Fröstelnder Mörder
Narcis' Hoffnung erfüllte sich nicht. Die blutigen Spuren endeten mitten in einem der labyrinthartigen Gänge dieser Einrichtung, ohne jeden Hinweis, wo die Kinder danach hingegangen sein könnten. Die Arme in die Hüften gestemmt, betrachtete er den letzten Abdruck mit gerunzelter Stirn, dabei dachte er darüber nach, was er nun tun sollte.
Aber das einzige, was ihm in den Sinn kam, war das nervtötende und langwierige Durchsuchen aller Räume einzeln. Das war normalerweise eine Sache, die er ungern machte, schon allein weil es einem cleveren Gejagten die Möglichkeit gab, sich in immer anderen Zimmern zu verstecken, so dass die Suche niemals endete oder zu fliehen – oder auch dem Jäger von hinten anzugreifen.
Am eigenen Leib erlebt, hatte er bislang nur die erste Variante, die zweite kannte er aus Erzählungen seines besten Freundes – ja, auch Attentäter haben Freunde, wenngleich diese demselben Berufsstand frönen – und der letzten war sein Mentor zum Opfer gefallen. Er versuchte, sich daran zurückzuerinnern, wer den Spieß umgedreht hatte, aber die Erinnerung weigerte sich hartnäckig, sich genauer betrachten oder auseinandernehmen zu lassen.
Also ließ er das für den Moment fallen, weil es ihm in dieser Situation auch absolut nicht weiterhalf.
Noch immer starrte er auf die blutige Spur, dann traf er seufzend einen Entschluss. „Fein, wenn es nicht anders geht... Mann, ich hasse Kinder.“
Mit diesem genervten Brummen, das er ohnehin nicht sonderlich ernst meinte – immerhin war er sich bewusst, dass Kinder sowohl für seine Zunft als auch für den Rest der Menschheit die Zukunft sicherstellten und er gerade wegen seines Berufs oftmals an den erhaltenswerten Morgen dachte – ging er auf die erste Tür nach der endenden Spur zu und öffnete diese.
Auch ohne die anderen Räume gesehen zu haben, wusste Narcis sofort, dass es in ihnen genauso aussah wie hier. Kisten stapelten sich bis unter die Decke, ein Geruch, den er nicht identifizieren konnte, erfüllte alles. Er war süßlich und erweckte in ihm die Assoziation mit Tee, auch wenn er davon überzeugt war, dass es sich hierbei um keine Sorte handelte, die er kannte.
Natürlich hätte er eine der Kisten öffnen können, um sich etwas davon mitzunehmen und zu Hause festzustellen, worum es sich genau handelte, aber diese Mühe machte er sich nicht – prinzipiell interessierte er sich nämlich nicht für Tee, das wäre eher etwas für seinen besten Freund, Enric, der sich über ein solches Souvenir sicherlich freuen würde.
Er kann ja selbst herkommen, wenn er unbedingt diesen Tee haben will. Ist ja nicht so, dass er mir jemals etwas mitbringt.
Wobei das, zugegeben, auch ein wenig schwer war bei seinen Vorlieben. Besser war, er dachte im Moment nicht darüber nach, sondern konzentrierte sich wieder auf seine vor ihm liegende Aufgabe.
Er verließ den Raum wieder und suchte systematisch alle anderen auf, allerdings entdeckte er überall nur weitere Kisten, lediglich der Inhalt schien sich in den einzelnen zu unterscheiden, jedenfalls von dem, was er riechen konnte. Erst im fünften Raum war ein Unterschied auszumachen, wenngleich auch nur von der Tatsache her, dass kein charakteristischer Geruch in der Luft lag.
Das war es, was ihn schließlich dazu bewog, nachzusehen, was sich in den Kisten befinden könnte. Sie waren zu klein, um Vampire zu beherbergen, auch wenn er das für einen kurzen Moment schmunzelnd in Erwägung zog. Sie müssten sich schon regelrecht zusammenfalten, um dort eingesperrt werden zu können.
Da die Kisten nicht vernagelt waren, schaffte er es mühelos, den Deckel einer solchen abzunehmen, um einen Blick hineinwerfen zu können. Er hob erstaunt die Augenbrauen, dann blinzelte er einen kurzen Moment, in der Hoffnung, danach etwas anderes zu sehen, doch der Anblick blieb derselbe.
„Das ist doch nicht wahr...“
Er griff mit der Hand in die Kiste hinein und zog einen lebensgroßen Arm heraus. Er war nicht echt, sondern aus einem Material gefertigt, das er nicht kannte. Wie er wusste, wurden Puppen normalerweise aus Porzellan hergestellt und Marionetten aus Holz, aber das hier war nichts von beidem. Die ganze Kiste war angefüllt mit Armen und Händen, die anhand der Anordnung der Finger verrieten, dass sie zur rechten Körperseite gehörten. Er brauchte nicht viel Fantasie, um zu wissen, dass in den anderen Behältnissen sonstige Teile aufbewahrt wurden, um daraus einen vollständigen Körper zu formen.
Unwillkürlich lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken, als er sich vorstellte, wie irgendjemand seinen Tag damit verbrachte, Gliedmaßen auszumessen und sie dann lebensecht nachzustellen, bis er einen vollständigen, wenn auch leblosen, Menschen vor sich hatte.
Warum wurde das hier aufbewahrt? Wer tat denn so etwas? Und weswegen?
Sicherlich, wenn eine Puppe derart lebensecht aussah, wie allein schon dieser Arm, dann konnte sie einen im ersten Moment täuschen. Aber jeder würde einen genaueren Blick auf die Gestalt werfen, sie vielleicht sogar berühren und spätestens dann bemerkte doch jeder, dass es kein echter Mensch war.
„Es macht keinen Sinn“, murmelte er. „Warum sollte jemand so etwas tun?“
Während er ratlos den Kopf von einer Seite auf die andere neigte, dachte er wieder an Enric und ihm kam der Gedanke, dass sein bester Freund mit Sicherheit eine Idee kommen würde, wie man solche Puppen einsetzen könnte. Dummerweise war Enric nicht anwesend.
Ein lautes Krachen riss ihn aus den Gedanken. Er wandte den Kopf und entdeckte, dass der Deckel einer weiteren Kiste zu Boden gefallen war, ein Arm lag daneben, aber er konnte nicht erkennen, wie es dazu gekommen war und der Gedanke, der ihm gerade kam, wollte ihm gar nicht gefallen, weswegen er ihn hastig wieder fortschob. Sein Blick fiel erneut auf den Arm in seiner Hand – der seine Finger bewegte!
Erschrocken ließ er ihn fallen, mit einem dumpfen Laut kam er auf dem Boden auf. Für einen kurzen Moment benahm sich der Arm wie ein Fisch auf dem Trockenen, wand sich und sprang durch die eigene aufgebaute Spannung, bis er schließlich auf der Hand zu liegen kam. Die Finger richteten sich auf und liefen dann los, um geschickt eine weitere Kiste zu öffnen.
Narcis beobachtete das mit morbider Faszination, die ihm Schauer um Schauer über den Rücken jagte, die Arme arbeiteten zusammen, um sämtliche Kisten zu öffnen und nicht nur eine Puppe zusammenzusetzen, sondern ihr auch gleich Kleidung überzuziehen.
Innerhalb kurzer Zeit stand ihm eine Gestalt gegenüber, die sich nicht nur ohne jede fremde Hilfe bewegte, sondern auch noch lebendig wirkte und sogar lächelte. Zwar verzogen sich die Lippen, doch die gläsernen blauen Augen änderten ihren starren Ausdruck kein bisschen. Das schmucklose schwarze Kleid, das sie verhüllte, verstärkte die Blässe ihrer Haut, das braune Haar fiel lockig auf ihre Schultern. Sie öffnete ihren Mund und – Narcis erbleichte – Worte erklangen daraus: „Wie schön, dass du hier bist. Lass mich dir danken...“
Sie griff nach etwas, das sie an ihrem kaum sichtbaren schwarzen Gürtel trug und schleuderte es auf Narcis. Er verdankte es seinen schnellen Reflexen, dass er dem Angriff ausweichen konnte. Das, was immer sie geworfen hatte, traf auf die Wand hinter ihm, wo es zu explodieren schien und einen Teil des Mauerwerks abplatzen ließ. Sie zog erneut etwas Derartiges hervor, doch er ließ ihr nicht die Gelegenheit, es zu werfen, sondern erwiderte mit einem seiner Wurfmesser. Er traf direkt in ihre linke Schulter, doch es spritzte keinerlei Blut hervor, noch schien es sie in irgendeiner Art und Weise zu stören oder gar in ihren Bewegungen einzuschränken.
Also tat er das einzig Vernünftige in dieser Situation: Er ergriff die Flucht.
In blinder Hast stürzte er aus dem Raum hinaus, anhand der Explosionen hinter sich, erkannte er, ohne sich umzusehen, dass er von ihr verfolgt wurde. Dabei wusste er nicht einmal, weswegen sie ihn angriff, immerhin hatte sie ihm keine Gelegenheit gelassen, irgendetwas zu sagen.
Vielleicht mag sie ja keine Attentäter... oder ihr Auftrag ist es, denjenigen umzubringen, der ihr hilft, sich zusammenzusetzen. So etwas sollten wir auch einführen.
Trotz der Situation kam er nicht umhin diese Genialität der Kreation zu bewundern und auch wenn sie eine ernsthafte Konkurrenz für ihn darstellen könnten, gab es mit Sicherheit auch positive Seiten, die sie seiner Zunft bringen könnten.
Hinter sich hörte er nicht mehr nur die Explosionen, sondern auch ein unheimliches verzerrtes Lachen, das ihn trotz der Anstrengung schaudern ließ, so dass er fast schon fror.
Instinktiv riss er eine Tür auf und stürmte in den dahinter liegenden Raum, in dem vollkommene Dunkelheit herrschte, die ihn sofort umschloss, als er die Tür wieder zuschlug.
Er ging rückwärts, bis er Kisten in seinem Rücken spürte und lauschte auf die Geräusche, die vom Gang kamen. Die sich schnell nähernden Schritte verharrten für einen Moment direkt vor dem Raum, doch dann entschied sie sich wohl dafür, weiterzugehen und woanders zu suchen.
Er atmete gerade auf, als er einen lauten Schrei hörte – und sich im nächsten Moment auf dem Boden wiederfand. Ein ihm unbekanntes Gewicht saß auf seiner Brust und drückte ihn gewaltsam nieder. Es dauerte einen kurzen Moment, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten und er Landis erkannte, der da auf ihm saß und ihn wütend anstarrte.
„Du schon wieder!“, fauchte der Junge. „Ich dachte, wir wären dich los!“
Frediano trat ein wenig zurückhaltender aus dem Hintergrund, was Narcis sichtlich erleichterte, immerhin hatte er endlich sein Zielobjekt gefunden – und wenn sie hier zusammen waren, würde auch diese seltsame Puppe sie nicht erwischen.
„Könntest du vielleicht von mir runtergehen?“, fragte er so höflich wie es ihm möglich war. „Wir könnten ein ziemliches Problem bekommen, wenn wir nicht hier herauskommen.“
Während Frediano tatsächlich erschrocken über diese Aussage dreinblickte, beeindruckte es Landis nicht im Mindesten. Er warf den Kopf zurück. „Ich glaube dir kein Wort! Onkel Kieran hat gesagt, dass wir hier auf ihn warten sollen und das werden wir tun!“
Narcis verlor die Geduld und warf Landis von sich runter. Dem Jungen entfuhr ein überraschter Aufschrei und während Frediano sich neben diesen kniete, richtete Narcis sich auf. „Mir reicht es langsam, Kinder! Was du machst, ist mir egal, aber ich werde den Caulfield-Jungen zurück nach Hause bringen, genau wie mein Auftrag es verlangt! Du kannst auf diesen Kieran warten, so lange du Lust hast. Vielleicht kommt er ja irgendwann wieder.“
Landis pumpte Luft in die Backen, doch gerade als er mit seiner eigenen Tirade loslegen wollte, um Narcis zu sagen, wie falsch er lag – zumindest glaubte er, dass der Junge das für seinen Monolog geplant hatte – erklang ein unheimlich verzerrtes Lachen direkt vor der Tür.
Augenblicklich hielten sie alle drei inne und – auch wenn es in der Dunkelheit schwer zu erkennen war – erbleichten.
„Was ist das?“, flüsterte Frediano furchtsam.
Narcis stellte sich vor die beiden Jungen, die sich bereits aneinanderklammerten, um sich gegenseitig zu beruhigen. Andere zu beschützen war normalerweise nicht seine Aufgabe, weswegen dies eine vollkommen neue Erfahrung werden würde, aber was ihm an Erfahrung fehlte, würde er einfach an Einsatzbereitschaft wieder wettmachen, genau wie bei all seinen früheren Aufträgen.
Er glaubte zu spüren, wie sich Spannung in der Luft aufbaute und machte sich bereit, den ersten, gleich kommenden Angriff abzuwehren – aber noch bevor das geschehen konnte, wurde etwas anderes bemerkbar.
Narcis' feine Härchen am Nacken und auf den Armen stellten sich auf, noch nie zuvor war er Zeuge eines solchen Ereignisses geworden, was ihm wieder ein wenig Furcht einflößte, da er nicht wusste, was geschehen würde und wie er darauf reagieren sollte.
Unwillkürlich hielt er die Luft an – und wartete darauf, was als nächstes passieren würde.