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Rainbow Alliance

The last Gods on Earth
von

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Kapitel 0

Unter der heißen Sonne Griechenlands herrschte die zähe Mittagsflaute, kein Lüftchen ging und kein Mensch war so leichtsinnig, bei diesen Temperaturen draußen noch unterwegs zu sein. Das Meer lag nicht weit entfernt, doch Abkühlung brachte es nicht. Die Gluthitze ließ alles verdorren, was an Pflanzen noch wuchs. Das einzige Tier, das man erspähen konnte, war ein Salamander, der die glatte, weiße Säule eines Tempelgebäudes emporkletterte und oben verharrte. Er starrte in die Ferne, wo sich auf einem Hügel ein kleiner Wald erstreckte. Dort bewegte sich etwas das sein Interesse geweckt hatte.
 

Dort rannte eine Gruppe von sechs Mädchen zwischen den knorrigen Bäumen, die eine schattige Oase in der heißen Sonne bildeten. Die alten Olivenbäume ließen nur fleckenweise das Licht hindurch, sodass der felsige Boden wie marmoriert aussah.

Der kantige Schotter, der den Waldboden bedeckte, schepperte laut unter den Sohlen der Mädchen, sie alle trugen Sandalen und einfache, weiße Kleider. Die prächtigen Kleider, die kunstvoll um ihre Körper gewickelt gewesen waren, hatten sie auf ihrer Flucht längst verloren, ohne sie kamen sie schneller voran. Zu Beginn der Flucht waren sie zu siebt gewesen, doch eine hatten sie bereits verloren. Aber nachtrauern konnte ihr niemand.
 

"Ich kann nicht mehr... es ist vorbei." Eines der sechs Mädchen stützte sich mit einem zitternden Arm an einem Eukalyptusbaum ab. Die Füße taten ihr weh, und in ihrem Kopf hörte sie ein hektisches Klopfen, es waren die ersten Anzeichen einer Überhitzung.

Ein anderes, hochgewachsenes Mädchen stellte sich vor sie und ging leicht in die Hocke.

"Komm." Sie deutete ihr an, sie auf dem Rücken tragen zu wollen. Nach kurzem Zögern stieg die Geschwächte auf, während die anderen Mädchen, die noch mehr Kraft besaßen, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen traten. Ihnen allen lief der Schweiß über das Gesicht.
 

Dann rannten sie weiter durch den Wald mit seinen geduckten Bäumen, bis sie die Spitze des Hügels erreicht hatten. Von dort oben konnte man das türkisblaue Meer sehen, und endlich wehte ihnen der Wind entgegen. Doch es war nur eine kurze Illusion von Abkühlung. Die Brise war unerträglich heiß.

Die sechs Mädchen ließen sich auf den Boden sinken und verschnauften. Keine von ihnen wusste, wie lange sie nun schon auf diesem Höllenmarsch durch die Mittagshitze waren.

Eine von ihnen stand auf und ging nach vorne an den Abgrund, wo sie den besten Blick über das Gelände hatte. Aber dort war nichts zu sehen, was ihnen Schutz bieten konnte. Diese Gegend war nicht von Menschen bewohnt, die letzte Siedlung hatten sie vor einer Ewigkeit hinter sich gelassen. Sie schien resigniert zu haben und ließ die Schultern hängen.

"Das ist doch nur Schikane! Wir hatten eigentlich nie eine Chance zu fliehen."

Eine andere stellte sich neben sie und lachte schallend, sie legte ihr eine Hand auf die Schulter und kam aus ihrem hysterischen Lachanfall kaum heraus. Während bei den anderen Mädchen betretenes Schweigen herrschte, das nur von erschöpften Atemgeräuschen und dem unendlichen Singsang der Zikaden durchbrochen wurde.
 

Plötzlich raschelte es in den Bäumen. Eine Hundertschar von Vögeln schoss in die Luft und verstreute sich unter lautem Kreischen in alle Himmelsrichtungen.

"Er kommt."
 

Das erste Mädchen, das vorne an der Klippe stand, suchte hektisch eine Stelle, an der man halbwegs unbeschadet hinuntergelangen konnte. Als sie endlich eine gefunden hatte, zögerte sie nicht und rutschte den Abhang hinunter. Die anderen folgten ihr. Sie stolperten und fielen, doch alle rappelten sich schnell wieder auf. Als letztes rutschte die Gruppe aus drei Mädchen hinunter, die Geschwächte unter ihnen musste nun wieder selber laufen. Doch auch sie schaffte es mit einigen Kratzern und Blessuren nach unten. In der Hälfte des Abhangs begann ein Weinberg, und der Untergrund mit den spitzen Steinen verwandelte sich in weiche Erde. Sogar einige Blumen wuchsen hier still im Schatten der Reben.
 

Die drei schnelleren Mädchen rannten durch die Weinstöcke, bis sie so weit entfernt waren, dass man sie nicht mehr sehen konnte. Das langsamere Dreiergespann blieb gleich am Anfang an einem Weinstock stehen, an dem dicke, rote Trauben die Zweige bogen.

"Wir müssen los!" Das zarte Mädchen der Gruppe wollte die beiden anderen weiterziehen, doch die, die zuvor auf dem Rücken des großen Mädchens getragen worden war, ließ sich ins Gras sinken, während die Große nervös in alle Richtungen schaute.
 

"Ja, ich komme." Sie holte tief Luft und kam wieder auf die Beine. Als die beiden anderen losrannten, tat sie so, als ob sie ihnen folgen würde. Doch dann tauchte sie hinter einem Weinstock unter und wechselte auf die andere Seite des Weges, wo sie unter einem Ginsterbusch hocken blieb. Verzweifelt presste sie sich in das Gestrüpp. Trotz eingeschränkter Sicht konnte sie erkennen, wie ihre Freundinnen sich immer weiter entfernten, und sie atmete durch. Ihr Körper war einfach zu ausgelaugt, und sie wollte nicht die Fußfessel der Gruppe werden. Als sie aber sah, wie ihre Freundinnen vollständig hinter den traubenschweren Weinstöcken verschwanden, quollen ihr die Tränen aus den Augen. Sie weinte vor Wut und Verzweiflung und schluchzte, dann legte sie ihr Gesicht auf den geschundenen Knien ab. Ihre Sandalen lösten sich langsam von den Füßen, auch sie hatten unter dem unmenschlichen Marsch gelitten.
 

Plötzlich sah sie auf dem Weg direkt neben sich einen Mann herannahen. Sie hielt die Luft an und presste sich noch enger in den stacheligen Busch. Der Mann ging langsam und selbstsicher. Das Mädchen verfolgte seine Schritte mit aufgerissenen Augen. Sie wusste, wer er war.
 

"Das Spiel ist jetzt vorbei." Er klang unendlich ruhig und gelassen. Fast schien es, als säße ihm der Schalk im Nacken. Das Mädchen im Gebüsch spürte, wie sämtliches Blut aus ihrem Gesicht verschwand und sie kreideweiß wurde.

Alle Tiere, ob nun Insekten, Schlangen oder Vögel, ergriffen die Flucht, und wollte nur weg vom Geschehen. Ameisen strömten aus ihren unterirdischen Höhlen und krabbelten dem Mädchen eilig über die Füße, und eine gelbe Sandviper schlüpfte unter ihren Beinen hindurch und schlängelte hastig über den heißen Boden.
 

Mit einem Mal riss der Mann die Hand empor und ballte sie in der Luft zu einer Faust. Im selben Moment wurde beinahe der gesamte Weinberg gesprengt, und alles ging in Flammen auf. Nur dort, wo der Mann stand und wo das Mädchen im Busch saß, blieb die Landschaft verschont. Ohne Vorwarnung wurden die anderen Mädchen, die über den Weinberg verstreut waren, von einer unmenschlichen Kraft in den Himmel gerissen. Die beiden Mädchen, die nicht bemerkt hatten, wie ihre Freundin verlorengegangen war, hielten sich an den Händen, wurden aber durch die unbekannte Kraft wieder getrennt. Nun schwebten alle fünf hoch am Himmel, und die Todesangst war ihnen in die Gesichter geschrieben. Rauchschwaden zogen über dem Gelände, und die Hitze wurde noch lebensfeindlicher. Selbst der Himmel färbte sich schwarz, während gleißende Blitze ihn durchzuckten. Die gesamte Luft schien wie aufgeladen zu sein.

Das Mädchen im Busch hielt sich Mund und Nase zu, es war unerträglich, jetzt nicht husten zu können. Aber irgendwie schaffte sie es.

"Ihr hattet eure Chance, doch die habt ihr vertan! Für Verräter habe ich nur eine Antwort: ich werde euch in den Tartaros werfen!"
 

Die Flammen, die den Weinberg in Asche verwandelt hatten, züngelten noch vor sich hin, doch das Futter ging ihnen langsam aus, und sie wurden immer kleiner. Die Blitze hingegen zischten immer noch mit voller Kraft vom Himmel und das Mädchen im Busch blickte nach oben und fühlte, wie sie zu zittern begann. Irgendetwas Unheimliches geschah um sie herum. Etwas, vor dem sie mit aller Kraft geflüchtet waren und das sie nun einholte. Doch es war nicht nur ein Zittern aus Angst, es war auch ein Beben vor Zorn.

Ein bedrohliches Grollen kündigte eine große Energiewelle an, die sich unterirdisch näherte und vor den Füßen des Mannes aufbrach. Der trockene Boden öffnete sich wie der Schlund einer Kreuzotter, die bereit war, ihr Opfer zu verschlingen. Einige der Mädchen, die in der Luft hingen, schlossen verzweifelt die Augen, andere starrten wie betäubt in das Loch, das sich unter ihnen auftat.
 

Der Tartaros, die schlimmste Abart der Hölle, war ihnen allen aus unheimlichen Erzählungen bekannt. Sie erinnerten sich an den jungen Mann namens Tantalos, der zu ewigen Qualen verbannt wurde und bis zum Kinn im Wasser stehen musste, ohne je einen Schluck davon nehmen zu können. Der bis in alle Ewigkeit Hunger litt, obwohl Äste mit köstlichen Äpfeln und Feigen über seinem Kopf hingen, die ihm aber jedes Mal entwichen, wenn er sie erreichen wollte. Tantalos' Mutter, die Okeanide Pluto, saß seitdem auf einer winzigen Insel im Ägäischen Meer und weinte sich die Augen aus. Weshalb von da an niemand mehr diese Insel betreten wollte und Pluto mit ihrem Kummer alleine blieb. Auch waren sie mit dem Schicksal des Sisyphos vertraut. Er sollte bis zum Ende aller Zeiten einen Fels den Berg hinaufrollen, der ihm, oben angekommen aber immer wieder entglitt und hinunterrollte. Beide hatten Verrat an den Göttern begangen und bei beiden hatten die unbarmherzigen Konsequenzen zu tragen.
 

Der Mann, der immer noch seine Hand gen Himmel gerichtet hatte und damit die Mädchen oben festhielt, schien zufrieden. Er bewegte seine Finger rhythmisch, und augenblicklich wuchsen aus dem Höllenschlund Arme heraus, die nach den Mädchen griffen, die wenige Meter über dem Boden schwebten. Alles Zappeln und Winden nützte nichts, die Arme kamen immer näher.
 

Unter dem Ginsterbusch war ein Augenpaar fest auf das grausame Geschehen gerichtet und als die erste Höllenhand das zarte Mädchen, dem bereits die Tränen aus den Augen nach unten tropften, packen wollte, löste sich ein roter Lichtstrahl. Er schnellte durch die Luft und traf den monströsen Arm. Er schnitt ihn am Gelenk, vor Schreck zuckten alle anderen Höllenhände zurück. Auch der mächtige Mann drehte sich blitzschnell um und ballte wieder seine Faust, was dazu führte, dass die schwebenden Mädchen augenblicklich zu Stein erstarrten.

"Komm raus!" Er brüllte in die Richtung des Ginsterbusches. Es verging ein Moment, in dem nur das leise Knistern der Flammen zu hören war. Die steinernen Mädchen hingen immer noch in der Luft.

Würdevoll und mit festem Blick tauchte die angesprochene Person hinter dem Busch auf, ihre Haltung war aufrecht und ihr Kinn gehoben. Ihre roten Haare flatterten im Rhythmus der Flammen.
 

"Du begehst einen großen Fehler, Zeus." Unauffällig streifte sie die kaputten Sandalen ab und trat ihm entgegen.

Ein winziges Lächeln umspielte seine Lippen, den Arm hielt er im heißen Wind immer noch gehoben.

"So, ich mache also einen Fehler?" Er bewegte den kleinen Finger, und sofort löste sich eins der fünf steinernen Mädchen vom Himmel und krachte zu Boden.

"NEIN!"

Ein Riss bildete sich an ihrem Kopf, als sie aufkam. Er ging von der Stirn bis über das linke Auge.
 

Das Mädchen, das sich Zeus entgegengestellt hatte, schluckte und fühlte, wie ihr Mund trocken und ihre Augen nass wurden. "Du verdammter Mistkerl!" Ihre Fingernägel drückten sich in der geballten Faust in ihre Handballen. So fest, dass es weh tat. Sie riskierte einen Blick nach oben, wo die Mädchen hingen. Sie sah, dass das Gesicht ihrer zarten Freundin im Moment der größten Angst zu Stein erstarrt war während sie die Arme schützend um ihren Körper geschlungen hatte. So verharrte sie nun durch den bösen Zauber und der Anblick war einfach nicht zu ertragen. Das Mädchen richtete ihren Augen wieder auf Zeus. Der wollte gerade mit einem finsteren Lächeln einen weiteren Finger ausstrecken, nachdem er mit dem ersten schon so großes Unheil angerichtet hatte. Die Gedanken rasten ihr durch den Kopf und das Klopfen der Überhitzung, das sie bis jetzt gehört hatte, wurde zu einem ekstatischen Hämmern, das sich langsam mit dem Wummern ihres pumpenden Herzens anpasste. Ihr gesamter Körper stürzte innerlich zusammen und doch ging sie einen Schritt nach vorne. Es war die pure Wut die sie antrieb. Blitzartig stürzte sie sich mit einem lauten Schrei auf Zeus und drückte ihm mit ihren knochigen Händen die Kehle zu. Überrascht ließ Zeus das Mädchen gewähren, er starrte sie wortlos an. Natürlich konnten ihre Hände seinem starken Hals nichts anhaben, und doch spürte er die Sturmwellen des Zorns die sie aussandte. Das Mädchen war der blanke Hass und die Aggression steckte so tief in ihr, dass sie von innen heraus leuchtete. So wie manche Menschen vor Liebe leuchten konnten, leuchtete bei ihr all das, was die Menschheit als schlechte Eigenschaften verachtete. Zeus wurde innerlich ganz ruhig und wusste, dass dieses Mädchen seinen eigenen Zorn überstrahlte, und er erkannte sich in ihr wieder.

Er lächelte, diesmal milder, aber nicht mit weniger Schalk im Nacken.

"Es wäre doch eine Schande, diese Energie zu verschwenden. Ihr alle sollt der Nachwelt erhalten bleiben."
 

Die Höllenhände verharrten inzwischen ungeduldig im Schlund und zuckten vor lauter Anspannung. Doch sie hielten sich immer ein Stück von den steinernen Mädchen fern, denn ohne die Anweisungen des Zeus trauten sie sich nicht, zuzuschlagen.

Das Feuer ringsherum war fast erloschen. Zurück blieb die verbrannte Erde, die eben noch ein üppiger Weinberg in der Mittagshitze gewesen war.
 

"Ihr habt gut gekämpft, meine Freundinnen." Zeus packt das rothaarige Mädchen und löste es von seiner Kehle. Sofort erstarrte sie und ihr Körper schien sich in Glas zu verwandeln, genauso die Körper der anderen Mädchen. Auch sie wurden leicht durchsichtig, und der Höllenschlund schloss sich widerwillig mit leisen Knirschen und verschwand, als ob er nie dagewesen wäre. Dann schwebten die Mädchen langsam zu Boden und ruhten auf der schwarzen Erde. Mit einer Bewegung des kleinen Fingers seiner linken Hand ließ Zeus das fehlende siebte Mädchen dazukommen. Sie hatte er während der Flucht sofort erwischt. Auch sie war nun gläsern und die Gruppe war wieder komplett.

Zeus schnippte mit den Fingern und plötzlich hielt er einen funkelnden Schlüssel in der Hand. Er drehte sich zu den heilgebliebenen Eukalyptusbäumen hinter sich um.

"Kümmer dich darum, Hera." Diese schaute etwas erschrocken hinter den Blättern hervor, fing dann aber den Schlüssel auf, den Zeus ihr unvermittelt zuwarf.

"Ich danke dir, Geliebter, dass du es so nicht hast enden lassen."

Er grummelte tief und wandte sich zum Gehen.

"Aber wie lange willst du sie in diesem Zustand lassen?" Hera hätte ihn gerne festgehalten, doch sie traute sich nicht.

"Das hat dich nichts anzugehen. Triff jetzt Vorbereitungen für die Rückkehr aller Götter nach Elysium."

Sie nickte.
 

Intermedium
 

Mehr als zweitausend Jahre sind seitdem vergangen und die Welt ist eine andere geworden. Die Erinnerungen an die antiken Götter verstauben in alten Büchern und die Menschen, die einst an sie geglaubt und sie verehrt hatten, sind längst tot und begraben.

Die Welt hat seit damals ungezählte Katastrophen erlebt und hunderte Kriege überstanden und viele Menschen glauben, dass es keine Magie mehr auf der Erde gibt, dass dieser Planet völlig entzaubert ist. Alles Übernatürliche sei getilgt und alle Götter verschwunden. Doch was geschah mit den sieben Mädchen, die Zeus erstarren ließ?
 

***
 

Berlin im 21. Jahrundert. Donnerndes Getöse drang vom Norden her und Dutzende sich überlagernder Polizeisirenen waren zu hören. Irgendetwas Gewaltiges stapfte auf die Stadt zu.
 

***

Kapitel 1

Es war bereits Nacht in Berlin, und auf dem Flughafen Schönefeld, von dem sonst in kürzesten Abständen Maschinen in fast alle Richtungen der Welt starteten, war der Betrieb außerplanmäßig eingestellt worden. Es war ungewöhnlich ruhig, und unter einem traurig grauen Himmel lag das kantige Flughafengebäude, aus dessen hell erleuchteten Abflughallen die Augen wartendender Reisender auf das gerichtet waren, was sich im Schummerlicht auf der Startbahn Nummer 4 abspielte.
 

Dort standen drei Menschen auf der dunkelgrauen Bahn, mitten zwischen den weißen Markierungen, die es den Flugzeugen erleichtern sollten sich zu orientieren. Das hoch gewachsene, blonde Mädchen in der Mitte trug ein seltsames Kostüm mit einem gelben Faltenrock, gelben Halbschuhen und einem schwarzen Oberteil, unter dem man eine weiße Bluse sehen konnte, und auf dem Kopf saß eine schwarze Baskenmütze mit einem regenbogenfarbenen Abzeichen. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt. Der Wind wehte eiskalt und ließ ihre langen Haare wie Meereswellen schwingen. Die gestrandeten Flugreisenden standen dicht gedrängt an den großen Glasfenstern und fragten sich, warum dieses Mädchen in so einem Aufzug am Flughafen war, da würde sie sich doch den Tod holen, und jeder, der jetzt draußen unterwegs war und in einem dicken Wintermantel steckte, war froh darüber. Die Temperaturen lagen nur knapp über dem Gefrierpunkt und der Wind verlieh der Kälte noch mehr Kraft.
 

Lena aber blickte starr geradeaus. Sie stand mit dem Rücken zu Juliana und Vincent, die sich voller Erwartung an den Händen hielten. Was würde das ernste Mädchen mit den langen blonden Haaren jetzt wohl tun? Sie war die Hoffnung der Menschheit, sie allein hatte die Macht, das drohende Unheil abzuwenden. Doch davon ahnten die Zuschauer des Geschehens am Flughafen nichts. Sie hofften einfach, dass sie bald weiterreisen konnten und dass alles seinen gewohnten Gang nehmen würde, denn noch wussten sie nicht wie dramatisch die Lage tatsächlich war weil die Nachrichtensender, die auch pausenlos auf den Monitoren im Flughafen liefen, sich des Themas noch nicht angenommen hatten. Wahrscheinlich, weil die Ratlosigkeit dieser unbekannten Gefahr gegenüber zu groß war und niemand Panik verbreiten wollte.
 

Lena schloss für einen Moment die Augen und sie atmete tief durch.

"Macht euren Mist alleine, ich werde euch nicht helfen."

Ohne sich noch einmal umzudrehen, marschierte sie an den großen Flugzeugen vorbei, die an den Gates parkten, und war hinter dem nächsten Shuttlebus verschwunden. Die eisige Nacht hatte sie verschluckt.
 

Juliana, die sich sonst nicht so leicht vor den Kopf stoßen ließ, fand ihre Sprache kaum wieder. Ihre streng zusammengebundenen hellbraunen Haare klebten fast bewegungslos an ihrem Körper, doch ihre Jacke flatterte wild umher. Erst langsam realisierte sie, was Lenas Worte für die jetzige Situation bedeuteten. Auch ihr Mann Vincent, der sich seinen dicken Schal fester um den Hals wickelte, blickte Lena noch fassungslos hinterher, als sie längst nicht mehr zu sehen war. So war das nicht geplant gewesen. Eine Katastrophe!
 

Mit einem geübten Handgriff zog Juliana ihr Handy aus der Tasche und wählte mit finsterem Blick eine Nummer.

"Starten Sie den Helikopter, wir treffen uns in fünf Minuten am Osteingang!" Sie gab Vincent ein Zeichen, ihr zu folgen, und sprach weiter in das Handy. "Wir müssen sofort nach Weimar zurück. Hier ist was schief gelaufen." Mit einem lauten Schnappen klappte sie das Handy zu und drückte es in ihrer Faust zusammen, bis es knackte. Noch mal würde sie sich das nicht bieten lassen.
 

Wie die Lichter Berlins ihr entgegenfunkelten, bekam Lena kaum mit, sie setzte einen Fuß vor den anderen und bemühte sich, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Langsam löste sich ihre gelbe Uniform auf, was blieb, waren ein schlichtes T-Shirt und eine Jogginghose. Ihre Füße steckten in ein paar einfachen, braunen Schuhen, die viel zu dünn waren für die frostigen Temperaturen in der Nacht. Als sie einige Zeit gelaufen war, erschien wenige Meter vor ihr am Haus eines Cafés ein buntes, leuchtendes Reklameschild. Für einige Momente versank Lenas Blick in den Farben, sie machten sie froh und traurig zugleich. Sie sah, dass das Café noch geöffnet hatte, also trat sie ein und setzte sich an einen der kleinen runden Tische in der hintersten Ecke.
 

Sie fühlte sich hin und her gerissen zwischen etwas, das sie noch nicht einsortieren konnte. Es war leicht gewesen, Juliana und Vincent vor den Kopf zu stoßen und den Kampf zu verweigern. Viel schwieriger war es, jetzt damit ins Reine zu kommen - den Standpunkt aufrechtzuhalten, obwohl sie innerlich vor Angst weinte. Lena schaute sich halbherzig im Laden um. Viele Waren lagen nicht mehr in der Theke, aber sie wollte auch nichts bestellen. Die Verkäuferin mit den stacheligen, schwarzen Haaren nahm es ihr nicht übel. Wenn jemand so kurz vor Ladenschluss hier auftauchte und so einen trübsinnigen Blick hatte, durfte man ihm ein stilles Plätzchen an einem Tisch nicht verwehren, solange bis er wieder Mut gefasst hatte, um weiterzugehen.

Was die Verkäuferin nicht wusste, war, dass wenige Kilometer entfernt am Flughafen Schönefeld ein furchtbares Ungetüm tobte, und dass die Person, die das Wesen bekämpfen konnte, vor ihr saß und sich nicht vom Fleck rührte.
 

Um ein Uhr nachts kamen Juliana und Vincent auf dem improvisierten Hubschrauberlandeplatz des Geländes von Schloss Belvedere an. Im Internatsgebäude waren bereits alle Lichter gelöscht. Doch Juliana war die Nachtruhe in diesem Moment egal, sie stürmte mit lauten Schritten durch die langen Flure, bis sie eines der hinteren Zimmer erreichte. Sie öffnete die Tür und fragte ins Dunkel hinein: "Katharina? Bist du wach?" Nichts rührte sich. "Es gibt Probleme!" Auf der Stelle kroch die 12jährige Katharina unter der Decke hervor, sie trug keinen Schlafanzug, sondern war schon fertig für die kalte Nacht angezogen. Sie schlüpfte rasch in die Schuhe hinein und lief ihrer finster dreinblickenden Mutter entgegen.

"Was ist passiert?"

"Member Yellow verweigert den Kampf."

Katharina musste schlucken. Schnell wühlte sie im Dunkeln in einer ihrer Schubladen und kramte aus einem Kästchen einen funkelnden Schlüssel hervor.

"Damit hätte ich nie gerechnet! Dass so etwas passieren kann, haben sie in der Prophezeiung nicht geschrieben!" Katharina schüttelte während sie sprach den Kopf, dann reichte sie ihrer Mutter die Hand und beide rannten los, wieder hinaus in die Nacht. Gerade hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt. Beide überkam ein Schauer als sie das schützende Gebäude verließen. Die Temperaturen lagen jetzt leicht unter dem Gefrierpunkt und bald würde aus dem Regen Schnee werden.
 

Katharinas und Julianas Weg führte vom Schüler-Wohntrakt am Hauptschloss vorbei in den angrenzenden Park, er war riesig und verwinkelt und schloss sich direkt an das Internatsgelände an. Doch die beiden wussten genau, wohin. Immerhin waren sie denselben Weg heute früh schon einmal gelaufen. Am Morgen hatten sie den mysteriösen Brief erhalten, mit dem sie eigentlich jeden Tag ihres Lebens gerechnet hatten, auch wenn sie ihn doch nie bekommen wollten. Der Brief, der automatisch von einer schwarzen Brieftaube überbracht wurde, enthielt nur zwei Sätze.
 

Es ist soweit. Weckt sie auf.
 

Seit Jahrhunderten war der Schlüssel, den Katharina jetzt in ihrer Hand hielt, im Besitz der Familie Bianchi gewesen, er war stets weitergereicht worden an das nächste Familienmitglied, zusammen mit dem Wissen, wie er einzusetzen war und welche Regeln für den Schlüsselwächter und die schlafenden Kriegerinnen galten.

Juliana, Rektorin der Belvederer Akademie, mit dem stetig ernsten Blick, war Teil dieser Familie und kannte das Geheimnis um das mysteriöse Erbstück. Vor einem Jahr hatte sie beschlossen, ihre Tochter mit diesem Geheimnis vertraut zu machen und ihr den Schlüssel zu übergeben.

Nun war junge Katharina die Schlüsselwächterin. Sie musste im Fall einer Katastrophe, die nun eingetreten zu sein schien, die Türen der uralten Burgruine öffnen, die tief im Schlosspark verborgen lag.
 

Der unscheinbare Eingang in die verlassene Burg war überwuchert mit Sträuchern und jungen Bäumen, und schon lange hing ein Schild mit der Aufschrift "Einsturzgefahr" gut lesbar über dem Eingang. Doch selbst ohne dieses Schild hätte kaum jemand gewagt, einen Fuß in das Gemäuer zu setzen, das sich wirklich in einem erbarmungswürdigen Zustand befand. Die Wurzeln unzähliger Pflanzen hatten über die lange Zeit nach und nach den harten Stein erobert und drohten ihn an vielen Stellen zu sprengen. Auch der Umriss der Burg war über die Jahrhunderte weich geworden, die Witterung hatte sich hungrig an allem zu schaffen gemacht, was ihr zur Verfügung stand und auch nicht vor der alten, malerischen Burg Halt gemacht.
 

Drinnen bahnte sich Katharina einen Weg über die Steinbrocken, die bereits von der Decke gefallen waren. Mit einem alten Haargummi hatte sie ihre schulterlangen hellbraunen Haare zusammengebunden, nichts durfte ihre Sicht beeinträchtigen. Sie suchte mit Hilfe ihrer Taschenlampe ein bestimmtes Loch in der Wand. Das Regenwasser war schon bis hier her durchgedrungen und hatte das Moos auf den alten Steinen aufquellen lassen, alles war glitschig und in höchstem Grade ungemütlich.
 

"Beeil dich! Jede Minute kann ein Menschenleben kosten!" Juliana umklammerte sich selbst, als sie die langsam aufsteigende Kälte fühlte, sie hatte immer noch die dünne Jacke an, die sie auf dem Flughafen in Berlin getragen hatte. Von der Decke tropfte Wasser, das über ihre Nasenspitze lief und dann lautlos auf dem Steinboden aufkam. Auch ihre Haare waren bereits nass.
 

Mit zitternden Fingern tastete Katharina weiter die feuchte Wand ab. Die ganze Nacht hatte sie schon wach gelegen und auf Erfolgsmeldungen von ihren Eltern gewartet. Eigentlich wollte sie das Geschehen im Fernsehen verfolgen, aber im Internatsalltag war der Fernseher ab 21 Uhr tabu, und der Fernsehraum blieb bis zum nächsten Tag verschlossen. Woher sollten die Lehrer auch wissen, was sich an diesem Abend in Berlin abspielen würde? Sie waren nicht eingeweiht in die Vorgänge und vollführten einfach ihren Dienst nach Vorschrift. Es war für Katharina zwar eine große Ehre gewesen, dass sie nun eine der größten Geheimnisträgerinnen in der Schule geworden war, aber ein Geheimnis war nicht so süß und verführerisch, wenn man wusste, dass es wirklich absolut niemand erfahren durfte. Es konnte zu einer richtigen Last werden, und Katharina hoffte, dass es nicht der Grund war, der ihre Mutter zu einem so ernsten Menschen gemacht hatte. Katharina wischte den Gedanken beiseite, im Moment gab es wichtigeres.
 

Sie gab es auf, im schwachen Dämmerlicht nach dem Loch zu suchen, sie schloss die Augen und versuchte, sich auf ihre anderen Sinne zu konzentrieren. Irgendwo hier war es gewesen, eine unscheinbare Vertiefung in der Wand, die kein ungebetener Besucher in der alten Burg je bemerken würde. Irgendwo war sie zu finden. Dann glitt ihr kleiner Finger tatsächlich in eine Einbuchtung, die genau zu ihrem Schlüssel passte.

"Ich hab's wieder gefunden!"

Mit etwas mehr Gewalt als beabsichtigt rammte sie den alten Schlüssel in das Loch und drehte ihn mit beiden Händen um.

Mit einem knirschenden Geräusch öffnete sich die bis dahin unsichtbare Tür.

Schnell verschwanden Juliana und Katharina hinter ihr und stiegen die Stufen hinab. Hier war alles trocken, kein einziger Regentropfen hatte es bis hierher geschafft. Jetzt war nur noch das hektische Atmen der beiden zu hören, sonst blieb alles still. Der lange Gang wurde von kleinen Kerzen in ein schummeriges Licht getaucht. Katharina fragte sich, ob diese Kerzen eigentlich nie ausgingen? Heute Morgen waren die Kerzen genauso groß gewesen. Gab es jemanden, der sie auswechselte und neu anzündete? Eine unheimliche Vorstellung...
 

"Welche Tür sollen wir jetzt öffnen?"

Juliana knirschte vor Nervosität mit den Zähnen.

"Die erste Tür hat uns kein Glück gebracht. Schau dich um, und entscheide dann."

Den Schlüssel fest in der Hand, ging Katharina den Gang entlang. Heute Morgen, als sie die Ruine das erste Mal in aller Hektik betreten hatten, hatte sie sich keine Zeit genommen, den langen Gang mit den vielen verschlossenen Türen zu erkunden. Jede der steinernen Türen war in einer anderen Farbe gestaltet, jede mit unverwechselbaren, kunstvollen Verzierungen. Auf allen waren Reliefs mit jungen Frauen in langen Kleidern abgebildet und an manchen Stellen war der helle Stein schon so verwittert, dass man die Gesichter der Figuren kaum mehr erkennen konnte, einige wirkten wie Gespenster. Ganz am Ende des langen dunklen Ganges schien eine Treppe hinunterzuführen. Was sich dort wohl verbarg? Doch das war jetzt nicht wichtig, denn die Zeit drängte.
 

Als Katharina einige Türen passiert hatte, erschrak sie. Die orangene Tür war vollkommen zerstört, Spinnweben hatten bereits die Überreste bedeckt. Das steinerne Bett in der Mitte des fensterlosen Raumes, auf dem eigentlich eine der legendären Kriegerinnen in ihrem ewigen Schlaf liegen sollte, war leer. Am Boden lagen nur die Überreste eines staubigen Kleids, das kaum noch als solches zu identifizieren war.

"Member Orange ist ...", Katharina hörte für einen Moment auf zu atmen, "... tot." Auch Juliana stand jetzt hinter ihr und schaute in den Raum. "So furchtbar das ist, wir haben jetzt nicht die Zeit dafür. Such dir eine andere aus!", drängte sie.
 

Katharina lief drei Türen zurück, holte Luft und steckte den Schlüssel in das Schlüsselloch der roten Tür. Mit einem lauten Klacken, das mehrfach im langen Gang widerhallte, sprang die Tür auf.

Diesmal stimmte das Bild. Genau wie am Morgen, als sie die gelbe Tür geöffnet hatten, lag eine durchsichtige Gestalt auf dem großen Bett aus Stein. Die Wände, die den Raum umgaben, waren aus riesigen Felsblöcken gemauert. Einige schwere, uralte Vorhänge erweckten den Eindruck, als ob Fenster dahinter steckten. Sie waren aber nur Dekoration und bis auf das schummerige Kerzenlicht war der Raum unendlich finster. An der Wand hing in einem trüb gewordenen Glaskasten ein ringförmiger Gegenstand. Juliana öffnete den Kasten unsanft und holte das seltsame Objekt heraus. Sie wusste genau, wozu es diente. Dann drehte sie sich um, zu dem gläsernen Mädchen, auf das sie ihre Hoffnung setzten. Katharina stand schon dicht bei ihr und setzte einen Zeigefinger auf die Stirn der gläsernen Gestalt. Wie sie es bei Member Yellow getan hatte, zeichnete sie mit dem Finger einen Halbkreis nach und wiederholte es zweimal, es stellte ein stilisiertes Symbol eines Regenbogens dar und erst dieser Vorgang würde das Mädchen wieder zum Leben erwecken.
 

Das Gesicht, das erst vollkommen ausdruckslos und wie tot war, schien nun Farbe zu bekommen und das Gesicht einer Schlafenden zu sein, und nach und nach wurde sie tatsächlich wach. Katharina erwartete, dass sie eine ähnlich imposante Kriegerin und Schönheit wie Member Yellow werden würde. Doch als sie sich langsam dem Bett näherten, um dem Mädchen beim Aufstehen zu helfen, stutzten sie für einen Augenblick. Das Mädchen war kleiner als Member Yellow, hatte die zu ihrer Türfarbe passenden feuerroten Haare und eine Menge Sommersprossen. Ihr Gesicht wirkte längst nicht so anmutig und edel wie das von Lena. Insgesamt war sie auf den ersten Blick eine Enttäuschung. Die Wimpern waren farblos, die Augenbrauen ebenso, die Lippen blass und kaum weiblich, sie sah aus wie ein Mädchen, das in der Schule immer gehänselt werden würde. Nichts von der Vorstellung der großen Retterin der Menschheit fand sich in ihr wieder. Dieses Mädchen, das gerade mal zwei Jahre älter als sie selbst zu sein schien, sollte nun vor so eine große Aufgabe gestellt werden? Katharina hoffte, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, und zweifelte schon an ihrem Entschluss.

Kapitel 2

Member Red kniff die Augen zusammen, als sie das grelle Licht der Taschenlampe durch ihre Augenlider sah. Sie sah es? Mit einem Mal schreckte ihr Kopf hoch. Sie konnte es sehen! Dies war keine der Traumlandschaften, durch die sie viele hundert Jahre gereist war, das hier war echt! Langsam wagte sie es, die Augen vollständig zu öffnen, doch ein stechender Schmerz durchfuhr sie und sie verkrampfte das Gesicht. Eine halbe Ewigkeit hatte sie in Finsternis verbracht, ihre Augen waren all die Zeit fest verschlossen gewesen. Nun tat ihr das erste Licht furchtbar weh. Doch dieser Schmerz war vielleicht ein kleiner Preis, den man als lebendes, waches Wesen wieder zahlen musste. Sie hatte schon so lange keinen Schmerz mehr gefühlt und kostete ihn sorgfältig.

Vorsichtig bewegte sie ihren linken Zeigefinger, dann den rechten, dann den Daumen, dann die anderen Finger. Danach die ganze Hand, und den Arm. Auch die Beine schienen ihr zu gehorchen, sie zog sie behutsam an den Körper heran und umschlang mit ihren Armen die Knie und sie öffnete langsam den Mund, dabei war sie sich nicht sicher, ob sie schon wieder Worte formen konnte.

"Mir ... ist kalt.", stieß sie hervor.
 

Katharina und Juliana schauten in die grünen Augen des Mädchens, die eben noch aus puren Glas zu sein schienen und jetzt ganz normal wirkten. Aus der märchenhaften Gestalt des schlafenden Dornröschens war ein dünnes, frierendes Mädchen mit blasser Haut und roten Haaren geworden. Das weiße Kleid, das sie trug, hing nun wenig feierlich an ihr wie ein altes Tuch, denn es schien ihr nicht mehr richtig zu passen.

Juliana griff ihr unter den Arm und half beim Aufstehen. Member Red schaute auf das ringförmige Gerät, welches Juliana aus dem Glaskasten entfernt hatte, dort stand klein eingraviert ein Name. Amalia.

"Das ist mein Name." Sie klammerte sich an der fremden Frau fest, es war Jahrtausende her, dass sie fähig gewesen war zu laufen.
 

Katharina, die ganz bewegt vom Geschehen war, nickte nur. "Ja, das ist dein Name." Ihre Mutter hingegen schien das Ganze sehr kühl zu nehmen, sie trieb Amalia voran, hinaus aus dem dunklen Raum, in dem sie so viel Zeit verbracht hatte. Eine Zeit ohne Kummer und Sorgen, eine Zeit ohne Verantwortung, ohne Pflichten. Aber auch ohne Überraschungen.

"Kannst du dich an das erinnern, was vor dem heutigen Tag passiert ist?" Katharina konnte ihre Neugier nur schwer bremsen, aber ihre Mutter schüttelte kurz den Kopf in Richtung ihrer Tochter, das reichte.

"Ja... Nein... da ist nicht viel. Nur ein weißes Rauschen."

Amalia setzte einen Fuß vor den anderen und ihr Gang wurde immer sicherer. Wie ein Schmetterling, der eben aus seinem schützenden Kokon gekrochen war und seine Flügel zum ersten großen Ausflug trocknete, fühlte auch Amalia, wie die Kräfte in ihr brodelten. Sie war wieder lebendig, und es gab keine Zeit zu verschwenden. Dieses Leben hatte doch mit Sicherheit einiges zu bieten.
 

Als die drei durch die massive Tür ins Freie gingen, riss Amalia sich von Juliana los.

"Großer Gott!", entfuhr es Amalia. Sie lief einige Schritte. Der Regen, der eben noch garstig gegen die alten Mauern der Burg geschlagen hatte, war zu Schnee geworden. Viele tausend Flocken segelten friedlich zu Boden. "Wo zum Teufel sind wir hier? Warum ist es so kalt? Das ist niemals Griechenland..." Ehe sie noch mehr Fragen stellen konnte, packte Juliana sie am Arm. "Komm jetzt."

Katharina wagte es nicht, der Mutter zu widersprechen, auch wenn sie Amalia bedauerte. Es gab noch so vieles das sie ihr erklären mussten.

Wortlos blieb sie an der Burg stehen, als Juliana die staunende Amalia in Richtung Hubschrauberlandeplatz zerrte. Katharina wusste sehr genau, dass sie nicht mit nach Berlin kommen durfte, ihr Platz war hier und morgen würde die Schule ihren normalen Gang nehmen. Außerdem, so hoffte Katharina, war es auch der Beschützerinstinkt ihrer Mutter, der dafür sorgte, dass sie sich einer so großen Gefahr nicht aussetzen durfte.

Sie schaute den beiden hinterher und ging erst zum Internat zurück als ihre Mutter und die neuerweckte Kriegerin im Schneetreiben verschwunden waren.
 

Juliana schob Amalia die wenigen Stufen des kleinen Passagier-Hubschraubers hoch, der auf dem Besucherparkplatz vor dem Internatsgelände auf seine Passagiere wartete. Der Rotor lief bereits und das Kleid des Mädchens flatterte wild, sodass es sie beinahe umriss, so heftig war der Sog.

Obwohl Amalia zu dem Zeitpunkt, als sie in den langen Schlaf gefallen war, keine Hubschrauber kannte, war sie schnell vertraut mit dem Ungetüm. Sie war sich sicher, dass dieses "Verstehen" ein eingebauter Mechanismus war, der allen schlafenden Kriegerinnen einen guten Start in ihrer neuen Welt bieten sollte. Denn wie schwer und lähmend wäre das Leben, wenn man sich über alle Neuerungen der Technik wundern würde? Dann wäre man zu nichts mehr fähig.
 

Amalia setzte sie sich wie selbstverständlich auf einen der acht weißgepolsterten Sitze und schloss intuitiv den Sicherheitsgurt. Ganz geheuer war ihr die Sache nicht, vor allem der Lärm fuhr ihr dermaßen in die Glieder, dass sie Gänsehaut bekam. Hinzu kam die eisige Kälte. Selbst wenn sie sich an ihr früheres Leben nicht erinnern konnte, so wusste sie doch, dass es dort niemals so kalt gewesen war.
 

Als sich die Türen schlossen, wurde der kleine Innenraum des Hubschraubers mit warmer Luft geflutet und Amalia konnte sich zum ersten Mal wieder etwas entspannen. Der Pilot warf einen kurzen, kritischen Blick auf sie, dann startete er die Motoren und die Maschine hob in die rabenschwarze Nacht ab. Zweifelte auch der Pilot, dass dieses Mädchen auf dem Rücksitz tatsächlich eine mächtige Kriegerin war? Heute Mittag hatte Member Yellow auf der Rückbank gesessen, ihr Gesicht war würdevoll und wie versteinert gewesen. Vielleicht hatte sie deshalb alle glauben lassen, sie wäre eine erhabene Göttin, doch genutzt hatte es nichts, denn das Monster in Berlin wütete noch immer und Lena hatte sich in Berlin abgesetzt anstatt sich dem Kampf zu stellen. Juliana ließ sich über einen kleinen Laptop, den sie auf ihrem Schoß liegen hatte, die neuesten Nachrichten zukommen. Amalia hingegen warf nur einen kurzen Blick auf den leuchtenden Bildschirm und die kryptischen Zeichen, die über ihn rauschten, dann beobachtete sie, wie die dunkle Landschaft unter ihr zu einem Spinnennetz aus Lichtpunkten wurde. So viel Licht gab es in ihrem früheren Leben nicht, und es hätte keinen normalen Mensch gegeben, der in einem Hubschrauber darüber hinwegfliegen konnte.
 

Was niemand der Anwesenden im Hubschrauber wusste war, dass sich in der nunmehr verlassenen Burg noch etwas regte. Ohne jegliches Zutun der Schlüsselwächter bewegte sich die Kriegerin hinter der blauen Tür. Ihr Körper war immer noch gläsern und genauso ihre Augen, die sich geöffnet hatten, aber immer noch ohne jeglichen Ausdruck blieben.

"Mali..." Der Mund mit den durchsichtigen Lippen formte nur dieses eine Worte. Dann rappelte sie sich ganz langsam auf und rutschte von ihrem steinernen Bett.

"Mali..."

Sie kroch in Richtung der Tür und klopfte dagegen, doch sie war viel zu schwach, um sie zu öffnen.
 

Amalia atmete tief durch. Sie schaute auf ihre Hände und drehte sie im fahlen Licht der kleine LED-Lampe, die über ihr hing. Dann betrachtete sie ihre Füße, die in einfachen Sandalen aus weißem Leder steckten. Wahrscheinlich war es einmal ein wertvolles Material gewesen, doch jetzt war es zerschlissen und getränkt von braunen Schneewasser. Überhaupt schien ihre Kleidung nicht mehr angemessen zu sein, denn Juliana, die neben ihr saß, trug einen dicken Mantel mit einem Pelzkragen und eine samtene Hose, darunter ein Paar schwarze Stiefel. Amalia hätte sich gerne mit ihr unterhalten, aber die Frau schien furchtbar angespannt zu sein. Außerdem gab es sicher noch andere Gelegenheiten für ein Gespräch, also schluckte Amalia ihren Drang zu reden hinunter und schenkte ihre Aufmerksamkeit dem Geschehen, das sich um den Hubschrauber herum abspielte. Ein bisschen glich die graue Nacht mit ihren verschwommenen Lichtern und den tanzenden Schneeflocken noch der Traumwelt, in der sie so lange gefangen gewesen war.
 

Einige Zeit später setzte der Hubschrauber am Berliner Flughafen Schönefeld auf. Das Schneetreiben war nun mörderisch, kein Mensch war mehr auf der Straße, und langsam hatte sich auch herumgesprochen, dass ein seltsames Monster in der Stadt wütete. Außerdem hatten die Fernsehsender ihr laufendes Programm gestoppt und berichteten nun von den Vorgängen in Berlin.

Amalia kletterte aus der Maschine, die in der Nähe des Lieferanteneingangs gelandet war, hielt sich die Hand vors Gesicht, und blinzelte in die Ferne. Irgendwo dahinten bewegte sich schemenhaft etwas Großes, aber was das war, konnte sie nicht erkennen. Hinzu kamen die Blaulichter von Polizeiautos, die durch den trüben Vorhang aus Schnee schimmerten.
 

Juliana ging mit festen Schritten voraus. "Komm!" Sie näherten sich dem Areal der Start- und Landebahnen, die an den Seiten von Lampen gesäumt waren, die man im trüben Licht gerade noch erkennen konnte.

Als sie völlig vom Schneetreiben eingeschlossen waren und weder hinter noch vor ihnen irgendetwas außer den kleinen Lichtern zu sehen war, legte Juliana Amalia die Hand auf die Schulter.

"Es ist wichtig, dass du mir jetzt zuhörst. Eigentlich weißt du tief in dir, was passiert, wenn du aus deinem langen Schlaf erweckt wirst, also handle so, wie es dir aufgetragen wurde."

Amalia schaute sie direkt an und erinnerte sich an die Worte, die ihr in den vielen Träumen nie verloren gegangen waren.

"Immer, wenn die Welt von einer tödlichen Bedrohung heimgesucht wird, an der die Menschheit selbst keine Schuld trägt, wird die legendäre 'Rainbow Alliance' erweckt, um die Gefahr zu bannen."

Juliana atmete kurz durch, so weit war sie mit Member Yellow auch gekommen, die Frage war nun, wie es weiterging.

"Kennst du auch die Worte, die du sprechen musst, um dich zu verwandeln?"

In Amalia begann es langsam zu kribbeln, ein Gefühl, das sich vom Bauch über den ganzen Körper ausbreitete. Es war wie ein Wirbel, den sie verstandsmäßig überhaupt nicht erklären konnte, jeglicher Drang, die Schönheit dieser Welt zu entdecken, wurde von der Kampfeslust gefressen.

Sie ging in die Knie, streckte ihre Arme vor, und es sah so aus, als ob sie mit großer Kraft etwas Unsichtbares aus dem harten, schneebestäubten Boden zog.
 

"Member Red Revelation!"
 

Der Schnee auf der Startbahn vor ihr schmolz in einem Sekundenbruchteil, dann schwappte eine rot leuchtende Energiewelle aus dem kalten Asphalt und ging über Amalia nieder. Schon schien es, als löse sich das alte weiße Kleid im Luftstrom auf und wie durch Zauberhand kroch ein rotes Band aus Licht ihren Körper empor, wo sich nun in Windeseile die Uniform materialisierte. Ihr Kostüm sah genauso aus wie bei Member Yellow, nur leuchtete, was bei Lena gelb gewesen war, in kräftigem Rot. Als letztes erschien die schwarze Mütze mit dem Regenbogen-Abzeichen auf Amalias Kopf, dann tauchte die leuchtende Energiewelle mit lautem Rauschen in den Boden und war so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war.
 

Juliana, die sich sonst nur schwer beeindrucken ließ, konnte ihre Faszination bei dieser Verwandlung nicht verbergen. Fast war ihr Zorn über Member Yellows Ausfall in den Hintergrund gerückt. Obwohl viele Generationen ihrer Familie insgeheim darauf gehofft hatten, die Mitglieder der Rainbow Alliance sehen zu dürfen, war es doch nie dazu gekommen. Manche ihrer Vorfahren hatten schon nicht mehr geglaubt, dass die überlieferte Prophezeiung jemals wahr werden würde. Andere hatten regelrecht den Tag herbeigesehnt, an dem der Startschuss gegeben werden würde. Selbst wenn klar war, dass der Menschheit damit gleichzeitig eine große Gefahr drohte. Sie war die erste aus der Schlüsselwächterfamilie, die dieses Schauspiel erleben durfte.
 

Amalia öffnete die Augen und spürte die Kampfeslust in sich wachsen. Sie fühlte, wie ihre Zähne vor Anspannung knirschten und wie ihre Hände sich zu Fäusten ballten. Egal welche Gefahr dort lauerte, es war Zeit, sich mit ihr auseinanderzusetzen.

Juliana drückte ihr den ringförmigen Gegenstand in die Hand, der in ihrer Schlafkammer verborgen gewesen war. Als Amalia ihn in den Händen hielt, bekam sie sofort ein Gefühl dafür, wie sie mit dem Ring umzugehen hatte.

Plötzlich war ihr nicht mehr kalt, die Schneeflocken streiften ihren Körper sanft wie Federn, und auch der Wind schnitt keine eisigen Furchen mehr in ihr Gesicht, sondern umschmeichelte es.

Nur Juliana zog ihren Mantel enger zusammen und presste die Lippen aufeinander. Sie sagte nun nichts mehr, blieb einfach stehen und wartete darauf, was Amalia jetzt tun würde. Es war zu spät, sie zu drängen.

Mit sicheren Schritten ging Amalia dem Heulen von Sirenen entgegen. Über ihr schienen nun auch mehrere Hubschrauber zu kreisen. Was war es nur, was die Menschen mitten in der Nacht so aufgeschreckt hatte?
 

Und dann sah sie es.

Aus dem Nebel erhob sich eine riesige Gestalt und in dem kurzen Moment, in dem Amalia erschrocken auf das Wesen starrte, kramte sie in ihrer Erinnerung, um herauszufinden, um was es sich hier handelte. Dann fiel es ihr ein, trotz der Furcht erregenden Größe, der keifenden Geräusche und dem Gestank, den das Wesen ausströmte, war es nichts anderes als eine Ameise!

Als sie einige Schritte auf das tobende Wesen zugehen wollte, das pausenlos von Polizisten beschossen wurde, riss eine starke Hand sie zur Seite. Ein Polizist des Spezialeinsatzkommandos hatte Amalia gepackt und sie unsanft mit sich gezerrt. Seinen Helm mit dem integrierten Funkgerät hatte er tief ins Gesicht gezogen und seine dick gepolsterte Weste gab ihm ein bulliges Aussehen.

"Bist du völlig wahnsinnig? Mädchen, geh zurück in den Karnevalsverein, wenn dir dein Leben lieb ist!"

Amalia packte ihn am Handgelenk und drückte zu. Der Mann schrie erschrocken auf, diese Kraft hatte er nicht erwartet. Sie starrte ihm mit voller Intensität in die Augen und übte damit einen solchen Druck auf ihn aus, dass er nicht zu Gegenwehr ansetzte. Doch dann macht er Anstalten in sein Funkgerät sprechen zu wollen um seine Kollegen herbeizurufen.
 

"Stopp!" Juliana trat aus dem Nebel heraus.

"Wir können das anders lösen." Mit ihrer ganzen Autorität baute sie sich vor den beiden auf. Dass sie fror, sah man ihr nun nicht mehr an.

"Sagen Sie den Leuten hier über Lautsprecher, dass sie sich zurückziehen sollen! Wir regeln das!"

Amalia lockerte ihren Griff.

"Sie regeln das?" Der Polizist mit den blonden Haaren lachte hysterisch, doch Julianas eisiger Blick ließ ihn verstummen.

Seit beinahe acht Stunden hielten sie dieses Biest nun in Zaum. Immer mehr Verstärkung aus ganz Berlin und den umliegenden Städten war herangeholt worden, doch genutzt hatte keine Kugel, kein Flammenwerfer, keine Stahlseile, kein gar nichts. Sie hatten das Monster nur davon abhalten können, ins Stadtzentrum vorzudringen. Vielleicht hatte die Verzweiflung schon an seinem Verstand genagt, sodass er für einen Moment tatsächlich in Betracht zog, dass diese magere, kostümierte Gestalt ihnen helfen konnte. Doch dann schüttelte er kurz den Kopf um wieder klar zu werden. Er drückte den Knopf am Funkgerät seines Helms.

"Ja, Peter, hier Vitali, was ist bei dir los?", knarzte es aus dem Gerät.

Juliana zog eine silberfunkelnde Pistole aus dem Inneren ihres Mantels hervor, sie hielt sie mit geübten Griff und spannte den Hahn. Damit gab sie dem jungen Mann eindeutig zu verstehen, dass sie es ernst meinte.

"Vitali... falscher Alarm." Er drückte wieder auf den Knopf und das Knirschen verstummte.

"Ihnen ist doch wohl klar, dass ich dazu ausgebildet wurde mein Leben zu riskieren und das eine auf mich gerichtete Waffe mich nicht davon abhält zu tun was ich tun muss?"

Juliana nickte. "Ich weiß auch, dass sie eine viel größere Waffe am Körper tragen." Sie deutete mit dem Kopf in Richtung seines Maschinengewehrs.

"Und doch sind sie nur ein Mensch und wollen leben." Ohne das winzigste Zittern in der Hand richtete sie die Pistole auf seinen Kopf.

"Sie geben diesem Mädchen 10 Minuten. Danach gehört das Feld wieder Ihnen." Amalia stand daneben und genoss die Situation. Ihre Augen waren zu Schlitzen geworden durch die sie den Mann beobachtete, der sich nun ihrer Macht fügen musste.

"Was denken Sie, wie ich meinen Leuten klar mache, dass sie das Feld für ein einzelnes Mädchen räumen sollen?" Er wurde langsam lauter.

"Wie Sie das anstellen, ist mir egal, aber tun Sie es." Juliana blickte leicht zur Seite wo Amalia stand.

"Es geht los, du hast nur ein paar Minuten. Wenn du es nicht geschafft hast, dann schießen sie auch auf dich." Sie schaute ziellos in den Schneesturm, es schien, als ob sie noch „Viel Glück!“ sagen wollte, es aber doch nicht über die Lippen brachte. Amalia nickte.
 

Sie verschaffte sich schnell einen Überblick über das Geschehen. Überall standen Autos mit rotierenden Signallampen auf dem Dach. Etwas abseits hielten mindestens zwanzig Polizisten eine riesige Schar von Kameraleuten und Reportern ab, auf das Gelände zu laufen. Weiter hinten stand eine Kolonne von Krankenwagen, in denen bereits Verletzte behandelt wurden, die von der Säure der Ameise getroffen worden waren. In der Mitte des alptraumhaften Schauspiels bäumte sich die riesige Ameise auf und versuchte, sich von den Seilen zu lösen, die man um ihre Beine geworfen hatte. Einige der kleinen Flughafengebäude hatte sie bereits zerstört, und die Splitter der zerborstenen Fenster glitzerten bedrohlich im Licht der Sirenen. In der Ferne konnte Amalia auch ein umgestoßenes Flugzeug erkennen, das nur noch einen Flügel besaß. Die giftige Ameisensäure, die das Monster verspritzt hatte, dampfte am Boden und hatte langsam tiefe Löcher hinterlassen.

Amalia hörte die Uhr innerlich ticken und rannte los.

Kapitel 3

Kapitel 3

Ich wünsche allen viel Spaß dabei! ;D
 

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Mit einem Sprung kappte Amalia die Stahlseile, indem sie das Circulus, ihre kreisförmige Waffe, als Messer benutzte. Gegen ein Wesen, das festgehalten wurde, wollte sie nicht kämpfen. Nicht aus Mitleid, sondern auch aus Angst, dass es zu unberechenbar wurde.

Die Ameise riss sich sofort los, stürmte aber nicht wie erwartet davon, sondern fixierte sich ganz auf Amalia, die nun vor ihr stand. Spürte sie die über zweitausendjährige Kraft, die in dem Mädchen wohnte? Amalia öffnete den Mund und wollte mit einem Bannspruch der Ameise einen Stoß verpassen, doch als das Ungetüm mit einem wahnsinnigen Tempo eines seiner Beine zur Seite riss, wurde Amalia erfasst und sofort zu Boden geschleudert. Stechende Schmerzen drangen ihr durch den Kopf, der Asphalt war unerbittlich hart. Als die Ameise mit einer Beinspitze auf sie einstechen wollte, konnte sie sich gerade noch halb besinnungslos zur Seite rollen. Vielleicht war sie doch noch etwas eingerostet nach der langen Pause. Auf einmal fühlte sie einen unvorstellbaren Schmerz in ihrer Hand, ein winziger Spritzer der Ameisensäure war auf sie herunter getropft und die sensible Haut an der Stelle war sofort verschwunden und eine tiefe Wunde entstand. Amalia presste die Finger der anderen Hand auf die Wunde.

"Verdammt, verdammt!" Ihre roten Haare waren zerzaust und vermischten sich mit dem dreckigen Schnee. Der braune Schmutz in ihrem Gesicht wirkte fast wie die Kriegsbemalung alter Indianervölker. Und so kämpferisch, wie sie nun aussah, fühlte sie sich plötzlich auch. Sie war sich zwar nicht sicher, wie viele solcher Schläge sie noch verkraften konnte, aber darüber durfte sie sich sowieso keine Gedanken machen. Was zählte war das hier und jetzt!

Sie spuckte eine Portion Straßendreck aus dem Mund und rannte mit einem lauten Schrei auf die Monsterameise los. Mit ganzer Kraft sprang sie auf einen Oberschenkel des riesigen Tiers, doch sie konnte sich nicht halten und wurde sofort wieder zu Boden gestoßen. Diesmal landete sie wie eine Katze auf alle Vieren und federte den Sturz ab. Sie spürte, wie Zorn in der Ameise anstieg, wie sie rasender wurde. Erst hatten stundenlang Hunderte kleine Menschenwürmer versucht, sie in Schach zu halten, und nun forderte sie dieses mickrige Ding von einem Mädchen heraus. Zu allem Überfluss wurde auch der Schneesturm immer wilder.

Aber auch Amalia wurde wütender, in ihrem Kopf war auf einmal für nichts anderes Platz als für den Hass, den diese animalische Kampfmaschine in ihr heraufbeschwor. Plötzlich flackerten auch weiße Streifen vor ihren Augen auf und sie bekam für einen Moment Angst, dass sie blind werden könnte. Fühlte es sich so an, wenn der absolute Hass Besitz von einem ergriff? Dann klopfte sie schnell ihre mit Straßensplit gespickten Hände ab und sah, dass immerhin die Säurewunde nicht größer geworden war. Sie zückte das Circulus erneut und versuchte weit genug vom Monster entfernt einen festen Standpunkt zu finden.
 

Juliana stand immer noch mit dem Polizisten etwas weiter entfernt am Rand. Sie war beeindruckt, wie kampflustig das Mädchen war, das vor Kurzem noch friedlich geschlafen hatte. Der Polizist schaute nervös auf die Uhr.

"Sie hat noch eine Minute, danach garantiere ich für nichts."

Auf seinem Gesicht konnte man die Frage lesen: Was spielt sich hier nur ab? Er wäre der mysteriösen Kämpferin wahrscheinlich gerne zu Hilfe geeilt, aber mit Waffengewalt war da nichts zu machen, denn dann könnte zu leicht eine Kugel danebengehen und ein Menschenleben fordern.

Amalia stellte sich mit breiten Beinen vor der Ameise auf, die sich rasend vor Wut auf einmal vor ihr aufbäumte und zu voller Größe in den Himmel ragte. Ihre spitzen Mundwerkzeuge knirschten als sie die beiden Hälften gegeneinander presste.

Es gibt nur mich und dieses Wesen. Ich kann nicht verlieren, ich muss doch dieses neue Leben auskosten! Wenigstens ein bisschen. Nur ein bisschen. Nur kurz. Bitte.

Todesmutig warf sich Amalia unter den aufgebäumten Körper, dort fixierte sie die Brust die unter dem Panzer lag.
 

"RED BEAM DESTRUCTION!"
 

Mit brüchiger Stimme brüllte Amalia den Bannspruch in den Schneesturm und formte mit dem Circulus in der Luft ein X. Im selben Moment schnellte mit unglaublicher Geschwindigkeit ein roter, x-förmiger Strahl auf die Brust der Ameise zu und riss sie um. Für einen Augenblick schien nichts anderes mehr hörbar als Amalias schnelles Atmen, das zwischendurch kurze Aussetzer hatte.

Dort, wo die Ameise zu Boden gegangen war, stieg dichter Rauch auf. War sie bereits tot? Noch konnte niemand der Sache trauen. Als plötzlich eine kleine, schillernde, regenbogenfarbene Kugel aus dem Dunst auf Amalia zurollte, war ihr klar, dass dies die Energiequelle des Monstrums gewesen sein musste. Sie war mit Schleim überdeckt, aber Amalia wischte ihn einfach an ihrer Uniform ab. Etwas mehr Dreck oder weniger war jetzt egal.
 

Noch warteten alle Schaulustigen und Polizisten mit angehaltener Luft am Rand. Selbst die sensationshungrigen Reporter, die am liebsten lebensmüde mitten ins Geschehen gerannt wären, hielten beim Anblick der riesigen Rauchwolke inne. Langsam konnte Amalia im Dunst wieder etwas erkennen, aber in der Wolke schien kein riesiges Ungetüm mehr zu sein. Außerdem hatte sie überhaupt kein Geräusch des Aufpralls gehört. Im schlimmsten Fall wäre das Ungetüm direkt auf sie herabgestürzt, doch da war nichts. Sie stand auf und suchte einen Weg aus dem Nebel. Als sie einen Schritt weitergehen wollte, entdeckte sie etwas am Boden, direkt vor ihrem Schuh stieg ein wenig roter Dampf auf. Und genau dort lag eine kleine, tote Ameise. Amalia kniete sich hin und ging ganz nahe an das winzige Geschöpf heran, dann musste sie schlucken. Wenn man genau hinsah, konnte man das "x" auf ihrer kleinen Ameisenbrust erkennen. Es war das X, das sie mit ihrem Circulus dem Tier eingraviert und mit dem sie ihm den Rest gegeben hatte. Es war jetzt wieder ein völlig normales Insekt zurückverwandelt. Amalia zweifelte, dass dieses Tier all die negative Energie selbst aufgebracht hatte und so viel Zerstörungswut in sich trug. Wer hatte das Wesen nur so missbraucht? Ohne zu wissen warum schaute sie sich rechts und links um als wenn sie jemand beobachten würde. Dann steckte sie die kleine, bunte Kugel als Zeugnis für den Kampf in ihre kleine Rocktasche. Die Ameise aber ließ sie liegen. Verlierer verdienen keine Sonderbehandlung.
 

In diesem Moment stürmten die Kamerateams auf das Gelände und direkt auf Amalia zu. Sie stand wie angewurzelt da, darauf war sie nicht vorbereitet. Doch kurz bevor die ersten sensationshungrigen Presseleute sie erreichten, wurde sie von Juliana weggerissen, zurück in die Dunkelheit hinter den unbeleuchteten Container in denen das Essen für die Flugreisenden transportiert wurde. Als sie sich sicher waren, dass sie niemand bemerkt hatte, liefen sie über die freie Startbahn in Richtung Helikopter.

Amalia schaute nach hinten und sah, wie die vielen Menschen aufgeregt Bilder vom Geschehen machten, obwohl doch jetzt schon alles vorbei war. Viele bauten ihre Ausrüstung auf und berichteten live an ihre Fernsehsender. Die Polizisten versuchten, die Reporter davon abzuhalten, sie trauten der Lage immer noch nicht und wollten jede Gefahr vermeiden. Auch normale Leute, die in der Nähe wohnten und nachts durch den Krach und die beunruhigenden Nachrichtenmeldungen wach geworden waren, kamen zum Geschehen und betrachteten das was der Kampf zurückgelassen hatte.
 

Eine stille Beobachterin aber hatte niemand bemerkt. Member Yellow stand abseits des scheinwerferüberfluteten Platzes zwischen einigen gelben Containern und hielt ihr Gesicht halb verborgen.

"Amalia... meine arme Seele." Obwohl Lena es nicht wollte, stiegen ihr Tränen in die Augen und auch wenn es niemand sehen konnte versuchte sie elegant mit dem Stoff ihres Shirts die Tropfen weg zu tupfen.

"Es tut mir so leid."
 

Juliana lockerte ihren festen Griff um Amalias Handgelenk, das schon ganz weiß verfärbt war. Sie waren nun weit genug vom Geschehen entfernt und der Helikopter, mit dem sie sofort von hier fliehen konnten, stand mit laufendem Motor in der Nähe. Hinter ihnen lag das hellerleuchtete Flughafengebäude das die neblige Luft in einen goldenen Schein tauchte.

"Member Red, das hast du ausgezeichnet gemacht. Ich bin ehrlich beeindruckt."

Zum ersten Mal seit über zweitausend Jahren lächelte Amalia ein erfülltes Lächeln, und trotz der eisigen Temperaturen wurde ihr warm. Sie wandte ihr Gesicht von Juliana ab. Sie konnte ihr nicht zeigen, wie glücklich sie gerade war, außerdem war sie sich nicht sicher, ob es nicht ein böses Grinsen war, das sie im Gesicht trug. Es war zu lange her seit sie ihr Spiegelbild gesehen hatte. Aber Amalia war sich sicher, dass dies hier ihre Aufgabe war und sie hatte sie gemeistert. Die Schmerzen waren nun zweitrangig, sie würden vorübergehen. Sie wagte nur einen kurzen Blick auf die verwundete Hand. Juliana fasste sie an der Schulter und führte sie langsam in Richtung des Helikopters weiter.

"Du wirst als normaler Mensch unter den anderen Menschen leben. Sobald aber Gefahr droht, werden wir dich rufen und du wirst gehorchen."

Jetzt wurde Amalia klar, dass sie keine nebulöse Gestalt sondern ein Lebewesen mit einem Morgen und Übermorgen war.

"Solange wir nicht wissen wer diese Monster auf die Erde schickt, kann es jeden Tag, und jede Minute wieder soweit sein, dass wir dich brauchen."

Das leuchtete Amalia ein.

"Gibt es eine Belohnung, wenn ich alle Gefahren besiegt habe?"

Juliana gönnte dieser Frage ein schwaches Lächeln.

"Niemand wird dafür belohnt, wenn er die Welt rettet. Das ist wohl eine der ersten Regeln die du lernen musst."

Mit weichen Knien stieg Amalia die wenigen Stufen in die kleine Kabine des Hubschraubers hinauf. Auch der Pilot, der die ganze Zeit zum Warten verdammt gewesen war, schien erleichtert. Er ließ sein schwarzes Mobiltelefon in die Jackentasche sinken. Mit dem Gerät hatte er die neuesten Entwicklungen verfolgt. Trotzdem war seine Kenntnis des Geschehens aufgrund der vagen Berichtserstattung nicht vollkommen. Aber er schien zufrieden zu sein mit dem kostümierten Mädchen auf der Rückbank und nickte ihr ermutigend zu, dann reichte er ihr aus einem Erste-Hilfe-Koffer etwas Verbandszeug, denn die Wunde an ihrer Hand sah schlimm aus. "Tupf die Wunde mit dem Desinfektionsmittel aus der kleinen Flasche ab, das entfernt den Dreck." Amalia gehorchte und kippte sich einen guten Schuss der klaren Flüssigkeit über die Wunde. Mit dem brennenden Schmerz der sie dabei durchfuhr, hatte sie nicht gerechnet.

"Ahhhh... nein."

"Und jetzt leg eine von den kleinen Kompressen darüber, das weiße Stück Stoff da." Er deutete auf die Teile die Amalia brauchte.

"Und jetzt wickel die Mullbinde relativ fest darum. Dann sollte es gut sein. So kann sich die Wunde nicht infizieren."

Ein Danke kam Amalia nicht über die Lippen.

Auf dem gesamten Rückflug hielt sie die Augen geschlossen. Ihren Triumph wollte sie auskosten und nicht durch die Schönheit der Landschaft überblenden lassen, denn langsam wurde es hell und ein neuer Tag begann.

Kapitel 4

Kapitel 4
 

-- jetzt kommen Amalia und Lena richtig in ihrer neuen Heimat an. Have Fun!
 

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Aus ihrem Tiefschlaf wurde Amalia erst gerissen, als der Hubschrauber etwas unsanft auf dem Landeplatz der Belvedere-Akademie aufsetzte. Der Landeplatz lag rund 100 Meter hinter dem Schloss, unweit der langen Lindenallee.

Amalias Kampfuniform hatte sich aufgelöst und war durch ein schlichtes T-Shirt und eine Hose ersetzt worden. Draußen vor dem Fenster liefen Schüler eilig über das Gelände vor dem Schloss und verschwanden in den umliegenden, dreistöckigen Gebäuden. Sie trugen die typische schwarze Schuluniform mit dem roten Schlips. Manche schleppten Musikinstrumente auf ihrem Rücken, andere schwere Rucksäcke mit dicken Büchern gefüllt. Einige von ihnen schienen über ihre Handys Bilder von Nachrichtensendungen auszutauschen. Es war also nicht geheim geblieben, was die Nacht passiert war. Jeder wusste davon. Immerhin hatte es mehrere Schwerverletzte gegeben und alleine die Tatsache, dass ein solches Monster wirklich in der Realität aufgetaucht war, reichte um die Menschen in hellen Aufruhr zu versetzen.

Juliana saß mit verschränkten Armen neben Amalia und ließ ihr ein wenig Zeit, das Treiben auf dem Schulgelände zu beobachten. Dann drängte sie das Mädchen nach draußen.
 

"Auch wenn du eine legendäre Kämpferin bist, das ist die reale Welt, und als Teil von ihr wirst du das selbe Leben führen müssen wie alle anderen auch." Sie führte Amalia den schneebedeckten Kiesweg entlang, immer weiter in Richtung eines der großen, gelben Gebäude.

"Es steht dir frei, zu gehen, wohin du willst. Wir werden dich zu nichts zwingen, aber wir sehen es gerne, wenn du hier auf dem Internat bleibst und deine Schulzeit hier verbringst. In Notfällen können wir dich schnell erreichen. Für ein Zimmer und Verpflegung ist gesorgt."

Amalia setzte einen Fuß vor den anderen und schaute mehr nach unten als nach oben. Sie überdachte ihre Situation und fand das Angebot nicht verkehrt. Eigentlich war sie sogar sehr froh, dass sie von jemandem aufgefangen wurde, der ihr ein Heim bot. Lange Zeit hatte ein kahler, steinerner Raum mit einem großen, kalten Bett fürs Leben gereicht. Dass sie nun mehr brauchte, war ihr erst bewusst geworden, als sie die Schüler draußen beobachtet hatte. Das hier war eine ganz andere Größenordnung. Sie würde essen müssen, lernen müssen, und Freunde finden müssen.
 

Auf dem langen, kahlen Gang ließen sie viele Türen hinter sich, bis ganz am Ende eine steinerne Treppe nach oben führte. Dort waren wiederum dutzende Türen. Vor einer blieb Juliana stehen, schloss auf und deutete Amalia, hineinzugehen. Das Zimmer war karg, es standen nur zwei Betten darin sowie ein Tisch und zwei Schränke. Die Aussicht aus dem kleinen Fenster hingegen war grandios. Da war der Park, den sie heute Nacht gesehen hatten. Jetzt lag er voller Schnee und kein Mensch war weit und breit zu sehen.

"Ich habe dir ein paar Sachen in den Schrank legen lassen, den Rest musst du dir bei Gelegenheit selber besorgen. Auch deine Schuluniform kommt morgen erst an." Juliana ging nicht in den Raum hinein, sie wartete einen Schritt davor.

"Da du keine Eltern hast, wirst du vom Internat ein gewisses Taschengeld erhalten, mit dem musst du klarkommen." Sie drückte ihr zwei Zwanzig-Euro-Scheine in die Hand und ein paar Münzen. Amalia legte das Geld zur Seite und schaute in den Kleiderschrank. Ein bisschen Unterwäsche, Strümpfe und ein paar T-Shirts lagen darin.

"Wir müssen dann weiter. Der Unterricht hat längst begonnen und du wirst ab jetzt regulär teilnehmen." Sie zog ein rotes Heft aus der Tasche und blätterte darin, sie schaute nach dem Stundenplan. "Die Klasse, der ich dich zugeteilt habe, hat jetzt Sport."

Ohne Weiteres machte Juliana kehrt in die Richtung aus der sie gekommen waren und Amalia blieb wenig anderes übrig, als ihr zu folgen. Auf dem Gang begegnete ihnen eine kleine Gruppe von Schülern, alle in der selben schwarze Uniform mit rotem Schlips. Amalia zog noch keine Rückschlüsse auf ihre eigene, schlichte Kleidung, als die neugierigen Blicke sie trafen. Zumindest schien sie niemand mit dem nächtlichen Geschehen in Verbindung zu bringen, denn die Kamerateams konnten anscheinend doch keinen guten Blick auf sie erhaschen und ihre geheime Identität blieb vorerst gewahrt.
 

Im modernen Nachbargebäude des Wohntraktes lag die Sporthalle, aus ihr klangen vereinzelt Pfiffe und verschiedene, sich überlagernde Stimmen. Als Amalia einfach alleine vor der Eingangstür stehen gelassen wurde, bemerkte sie kaum das Juliana fort war. Sie lauschte noch eine Weile auf das, was sich in der Halle abspielte.

Ohne, dass es ihr auffiel, stand plötzlich ein Mädchen neben ihr. Sie hatte hellbraune Haare, die typische Uniform und ein rundliches Gesicht. Außerdem war sie ein ganzes Stück kleiner als Amalia.

"Hallo, ich bin Katharina. Wir haben uns gestern Nacht doch gesehen." Sie schaute zu Boden. "Ich weiß also auch Bescheid über deine zweite Identität." Sie ging noch einen Schritt näher auf sie zu. "Die anderen dürfen davon aber nichts erfahren."

Amalia verschränkte die Arme hinter dem Rücken und verlagerte ihr Gewicht auf das linke Bein. "Ach so. Gehst du etwa in meine Klasse?"

Katharina schüttelte den Kopf. "Ich bin zwei Jahrgänge unter dir." Sie deutete den Gang runter. "Dahinten ist unser Klassenraum und ..."

"Du, ich hab grad gar keine Zeit für dich, ich muss hier teilnehmen." Amalia drückte die Klinke zum Umkleideraum herunter, schaute Katharina kurz abwertend in die Augen und verschwand.

Als sie die Tür hinter sich schloss, kam sie sich sehr wichtig vor. Es war gut, eine Aufgabe zu haben. Und es war auch gut einem anderen überlegen zu sein und ihn einfach stehen zu lassen.
 

Katharina blieb mit einem fragenden Gesichtsausdruck zurück und starrte eine Weile auf die geschlossene Tür. Als sie sich zum Gehen wandte, lief wie ein Gespenst Lena an ihr vorbei.

"Member Yellow ..." Katharina flüsterte den Namen fast.

Lena nickte ihr knapp zu und ging Richtung Sekretariat. Das letzte, was Katharina von ihr sah, waren die langen, blonden Haare die hinter Lena herflogen und dann um die Ecke verschwanden.
 

Lena hatte ihre Zeit genutzt um sich ein Bild vom Internat zu machen. Sie konnte bereits einige Bekanntschaften in ihrer Klasse schließen, alle Mitschüler hatten sie mit großen, glänzenden Augen angeschaut und waren ausnahmslos freundlich zu ihr. Jeder bot ihr an sie durch die Schule zu führen. Lena hatte sich mit dem Gedanken abgefunden hier die nächsten Jahre ihres irdischen Lebens zu verbringen. Und zwar als normaler Mensch. Kämpfen würde sie niemals wieder, das hatte sie sich geschworen. Allein bei dem Gedanken zog sich alles in ihr zusammen und sie presste die Lippen aufeinander. Nie wieder würde sie sich verwandeln, dass hatte sie mit besonderer Entschlossenheit in Berlin gespürt.

In der Nacht noch war sie mit dem Zug nach Weimar gekommen. Da sie kein Ticket besaß, hatte sie sich die ganze Zeit auf der Toilette eingeschlossen und mit klopfendem Herzen gebangt nicht entdeckt zu werden. Bis zur vorletzten Station hatte das funktioniert, doch dann forderte der Schaffner sie auf aus der Kabine herauszukommen. Allein Lenas außergewöhnliche Schönheit ersparte ihr eine Bestrafung. Mit offenem Mund hatte der Schaffner sie und ihre extrem langen, gepflegten blonden Haare angestarrt. Sie musste auf ihn wie ein Engel gewirkt haben, den er mitten in der Nacht auf einer Zugtoilette nicht erwartet hatte.

"Entschuldigen Sie... wohin geht Ihre Reise, Fräulein?", war seine Frage gewesen.

"Bitte bestrafen Sie mich nicht, ich habe kein Geld für ein Ticket."

Dann hatte er wie in Zeitlupe genickt und sie bis zur Station "Weimar Hauptbahnhof" nicht mehr behelligt.

Mit einem Stapel Papier streifte Lena nun durch die Gänge ihrer neuen Schule. Es gab mehrere Teeküchen, einen hochwertig ausgestatteten Computerraum, sowie die große Mensa im Keller. In der Schulordnung stand, dass aller zwei Wochen die Schule am Wochenende geschlossen wurde, sodass die Schüler nach Hause fahren konnten. Die Schüler des Internats setzten sich zusammen aus Hochbegabten, die ein Stipendium erhalten hatten, sowie Kindern aus reichem Hause, deren Eltern das Schulgeld ohne Probleme zahlen konnte. Allgemein hatte Lena festgestellt, dass das Niveau des Lehrplans sehr hoch war. Für sie war das kein Problem. Bereits in den ersten Unterrichtsstunden hatte sie verstanden worum es ging. Dennoch war es ein Wunder, dass sie überhaupt so gut mit dieser Welt klarkam und die Sprache beherrschte. Aber wie würde der Start in dieser Schule für Amalia ablaufen? Lena ließ sich seufzend auf einem der gepolsterten Stühle vor dem Rektorenzimmer niedersinken. Hat man uns mit der Wiedererweckung wirklich einen Gefallen getan?
 

Amalia ging langsam durch den Umkleideraum. Überall lagen Rucksäcke und Klamotten verstreut. Da schien es jemand eilig gehabt zu haben in die Unterrichtsstunde zu kommen. Das ließ in Amalia ein Gefühl der Vorfreude aufsteigen, denn wenn es alle eilig hatten, musste sich das was nun kam auch lohnen.

Sie erreichte die kleine Tür, die zur großen Halle führte und trat ein. Zuerst bemerkte niemand, dass sie in der Tür stand, dann aber drehten sich alle nach ihr um. Sie waren gerade dabei gewesen, Runden zum Warmwerden zu laufen.

Eine große Frau mit dunklen, langen Haaren lief auf Amalia zu.

"Warum kommst du jetzt erst? Du warst mir für heute Morgen angekündigt worden. Jetzt hat die Stunde schon angefangen."

Amalia hielt ihre Arme mit der bandagierten Hand auf dem Rücken verborgen und sah keinen Grund, sich zu entschuldigen. Sie zuckte nur schwach mit den Achseln.

"Ich bin ja jetzt da." Sie schaute sich um. Beinahe alle Schüler schienen die selbe Kleidung zu tragen, anscheinend gab es auch spezielle T-Shirts und Hosen für den Sportunterricht.

Die Lehrerin seufzte. "Zieh dich bitte noch um, mit den Dingern darfst du hier nicht rein." Sie zeigte auf Amalias schmutzige Schuhe und kräuselte die Augenbrauen.

"Ich hab aber noch nichts anderes. Das kommt morgen erst." Amalia kopierte den genervten Ton der Lehrerin.

Diese überlegte kurz.

"Dann mach in den Sachen mit, aber die Schuhe musst du ausziehen, ausnahmsweise wird es auch barfuß gehen."

Sie trieb die Schüler zum Weiterlaufen an.

"Eine Vorstellungsrunde mit dir findet dann in der Deutschstunde statt. Da könnt ihr euch alle kennenlernen."

Amalia lief los und den anderen hinterher. Das alte Parkett knarzte unter ihren Füßen. Auf einen Schlag wurde ihr das Ausmaß des Horrors bewusst. Sie war ganz allein und niemand wollte sie haben. Sie nahm ihr fleckiges Hemd wahr, die braunen Hosen aus kratzigem Material, die geschundenen Füße mit den roten Stellen, ihre dünnen Arme, die oben mit Sommersprossen gesprenkelt waren und ihre ungekämmten Haare.

Mit zusammengebissenen Zähnen lief sie weiter und hoffte, der Gedanke würde einfach wieder aus ihrem Kopf geschleudert werden. Die anderen in ihrer schönen Sportkleidung hielten Abstand, sie waren nicht bereit sich mit der Fremden auseinanderzusetzen.

Amalias Vorfreude war wie aufgefressen von einem großen Zweifel, der sich tief in sie bohrte. Allein. Du bist Allein!

Kapitel 5

Nach der Sportstunde fanden sich alle Mädchen im Umkleideraum ein. Amalia setzte sich wortlos auf einen freien Platz. Unendlich langsam zog sie sich ihre Schuhe wieder an, während die anderen sehr beschäftigt waren sich umzuziehen.

"Ich bin Karina, wo kommst du her?" Eines der blonden Mädchen zog sich gerade ein Hemd über den Kopf und fixierte "die Neue" dabei. Erst fiel Amalia überhaupt nichts ein, aber sie merkte, dass es nicht gut wäre, überhaupt nichts zu sagen. "Berlin."

"Echt, aus Berlin?" Damit war das Gespräch beendet. Nach und nach verschwanden Amalias Mitschülerinnen aus der Umkleide. Der letzten kleinen Gruppe von Mädchen, die in ein Gespräch vertieft waren und nach jedem Satz herzlich lachten, folgte sie durch die dunkle Eingangshalle und eine Etage nach oben. Das einzig Schöne, was sie erspähen konnte war die friedliche Schneelandschaft draußen. Dort standen einige der älteren Schüler und zogen betont gelangweilt an ihren Zigaretten. Für einen Moment glaubte sie auch ein bekanntes Gesicht dort zu entdecken, ein blondes Mädchen mit einem streng geschnittenen Pony. Aber das konnte nicht sein, und schon war sie wieder verdeckt von den anderen, die mit ihr im Kreis standen.
 

Im Klassenraum suchten sich alle ganz selbstverständlich ihre Plätze und die meisten saßen bereits als Amalia dazukam. Wie sie sich so vergnügt miteinander unterhielten und Amalia ignorierten, beschloss sie, dass sie mit denen nie warm werden würde. Die hatten ihre Chance verspielt. Mit finsterer Miene blieb sie am Eingang stehen, bis eine kalte Hand sie von hinten in den Raum schob.

"Das Fräulein Rothenburg?" Amalia war erst etwas perplex, dann verstand sie, dass Juliana ihr einen Nachnamen verpasst haben musste. Rothenburg ... Hauptsache war anscheinend, dass der Name das Wort "Rot" enthielt.

"Ja, guten Morgen." Sie musterte den großen Mann mit den hellen, schulterlangen Haaren der auf der linken Seite ein Glasauge trug das keine Nachbildung eines realen Auges war, sondern einfach nur ein weißer Glaskörper zu sein schien. Mit seiner ganzen Art machte er ihr Angst, was sie überhaupt nicht verstehen konnte. Niemand sollte ihr Angst machen. Der Lehrer führte sie zu einem leeren Platz in der Mitte des Raumes, hier war ein ganzer Tisch frei. Innerlich seufzend ließ sie sich nieder.
 

"Vielleicht kannst du deinen Mitschülern erzählen, wer du bist, und sie können Fragen stellen." Amalia war immer noch im Zorn, umso mehr überraschte es sie, wie sanft die Worte aus ihrem Mund glitten. "Ich fühle mich gerade nicht so gut, vielleicht können wir das ein anderes Mal nachholen." Sie war anscheinend überzeugend genug, sodass der Lehrer nickte.

"Dann stelle ich mich dir kurz vor. Mein Name ist Victor Liebknecht. Aber oft benutzen die Leute auch 'Bianchi' als Nachnamen. Vielleicht hast du schon gemerkt, dass an dieser Schule drei Brüder unterrichten, Vincent, Vladimir und ich. Vincent ist mit der Rektorin Juliana Bianchi verheiratet, deshalb sehen uns manche als den 'Bianchi-Clan'."

Amalia nickte höflich. Von den Brüdern hatte sie noch nichts gewusst, aber dass Juliana so mächtig war, dass ihr Name den von drei Männern überdeckte, fand sie bemerkenswert. Ein bisschen war sie stolz darauf, mit Juliana die Nacht in Berlin verbracht zu haben, bedauerlich war es nur, dass niemand etwas davon erfahren durfte.
 

Amalia schaukelte sich weiter durch den Tag und die verschiedenen Unterrichtsstunden, Deutsch hatte sie stellenweise ganz gut gefunden, den Rest hatte sie hauptsächlich überhört. Trotzdem war sie kaum getadelt worden, denn sie hatte sich schon jetzt ein Gesicht angewöhnt, mit dem sie kaum angreifbar war. Eigentlich sah sie immer interessiert aus, ihre Augen waren vorbildlich auf die Tafel gerichtet. Über die vielen Jahre im Land der Träume hatte sie gelernt, ihre Gedanken unauffällig in ganz andere Richtungen zu lenken, und das tat sie jetzt, auch wenn es ihr ein bisschen leid tat. So lange hatte sie darauf gewartet, etwas von der realen Welt zu erleben, und so schnell war der ganze Zauber und die Aufregung verpufft. Anscheinend, so dachte Amalia bitter, dauerte es nicht lange, von der Superheldin zum normalen Menschen zu werden. Mit all den unausweichlichen, langweiligen Momenten, die man weder löschen noch vorspulen konnte.
 

In der Mittagspause stand Amalia mit einem Teller voll Nudeln an der Essensausgabe die sich im untersten Stockwerk befand. Sie versuchte zu durchschauen, wie der ganze Trubel um sie herum eigentlich funktionierte. Wie durch unsichtbare Kommandos schienen die Schüler zu bestimmten Tischen zu laufen und nach wenigen Minuten waren alle Plätze besetzt und der Raum war erfüllt von lauten Unterhaltungen. Ein Mädchen aus Amalias Klasse winkte ihr beiläufig zu, der Platz neben ihr schien noch frei zu sein. Erleichtert ging sie zu dem großen, runden Tisch, an dem ihre halbe Klasse saß. Doch sie waren bereits fest in ein Gespräch über einen bestimmten Lehrer vertieft, den Amalia nicht kannte, also aß sie schweigend und haderte mit der Welt. Selbst das erste Essen nach der langen Zeit konnte sie kaum genießen, dabei war sie in ihren Träumen vor lauter Sehnsucht nach richtigem Essen fast wahnsinnig geworden. Die Nudeln rutschten jetzt einfach die Kehle hinunter. Kein Zauber, keine Befriedigung.
 

Nach Schulschluss verschwanden die meisten Mitschüler aufgeregt in ihren Zimmern und packten ihre Taschen, denn das Wochenende stand vor der Tür. Zu Hause warteten die Eltern und auf manche auch Geschwister. Amalia hatte sich auf einem der Stühle im großen Mittelgang niedergelassen. Zwischen den Korktafeln, auf denen Neuigkeiten und Veranstaltungen in einem wilden Wald aus Blättern festgepinnt waren, fiel sie kaum auf. Auf den Tafeln um sie herum wurde Musikunterricht angeboten, Mathematik-Wettbewerbe, verlorene Brieftaschen, gefundene Ohrringe, vermisste Katzen, Nordic-Walking-Stunden, Termine für Tanzabende ...

Amalia hatte die Beine über einander schlagen, dazu noch die Arme vor der Brust gekreuzt und verfolgte mit kritischem und missgünstigen Blick ihre Mitschüler, die voll Vorfreude und mit schweren Taschen das Haus verließen. Warum war niemand da, der ihr etwas anzubieten hatte? Etwas, das sie am Wochenende tun konnte?

Nach einer Weile, als der Strom der Abreisenden fast versiegt war, ging sie wieder die Stufen hinauf zu ihrem eigenen Zimmer. Die Tür war offen und der Schlüssel lag auf dem kleinen Schreibtisch am Fenster, jemand hatte ihn dort für sie hingelegt. Ab jetzt hatte sie also auch die Macht, sich hier einzuschließen, wenn sie von der Welt da draußen genug hatte.
 

Neben dem Schlüssel lag eine Zeitung. Amalia nahm sie in die Hand und schaute auf die Titelseite. Da war ein verwackeltes Foto gedruckt, aber sie wusste ganz genau, dass sie es war, die darauf zu sehen war. Im Hintergrund konnte man die riesige Ameise erahnen, die sich wutschnaubend in Richtung Himmel bäumte.
 

"Unfassbare Ereignisse am Flughafen Schönefeld", titelte die Zeitung.

"Berlin. Augenzeugen berichteten, ein mysteriöses Mädchen in Uniform hätte das wildgewordene Ungetüm besiegt, das stundenlang von einem Sondereinsatzkommando der Polizei in Schach gehalten worden war, sich aber weder Waffengewalt noch Drahtseilen beugte. Die amerikanische Regierung bietet dem Kanzler Aufklärungsdrohnen an. Doch wer ist das unbekannte Mädchen? Wo kam das Monster her? Dürfen wir an Zauberei glauben?"
 

Ihr dürft! Amalia schmunzelte innerlich. Es war eine komische Vorstellung, dass sie jemand für eine Zauberin hielt. Die Realität war doch so viel unspektakulärer! Wenn die wüssten, dass sie den ganzen Tag fast niemand wahrgenommen hatte und dass sie in irgendeinem Klassenraum saß und sich mit Grammatik auseinandersetzen sollte, würden sie fassungslos den Kopf schütteln. Sie löste das Deckblatt vom Rest der Zeitung, faltete es und legte es in den Schrank neben den überschaubaren Stapel Wäsche.

Da würde noch einiges hinzukommen müssen, beinahe fand sie es ein wenig unfair, dass man ihr nicht mehr Kleidung zugestanden hatte. Sie fühlte mit den Fingerspitzen den ungewohnt weichen Stoff der Unterwäsche und roch den leichten Hauch von Waschmittel darin. Als sie alles wieder verstaut hatte, ging sie in die Mitte des Raumes und schaute abwechselnd von einem Bett zum anderen. Noch war ihr kein Zimmerpartner zugeteilt worden, aber vielleicht würde ja bald jemand hinzukommen. Sollte sie nun einfach eigenmächtig entscheiden, welches Bett ihr gehören würde? Sie testete beide Matratzen auf ihre Konsistenz. Als sie aber keinen Unterschied feststellte, legte sie sich probeweise hin und schloss auf jedem Bett für jeweils eine Minute die Augen. Es war nur ein unwichtiges Detail in dem großen Leben, das vor ihr lag, aber leicht wollte sie sich die Entscheidung nicht machen, denn sie würde lange an dieses Zimmer zurückdenken, und da war es ihr wichtig, dass es die schönere Seite des Zimmers war. Mit einem Seufzen schmiss sie eines der neuen, weißen T-Shirts aus dem Schrank mitten auf das linke Bett, damit war die Wahl getroffen und das Bett markiert. Doch froh war sie immer noch nicht.
 

Natürlich hatte sie keinen Palast erwartet, oder Diener, die ihr mit Palmenblättern Luft zufächelten, aber diese kleine Kammer war der unterste Kompromiss, auf den man sich einlassen konnte. Dabei schien das hier doch ein Internat für besonders begabte Schüler zu sein, wie konnte man ihnen da solche Zimmer anbieten? Amalia täuschte sich selber vor, sie würde so abgestoßen sein weil sie den anderen Bewohnern des Internats etwas Besseres gönnte, dabei ging es doch nur um ihre eigenen Wünsche. Aber es fühlte sich besser an, sich etwas für andere zu wünschen. Außerdem konnte man mit erhobenem Haupt wütend sein, wenn man glaubte man würde für große Ziele eintreten und nicht nur egoistisch denken.
 

Eine Weile blieb sie noch so sitzen und haderte mit der Welt. Sie kramte in ihrer kleinen Hosentasche und fand die regenbogenfarbene Kugel wieder, die nach dem Kampf gegen die Ameise übrig geblieben war. Sie packte sie in die Schublade am Schreibtisch, wo sie leise vor sich hinrollte. Dabei sah Amalia ihre Hand vor sich, sie war immer noch bandagiert, aber sie wagte es den Verband zu lösen und einen kurzen Blick auf die Wunde zu werfen. Sie war relativ gut verheilt, aber immer noch sichtbar. Es formte sich ein grusliges Bild in Amalias Kopf, als sie sich vorstellte, dass sie auch gut ein Loch in der Hand hätte haben können. Sie wickelte den Verband schnell wieder darüber.
 

Dann schenkte sie der Aussicht aus ihrem Fenster einen langen Blick. Gestern in der Nacht hatte sie nicht herumlaufen dürfen, die Mission war wichtiger gewesen, aber jetzt war sie frei, zu tun, was sie wollte. Sie nahm etwas Anlauf ¬- so viel wie der kleine Raum ihr bot - und sprang in einem Satz aus dem geöffneten Fenster. Schon im kurzen Moment des Fallens merkte sie, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Mit einem lauten Knirschen landete sie steinhart auf der vereisten Schneedecke, die sofort nachgab und das Mädchen zur Hälfte im Schnee versinken ließ. Für einen Moment nahm sie gar nichts wahr, weder Realität noch Traumwelt, da bewegte sich gar nichts mehr im sonst so bunten und lauten Kosmos. Alles war schwarz, oder auch weiß, es schien keinen Unterschied mehr zu machen. Vielleicht ein Vorgeschmack auf das Gefühl, tot zu sein? Ein seltsamer Gedanke. War es denn schön, nichts mehr zu fühlen und zu sehen, oder war es traurig?

Nachdem die schwarzen, pulsierenden Flecken vor ihren Augen verschwunden waren, traute sich Amalia, vorsichtig wieder Luft zu holen und die Augen einen Spalt breit zu öffnen. Gebrochen war nichts, aber der harte Aufschlag hatte sie schockiert. Ohne Verwandlung war sie doch nur ein zartes Wesen wie alle anderen Menschen auch. Tränen stiegen ihr in die Augen, das Herz raste und sie fühlte sich unangenehm leicht, als traute ihr eigener Körper ihr nicht zu, den Schmerz zu fühlen. Langsam schmolz der Schnee um sie herum und durchtränkte ihre Kleidung. Eigentlich wollte sie sofort zurückgehen und sich umziehen, als aber zwei Schüler mit neugierigen Blicken in der Ferne vorbeiliefen, erhob sie sich würdevoll, klopfte sich ab und marschierte tiefer in das Parkgelände hinaus. Vorbei an den großen, ehrwürdigen Gewächshäusern, und vorbei an dem kleinen zugefrorenen Teich.
 

Schon bald spürte sie, wie ihr Körper mehr und mehr auskühlte, die nassen Flecken an ihrer Kleidung gefroren langsam und ihr blieb nichts anderes übrig als sich mit den Armen zu umklammern und mit den Händen die Schultern zu reiben. Zurückgehen wollte sie nicht, denn irgendetwas zog sie tiefer in den Park.
 

Bis eben verlief der von großen, alten Platanen gesäumte Weg, dem Amalia folgte, noch lieblich. Doch nach und nach offenbarte der Park, der an das Internat und das Schlossgelände angrenzte, seine wahre Identität. Er war wild und undurchschaubar. Zu ihrer linken Seite öffnete sich eine riesige Schlucht, unten verlief ein kleiner Bach mit einer malerischen Holzbrücke und auf schlingernden Wegen konnte man zu Fuß bis hinunter gelangen. Auf der anderen Seite, auf der das Gelände wieder anstieg, sah es fast so aus, als würde ein Wald beginnen. Überall schienen ideale Plätze für Geheimtreffpunkte zu sein.
 

Amalia kam an einem kleinen, weißen Rondell vorbei, das direkt einlud, sich zum Intrigenspinnen zu verabreden. Auch die Wasserfontäne, die nun halb eingefroren war und ein ganz eigenes Kunstwerk bildete, schien Amalia ein würdiger Platz für geheime Versammlungen zu sein. Ihr Staunen wurde aber immer mehr gedämpft vom Gefühl der eisigen Kälte, die ihre Fühler tief in den Körper streckte und langsam alle Glieder steif werden ließ. Verdammter Scheiß.
 

Als sie gerade etwas zu weit an den Rand des Weges gekommen war, der links steil abfiel, glitt ihr Schuh über ein vereistes Stück. Die für den Sommer gedachten Halbschuhe, die sowieso wenig Halt boten, gaben sofort nach. Es ging so schnell, dass Amalia noch nicht einmal einen Schrei herausbrachte, und schon rollte sie den Hang hinunter. Es war ihr großes Glück, dass kein Baum und kein Strauch auf dem Weg hinunter wuchsen, denn sonst wäre sie kaum so unverletzt unten angekommen. Auf allen Vieren versuchte sie, langsam wieder Halt zu finden, und als sie vor sich blickte, ragte auf einmal die alte, dunkle Burgruine vor ihr auf. Was das Aussehen der Burg anging, war die Erinnerung der vorigen Nacht schwach, ihre Aufmerksamkeit hatte viel mehr dem Park und dem fallenden Schnee gegolten. Trotzdem war ihr sofort klar, dass es das Gemäuer sein musste, in der sie so lange geschlafen hatte. Außer ihrem rasselnden Atmen war es völlig still, der Schnee schluckte alle Geräusche.
 

Wenn sie jetzt hier zusammenbrechen würde, würde sie dann überhaupt jemand finden, bevor auch das letzte bisschen Wärme aus ihrem Körper gewichen war? Amalia verdrängte den Gedanken, wollte sich nicht schon wieder mit so düsteren Dingen beschäftigen. Sie rappelte sich auf und fand wieder festen Stand auf ihren Beinen, auch wenn die Knie jetzt viel weicher waren als eben noch, bevor sie den Hang hinunter gerollt war.

Sie sah das Schild "Betreten verboten" über dem Eingang hängen und zögerte. Als sie den ersten Fuß in die Dunkelheit setzen wollte, hörte sie eine Stimme.

"Das hat keinen Zweck!"

Amalia schaute sich erschrocken um, dann sah sie hinter einem dicken Baum, der direkt am Eingang wuchs, lange, blonde Haare hervor blitzen. Sie schluckte kurz. War das am Vormittag nach dem Sportunterricht doch keine Wahnvorstellung gewesen? War das tatsächlich Member Yellow, die ebenfalls erweckt worden war? In dem Moment, als sie heute einen Sekundenbruchteil den Blick auf ihr Gesicht erhaschen konnte, hatte sie sich an sie erinnern können. Irgendwann hatten sie beide sich einmal gut gekannt. Waren sie vielleicht sogar befreundet gewesen? Amalia plagte das Gefühl, dass sie sich diese Frage eigentlich beantworten können sollte, aber ihre Gedanken liefen immer wieder gegen eine hohe Mauer und prallten schmerzhaft daran ab. Doch ohne zu zögern und mit fester Stimme sprach sie das versteckte Mädchen an.

"Ich glaube, ich weiß, wer du bist." Sie näherte sich langsam dem Baum und stellte sich mit dem Rücken zum Stamm, genauso wie ihr Gegenüber, sodass keiner dem anderen ins Gesicht schauen konnte. Sie ließ einige Momente verstreichen und lauschte nur auf den Wind.

"Aber wenn du es bist, was machst du dann hier? Bist du mir gefolgt? Und warum hast du mir gestern Nacht nicht geholfen?" Amalia presste ihre Hände an den kalten Stamm. Selbst die bandagierte Hand tat nun nicht mehr weh.

"Zu viele Fragen auf einmal." Das Mädchen machte eine kurze Pause. "Du heißt jetzt Amalia hier? Du kannst mich Lena nennen."

Amalia nickte und schaute vorsichtig seitlich nach unten, dort war eine der langen, blonden Haarsträhnen am Rand ihres Blickfeldes zu sehen. Sie packte eine Strähne mit zwei Fingern und fühlte wie weich sie war. Amalia wollte sicher zu sein, dass das Mädchen auf der anderen Seite des Stammes auch wirklich existierte.

"Es führt kein Weg zurück in deine Kammer, Amalia, du kannst erst wieder schlafen, wenn die Schlüsselwächter es wollen." Eisiger Wind zog auf und blies den lockeren Schnee von den Baumwipfeln mitten in die Gesichter der beiden Mädchen. Amalia fühlte mittlerweile nichts mehr außer ihrem Zorn.

"Warum hast du mir gestern nicht beigestanden? Zusammen hätten wir das Monster viel schneller erledigt!" Ihre Stimme bekam eine leicht verzweifelte Note, und Amalia hasste das, aber es war zu spät, es zu korrigieren. Lena hingegen war immer noch genauso ruhig wie zu Beginn.

"Weißt du, was gewesen ist, bevor sie uns schlafen gelegt haben? Vor über 2000 Jahren? Weißt du, wie unsere Welt aussah? Kennst du unsere Freundinnen noch? " Amalias Finger waren beinahe steif gefroren und ihren Kopf konnte sie kaum oben halten.

Eigentlich wollte sie etwas entgegnen, aber als sie den Mund öffnete, kam kein Ton heraus.

"Amalia, weißt du, wer schuld an der Katastrophe war?"

Lenas Stimme war nur noch leise zu hören, dann sank Amalia langsam am Baumstamm hinab und verlor das Bewusstsein. Die Kälte und die Erschöpfung hatten ihren Preis gefordert. In Windeseile war ihr Körper vom herumwirbelnden Schnee bedeckt.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von: abgemeldet
2012-02-25T14:50:12+00:00 25.02.2012 15:50
Also, ich habe gerade die Leseprobe gelesen und dann noch einmal Kapitel 0 hier und ich muss sagen: Ich bin angefixt. :D Ich mochte Amalia gleich als sie bei ihrem ersten Auftritt beschrieben wurde und ich bin mir fast sicher, dass ich sie auch weiterhin mögen werde, auch wenn den ersten Platz immer noch ein anderes rothaariges Mädchen belegt. ;) Irendwie musste ich bei Lena ein wenig an deinen Faible für Minako denken und bei der beschreibung von Amalia an "Anne of Green Gables", weil ich das Buch grad wieder gelesen hatte. xD Ich bin leider ein mieser PC-Leser, ich lese zwar Buch um Buch, aber am PC dauert es meist Ewigkeiten bis ich etwas durchgelesen habe, deshalb hoffe ich auf jeden Fall, dass du einen Verlag findest (obwohl ich mir beinahe sicher bin, dass ich vorher dennoch im Internet weiterlesen werde. :D).


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