlafen“, murmelte Crow. „Er hat es dringend nötig.“
 

Und das war auch das Letzte, was Yusei von den beiden hörte, bevor er in einen tiefen, unruhigen Schlaf abdriftete.
 

*
 

Es war nicht so, dass Yusei es sich einfach vorgestellt hatte, mit Divine unter einem Dach zu leben. Oder dass er überhaupt eine Ahnung gehabt hatte, wie es war, einen seine erklärten Todfeinde immer im Blick haben zu müssen, vor allem, wenn die Wehrlosesten seiner Freunde es sich nicht nehmen ließen, sich ihm immer wieder zu nähern.
 

Während Divine den Bewohnern des Poppo Time relativ offensichtlich zeigte, was er von ihnen hielt, und das war nicht viel, schien er wenigstens Aki gegenüber nicht feindlich gesinnt. Weit schlimmer war es hingegen, dass Lua einfach nicht den Gedanken aufgeben wollte, dass man doch mit „dem Onkel“ ganz dringend einige Gespräche führen musste. Davon war Yusei nicht eben begeistert, und, was um einiges fataler war, Divine ebenfalls nicht.
 

Wenn er allein mit den Freunden war, schwieg er normalerweise, nahm dankend das Essen an, das Crow sich bereiterklärt hatte ihm zuzubereiten, redete jedoch ansonsten kein Wort mit ihnen. Jack hatte sich widerwillig von Aki dazu breitschlagen lassen, Divine Kleidung zu leihen, da er der Einzige war, der ungefähr seine Größe hatte. Inzwischen hatte ihr Gast sich soweit erholt, dass er kaum noch Hilfe brauchte, um ins Bad zu humpeln. Oder viel mehr: Er akzeptierte die Hilfe immer weniger. Er mochte sehr nüchtern festgestellt haben, dass er keine andere Wahl hatte, als seinen Gastgebern wider Willen zu gehorchen, sich von ihnen stützen zu lassen schien jedoch gegen seine Prinzipien zu verstoßen. Sehr zur Beruhigung der Freunde, die auch nicht eben heiß darauf waren, ihm allzu nahe zu kommen.
 

Kam Aki zu Besuch, und das tat sie wenn es ihr möglich war von früh morgens bis spät in der Nacht, war sie kaum von Divine wegzubekommen, und nach ihrem Streit mit Yusei auch nicht bereit, mit diesem zu reden.
 

Dieser schlich daher permanent unsicher um die beiden herum, in großen Kreisen, immer etwas in den rastlosen Händen, an dem er herumfummelte, und den schlaflosen Blick starr auf Divine gerichtet. Kam Jack einmal dazu um Yusei eine Hand auf die Schulter zu legen (was den Kleineren regelmäßig dazu brachte zusammenzuschrecken) und ihn aufzufordern, er solle sich gefälligst hinsetzen, dieses durch-die-Gegend-Gerenne mache ihn noch verrückt, war er kaum ansprechbar.
 

Zu allem Überfluss verschlechterte sich sein Zustand zusehends. Die Albträume schienen sich zu verschlimmern, seine Augen waren leer und glasig, sein Blick gehetzt und seine Bewegungen fahrig. Mit seinen tiefen Augenringen und den aufgesprungenen Lippen begann er, Divine immer ähnlicher zu sehen. Der hingegen hatte allmählich begonnen, wieder Farbe anzunehmen, auch wenn er immer noch furchtbar ausgemergelt war.
 

Wie ein Zombie stolperte Yusei durch die Räume des Hauses, murmelnd, hin und her blickend.
 

„So geht das nicht weiter“, murmelte Crow Jack zu. „Er wird uns noch umkippen.“
 

Jack antwortete nicht, sondern beobachtete nur weiterhin Yusei, der wieder einmal Patrouille um das Sofa schlurfte. Er verengte die Augen. Ihm vor allen anderen schien es zu missfallen, was Yusei sich mit diesem Stress antat. Crow wusste, dass Jack es nicht mit ansehen konnte, wenn er so neben der Spur war.
 

Doch auch nach zwei weiteren Tagen, die Divine nun bei Bewusstsein war, geschah nichts Außergewöhnliches. Nur ein Mal war Crow mitten in der Nacht auf dem Weg ins Bad im Flur über einen ohnmächtigen Yusei gestolpert, der dort allerdings ganz offensichtlich nicht durch Gewalteinfluss, sondern aus purer Übermüdung das Bewusstsein verloren hatte, wahrscheinlich auf dem Weg ins Bett.
 

Die Spannung fand ihren fulminanten Höhepunkt, als am dritten Tag unangemeldet Carly in der Tür der Garage stand und mit einem lauten „Jaaaaack!“ hineingestürmt kam. Dieser blickte von seiner Zeitschrift auf. „Hallo Carly.“
 

Es war eine der wenigen Stunden, die Aki noch in der Schule verbrachte, und Crow war außer Haus um Pakete auszuliefern, und so fand sie nur Yusei und Jack vor.
 

„Ich wollte fragen, ob du mir ein kleines Interview geben kannst, ich brauch ganz dringend noch eins wegen des WRGPs und sie wollten, dass ich einen der besten D-Wheeler interviewe und wen sollte ich dann befragen wenn nicht dich, schließlich bist du...“, begann sie aufgeregt zu schnattern, doch weiter sprach sie nicht. Sie hatte Divine auf dem Sofa erspäht und näherte sich ihm nun langsam. „Wen haben wir denn da? Einen verletzten Streuner, den ihr bei euch aufgenommen habt?“
 

„Carly, bleib da weg!“, knurrte Jack.
 

„Ach wieso denn, der schläft doch eh!“, lachte das Mädchen und hob ihre Kamera. „Ob der einen guten Zeitungsartikel abgibt?“
 

Doch Divine schlief keineswegs. Er wandte sich zu ihr um und stützte sich auf dem gesunden Arm auf, sein gebrochener befand sich inzwischen in einer von Crow provisorisch angefertigten Schlinge. „Ich muss dich leider enttäuschen, aber nein“, antwortete er auf ihre mehr oder weniger rhetorische Frage.
 

Als ihre Blicke sich trafen, erstarrten für einen Moment beide.
 

Yusei, der nicht fern war, beobachtete das Geschehen angespannt, ebenso Jack.
 

Weder Carly noch Divine schien sich an den jeweils anderen wirklich bewusst zu erinnern, doch da war etwas, und sie spürten es beide. „Carly...?“, murmelte Divine leise und ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. „Du bist also Carly.“
 

Alarmiert erhob sich Jack, doch Divine schüttelte den Kopf. „Keine Sorge, ich werde ihr nichts tun.“
 

Die Augen des Mädchens waren hinter ihren Brillengläsern geweitet. Auch sie hatte ihre Erinnerung an den gemeinsamen Vorfall verloren, und doch wusste sie, dass dieser Mann ihr etwas angetan hatte. „Jack...“, fragte sie leise ohne den Blick von Divines Augen zu wenden. „Ist das...“
 

„Ja“, antwortete Jack. „Jetzt geh da weg, Carly!“
 

Sie biss sich auf die Unterlippe und zögerte. „Nein... nein, ich will das jetzt wissen.“ Sie blieb stehen, stocksteif und regungslos. „Ihr habt mir nicht eben viel erzählt von dem was damals passiert ist. Ich habe ein Recht das zu erfahren.“ Und sie wollte es wirklich wissen. Ihr Blick war ungewöhnlich ernst, bestimmt. Sie sah Jack an. „Ich muss es erfahren.“
 

Jack biss sich auf die Unterlippe. Es ging in erster Linie um Dinge, die er am liebsten vergessen würde. Er fühlte sich immer noch verantwortlich für das, was mit Carly geschehen war. Er hatte sie weggeschickt, seinetwegen hatte sie sich in diese Gefahr begeben. Seinetwegen war sie...
 

Jack nickte.
 

Carly lächelte ihn dankbar an, wandte sich wieder zu Divine um. „Nach dem, was ich gehört habe, hast du mich umgebracht.“ Sie redete nicht lang um den heißen Brei herum. „Dafür hätte ich gern eine Erklärung“, setzte sie vorwurfsvoll hinzu.
 

Die Art wie Jack Divine anstarrte hätte jeden anderen Menschen vor Angst zusammenschrumpfen lassen.
 

Doch der Mann ignorierte ihn nur, lächelte sogar höflich. „So Leid es mir auch tut, ich kann mich genauso wenig daran erinnern wie du. Aber es muss einen wirklich guten Grund gehabt haben, wenn ich mich mit dir abgegeben habe.“ Er schien das Gespräch damit für beendet zu halten, denn er meinte „Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich schlafe in letzter Zeit nicht gut und bin sehr müde“, und drehte sich auf die andere Seite.
 

Mit ein paar großen Schritten war Jack bei Divine, packte ihn beim Kragen und zerrte ihn vom Sofa.
 

„Jack!“, rief Yusei erschrocken, doch der Blonde ließ sich nicht aufhalten.
 

„Du mieser Bastard hast ein wehrloses Mädchen umgebracht und mehr hast du dazu nicht zu sagen??“, herrschte er ihn an.
 

Divines Gesicht war schmerzverzerrt, doch er presste ein spöttisches Lachen hervor. „Ich habe also sie umgebracht. Ich glaube, das beruht auf Gegenseitigkeit.“ Er sah Jack direkt in die Augen. „So wie ich das sehe sind wir also quitt.“
 

Jack war sprachlos, und das war etwas, das dem Blonden weiß Gott nicht häufig widerfuhr. Entsetzt ob solcher Kaltschnäuzigkeit stand er da, und bevor Yusei oder Carly ihn davon abhalten konnten, hatte er seine geballte Faust mit voller Wucht in Divines Gesicht geschlagen. Er holte ein zweites Mal aus, doch Yusei hielt ihn fest. „Jack!“, rief er. „Jack, hör auf!“
 

Schwer atmend ließ der Ältere sich nur mit größter Mühe von seinem Freund aufhalten, Divine immer noch am Kragen gepackt haltend, dem nun ein schmales Rinnsal aus Blut aus dem Mundwinkel lief. Doch wenn ihn seine neue Wunde schmerzte, so zeigte er es nicht. Er lächelte nur weiterhin, seine Augen gefährlich hell. „Lass mich los.“ Seine Stimme war leise, kaum hörbar. Jack zögerte einen Moment, gehorchte dann jedoch. Divine hob eine leere Teetasse vom Tisch und spie Blut hinein. „Unter Gastfreundschaft verstehe ich aber etwas Anderes, meine Herren.“ Er setzte sich zurück aufs Sofa, Jack nicht aus den Augen lassend.
 

Yusei spürte wie sein bester Freund am ganzen Körper zitterte vor unterdrückter Wut. Doch da musste noch etwas anderes sein, Jack war nicht der Typ, der sich zurückhielt, wenn er das Bedürfnis hatte, jemanden zurechtzustutzen. Und als der Blick des Schwarzhaarigen von Jack zu Divine wanderte, ahnte er, wieso Jack nicht angriff. Divines Blick war furchteinflößend. Seine verengten, drohenden Augen sahen aus wie die eines in die Enge getriebenen Raubtiers, das, würde es angegriffen, absolut alles tun würde um sich zur Wehr zu setzen, selbst wenn es sich dabei selbst verletzte. Der Gedanke ließen ihn erschaudern.
 

Carly stand etwas abseits hinter Jack und beobachtete ihn erschrocken. Sie hatte offenbar nicht geahnt, wie sehr ihn das alles aufwühlen würde. „Leute... wenn er es auch nicht weiß, dann... naja, dann ist doch alles geklärt!“ Sie versuchte ein fröhliches Lächeln, doch es funktionierte nicht ganz. Sie sah immer noch erschrocken und irgendwie... traurig aus.
 

„Ich habe einen Vorschlag für dich, Carly“, erhob Divine nun wieder seine Stimme. „Wenn ich dir jemals etwas angetan haben sollte, dann kann ich mich nicht daran erinnern, und du dich umgekehrt ebenfalls nicht. Fakt ist, wie sind beide hier.“ Er wischte sich mit dem Handrücken über die noch immer blutverschmierten Lippen. „Halbwegs unbeschadet, aber auf jeden Fall am Leben. Da ich hier eine Weile lang nicht wegkommen werde und wahrscheinlich keiner hier darauf aus ist, dass wir uns tagein tagaus die Köpfe einschlagen, lass uns einfach so tun, als sei das Ganze nie passiert und reden nicht mehr darüber.“
 

Jack wollte protestieren, doch Yusei schüttelte schnell den Kopf. Dies war Carlys Entscheidung, nicht seine.
 

Diese schaute Divine abwägend an.
 

Er sah zurück. Auf einmal nicht mehr gefährlich, nicht mehr bedrohlich. Nur noch müde.
 

Sie nickte. „Gut.“
 

„Aber-“, begann Jack, wurde jedoch von Yusei unterbrochen.
 

„Gut, dann haben wir wenigstens ein Problem weniger. Jack, bist du damit einverstanden?“, sagte er hastig und blickte zu dem Größeren auf. Dieser war kurz davor, lautstark zu widersprechen. Doch als Yusei ihn ansah, mit diesen glasigen, leeren Augen, zögerte er, nickte schließlich. Er hatte nicht vor, dem Freund noch mehr Schwierigkeiten aufzuhalsen als er so schon hatte.
 

„Ich... sollte dann vielleicht besser gehen“, meinte Carly mit einem Seitenblick auf Yusei. Auch ihr musste aufgefallen sein, wie ausgezehrt er aussah. Außerdem gab es sicher auch für sie einiges, über das sie nach dieser Begegnung nachdenken musste. „Wir können uns ja vielleicht mal im La Green treffen und dann interviewe ich dich da.“
 

Jack warf ihr einen kurzen Blick zu und nickte. „Pass auf dich auf.“
 

Sie wurde rot, grinste verlegen und verließ die Werkstatt mit federnden Schritten, ihre vorherige gedrückte Laune wie weggeblasen.
 

Zum wiederholten Male legte sich eine unangenehme Stille zwischen die Bewohner des Poppo Time und ihren ungebetenen Gast.
 

„Vielleicht wäre es für dich besser, wenn du diese Lösung auch vorerst akzeptieren würdest“, stellte Divine an Jack gewandt schlicht fest.
 

„Wieso sollte ich?“, knurrte dieser.
 

„Ich weiß, dass ihr mich hasst. Und glaubt mir, ihr seid auch alles andere als meine besten Freunde. Aber wie ich bereits erwähnt habe, hänge ich hier eine Weile fest. Wie wäre es also mit einer Art... Waffenstillstand.“
 

„Wir haben schon Waffenstillstand“, entgegnete Yusei knapp.
 

„Nein, wir gehen uns nur nicht physisch an die Gurgel. Jedenfalls meistens nicht.“ Er warf Jack einen Seitenblick zu. „So wird unser hoffentlich kurzes Zusammenleben nur von übermäßigem Stress und Unruhe geprägt, und jeder erwartet, dass der jeweils andere ihn im Schlaf überfällt. Damit schaden wir uns im Endeffekt nur selbst. Was ich meine, ist ein Vertrag. Wir müssen uns sicher sein, dass wir nichts gegen den Anderen unternehmen werden.“ Divine sah nachdenklich das Fußende des Sofas an, nickte schließlich wie zu sich selbst. „Das wäre eine provisorische Lösung.“
 

Yusei verengte die Augen. „Ich glaube dir kein Wort.“
 

Der Mann sah auf in Yuseis Gesicht. „Dann wirst du dich wohl weiter von deiner Schlaflosigkeit und Nervosität zerfressen lassen müssen“, erwiderte er trocken.
 

Der Schwarzhaarige war sich unsicher, was er sagen sollte. Jede Faser seines Körpers wehrte sich dagegen, diesem Mann zu vertrauen. Er spürte, wie sich all seine Muskeln anspannten und gleichzeitig schmerzten vor Entkräftung.
 

„Yusei“, sagte Jack. „Lass uns kurz reden.“ Er deutete auf die Küche.
 

Erstaunt blickte der Kleinere auf. Es war eine Weile her, dass sie ernsthaft über Probleme gesprochen hatten. So nickte er und folgte Jack in die Küche, die inzwischen so etwas wie ihr geheimer Beratungsraum geworden war.
 

„Was hältst du davon?“, fragte Jack nachdem er die Tür geschlossen hatte.
 

„Ich halte es für Schwachsinn“, knurrte Yusei. „Er will uns über den Tisch ziehen. Er will uns nur in Sicherheit wiegen.“
 

„Ich verstehe, dass du ihm misstraust. Mir geht es nicht besser. Aber was würde es ihm bringen, uns in seiner Situation zu belügen? Stell dir vor, du wärst an seiner Stelle!“
 

„Ich bin aber nicht an seiner Stelle! Er ist-“
 

„Ein Monster, ich weiß. Aber gehen wir davon aus, Izayoi hätte dich verletzt auf der Straße gefunden und dich mit zu sich ins Arcadia Movement geholt, oder wie auch immer die Bude hieß. Wie würdest du dich fühlen, wenn du umgeben von Menschen wärst, die dich hassen?“
 

Yusei biss sich auf die Unterlippe.
 

„Vor allem glaube ich nicht, dass du versuchen würdest, ihnen zu schaden, denn sie wüssten sofort, dass du es warst. Und sie sind in der Überzahl.“
 

Jacks Ausführungen waren erstaunlich logisch. Und trotzdem...
 

„Er ist gerissen, er würde-“
 

„Dieser Mann ist schwer verletzt, seiner Waffen beraubt und umgeben von Feinden. Wenn irgendjemand hier Grund hat, Angst zu haben, dann ist er es!“ Jack verschränkte die Arme.
 

Der Jüngere schluckte. Ihm kam wieder das Bild von dem in die Enge getriebenen Raubtier in den Sinn. „Wenn er Angst hat, verbirgt er es ziemlich gut“, murmelte er schließlich, jedoch ohne rechte Überzeugung.
 

„Was soll er machen? Anfangen zu weinen wie ein kleines Mädchen?“ Jack schüttelte den Kopf. „Du hörst nicht auf, dich seinetwegen völlig fertig zu machen. Ich halte diesen Waffenstillstand für eine gute Idee. Er ist zu unser aller Vorteil.“
 

„Aber wir können ihm nicht vertrauen!“
 

Jack sah aus als sei er kurz davor, Yusei wieder so zu schlagen wie damals, als er aus Angst vor Kiryus Rache und den Jibakushins nicht einmal hatte essen können. Er tat es jedoch nicht, sondern seufzte nur entnervt. „Du wirst diesen Waffenstillstand annehmen. Und du wirst dich daran halten. Du wirst ihm wohl oder übel vertrauen müssen, wenn du uns nicht andauernd umkippen und irgendwann vor Entkräftung und Übermüdung komplett zusammenbrechen willst.“
 

Er schaute Yusei ernst an. Der Kleinere sah zurück in diese ihm sein Leben bekannten und vertrauten violetten Augen. Jack sorgte sich sehr um ihn. Und er wusste, dass er selbst diesen Zustand der Anspannung nicht mehr lange würde durchhalten können. Er hatte keine andere Wahl. „Gut“, willigte er schließlich ein. Und nach einem Moment Schweigen setzte er hinzu: „Tut mir Leid.“
 

Jack antwortete nicht. Er sah, dass Yusei lächelte, und lächelte zurück. Das war alles, was die beiden brauchten, um sich zu verstehen.
 

Sie verließen die Küche und gingen zurück zu Divine, der geduldig wartete. „Habt ihr euch entschieden?“, fragte er.
 

Yusei nickte. Er trat an Divine heran, so nah, dass er ihn mit dem Arm erreichen konnte. Sein erstes Zeichen des Vertrauens. „Solange du in diesem Haus und unter unserer Obhut bist, wirst du nichts tun was uns oder unsere Freunde verletzen könnte. Und du wirst nicht mit Aki allein reden, es wird immer jemand bei euch sein. Bist du damit einverstanden?“
 

Divine nickte. „Das muss ich wohl einsehen.“ Er sah Yusei in die Augen. „Ihr könnt mir Vorwürfe machen wir ihr wollt, ich bin es gewohnt. Aber ihr werdet mich weder bedrohen noch mir sonst in irgendeiner Weise schaden solange ich euch hilflos ausgeliefert bin. Ist das für dich soweit akzeptabel?“
 

Yusei nickte ebenfalls, reichte dem Anderen die Hand. „Waffenstillstand.“
 

Divines Lächeln wirkte ebenfalls erleichtert, als er Yuseis Hand ergriff und wiederholte: „Waffenstillstand.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (11)
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Von:  Sean
2010-12-05T19:45:01+00:00 05.12.2010 20:45
Na bitte, es geht doch.
Jack gefällt mir in diesem Kapitel am besten, vor allem wie er Divine eine reinhaut. Das wäre ganz genau das, was er tun würde. XD
Divine ist sehr schwer zu lesen, wäre interessant das ganze noch mal aus seiner Sicht zu sehen. Ich hab das Gefühl, von allen Charas ist er ganz natürlich der "schwierigste", weil er im original Plot an dieser Stelle ja nicht da war... oder so.
Von:  Jitsch
2010-12-03T18:06:09+00:00 03.12.2010 19:06
Na, immerhin etwas XD ist ja nicht mitanzusehen bzw. zu lesen, wie Yûsei sich quält. Aber passt total zu ihm, so ist er halt.
Schön, dass Carly auch mal wieder mit augegriffen wurde ;)

Ansonsten geht es bisher recht langsam voran, was die Story angeht, aber ich denke mal, da nun der Waffenstillstand geschlossen ist, wird sich das demnächst etwas ändern. Ich freu mich schon drauf.
Von:  Jitsch
2010-12-03T17:22:45+00:00 03.12.2010 18:22
Eine gute Einführung in die Story :) Die Idee gefällt mir gut, auch, weil ich ja Divine auch so gerne mag ^^

Außerdem gefällt mir total gut, wie die Charaktere durch das eine Kapitel irgendwie genauer beschrieben werden als in der ganzen Staffel XD Liest sich einfach interessant.

Bin ganz gespannt, wie's weitergeht ^^
Von:  Sean
2010-11-25T02:28:25+00:00 25.11.2010 03:28
Aki: "I still wuv him!"
Yusei: "He wanted to kill me!"
Aki: "Ja, aber er hat's nicht geschafft, also sei nich so nachtragend."

Aki macht es Yusei aber auch wirklich nicht leichter.
Divine wird wohl schon noch was tun müssen, damit Yusei ihn noch mal anders anschaut als derzeit.

So, unnu... weitaaaah! =D
<3
Von:  Umi
2010-11-24T21:47:00+00:00 24.11.2010 22:47
>>Sogar Jack knurrte ihn hin und wieder an, wenn er seinen Hintern nicht schleunigst ins Bett beförderte, würde er es tun.<<
~~> Miese Anmache

>>„Nein, aber sie war kurz davor...“, erwiderte Yusei leise. „Je schneller wir diese Divine-Geschichte abgehakt haben desto besser...“<<
~~> Ich bezweifle, dass das schnell gehen wird *lol*

Joah... ich weiß nicht, was ich groß sagen soll; es war wie schon die letzten Kapitel gut geschrieben, spiegelt so ziemlich genau das wieder, was du mir bisher über die Charaktere erzählt hast... Wenn ich Fan der Serie wär, wär ich vermutlich schwer begeistert :)
Von:  Umi
2010-11-24T15:49:51+00:00 24.11.2010 16:49
>>Schließlich flüsterte sie erneut „Divine.“ <<
~~> *und wieder an die in meinem letzten Kommi erwähnte Szene denkt* *snicker* "Divine? ... Divine! ... Divine?! ... Di...vine? ;_;"

>>dass er nicht wusste wer dieser Fremde Mann namens Divine war<<
~~> fremde Mann

>>dass er uns alle im Schlaf erdrosselt, bittesehr!<<
~~> bitte sehr

>>Du weißt gar nichts über das was er alles für mich getan hat!<<
~~> das, was

Jo, viel ist nicht passiert, hat sich aber trotzdem schön flüssig gelesen und alles irgendwo Sinn gemacht, man merkt die herrschende Anspannung schön... alles in allem sehr fein geschrieben :) ... Hatte ich eigentlich schon ausgiebig gejammert, dass wir nicht mehr im selben Fandom sind? <XD'
Von:  Umi
2010-11-24T15:33:03+00:00 24.11.2010 16:33
Ppl suck *das mal zu der bisherigen Kommi-Zahl zu dieser Fic loswerden muss* Wobei, gen interessiert mich eigentlich auch nicht wirklich... aber nun ja, einer muss ja wieder hinbiegen, was die Autoren der Originalserie verbockt haben und wenn nicht du, wer dann? ;)
Wie gehabt, keep in mind, dass 5d's nicht mein Fandom ist, von daher hält mein Hintergrundwissen sich nach wie vor in Grenzen und ich kann auch nicht einschätzen, wie IC oder OOC die Charas sind. Aber was so was angeht, vertrau ich dir ja eh (in 99,9% der Fälle), also... Schauen wir einfach mal :)

Jack muss obviously mal richtig hart durchgenommen werden @ sein Rumgebitche *das dann auf jeden Fall mal loswerden musste* Nein, ehrlich, so was hilft oft Wunder *nod nod*
>> und stürmte die Treppe hinauf, wo er wütend in seinem Zimmer verschwand. Unterlegt wurde das Ganze mit einem lauten Knallen seiner Tür.<<
~~> Und da wirft er sich aufs Bett und hört alte Linkin Park Platten und fühlt sich missverstanden von der bösen Welt |D

>>ob sie wirklich ganz allein nach Haus gehen wolle, was sie bejate<<
~~> bejahte

Am besten gefällt mir die zweite Hälfte das Kapitels, als es Nacht ist :) Hast da ne feine Atmosphäre erzeugt und bist trotzdem recht schnell zum Punkt gekommen, ohne dabei jedoch die Charakterisierung zu vernachlässigen. Das Ende ist (für mich) in erster Linie lulzy, da es mich an das eine Mal, als ich bei dir zu Besuch war erinnert, als du mich zum ersten Mal mit 5d's angefangirlt hast und mir einen Ausschnitt aus ner Folge mit Divine und Aki gezeigt hast - den, wo sie nach ihm sucht und diesen langen, fenster- und türenlosen Gang entlangtapst und immer wieder nach ihm ruft XD

Ne, doch, war fein... ach scheiße, wieso können wir nicht im selben Fandom sein >_<
Von:  Sean
2010-11-20T16:55:30+00:00 20.11.2010 17:55
Crow kann einem wirklich von Herzen leid tun. Seine zwei sogenannten besten Freunde erklären ihm nichts, und Akis nettes Lächeln ist nur ein Abklatsch ihrer Gefühle für Divine.
Aber ich mag Jack und Yusei und ihre Reaktionen auf Divine sehr gern. Sie sind verständlich und nachvollziehbar.
Freue mich schon darauf, Divine in Aktion zu erleben. XD
Mehr? =)
Von:  AkiProductions
2010-11-19T18:54:46+00:00 19.11.2010 19:54
*smile*
Hi!
Also, ich teile auf jeden Fall die Meinung meiner Vorgänger und hoffe ebenfalls, dass du an dieser FF weiterarbeitest (auch wenn ich bisher nur das erste Kapitel gelesen habe).
Ich bin ein großer Fan deines Schreibstils (ein gelungene Wahl von [manchmal] eher umgangssprachlichen Ausdrücken, die das Lesen interessant machen; keine zu langen Sätze; ein gut und flüssig lesbarer Text, bedingt durch die eingehaltene Rechtschreibreform ;D...[und vieles, vieles mehr]), die Idee, Bruno durch Divine zu ersetzen, finde ich BOMBIG!!!^-^ Ich hab' so das Gefühl, dass das die Beziehungen zwischen den Protagonisten um einiges verändern würde, und ich bin gespannt darauf zu lesen, inwiefern du das auch so siehst und darstellst!!!

Ich für meinen Teil freue mich auf die nächsten Kapitel!!!
Halte durch!!! ;)
AkiPro.
Von:  UniverseHeart
2010-11-15T08:33:32+00:00 15.11.2010 09:33
Molly, ich hoffe echt, dass du diese Fanfic durchhälst! ich finde es mehr als gut von dir, dass du Divine wieder hier einbringst, denn der arme Kerl kann einem echt leid tun dass er einfach so im Nichts verschwunden ist, wo man doch hätte so viel mehr mit ihm machen können!! Ich bin echt gespannt wie es hier weiter geht und vor allem wünsche ich dir viel Spaß am schreiben - ich weiß auch wie viel Spaß es machen kann, ein wenig mehr Alternativen zu schreiben. =) So, never give up! ^^


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