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Fragmente

Potpourri & Kurzgeschichten-Fundus
von

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Feuergeist

für Carcajou
 

Feuergeist
 

Tansania, Afrika (Vergangenheit)
 

Auf leisen Pfoten streifte die Raubkatze durch das hohe Gras der Savanne, geschmeidig, schwarz wie die Nacht, den vagen Geruch von Asche und Rauch in der Nase; in der Ferne hoben einige Grevyzebras den Kopf und lauschten, die Gnus muhten nervös.

Nicht wegen ihr, stellte sie zufrieden fest, als sie den Kopf reckte und empor spähte.

Der Himmel am Horizont wurde von schwarzen Wolken verschlungen, die nicht nach Gewitter rochen, sondern nach etwas Widernatürlichem, wesentlich Interessanterem.

Im Berg des böses Geistes tat sich tatsächlich etwas, wie es das nicht besonders vertrauenswürdig wirkende Orakel auf einem Markt weiter im Norden vor einigen Tagen prophezeit hatte.

Das leise Beben der Eruptionen in der Erde unter ihren Tatzen spürend, setzte sie sich wieder in Bewegung.
 

Zwei schlanke Krieger des Stammes der Geparden hockten abwartend auf einem Felvorsprung und im Schatten eines Affenbrotbaumes hielten sich einige Löwendämonen verborgen, ihre Blicke auf den Lava speienden Feuerberg gerichtet, als sie den Randbereich der heiklen Zone des Geschehnisses erreichte.

Sie war nicht überrascht, im Gegenteil, solche Machtproben unter hochrangigen Dämonen lockten unweigerlich Schaulustige und Größenwahnsinnige an.

Diese hier gehörten wohl eher zu letzterer Kategorie.

„Das ist nichts für kleine Gören“, knurrte einer von ihnen gereizt, während die Umrisse des Ankömmlings verschwammen, die Gestalt des Panthers sich verzerrte, zu der eines dunkelhäutigen menschlich erscheinenden Mädchens in seiner Flegelphase wandelte.

Die Jugendliche hob spöttisch schmunzelnd eine Augenbraue und verschränkte die Arme vor der Brust: „So? Was macht ihr dann bitte hier?“

Einer der jungen Löwen lachte, verstummte jedoch augenblicklich, als ihn die bitterbösen Blicke seiner Kameraden trafen.

„Wir nutzen die Gelegenheit, uns von dieser Pest zu befreien.

'Berg des böses Geistes'“, spuckte er verächtlich aus, „ein raffgieriger Drache, nichts weiter.

Und jetzt hat er einen weiteren von seiner Sorte hierher gebracht.

Sollte einer von beiden diesen Berg hinabsteigen, werden wir ihn an Ort und Stelle erledigen.“

Trotz ihrer Kenntnis über die Zustände um den Vulkan und das ausgesprochen territoriale Verhalten des Drachen, den jener seit langer Zeit beherbergte, der die Dämonen hier bejagte und sich allgemein sehr aggressiv gebärdete, empfand sie keinerlei Mitleid mit ihnen.

Nur die Stärksten überlebten, ein uraltes Gesetz, das für alle Lebewesen Gültigkeit besaß, die Schwachen starben.

Zudem war ihr geplantes Unterfangen derart lächerlich und aussichtslos, dass das Gelächter schließlich aus ihr herausbrach.

Mit verstimmten Mienen betrachteten die Dämonen sie, ratlos bezüglich des Grundes für ihr köstliches Amüsement und es dauerte eine ganze Weile, bis sich der junge Panther wieder fing, die Tränen aus den Augenwinkeln wischte.

„Sowas Blödes hab ich schon lange nicht mehr gehört“, meinte sie dann glucksend und wandte sich um, hob die Hand zum Abschied.

„Wir sprechen uns in der nächsten Welt.“

Sie würde sich dieses Schauspiel auf keinen Fall entgehen lassen, allerdings aus sicherer Entfernung – waren sie wirklich so dumm? Oder spürten sie es lediglich nicht?

Jene überwältigende Präsenz, die den Vulkan und die Erde zum Beben brachte, die Luft noch weiter aufhitzte und sich bereits des Ortes bemächtigt hatte.

Die Dämonenkrieger konnten nur hoffen, dass sich die beiden Monster gegenseitig zerfleischten, sie hingegen tippte auf einen anderen Ausgang...

Und eben dieser ließ nicht lange auf sich warten.

Wie aus dem Nichts stach der offensichtliche Sieger des Drachenzwists aus den Staubwolken über dem Feuerberg hervor, die Stille von einem infernalischen Schrei durchschnitten, verbrannte in seinem Rausch die gesamte Umgebung zu Asche, zerriss jedwedes Lebewesen, das er erwischte.

Doch ebenso rasch, wie das Verderben über die Unbeteiligten hereingebrochen war, verschwand es mit seinem Verursacher wieder in der verschlöschenden Glut des Vulkans.
 

Wenige Tage danach hatte sich die Situation beruhigt, und der jugendliche Pantherdämon wagte einen Exkurs auf die verbrannte Erde um den nun wieder ruhenden Vulkan.

Still und leise schritt sie über das schwarze Feld, betrachtete die Pfotenabdrücke, die sie hinterließ, ehe sie abrupt inne hielt.

In menschlicher Form hätte sie sich das Lachen nicht verkneifen können, in ihrer wahren Gestalt rang ihr der Anblick in der Distanz bloß ein wölfisches Grinsen ab.

Irgendeiner dieser Wahnsinnigen hatte also doch einen, zugegeben verschwind geringen, Erfolg erzielt.

Am Fuße des Feuerberges versuchte der Drache in diesem Augenblick vergebens, sich des Feuergeistes zu entledigen, den irgendjemand beschworen und an seine spezielle Aura gebunden hatte.

Der Geist hingegen, der das Äußere eines großen Pferdes mit schwarzbraunem Fell und silbernen Mähne trug, wich den zuschnappenden Kiefern tänzelnd und leichtfüßig, schier spottend aus.

Sie würde noch ein Weilchen abwarten, beschloss sie spontan und legte sich nieder.
 

Unter den Strahlen der Mittagssonne glänzten die schwarz geränderten Schuppen des Drachen tiefrot, im starken Kontrast zu der perlmuttfarbenen Rückenpartie, die mitnichten zu seiner natürlichen Färbung gehörte.

Narben...

Der monströse Rumpf war zusätlich mit Dornen gespickt und sicherlich ein äußerts wirksamer Schutz vor Zähnen, Klauen oder der Klinge einer Waffe.

Er lag mit ausgestreckten Schwingen auf der eingeebneten Erde und döste, wie eine riesige Eidechse auf einem warmen Stein.

Sie wusste, dass er sie längst bemerkt hatte – er würdigte ihre Anwesenheit dennoch keines Blickes.

Ihre Muskeln waren zum Zerreißen gespannt, ihre Nerven überreizt, als sie einen gemächlichen Halbkreis um den Drachen beschrieb und sich dann dreist knapp außerhalb seiner Reichweite setzte.

Ihre grünen Augen funkelten, der Schwanz zuckte angespannt.

„Den da“, sagte sie schließlich langsam und nickte in Richtung des nun friedlich grasenden Pferdes, „wirst du nicht mehr los. Das ist ein Feuergeist, dessen Lebensenergie mit deiner direkt verknüpft ist – seine Existenz wird von deiner Energie gespeist, und er wird sich so lange davon nähren, langsam aber stetig, gierig und unersättlich, bis dein Feuer erlischt.“

Ein abgrundtiefes Grollen drang aus der Kehle des Drachen.

Ich bin das Feuer.

Wahrscheinlich verstand er sie nicht, mutmaßte sie, und damit verlor diese Sache ihren Anreiz.

„Langweilig“, schnurrte sie.

Elegant machte der Panther kehrt, das Schwarz seines Fells perfekt mit dem der Asche verschmelzend.
 

[23. - 24.12.2010]

Zwischen Sieg und Niederlage

Kurz und knapp, 2008 (Juli) für einen Wettbewerb geschrieben, aber nicht eingereicht.
 

„Zwischen Sieg und Niederlage“
 

Wir stehen am Ende.

Am Ende eines Krieges, aber nicht am Ende des Horrors, nicht am Ende der Verzweiflung, nicht am Ende Angst.

Das glorreiche Siegesmoment als Beginn einer neuen Ära, welches man uns mit Donnerstimme und gewölbter Brust versprach, als höchstes Ziel anpries, bewahrheitet sich in diesem Augenblick als Lüge.

Wir jagten einer Illusion nach, einer Fata Morgana in der Wüste der Unmenschlichkeit.

Lügen, Lügen, Lügen, mit denen man uns vorwärts trieb, an unseren Stolz als Männer appellierte, unsere Moral aufrechterhielt, um dem Feind entgegentreten und ihn vernichten zu können. Dabei machten sie - die Schwätzer, die Aufhetzer, die Scharlatane der obersten Ränge - sich nicht die Finger schmutzig und blieben in der Sicherheit der hintersten Reihen zurück.

Jetzt ernten sie die Früchte des Ruhmes, die wir nicht wollen, die wir unter ihnen heranzüchteten, Sklaven ihrer Befehlsgewalt.

Doch was haben wir letztendlich gewonnen?

Nächte voller Alpträume, ein Gewissen überladen mit Schuld. Rote Hände, blinde Augen, leere Köpfe.

Abgestumpft von den Schrecken der Schlacht erscheint uns die Welt bloß noch in Schwarz und Weiß, wir kennen, verroht, bloß noch Freund oder Feind, leben oder sterben.

Die Soldaten, wir, sind die großen Verlierer in diesem verantwortungslosen Spiel um Macht und Recht.

Weltende

Weltende
 

„lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.“
 

>>> Die Eselskomödie von Plautus; in Anlehnung an Hobbes „De Cive“
 

*
 

„Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde."
 

>>> Dürrenmatt, „Die Physiker“
 

***
 

„Nox.“

Der Junge rührt sich nicht, und er weiß, weiß nur zu gut, dass es längst zu spät ist.

Seit Stunden ist er sich der Kälte des schmalen Leibes gewahr, der noch immer an seiner Schulter lehnt, hilflos, ohnmächtig, nicht gewillt, das Geschehene zu akzeptieren.

Er hätte es besser wissen müssen.
 

Aus. Vorbei.

Alles.
 

Müde, allein, verlassen, sitzt er im Staub der Einöde, der Asche dieser Welt und wartet, den reglosen Körper des Jungen betrachtend, wartet, ob ihn dieses Mal ein langsames Ende ereilen wird, auf die letzte Endgültigkeit, oder aber wieder seine innere Unruhe obsiegt und ihn voran, bis in die nächste Stadt, auf die nächste Etappe treibt.

Vergeblich, aussichtslos, ein Teufelkreis.
 

***
 

Eisige Böen fegen über den staubigen Wüstenboden, wirbeln toxische Aschewolken auf, darunter blanker Fels.

Trist, lebensfeindlich.

Der Himmel darüber ist grau und verhangen, wie immer, die Welt im Dämmerlicht ihres Untergangs, nicht ein Schimmer von Sonnenlicht zu erahnen.
 

Die Asche brennt ihm in den Augen, in der Nase, im Hals.

Mühselig schleppt er sich voran, Schritt um Schritt durch die monotone Einöde, getrieben von einer merkwürdigen Rastlosigkeit in seinem Innersten, die ihn vorwärts treibt, immerfort, weiter, schier ziellos.

Wahrscheinlich machen ihn der nagende Hunger und der Durst halb wahnsinnig, und der letzte Funke Überlebenswillen, den sein Körper beherbergt, zwingt ihn dazu, sich noch einmal aufzuraffen.

Sein Verstand hat unlängst kapituliert.

Es gibt kein Entrinnen aus dieser schwarzen Hölle, wo die Tage ebenso dunkel wie die Nächte sind.
 

Der Weg bis zur nächsten Stadt – dem, was in dieser Zeit davon übrig geblieben ist, Ruinen voller Geister, dürre, zerschlagene Gestalten ohne Hoffnung, die ein elendiges Dasein fristen, eines, das dem Begriff des Lebens spottet und bloß ein Kampf um die nächsten paar Stunden ist, um die nächste Mahlzeit, den nächsten Atemzug – ist weit.

Selbst, wenn er es bis dorthin schaffen sollte, sauberes Trinkwasser und Lebensmittel sind Mangelware, die Leute egoistisch, verblendet von ihren niederen Bedürfnissen, und teilen nichts.

Sie horten was sie können.

Nicht selten muss man sich der Gewalt bedienen, oder Schlimmerem.
 

Er folgt den verwitterten Eisenbahngleisen, der einzige Pfad, der in dieser Ödnis eine Orientierung erlaubt – irgendwo in seinem Hinterkopf flackert vage der Gedanke an Dorothy und den Zauberer von Oz auf, erlischt dann aber wieder.

Es ist zu lange her, die Erinnerung zu verschwommen.
 

Manchmal träumt er von der Vergangenheit, von einer hellen Welt, von Bäumen und dem Wind, der in ihren grünen Wipfeln wispert, von lächelnden Menschen.

Ist es wirklich einmal so gewesen?

Oder bloß ein Hirngespinst...?

Im Endeffekt macht es keinen Unterschied.
 

Diese Welt ist ein Alptraum, aus dem niemand mehr erwachen wird.
 

***
 

Ein missgebildeter Hund kreuzt die Straße vor ihm, ein unförmiges Vieh mit fünf Beinen, dem der Geifer aus dem Maul, zwischen den unpassenden Kiefern hindurch läuft.

Ansonsten trifft man vor allem auf Kakerlaken, denen die widrigen Umstände scheinbar gar nichts anhaben können; im Gegensatz zu den meisten anderen Lebewesen hat die Strahlenbelastung ihnen zu mehr Größe und einer erheblichen Anzahl verholfen.

„Zieh Leine!“ empfängt ihn die raue Stimme eines Mannes unfreundlich aus einem verfallenen Hauseingang, „elender Schmarotzer.“

Verächtlich spuckt die schattenhafte Gestalt in den Staub, verbirgt sich hinter den maroden Wänden.

„Als ob wir hier nicht genug hungrige Mäuler zu stopfen hätten.“

Der Fremde lässt sich davon nicht beirren.

Man hat ihn durchaus schon anders willkommen geheißen.
 

Wortlos setzt er seinen Weg fort, zum Zentrum der einstigen Stadt.

Im verwinkelten Labyrinth der Gassen und Straßen hallen seine Schritte von den brüchigen Gemäuerresten wider, ein leeres Echo seiner Existenz, das nichts beweist, das nichts bedeutet, ein unangebrachtes, invasives Geräusch in der Totenstille dieser unheiligen Stätte.

Nichts als ein Grabstein in der Wüste...
 

Alsbald steigt ihm der süßliche Geruch der Verwesung in die Nase, und nach einer Weile wird ihm bewusst, dass er sich der Quelle des Gestanks immer weiter genähert hat: es ist der bereits faulende Leib eines Menschen, der bereits seit geraumer Zeit unbeachtet, vergessen, hier auf dem Pflaster liegt.

Ein erbärmlicher Anblick.

Neben dem Leichnam hockt eine kümmerliche Gestalt mit rabenschwarzem, halblangem Haar und hält dessen verrottende Hand; eine Gestik, so makaber wie sie bitter und rührend ist.

Die Szenerie empfindet er als unglaublich absurd, das Kind scheint ihn nicht einmal zu bemerken.

„Hey.“

Er räuspert sich verhalten.

Einige Minuten verstreichen, ehe sein Gegenüber eine sichtliche Reaktion zeigt und ihm den Kopf zuwendet, die Iriden ebenso schwarz und stumpf wie das Haar.

Es ist ein Junge mit eingefallenen Wangen und Augen, unterernährt, verwahrlost, und vor allem müde.

Sein Alter wagt er nicht zu schätzen.

„...“

Kein Wort löst sich von den spröden Lippen, er starrt, sonst nichts.

Wenn er jetzt geht, wird der Knabe in den nächsten Tagen elendig krepieren, neben der Person, die er selbst im Tod nicht aufgeben möchte. Niemanden wird es kümmern.

Im Grunde kann es auch ihm gleichgültig sein.

Für einen Augenblick ist er versucht einfach zu gehen - und dennoch...

„Komm.“

Er kann nicht.

Stumm betrachtet das Kind seine ausgestreckte Hand, sein Blick verändert sich.

Zunächst geschieht nichts.

Zögerlich, langsam löst er sich von dem Toten, aus seiner Starre und berührt die Handfläche des Fremden, sein Blick noch lange hinter sich, auf die leblose Hand des Leichnams gerichtet.
 

***
 

Der Junge kaut und schluckt bedächtig, als hätte er keinen Hunger.

Im diffusen Licht der eingestürzten Lagerhalle wirkt er noch blasser und schmächtiger, und in diesem Moment dämmert ihm, dass der Knabe, im Gegensatz zu ihm, es nicht anders kennt.

Er ist in dieser dunklen Hölle geboren und aufgewachsen, geprägt von Hunger und Leid, gewohnt an Tod und Elend.

Er bemitleidet ihn.

„Wie heißt du?“ fragt er ihn kurzerhand.

Träge hebt das Kind den Kopf, sein unleserlicher Blick beinahe unheimlich.

„Buris“, erwidert er dann, nach einer eigenartig anmutenden Bedenkzeit, leise, kaum hörbar.

„Bu-ris...“ wiederholt er gedehnt, skeptisch und befindet den Namen für seltsam.

Etwas wie Schuldbewusstsein flackert über die bleichen Züge, dann: „Mama... sagt Nox.“

Nox.

Nacht.
 

Nach ein paar ruhelosen Stunden gibt er den Versuch auf, zu schlafen, es ist zwecklos.

Die verzerrten Bilder, die seinen Verstand plagen und ihn nicht zur Ruhe kommen lassen, sind zu real.

Wahrscheinlich verdrängte Erinnerungen, mutmaßt er, wahrscheinlich zeigen sie wirklich die Wahrheit; die unschöne Realität eines Atomkrieges, gefolgt von einer verheerenden Epidemie, die Schuld des Menschen an seinem eigenen Schicksal.

Die Kapitulation vor der Wirklichkeit, die ihm nicht mehr gewachsen ist, die an ihm zugrunde ging.

Er ist froh darüber, nicht alleine zu sein.
 

Nox schläft seelenruhig, zusammengerollt wie ein Hund.
 

***
 

Der Junge folgt ihm, nicht aus Vertrauen oder Dankbarkeit für seine Anteilnahme, sondern lediglich, weil es der einzige Weg ist, den er gehen kann.

Was hat ihn dazu gebracht, das Kind mit sich zu nehmen?

Vermutlich hat er ihm damit nicht einmal einen Gefallen getan.

Was bringt es ihm?

Ein paar Stunden, ein paar Atemzüge mehr...?

Er ist ein Narr, genau wie der Rest.
 

„Nox.“

Matt hebt der Junge den Kopf, in den schwarzen Augen spiegelt sich nichts als Leere.

„Wie alt bist du...?“

Überfordert blickt der Junge ihn an, er weiß es nicht.

Was findet er bloß an diesem Kind, das nicht anders ist, dem es nicht schlechter geht als so vielen anderen?

„Ich heiße Ignis“, fügt er dann ohne wirklichen Kontext hinzu, aus einem spontanen Impuls heraus ohne darüber nachzudenken.
 

Trübsinnig mustert er die hagere Gestalt zu seiner Rechten; ihre Seelen sind bereits verloren, ihr Sein verdammt, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Geister der Aschewüste über sie herfallen...

Aussichtslos.
 

***
 

[Ende August/Anfang September 2010]

Ein Rückblick

ein kleiner Blick in die Vergangenheit von Múspell aus "Verbrannte Erde"
 

Ein Rückblick
 

Es ist spät, weit nach Mitternacht, und das schummrige Kerzenlicht erhellt das Arbeitszimmer bloß noch mäßig.

Mittlerweile fällt ihm das Lesen schwer.

Müde legt er seine Lektüre beiseite, streckt die Beine von sich; als er aufsieht, ist er wenig erstaunt.

„Du bist immer noch hier?“ wendet er sich an den jungen Genossen, der ein wenig apathisch zwischen den Regalen hockt, seine Worte mehr Feststellung als Frage, doch der Angesprochene rührt sich nicht.

Folglich kann er sich eines Lächelns nicht erwehren.

Sóti.

Ein Sonderling, aber nicht im negativen Sinne.

Der Jugendliche verbringt seine freien Stunden, Tage, seine gesamte freie Zeit hier, ein stummer Gesellschafter, der sich langsam aber sicher durch sämtliche Niederschriften und Berichte wälzt, die er in die Finger bekommt.

Gleichgültig, um was es sich dabei handelt. Missionsrapporte, Geschichte, Schlachtverläufe, Strategie und so weiter...

Es stört den Oberst nicht.

Den Großteil dieser Bibliothek hat der ältere Soldat von seinem Vater geerbt, jedoch im Detail höchstens überflogen, sodass ihn die Staubwolken nicht überraschen, die die Wissenssuche des Jugendlichen aufwirbelt.

Insgeheim wünscht er Sótis Interesse an der Kunst des Krieges in jenem Maße zu teilen.

Als Nachkömmling einer durch und durch überzeugten Soldatenfamilie...

Die Realität hat ihn unlängst eines Besseren belehrt.
 

Draußen rumort es beständig. Donnergrollen.

Die am Himmel aufgetürmten Wolkenmassen erscheinen im anklingenden Wetterleuchten der Nacht schwefelig gelb, in der Ferne violett und grau meliert; die Hitze des Tages staut sich zwischen dem verhangenen Firmament und der ausgezehrten Erde.

Der Schweiß rinnt ihm über die Brust und den Rücken, dem Jungen stehen die hellen Perlen auf der Stirn, trotz des leichten Sommergewandes.

„Lass gut sein für heute, Sóti“, und als er seinen Namen hört, strafft sich die Haltung des jugendlichen Soldaten. Sein Blick wandert instinktiv zu seinem Vorgesetzten.

„Ofursti Múspell?“ erfolgt auch prompt die Antwort, höflich, angemessen, und den Kopf dabei gesenkt, doch sein Gegenüber winkt ab und lächelt.

Obwohl die Milde seines Ausdrucks von einem leisen Schatten überlagert wird, ist seine Sympathie für Sóti aufrichtig.

„Geh schlafen“, erwidert er wohlmeinend und fährt sich durchs Haar, „Das anlaufende Manöver wird hart.“

Sóti hört zu, doch der Fokus seiner dunklen Augen schweift durch den Raum, unbeständig, ohne Ziel, und offenbar beschäftigt ihn etwas vollkommen anderes, das unruhige Spiel seiner Finger verrät seine Anspannung.

Schließlich korrigiert er seine Haltung, das Buch in seinem Schoß vergessen, als er aufsteht und das Quartier durchquert.

Befangene Schritte, wobei er ansonsten keine zögerliche Person ist; er wagt es erst, sich zu setzen, als Múspell ihn mit einer stummen Gestik darum bittet.

„Ich... ofursti Múspell, ich...“, setzt er unbeholfen an, nach adäquaten Worten fischend und sichtlich verloren in seinen Versuchen, „Ich wollte...“

Die Röte steigt ihm in die Wangen, aus Scham, aus Ärger über sich selbst. Er ringt mit sich.

Sein Gegenüber schweigt wohlweislich.

„Ich möchte bleiben“, presst der Soldat schließlich kaum hörbar hervor, die Finger in den Stoff seiner Kleidung vergraben.

Du weißt nicht, du kannst nicht wissen, wovon du sprichst, Sóti.

Der Oberst lässt sich sein Unbehagen bezüglich der heiklen Thematik nicht anmerken.

In militärischen Kreisen mögen solche Gepflogenheiten gang und gäbe sein, sich die Gunst seines Vorgesetzten durch Körperlichkeiten zu sichern, er hält persönlich jedoch nichts davon – vor allem nicht mit Minderjährigen.

Ausdrücklich verboten ist es nicht.

„Du bist minderjährig, Sóti“, begegnet er der Anfrage seines Schützlings gütig und ein wenig steif.

Einen Moment geschieht nichts, dann schnaubt der Jugendliche und fordert bedingungslosen Blickkontakt, von Entschlossenheit und unterschwelligem Trotz beseelt.

Dennoch verbleibt seine Stimme ruhig: „Ihr wollt damit also sagen, dass ich alt genug bin, um zu kämpfen, um meinesgleichen zu töten, um auf dem Schlachtfeld für eine Ideologie zu sterben, die ich nicht vertrete, die vielleicht nicht einmal eine ist, für jemanden, den ich noch nie zu Gesicht bekommen habe geschweige denn kenne...“

Er pausiert kurz, sammelt seine Konzentration, seine Rationalität.

„Aber ich bin nicht alt genug, um selbst zu entscheiden, wen ich mag und mit wem ich... zusammen sein möchte...?“

Und der ofursti ahnt, worauf Sóti hinaus will.

„Ich weiß“, fährt er festen Tones fort, „dass Ihr diese Scheinheiligkeit nicht gutheißt und nicht unterstützt. Ansonsten wäret Ihr längst nicht mehr ofursti, bei Eurer Qualifikation.“

Es ist erschreckend, wie recht der Junge hat - ist er tatsächlich so einfach zu durchschauen?

„Einer von der klugen Sorte, huh?“ meint er versöhnlich, mit einem bitteren Schmunzeln, schmerzlich an die Umstände erinnert, die zu einer Entscheidung geführt hatten, die nicht seiner eigenen entsprach.

Wie hätte ich auch meinem Vater auf dem Sterbebett seinen letzten Wunsch verwehren können...?
 


 

***
 


 

„Meine Nachlässigkeit während eines späteren Manövers kostete Sóti nicht nur die beispiellose Karriere innerhalb des Militärs, die ihm zweifellos bevorstand, sondern auch das Leben.

Der Anschlag, der Pfeil, der ihn tötete, galt nicht ihm, er galt mir.

Sóti starb noch vor dem Ende seiner Ausbildung.
 

Als ich einige Jahrzehnte später Logi das erste Mal sah, traf es mich wie ein Blitzschlag...“
 

[Múspell]



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Carcajou
2011-01-06T22:04:46+00:00 06.01.2011 23:04
Eindringlich, traurig, bitter und sehr sehr wahr.
Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie viel man in ein paar so kurze Zeilen packen und durch sie vermitteln kann...

lg,
Carcajou
Von:  Hotepneith
2010-12-29T22:57:27+00:00 29.12.2010 23:57
Klasse geschrieben.
Man wird wirklich in die Story reingezogen.

Nur eine Frage. der Drache oder der Drachenkampf vernichtete jedes Leben im Umkreis - und doch konnte einer diesen Parasiten erschaffen. Wäre es nicht logischer das eigene Leben zu schützen? Aber natürlich ist das offen, wer es war und ob er entkommen ist...

bye

hotep
Von:  Carcajou
2010-12-25T12:40:13+00:00 25.12.2010 13:40
Jetzt konnte ich es mir noch mal richtig zu Gemüt führen- gestern Nacht war es dann doch schon ein Bissel Spät, um was vernünftiges dazu sagen zu können.

Ich hab mich wirklich riesig darüber gefreut!! und ich frage mich, womit ich das verdient habe!^^
jetzt hab ich doch schon ein bisschen ein schlechtes gewissen, weil ich nichts für dich habe...

Du hast Shahi wirklich super getroffen, so hab ich sie mir als Teenager auch vorgestellt: schon sehr selbstbewusst, ein wenig von oben herab und spöttisch, aber schon recht genau wissend, wo ihre Grenzen sind.
Und fürchterlich neugierig.^^

Der Drache.. ich erinnere mich da an einen Kopfgeldjäger, der einen Feuergeist in Pferdeform dabei hat...?(oder bringe ich da was durcheinander?)
durfte da Shahi als erste dem neuen Gespann gratulieren?

Einer der Dämonen muss ja doch recht mächtig oder zumindest sehr magiekundig gewesen sein, um einem so mächtigen Wesen wie einem Feuerdrachen eine Art Parasit auf den Hals zu hetzen... der Drache wähnt sich zu mächtig, als das ihm der Geist gefährlich werden könnte, doch auch Feuer erlischt irgendwann, wenn ihm stetig Energie entzogen wird. das wird er sich vermutlich einfach nicht vorstellen können.

ein Todesurteil, das erst in womöglich Jahrtausenden zum Tragen kommt- da soll nochmal einer sagen, Katzen wären nciht nachtragend.^^

ganz wunderbar!

ich danke dir!!viele liebe Grüße,
der gerührte Marder


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