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Oh nein! Nicht noch eine Vampir-FF!

Lesen auf eigene Gefahr!
von

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Prolog

„Hast du schon gehört?“

„Nein, was denn?“

„In der Dunkelhöhle soll es ein ganz seltenes Pokémon geben. Man munkelt, dass ein schwarzes Zubat dort sein Unwesen treibt. Angeblich ist die Zahl der Zubat stark angestiegen, seit es dort aufgetaucht ist.“

„Ein schwarzes Zubat? So etwas gibt es doch gar nicht.“

„Doch, wenn ich es dir doch sage! Ein pechschwarzes Zubat, ich schwöre es, auch wenn ich es selbst noch nie gesehen habe. Aber es heißt auch, dass es sehr aggressiv sein soll. Die Dunkelhöhle wurde bis auf Weiteres von der Polizei verbarrikadiert.“

„Also doch eine echt gefährliche Situation, was? Hoffentlich unternimmt bald irgendwer etwas gegen das schwarze Zubat.“

 

So hatte alles angefangen.

 

Jessie, James und Mauzi hatten das Gespräch zwischen den beiden Teenagern eher zufällig belauscht gehabt. Doch nachdem dieses Wissen an sie gedrungen war, waren ihre geliebten Nudeln schnell vergessen gewesen und es wurde ein Plan geschmiedet.

Ihr neues Ziel stand fest: Sie würden dieses seltene Zubat für den Boss einfangen. Koste es, was es wolle!

Und so hatten sie sich noch am selben Tag auf den Weg zur besagten Dunkelhöhle gemacht.

Officer Rocky und ihre Polizisten zu umgehen, war kein großes Problem gewesen. Immerhin war das Trio darin geübt, lange Tunnel zu graben. Es war ein Klacks gewesen, untergründig in die Dunkelhöhle vorzudringen.

„Wir teilen uns auf“, hatte Jessie schließlich nach einigen Stunden der erfolglosen Suche beschlossen und teilte die Richtungen auf, in die jeder Einzelne von ihnen gehen würde.

„Aber Jessie, was machen wir denn, wenn wir plötzlich in einen ganzen Schwarm von Zubat geraten?“, hatte James gefragt und ihm war deutlich anzusehen gewesen, dass er Angst hatte, allein auf die Suche nach besagtem schwarzen Zubat zu gehen.

„Papperlapapp“, war ihre Antwort gewesen. „Wozu hast du deine Pokémon, du Angsthase? Mit ein paar mickrigen Zubat wirst du ja wohl noch klarkommen. Wir gehören schließlich zu Team Rocket! Und Team Rocket ist an den Umgang mit Zubat gewöhnt, nicht wahr?“

„Aber was ist mit mir?“, hatte auch Mauzi eingeworfen und schien alles andere als begeistert von diesem Aufsplittungsplan.

„Nun hör aber auf, Mauzi! Du bist ein Pokémon, schon vergessen? Du wirst ja wohl mit ein paar Fledermäusen fertig werden.“

 

Und so hatten sie sich aufgeteilt. Jessie wollte sich den nördlichen Teil der Höhle vorknöpfen, während Mauzi sich den westlichen Part unter die Krallen riss und James ging schließlich den südlichen Bereich untersuchen.

Doch es schien witzlos. Lange Zeit ließ sich kein einziges Zubat blicken. Überhaupt schien die sonst so lebhafte Höhle wie ausgestorben. Und James kam nicht umhin, die belauschten Worte des kleinen Großmauls mehr und mehr anzuzweifeln.

„Von wegen“, hatte er gemurmelt, „die haben uns doch glatt reingelegt. Ich sollte umkehren und nach Jessie und Mauzi suchen. Mir ist das Ganze nicht geheuer.“

Er hatte sich daraufhin umgedreht, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Doch kaum, dass er dem dunklen Pfad den Rücken zugekehrt hatte, überkam ihn ein eisiger Schauer.

 

Das Letzte, woran er sich später noch erinnern konnte, war ein stechender Schmerz an seinem Hals, als hätte ihm dort jemand vier kleine Dolche durch die Haut ins Fleisch gejagt. Ein wildes Pochen protestierte gegen die Tortur an, ehe ihn eine nie gefühlte Hitze in die erlösende Ohnmacht küsste.

 

 

Ja, so hatte alles angefangen.

Infiziert

Als James endlich die Augen wieder aufschlug, wurde er von höllischen Kopfschmerzen begrüßt. Er vermied es, sich in eine sitzende Position von dem harten Boden aufzurichten. Zu sehr schwindelte es ihm.

Doch wieso war das so? Was war passiert? Und ganz nebenbei, wo war er gleich nochmal?

Ach ja, genau. Die Dunkelhöhle. Er, Jessie und Mauzi hatten hier doch irgendetwas gesucht. Was war es gleich nochmal gewesen? Irgendein Pokémon… Verdammt, wieso war es nur so schwummerig in seinem Kopf?

„Jessie, sieh mal! James ist endlich aufgewacht!“

„Das sehe ich selbst!“

Der Rocket-Agent wandte seinen Kopf in Richtung der Stimmen. Sie hatten ihn also gefunden. Sie waren hier, bei ihm. Wie lange schon?

„Hey, James! Was war denn los?“

Er wollte sein sorgloses Lächeln aufsetzen, um seine besorgte Partnerin zu beruhigen. Doch er fühlte sich so seltsam schwach, dass er nicht einmal sagen konnte, ob ihm das Lächeln gelang.

„Meine Freunde…“

„Komm mir nicht auf die Tour!“, herrschte ihn Jessie auf ihre typische Weise an und unterbrach ihn dadurch. Wie gut, dass James wusste, dass sie auf diese Art nur verbergen wollte, wie es wirklich gerade in ihr aussah. „Wir haben dich bewusstlos am Boden gefunden. Also, was war los?“

„Und hast du das Zubat gesehen?“, fügte Mauzi weitsichtig hinzu.

„Uhm…“

Ja, genau, jetzt fiel es ihm wieder ein. Es war von einem seltsamen schwarzen Zubat die Rede gewesen. Deswegen waren sie hierhergekommen, um es zu suchen und für den Boss einzufangen. Doch sie hatten lange nichts gefunden gehabt. Dann hatten sie sich aufgeteilt… und… ja, und dann?

Er wagte einen erneuten Versuch, sich aufzurichten. Dieses Mal erfolgreich. In seinem Kopf jedoch rumorte es noch immer und dann war da auf einmal noch dieses andere seltsame Gefühl, welches er eben noch nicht gespürt hatte.

Instinktiv griff er sich in den Nacken, massierte kurz seinen Haaransatz, um die Nerven zu beruhigen, ehe er vorsichtig seinen Hals abtastete. Ihn durchzog daraufhin ein stechender Schmerz, als er eine Narbe an seiner rechten Halsseite entdeckt hatte. Kurz glaubte er, sich übergeben zu müssen, als ein plötzliches Übelkeitsgefühl den Schmerz quittierte. Doch er schluckte es hinunter.

„Fühlst du dich nicht gut?“

James rang sich ein gespieltes Lächeln ab, um den Kater zu beschwichtigen. „Geht schon wieder. Sorgt euch nicht um mich.“

„Tun wir nicht“, stichelte Jessie und stieß ein Stöhnen aus. „Also, was ist nun mit dem Zubat?“

„Oh, ja“, gab er stammelnd zur Antwort und überlegte kurz, was er seinen beiden Teamkameraden sagen sollte. Er entschied sich spontan für eine Notlüge. „Ich habe es nicht gesehen, soweit ich mich erinnere. Ich habe überhaupt gar kein Pokémon gefunden, bis auf ein Kleinstein, über das ich dann gestolpert bin. Schätze, ich bin etwas ungeschickt gestürzt. Tut mir leid, ich war total nutzlos.“

Naja, so ganz gelogen war es ja nicht. Er hatte ja wirklich kein Pokémon gesehen gehabt. Nur dass ihn irgendetwas angegriffen hatte und er daraufhin ohnmächtig geworden war, nein, das konnte er ihnen doch unmöglich erzählen. Sie würden es ihm ohnehin nicht glauben.

„Kann man so sagen“, kommentierte seine Partnerin mit einem Seufzen und schlug sich die Hand gegen die Stirn, ehe sie dann verzweifelt den Kopf schüttelte.

„Was ist mit euch? Habt ihr es gefunden?“

„Natürlich nicht!“, gab sie gereizt zurück. „Hätten wir denn sonst gefragt, ob du es gefunden hast?“

„Nein.“

„Na also!“

Nach einer kurzen Diskussion, inwiefern es noch Sinn machen würde, weiterhin einem Mysterium nachzujagen, entschloss sich das Trio schließlich, die Suche fürs Erste aufzugeben. Sie hatten nahezu jeden Winkel der Höhle durchkämmt gehabt und waren auf absolut nichts gestoßen. Wenn es dieses ominöse Zubat wirklich geben sollte, dann würden sie sicher bald noch einmal davon hören und könnten dann jederzeit wieder über ihren Untergrundtunnel zurückkehren. Doch für diesen Moment war es reine Zeitverschwendung.

Also waren sie denselben Weg wieder zurückgegangen, den sie gekommen waren. Inzwischen hatte schon die Abenddämmerung eingesetzt, wie sie mit Erstaunen bemerkten, als sie die Dunkelhöhle und ihren Tunnel endlich hinter sich gelassen hatten. Kein Wunder, sie hatten unzählige Stunden mit der Suche verbracht und weitere Zeit verplempert, als sie auf James Wiedererwachen hatten warten müssen.

Es würde keinen Sinn mehr machen, noch irgendetwas mit dem Abend anzufangen. So beschlossen sie stattdessen, zur Abwechslung mal den Tag ruhig ausklingen zu lassen um dafür am Folgetag früh mit ihren Nachforschungen zu beginnen.

Und so schlugen sie ihr Lager unweit der Dunkelhöhle auf.

 

Den restlichen Abend über war James ungewohnt still gewesen. Irgendwann hatten es seine beiden Partner aufgegeben, ihn in ihre Planungen mit einzubeziehen. Alles, was er bestenfalls von sich gegeben hatte, war ein „Ja“ oder ein ebenso hilfreichen „Weiß nicht“ gewesen. Allerdings immer zu den falschen Fragen, da er allem Anschein nach überhaupt nicht zuhörte, also ignorierten die anderen beiden ihn einfach irgendwann.

James hingegen war die ganze Zeit über in Gedanken. Noch immer quälte er sich mit den Fragen, was wohl wirklich in der Dunkelhöhle passiert war. Er erinnerte sich nur noch daran, dass er nach diesem schwarzen Zubat gesucht, es allerdings nirgends gefunden hatte. Dann hatte er zu Jessie und Mauzi zurückgehen wollen und ab da hörte es auf mit seinen Erinnerungen. Alles, was ihm ab da an geblieben war, waren Schmerzen, Übelkeit und ein seltsames Schwächegefühl. Es war nicht mit Erschöpfung zu vergleichen, Muskelkater oder irgendwelchen Prellungen. Das alles war er zu Genüge gewohnt, da das Team oft genug dank dem Knirps und seinem Pikachu in die Luft gegangen war und die unvorstellbarsten Bruchlandungen erlitten hatte. Aber das hier war anders. Nicht wirklich zu beschreiben.

Wieder und wieder tastete er die Narbe an seinem Hals ab und immer wieder wurde er von einem schmerzhaften Ziehen und der aufkommenden Übelkeit belohnt. Inzwischen aber ahnte er, dass es sich um vier kleine Einstiche handeln musste. Vergleichbar mit denen einer Spritze; einer verdammt großen Spritze mit einer breiten Nadel. Und dann auch noch gleich vier Stück davon.

Ihn beschlich der Verdacht, dass er gebissen worden war. Doch das klang selbst für ihn absurd. Er hatte nichts gesehen, das ihm das hätte antun können. Andererseits… was, wenn…?

Nein! Vollkommen absurd! Jessie würde ihm den Kopf abreißen, wenn sie wüsste, dass er ihrer Beute so nahe gewesen war und sie einfach hatte entwischen lassen. Nein, das war gar nicht möglich. Ganz bestimmt hätte er das Zubat anhand der Flügelschläge bemerkt. Gerade weil es so unheimlich still dort gewesen war. Absolut unmöglich!

Wieso aber ließ ihn dieser Schnapsgedanke nicht mehr los…?

 

 

Am nächsten Morgen ging es James so richtig dreckig. Er hatte die Nacht nicht richtig schlafen können, obwohl er der Erste im Team gewesen war, der seinen Schlafsack ausgerollt und sich hingelegt hatte. Doch er glaubte, nicht einmal für zehn Minuten geschlafen zu haben. Entsprechend fühlte er sich.

Doch das war nicht alles. Neben der typischen Schlafmangelschwäche war da noch etwas anderes. Ein duseliges Gefühl hatte sich in seinem Kopf breitgemacht und schlich sich in seinem gesamten Körper munter auf und ab. Jeder seiner Muskeln schmerzte wie bei einem höllischen Muskelkater, nur irgendwie ziehender.

Kurzum: Ginge es nach ihm, würden ihn keine zehn Ponita aus den Federn kriegen. Oder auch hundert wütende Ursaring, wie auch immer.

„James, komm gefälligst aus den Federn! Wir haben viel zu tun!“, zeterte Jessie just in jenem Moment in ihrer üblichen guten Morgenlaune. Damit war es vorbei mit dem Wunschdenken, einfach wie tot das Lager zu hüten, wenn er nicht gerade über Nacht masochistische Vorlieben entwickelt hatte. Und nein, das hatte er nicht.

Also quälte er sich auf die Beine, verzichtete auf eine morgendliche Wäsche, da es keinen Schlaf gab, den er sich hätte wegwaschen können, und zwängte sich durch die Tortur des Tages.

Tatsächlich war es eine einzige Qual für ihn, den Tag irgendwie zu überstehen. Sein Zustand verschlimmerte sich nämlich noch zusätzlich, je höher die Sonne stieg. Gerne hätte er es mit der naheliegensten Erklärung abgetan, dass er einfach unter Schlafmangel litt, doch irgendwie wusste er, dass das nicht die einzige Ursache für sein mieses Befinden sein konnte.

Und sein Verdacht sollte sich bald schon bestätigen.

Verwandlung

Zu dem Tag an sich gab es nicht viel Besonderes zu sagen.

Jessie war ihrem selbstentschiedenen Plan gefolgt, Recherche zu dem mysteriösen Zubat anzustellen, von dem sie gestern gehört hatten. Egal, wie oft James ihr einzureden versuchte, dass man sie nur verarscht hatte, sie wollte es nicht damit abtun. Solange es nur einen noch so kleinen Hinweis darauf gab, dass sie ein seltenes Pokémon dicht vor ihrer Nase hatten, wollte sie die Hoffnung darauf nicht aufgeben. Komme was da wolle. Selbst ein kränkelnder James konnte sie nicht in ihrem Jagdfieber stoppen.

So hatten sie sich unter die verschiedensten Leute begeben und zivil Nachforschungen angestellt, wie viel an dem Gerücht dran sein konnte. Tatsächlich bestätigten einige die Reden über jenes Zubat, doch keiner wollte es selbst gesehen haben. Doch alleine die Tatsache, dass noch mehr Leute von diesem superseltenen Pokémon wussten, spornte die Agentin nur noch umso mehr an. Es kam auf gar keinen Fall für sie in Frage, dass irgendwer anderes als Team Rocket dieses Zubat in die Hände bekam.

Bis auf weitere Gerüchte fanden sie allerdings nichts. Deswegen hatte Jessie darauf bestanden, noch einmal in der Dunkelhöhle nachzusehen, welche nach wie vor für Zivilisten gesperrt war. Mit den wenigen Kräften, die James noch in sich sammeln konnte, hatte er versucht, sie daran zu hindern – er wollte partout nicht noch einmal an diesen unheimlichen Ort zurückkehren –, doch natürlich waren seine Bemühungen zwecklos.

Und so kam es, wie es kommen musste.

 

„Ich habe wirklich kein gutes Gefühl dabei“, hatte James wieder und wieder vor sich hin gemurmelt, laut genug, dass seine beiden Teamkameraden es hören konnten.

„Stell dich nicht so an!“, war jedes Mal die Antwort im Wechsel der anderen beiden gewesen, bis Jessie der Geduldsfaden riss und sie hinzufügte: „Nur weil du ein wenig schwächelst, wird nicht das gesamte Team zurückfallen. Wir schnappen uns diese Fledermaus und damit basta!“

In jenem Moment hatten sie ihren Geheimtunnel verlassen und betraten ein weiteres Mal die Dunkelhöhle. Alles war wie am Tag zuvor. Die Höhle war düster und wirkte verlassen, beinahe wie ausgestorben.

Dennoch gingen sie weiter und suchten erneut alle Wege ab, die sie finden konnten. Selbst Arbok, Jessies treuer Pokémon-Partner, half mit seinem feinen Gehör mit.

Lange blieb es ruhig, bis irgendwann die Kobra den Kopf auf den Boden presste und an jener Stelle länger verharrte als bisher.

„Wartet mal“, warf Mauzi daraufhin ein, der die Veränderung an der Schlange als Erster bemerkte, und hinderte dadurch die beiden Agenten am Weitergehen. „Ich glaube, Arbok hört etwas.“

„Ich wusste, dass auf ihn mehr Verlass sein würde als auf manch anderen hier im Team!“

„Du kannst nur James meinen, nehme ich an“, gab der Kater die Stichelei an die Agentin zurück. Dann besann er sich aber wieder auf die Kobra. „Was hörst du? Sag schon!“

Das Pokémon lauschte noch einen weiteren Moment, dann züngelte es kurz und gab dabei ein Zischen von sich, das wie eine Warnung klang. Dann richtete es sich ruckartig wieder auf und Arbok wies mit einem heftigen Kopfnicken in die Richtung, aus der das Team gekommen war. Er wirkte aufgebracht.

„Was ist? Kommt da etwas?“, hakte Jessie irritiert nach und folgte der Weisung der Schlange.

Neben ihr hob Mauzi die Pfote und wies nun ebenfalls in die Richtung, in die auch Arbok die ganze Zeit nickte. „Da kommt was, Achtung!“

„Was? Was kommt da?! Sag schon, Mauzi!“, forderte Jessie und spürte nun ebenfalls eine gewisse Nervosität in sich. Das Gefühl war eindeutig eine Vorahnung – eine böse Vorahnung!

In den darauffolgenden Sekunden geschah alles rasend schnell.

Das Trio sah nur eine gewaltige dunkle Wolke auf sie zukommen. Ein großer Schwarm Zubat, was selbst für diese Gruppen-Pokémon äußerst ungewöhnlich war. Die unzähligen Flügelschläge verursachten einen solchen ohrenbetäubenden Lärm, dass sich Jessie und Mauzi die Ohren zuhalten und Arbok sich in seinen Pokéball flüchten musste.

Nur James schien immun gegen diese überrumpelnde Attacke aus Beschallung zu sein. Im Gegensatz zu dem Rest des Teams, stand er einfach nur regungslos da und beobachte mit weit aufgerissenen Augen, wie die Zubat in rasanter Geschwindigkeit einfach links und rechts an ihm vorbeisausten. Er hätte jedes einzelne dieser Pokémon mitzählen können, ganz ohne Mühe, so genau konnte er die Szenerie um ihn herum mitverfolgen.

Doch dann, nur für einen Moment, schien die Zeit plötzlich für ihn stillzustehen. Die Geräusche um ihn herum verstummten mit einem Mal und kein laues Lüftchen war mehr zu vernehmen. Alles setzte für einen Augenblick aus und die Augen des Agenten weiteten sich noch etwas mehr, als er glaubte, einer Illusion zum Opfer gefallen zu sein.

Da war es! Direkt vor ihm und starrte ihn direkt an.

Schwarze Flügel, eher von der Größe her die eines Golbat und mit grell-pinken statt violetten Innenflächen, schlugen kräftig auf und ab.

Es war viel größer als die übrigen Zubat und hatte etwas an sich, was man rein vom Gefühl her als „das Böse“ bezeichnen könnte. Anders war es nicht zu beschreiben.

James lief es eiskalt den Rücken hinunter.

Es war also wahr gewesen. Es gab es tatsächlich. Er sah es nun mit eigenen Augen. Kein Meter Abstand lag zwischen ihnen.

Doch es war ihm aus irgendeinem Grund unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Er konnte es einfach nur anstarren. Und es fühlte sich in diesem Augenblick wie eine Ewigkeit für ihn an.

Trotzdem, tatsächlich waren es nicht mehr als Sekunden. Nur ein vorüberziehender Augenblick, in dem James schwören könnte, jenes umstrittene schwarze Zubat in einer bösen Verheißung grinsen zu sehen – ja, grinsen! –, ehe auch es einfach an ihm vorüberflog. Nur einen knappen Zentimeter an seinem rechten Ohr vorbei.

Dann war alles wieder so schnell vorbei, wie es da gewesen war und ließ den Agenten wie versteinert zurück.

„Was war denn das gerade?“, durchbrach Jessie mit zitternder Stimme die wiedergekehrte Ruhe und starrte ungläubig in jene Richtung, in die die Zubat verschwunden waren. Ihr Körper war von einem heftigen Zittern erfasst und sie spürte eine nie zuvor gespürte Angst in sich. „Kann mir, verdammt nochmal, IRGENDJEMAND erklären, was hier gerade passiert ist?!“, wiederholte sie, beinahe panisch und lautstark, ihre Frage an ihre beiden Teamkollegen.

„Ich… weiß nicht, Jess“, stammelte Mauzi eine zittrige Antwort, die so gesehen gar keine war. „Wa… waren das Zubat?“

Ein Poltern ließ die beiden zusammenfahren, ehe sie erkannten, dass es den Dritten in der Runde soeben zu Boden gerissen hatte. James hatte es nicht mehr länger auf den Beinen gehalten und er war einfach in sich zusammengesackt, wie ein nasser Sack. Nun kauerte der Agent am Boden, die Hände in den felsigen Grund gegraben, und zitterte am ganzen Leib wie Espenlaub.

„James?“, flüsterte Jessie besorgt und wollte sich gerade zu ihm beugen, als er den Kopf schwerfällig zu Boden sinken ließ.

„Mir ist übel… richtig übel.“

„Hey, reiß dich zusammen!“, versuchte Mauzi dem Freund Mut zuzusprechen, doch seine Stimme verschwamm in James‘ Wahrnehmung.

Noch immer zitterte er. Ihm war eiskalt und glühendheiß zugleich. Alles in ihm zog und krampfte gleichzeitig. Die Übelkeit wütete nicht nur in seinem Kampf, sie schien ihn regelrecht einzunehmen. Er fürchtete, jeden Moment erneut das Bewusstsein zu verlieren.

„Mir ist so verdammt schlecht…“

Ab da schaltete sich alles bei ihm ab und er bemerkte nicht einmal mehr, wie ihn seine beiden Freunde mit vereinten Kräften wieder auf die Beine hoben und mit aller Mühe aus der Höhle stützten.

Erwachen

Wie er aus der Höhle hinausgelangt war, wusste James nicht, als er wieder zu sich kam. Fakt war aber, dass er auf einem improvisierten Schlaflager lag, bestehend aus einer abgenutzten Matte und einer fransigen Wolldecke. Wirklich wärmen tat es ihn nicht, doch das war nicht weiter schlimm, denn er fror auch gar nicht. Obgleich die Sonne nur noch zum Abschied tief am Himmel stand und die Abenddämmerung einleitete.

Kurz sah er sich im Liegen um. Sie waren nicht an demselben Platz wie letzte Nacht. Durch einige Bäume konnte er noch die verhasste Dunkelhöhle in einiger Entfernung sehen. Weit waren sie also nicht gekommen, wie es den Anschein machte.

„Jessie? Mauzi?“, flüsterte er die Namen seiner beiden Partner und richtete sich vorsichtig in eine sitzende Position auf, um sich nach ihnen umzusehen. Er fühlte sich komisch. Ihm wollte keine passende Bezeichnung einfallen für das, was in ihm vorging.

„Hier drüben“, kam sogleich die Antwort und James erblickte Mauzi schräg hinter sich, der gerade ein zerrissenes Stück Stoff in eine Schale Wasser tauchte. Jessie lag neben dem Kater, ebenfalls auf einem schnell improvisierten Lager ihres Schlafsacks, und rührte sich nicht.

Vorsichtig rückte James an die beiden heran. „Was ist los? Was hat Jessie?“

„Sie ist vorhin gestürzt, als wir dich aus der Höhle gebracht haben.“

Die Augen des Agenten weiteten sich vor Schreck. „Gestürzt?!“

„Beruhige dich“, beschwichtigte der Kater und winkte ab, „sie hat sich vor einem Wiesenior erschrocken und ist über ihre eigenen Beine gestolpert. Ist nichts weiter passiert, sie hat sich nur etwas aufgeschrammt.“

„Zum Glück“, flüsterte James daraufhin und stieß ein leises Seufzen aus. In einer besorgten Geste streckte er die Hand nach der ruhenden Freundin aus und strich ihr vorsichtig übers Gesicht. Doch er hielt mitten in seiner Berührung inne, als seine Finger ihre Halsseite berührten.

Ihr Puls. Er konnte ihn ganz genau spüren. Erschreckend genau! Obgleich das regelmäßige Pulsieren nur leicht gegen die Hautdecke schlug. Bomp, bomp, bomp. Er konnte es nicht nur fühlen, er konnte es sogar… hören?

„Rutsch mal“, wurde er unsanft aus seinen Gedanken gerissen und James schrak auf. Ihm wurde gerade noch bewusst, dass er sich weiter über Jessie gebeugt hatte, und schimpfte sich nun einen Idioten. Was hatte er tun wollen? Irgendetwas hatte er tun wollen, aber was, um Himmels Willen?

Schnell machte er für den Kater Platz und rückte dafür wieder etwas zur Seite. Beschämt und irritiert zugleich beobachtete er, wie Mauzi der Freundin die Erde von der weißen Uniform klopfte und anschließend ihren linken Handschuh auszog, um sich ihre Handfläche zu besehen.

Die helle Haut schimmerte durch die unregelmäßigen Schrammen rötlich, was auf James eine seltsame Faszination ausübte. Dabei interessierte ihn weder, dass er die schönen Hände der Rocket-Agentin nur selten zu Gesicht bekam, noch, wie heftig sie eigentlich hatte gestürzt sein müssen, dass sie sich noch durch die Handschuhe hindurch verletzen konnte. Nein, einfach nur dieses Rot, das gegen den hellen Teint konkurrierte, zog ihn regelrecht in den Bann.

Er beobachtete aufmerksam, wie Mauzi behutsam Dreck und Schorf abtupfte und die Lappalie von Wunde reinigte. Dass er sich zwischenzeitlich sogar über die Lippen leckte, bemerkte er erst, als der Kater ihn erneut aus seiner Geistesabwesenheit holte.

„Ich hole eben neues Wasser“, erklärte er. „Pass solange auf Jessie auf. Bin gleich wieder da.“ Und schon war Mauzi mit der Wasserschale verschwunden.

Nach einiger Zeit rückte James wieder näher an seine ruhende Partnerin heran. Er musterte sie schweigend. Dann, in seiner Geistesabwesenheit, hob er ihre verletzte Hand an und betrachtete sich die Schürfungen genauer. Feine rote Striemen musterten die helle Haut und erneut faszinierte es ihn auf ungewohnte Art und Weise. Nicht, dass er nie zuvor eine Verletzung an ihr gesehen hätte. Es war ja eigentlich schon Alltag gewesen für lange Zeit, dass sie sich täglich neue Wehwehchen zugezogen hatten – mal mehr, mal weniger schlimm. Doch irgendwie… war es dieses Mal anders.

Wieder leckte er sich unbewusst über die Lippen und hob ihre Hand näher an sein Gesicht. Er selbst dachte, er wolle sich nur ihre Verletzung näher besehen. Als er stattdessen aber ihre Hand näher an seinen Mund hob und gerade im Begriff war, die feinen Blutstriemen zu kosten, erschrak er.

Sofort ließ er ihre Hand wieder los und noch ehe der Arm am Boden aufschlug, war er bereits aufgesprungen und panisch davongerannt.

 

Während er so rannte und rannte, ohne sich auch nur noch einmal umzusehen, bemerkte James weder, dass er sich immer weiter vom Lager entfernte, noch, dass die Nacht derweil über ihn hereingebrochen war. Es interessierte ihn schlichtweg nicht. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken; Fragen und Vorwürfe, von denen er selbst nicht wusste, woher sie so plötzlich kamen und wieso sie sich in seinen Kopf schlichen.

Was war nur plötzlich los mit ihm? Wieso verhielt er sich nur so seltsam? Und was, verdammt nochmal, war das vorhin nur für eine groteske Szene gewesen? Was hatte er vorgehabt, als er Jessies Hand so verdächtig gehalten hatte?

Und wieso löste diese Erinnerung in ihm ein so nervöses Kribbeln aus?

Etwas stimmte nicht mit ihm, dessen war er sich nun vollends sicher. Seit diesem komischen Vorfall in der Dunkelhöhle, als er ohnmächtig geworden war, hatte sich irgendetwas in ihm verändert. Er wusste nicht genau, was es war, doch er war sich dessen bewusst. Und diese Gewissheit machte ihm Angst.

Irgendwann hielt er in seiner Flucht inne und verlangsamte sein Tempo, bis er sich schließlich an einem nahestehenden Baum abstützte. Er rechnete damit, dass er nach Luft schnappen würde aufgrund seines langen Sprints, doch komischerweise fühlte er sich nicht im Geringsten ausgepowert. Im Gegenteil, er verspürte das Bedürfnis, noch mehr und noch schneller zu rennen. Klar hielt seine Kondition einiges aus, was Muss war für einen Rocket-Agenten, doch das war selbst in seinen Augen abnormal.

Dennoch, in seinen Venen rauschte so viel Adrenalin, dass er das Verlangen spürte, die überschüssige Energie irgendwie loszuwerden. Einfach wieder umzukehren und zu seinen beiden Freunden zurückzukehren erschien ihm als eine schlechte Idee. Zumindest im Moment.

Bei dem Gedanken wagte er zum ersten Mal einen kurzen Blick zurück in die Richtung, aus der er gekommen war und in der irgendwo ihr Lager liegen musste. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihm breit, als er an Jessie dachte. Und dann schlich sich wieder dieses Kribbeln seine Kehle hinauf, als ihm unweigerlich wieder das Bild von ihrer verletzten Hand in den Sinn kam…

Zum Glück lenkte in diesem Moment ein lautes Rascheln im Gebüsch seine Aufmerksamkeit auf sich und noch ehe er einen Gedanken fassen konnte, war er darauf zugestürzt.

 

 

Der Ruf eines Noctuh leitete die nächste Szene ein, in welcher nur noch der schwache Schein des Mondes, der sich durch einige schwarze Wolken kämpfte, sich durch die Dunkelheit der Nacht wagte. Die Nacht hätte ein so idyllisches Bild geben können mit den vielen Ledian und Smettbo, die ihre nächtliche Wanderung durch den Wald vornahmen. … Wäre da nicht dieses verstörende Bild gewesen…

James hockte hinter dem schützenden Gestrüpp eines Gebüschs. In seinem Schatten vor ihm lag eine reglose Silhouette, die sich erst auf dem zweiten Blick als ein Ursaring entpuppte.

Der Agent selbst wirkte wie erstarrt. In den sonst so weichen grünen Augen hatte sich eine resignierende Kälte breitgemacht.

Es war seine erste Jagd gewesen. Seine erste erfolgreiche Jagd. Und es würde gewiss nicht seine letzte gewesen sein, nun, da er Blut geleckt hatte – im wahrsten Sinne des Wortes.

Monster

James war nicht wieder zum Lager zurückgekehrt. Und Jessies Suche nach ihm blieb erfolglos.

Nachdem sie wieder zu sich gekommen war, hatte niemand gewusst, wo er hingegangen sein könnte. Mauzi und sie hatten noch für einige Stunden, in denen sie das Lager weiter ausgebaut hatten, auf ihn gewartet gehabt, bis es der Agentin zu bunt wurde. James blieb nie so lange weg, schon gar nicht ohne Abmeldung oder ohne Auftrag. Also hatte sie nach ihm gesucht gehabt, wie gesagt ohne Erfolg, bis Mauzi sie schließlich wieder zurückgeholt hatte.

Obgleich sie sich dann auch schlafen gelegt hatten, hatte keiner von ihnen auch nur ein Auge zugetan. Zu groß war die Sorge um den verschollenen gemeinsamen Freund.

 

Am darauffolgenden Morgen, noch ehe die Sonne richtig am Himmel stand, packte das zurückgebliebene Duo in aller Frühe alles zusammen. Der ursprüngliche Plan war gewesen, die Suche nach dem vermissten Freund fortzusetzen, doch Jessie entschied sich anders.

„Wenn er etwas von uns will, wird er von selbst wieder zurückkommen“, war ihre Aussage gewesen und sie meinte es bitterernst. Obgleich Mauzi wusste, dass sie sich insgeheim noch immer um James sorgte, hatte er der Agentin nicht widersprochen.

So waren sie schließlich in der Tat aufgebrochen, ohne ein weiteres Wort über James zu verlieren. Verdrängt war der Plan, erneut nach dem umstrittenen schwarzen Zubat zu suchen, es würde ja doch wieder auf nichts hinauslaufen. Also hatten sie stattdessen eine andere Route eingeschlagen, um ihren geparkten Heißluftballon aufzusuchen. Jessie war sich sicher, eine zündende Idee für ihren Tagesverdienst zu bekommen, wenn sie, wie sonst oftmals üblich, für einige Zeit gegen den Korb lehnen konnte.

Nach einiger Zeit ihres langen Marschs kamen sie auch endlich an jener Stelle an und staunten nicht schlecht, als sie dort das dritte Mitglied ihres Teams vorfanden. James lehnte lässig gegen den grünen Korb ihres Ballons, beanspruchte die ersten Sonnenstrahlen für sich und machte den Anschein, als hätte er auf die anderen beiden gewartet.

„Wo warst du?!“, fauchte Jessie, sobald sie in Hörweite ihres Partners war, ihre unfreundliche Begrüßung und warf dem Agenten einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Wir haben dich gesucht“, fügte Mauzi hinzu und klang dabei weit besorgter als die junge Frau an seiner Seite.

„Tut mir leid“, gab James beschwichtigend zur Antwort und klang dabei untypisch desinteressiert. Genauso trocken fügte er noch als Erklärung hinzu: „Ich habe mich verlaufen und nicht mehr zu euch zurückgefunden.“

Dass dies natürlich gelogen war, ahnten die anderen beiden nicht. Doch wieso hätte er ihnen auch die Wahrheit sagen sollen? ‚Sorry, Leute, ich habe versucht, Jessie im Schlaf zu überfallen, bin dann aber so darüber erschrocken, dass ich stattdessen tief in den Wald gerannt bin und ein Wiesenior und ein Ursaring getötet habe‘ klang jedenfalls nicht sehr vorteilhaft in seinen Ohren. Unglaubhaft noch dazu. Und dabei hatte es ihn selbst Stunden gekostet, um zu realisieren, dass es nun einmal die nackte Tatsache war.

Ja, er hatte die Nacht zwei Pokémon getötet. Bei dem Wiesenior war es noch unbeabsichtigt gewesen, wie er es sich zumindest einredete. Er hatte es im Gebüsch rascheln gehört und war darauf zugestürzt. Das flinke Pokémon hatte vor lauter Schreck sofort die Flucht ergriffen und so, rein aus einem animalischen Instinkt heraus, hatte er sofort mit der Hetzjagd auf das Wieselwesen begonnen. Das Spielchen dauerte nicht lange und ehe er sich versah, hatte er das Wiesel geschnappt und auch schon seine Zähne in dessen Kehle vergraben. Der ungewohnte Geschmack von süßem Blut hatte ihn regelrecht berauscht, sodass er auch nicht lange gezögert hatte, als er ein Ursaring in der Nähe bemerkte, das sein Revier vor Eindringlingen verteidigen wollte. Der Kampf mit dem kräftigen Bären-Pokémon dauerte nicht lange und er hatte sogar die tiefe Wunde an seiner Schulter ignoriert, die das Pokémon ihm im Gefecht  zugefügt hatte. Minuten später labte er sich an einer köstlichen Blutmahlzeit.

Als er schließlich wieder zur Besinnung gekommen war, war es bereits zu spät gewesen. Vor ihm lag der regungslose Kadaver des ausgesaugten Pokémon und er begriff nur stückchenweise, was soeben geschehen war. Es hatte wahrlich Stunden – oder anders ausgedrückt: die ganze Nacht – gedauert, ehe er sein Tun realisieren konnte. Und ab da zwickten ihn die Gewissensbisse.

Er hatte getötet. Er, James, hatte zwei Pokémon getötet. Brutal, ohne Gewissen, barbarisch. Ohne Probleme. Es war viel zu einfach gewesen.

Mit dem Morgengrauen, als er endlich das Geschehene fürs Erste verarbeitet und akzeptiert hatte, war er dann aufgebrochen, um zu seinen beiden Teamkollegen zurückzukehren. Ihm war klar geworden, dass er das Geschehene nicht mehr rückgängig machen konnte und hatte einen Entschluss gefasst…

„James?“, hörte er Jessie fragen und blickte auf. In ihren blauen Augen stand Besorgnis. „Alles okay mit dir? Du siehst irgendwie krank aus.“

Er schwieg. Erst, als sie ihn erneut ansprach, unterbrach er sie mitten im Satz: „Ich verlasse das Team.“

Jessie und Mauzi zwinkerten daraufhin einmal, zweimal. Diese Verkündung war so trocken über die blassen Lippen des Agenten gekommen, dass es länger als üblich brauchte, ehe sie die Bedeutung dieser knappen Worte begriffen hatten.

„Was? Wieso auf einmal?“, platzte die Verwirrung aus Jessie heraus und sie starrte den Freund mit weit aufgerissenen Augen an.

Doch James wandte sich von ihr ab. „Ich habe keine Erklärung.“

„Das geht nicht!“ Jessie sprintete in einem Satz vor ihn und streckte beide Arme seitlich aus, in der Hoffnung, ihn so am Gehen hindern zu können. „Du kannst nicht einfach so beschließen, aus dem Team auszusteigen! Das muss zumindest zuvor im Team besprochen werden und ich bin dagegen, dass du gehst!“, erklärte sie in ihrem typisch herrischen Tonfall, obgleich ihr selbst bewusst war, dass man ihr das Zittern in der Stimme anhören konnte.

James blieb vor ihr stehen und sah sie nur emotionslos an. „Was gibt es da vorher groß zu besprechen? Bist du es nicht sonst immer, die einfach über unsere Köpfe hinweg Entscheidungen trifft?“ Kurz wartete er ihre Reaktion ab, ehe er noch ergänzte: „Wenn du beschließen würdest, zu gehen, wäre es doch auch egal, was wir dazu zu sagen hätten.“

Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Man konnte Jessie deutlich ansehen, dass sie tief getroffen hatten. Klar, irgendwo hatte er recht mit dem, was er ihr vorwarf. Aber andererseits… Sie wäre doch nie, niemals!, auf die Idee gekommen, einen Schlussstrich zu ziehen und ihre beiden Freunde einfach so zurückzulassen. Und dabei war sie sich sicher gewesen, dass man das von ihr eher erwarten würde als von ihm. Obwohl klar war, dass sie niemals so eine Entscheidung für sich getroffen hätte.

Der Schmerz, den diese Worte in ihr ausgelöst hatten, schwächte schließlich ihre Kräfte und sie senkte die Arme. Sie bemerkte das Zittern ihres Körpers und es war ihr egal, ob die anderen beiden es bemerkten oder nicht.

Ihr Hals kratzte erbärmlich, als sie ein leises „Geh nicht“ flüsterte.

Doch es änderte nichts. James wandte seinen Blick wieder von seiner Ex-Partnerin ab und ging einfach an ihr vorbei. Kein einziges weiteres Wort verlor er dabei.

„Ich will das nicht“, stammelte Jessie noch, als ihr Partner bereits an ihr vorübergegangen war, und sie schmeckte salzige Tränen in ihren Mundwinkeln. Mit aller Kraft, die sie noch aufbringen konnte, ballte sie schließlich die Hände so fest zu Fäusten, dass es schmerzte, und schrie sich alle Verzweiflung aus dem Leib. „Ich will das nicht!!“

 

 

Er konnte ihren Verzweiflungsschrei noch deutlich hören, dennoch wandte er sich nicht noch einmal nach ihr um. Sein Entschluss stand absolut fest.

Letzte Nacht hatte er begriffen, dass er nicht mehr er selbst war. Er war zu einer Gefahr für alles und jeden um ihn herum geworden. Und dass er einen seiner beiden Freunde verletzten könnte… nein, das wollte er nicht! Auf gar keinen Fall!

So blieb ihm nur eine einzige Wahl: Er musste verschwinden. Weit, weit weg.

 

Und so rannte er. Rannte, rannte… rannte. Bis er in Richtung Sonnenaufgang gänzlich in der Ferne verschwunden war.

Opfer

Es waren Tage vergangen. Wie viele genau, wusste James nicht. Tag und Nacht gingen so unbemerkt ineinander über, dass er bald schon keinen Sinn mehr darin erkannte, sie voneinander zu trennen. Seit er ein Vampir war, war Schlaf unwichtig für ihn geworden. Er hatte alle Zeit der Welt und ihm standen alle Türen offen. Ein ganz neues Lebensgefühl, das er selbst während seiner langen Zeit bei Team Rocket nie verspürt hatte.

Doch genauso, wie die Tage für ihn länger geworden waren, verging nun auch die Zeit gleich doppelt so schnell für ihn. Obgleich er keine Pflichten mehr zu erfüllen und keine Aufgaben mehr zu erledigen hatte, reichte die Zeit nicht aus, um sein neues Leben zu entdecken.

Erst nach und nach entdeckte er seine neuen Fähigkeiten und Kräfte an sich. Er konnte nicht nur wahnsinnig schnell rennen, nein, er konnte mindestens genauso gut springen. Was war schon noch ein Gebirge für ihn oder eine Schlucht? Genau, nur ein Katzensprung.

Auch konnte er sich nicht vorstellen, auch nur irgendeinem Pokémon unterlegen zu sein. Das Ursaring damals war kein Gegner für ihn gewesen. Selbst die tiefe Wunde, die das Pokémon ihm damals zugefügt hatte, war binnen Sekunden wieder verheilt gewesen. Nicht einmal eine Narbe war zurückgeblieben.

Vielleicht sollte er seine Grenzen testen und sich auf die Suche nach einigen legendären Pokémon begeben wie Mewtu oder Groudon. Ob er vielleicht sogar Rayquaza aus seiner Ozonschicht locken und zum Kampf herausfordern könnte? Oder Palkia, das schließlich Herr über die Zeit war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass selbst Arceus auch nur den Hauch einer Chance gegen ihn haben würde. So gesehen also, wenn er sogar mächtiger als Arceus war, war er dann nicht mit anderen Worten ein Gott?

Der Gedanke amüsierte ihn. Lustig, bis vor Kurzem war er noch ein Schwächling gewesen. Und jetzt, nur wegen eines kleinen Bisses, war er vermutlich das mächtigste Wesen auf der Welt. Wenn Jessie wüsste…

Sein Grinsen erstarrte.

Aber sie wusste es nicht. Und sie würde es auch niemals erfahren. Kein Mensch sollte es jemals erfahren. Es war besser so. Er wollte niemandem Schaden zufügen.

Wenn er nur weit genug weggehen und lange genug verschwinden würde, dann war er sich sicher, dass ihn bald jeder vergessen haben würde. Erst dann wäre auch er wirklich frei. Doch solange er es eben noch nicht war, würde er immer  eingeengt sein.

„Jessie…“

Wie es ihr wohl ging? Ob sie wohl noch um ihn weinte? Auch witzig irgendwo, wenn man bedachte, dass sie sonst immer einen auf stark tat. Doch er hatte immer um ihre Inneres gewusst. Hatte gewusst, dass sie bei Weitem nicht so stark war, wie sie immer vorgab.

Diese Gedanken lösten einen stechenden Schmerz in seinem Herzen aus. Nur an sie zu denken gab ihm das Gefühl, als sei er schon jahrelang von ihr getrennt. Als seien bereits Jahrzehnte verstrichen und sie wäre einfach von ihm gegangen. Wenigstens etwas Humanes war also noch von ihm übrig geblieben.

Er drehte sich daraufhin um und blickte wehmütig in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Irgendwo in dieser Richtung musste sie noch sein. Weit, weit weg von ihm. Doch er wusste, dass es zu spät war, um umzukehren. Er wusste es, und doch…

 

Wieder war die Nacht schneller über James hereingebrochen, als er es überhaupt mitbekommen hatte. Doch was kümmerte es ihn, er hatte sein Ziel endlich erreicht.

Vorsicht lugte er an dem Baum vorbei, hinter dem er sich versteckt hielt, und sah hinüber zu der offenen Feuerstelle. Selbst, wenn kein Lagerfeuer gebrannt und ihm die Suche dadurch um ein Vielfaches erleichter hätte, hätte er sich ohne Probleme wieder zu ihnen gefunden. Es war erschreckend einfach gewesen, ihre Fährte aufzunehmen und dieser in rasender Geschwindigkeit zu folgen. Und da waren sie nun also.

Seine beiden Freunde und ehemaligen Teamkollegen.

Jessie machte einen sehr betrübten Eindruck, so wie sie an dem Feuer saß und ihre Knie eng an ihren Körper gezogen hatte. Er glaubte sogar, tiefe, dunkle Augenringe in ihrem Gesicht zu erkennen. Ob sie noch viel um ihn geweint hatte? Komisch, bei diesem Gedanken hatte James das Gefühl, als sei er bereits für die beiden verstorben. Dabei war er so nah bei ihnen.

Sie sprachen kein Wort, nur das leise Knistern des Feuers durchdrang die nächtliche Stille. Und je länger er da stand, regungslos, umso mehr fragte er sich, ob es klug gewesen war, zurückzukommen. Denn was sollte er ihnen sagen, würde er sich zu erkennen geben? ‚Hi, ich bin nur kurz zu Besuch zu euch zurückgekommen, aber nur keine Sorge, ich bin gleich wieder weg‘?

Wahrscheinlich wäre das das sogar klüger. Einfach wieder genauso unbemerkt zu verschwinden, wie er gekommen war. Niemand würde wissen, dass er hier gewesen war. Sie würden ihn nicht unnötig vermissen. Und ganz nebenher war das auch sicherer für sie, denn James bemerkte erst jetzt dieses verdächtige Kribbeln in seiner Kehle, das ihm signalisierte, dass er mal wieder auf die Jagd gehen musste.

So seufzte er nur kurz, wandte sich dann um und wollte gehen. Er erschrak gewaltig, als er plötzlich Jessie vor sich erkannte. Wie hatte sie gewusst, dass er hier war? Und wie war es ihr nur gelungen, so unbemerkt vor ihm aufzutauchen? James hätte schwören können, dass sie eben noch am Feuer bei Mauzi gesessen hatte.

„Jessie!“, rief er erschrocken aus und schnappte nach Luft.

„Wusste ich’s doch, dass du hier bist.“

„Aber wie…?“

„Ich wusste es einfach“, unterbrach sie ihn, noch ehe er seine Frage fertig formuliert hatte. Auf ihre typische Art verschränkte sie dann die Arme vor der Brust. „Was machst du hier?“

„Ich…“, begann er leise, stockte dann aber für einen Moment. Was sollte er ihr darauf antworten?

„Du bist fortgegangen.“

James nickte schweigend.

„Und nun? Kommst du wieder zurück?“

Ein Kopfschütteln war die Antwort. „Nein. Ich wollte nur kurz nach euch sehen, ob es euch gut geht.“

„Es geht uns nicht gut!“, schrie sie daraufhin und James zuckte kurz zusammen. Als er dann zu ihr aufsah, konnte er Tränen in ihren blauen Augen glitzern sehen. „Natürlich geht es uns nicht gut! Du bist einfach abgehauen und hast uns zurückgelassen, ohne ein weiteres Wort eines Grundes!“

„Tu-tut mir leid“, stammelte er eine Entschuldigung und meinte es ehrlich. Klar, natürlich hatte sie recht. Er war einfach abgehauen, ohne seine Beweggründe zu erläutern. Doch es war besser so gewesen, das wusste er heute noch besser als damals. Dennoch… es tat ihm wirklich leid, dass er seine Freunde einfach so im Stich gelassen hatte.

„Ich weiß es.“

Erneut schrak James auf. Was hatte sie da eben gesagt? Was wusste sie?

Irritiert sah er sie an. „Was?“

„Ich weiß, was du bist. Dachtest du wirklich, ich würde eine so gewaltige Veränderung an dir nicht bemerken? Idiot!“

Unsicher taumelte er einige Schritte zurück. Er konnte nicht glauben, was sie da sagte. Woher sollte sie es wissen? Seit wann wusste sie es?

„Jessie… ich… bleib weg!“

Doch sie blieb nicht weg, im Gegenteil! Sie kam langsamen Schrittes näher auf ihn zu.

„Du hättest es mir doch einfach sagen können“, sprach sie mit sanfter Stimme zu ihm und auf ihren Lippen spielte ein Lächeln.

„Wo-woher wusstest du…?“

„Ich kenne dich lange genug, James“, gab sie ruhig zur Antwort. „Und davon abgesehen, alleine die Art, wie du mich die letzte Zeit immer angesehen hast, spricht doch eindeutig für sich. Dauernd starrst du mir auf den Hals oder auf die Hände.“

„Oh!“

„Es ist nicht schlimm. Trotzdem… inzwischen glaube ich auch, dass es besser wäre, wenn wir uns besser aus dem Weg gehen. Nicht, weil ich wirklich um meinen Hals besorgt wäre.“ Sie legte eine kurze Pause ein, ehe sie mit einem schweren Seufzen hinzufügte: „Nein, darum geht es wirklich nicht.“

„Nicht? Aber… Moment! Das heißt also, du wusstest von Anfang an, dass ich ein Vampir bin. Aber das wir uns trennen sollten liegt nicht daran, dass ich dich beißen könnte? Woran denn dann?“

Jetzt umspielte ein mysteriöses Lächeln ihre Lippen und sie trat noch näher zu ihm. Schließlich legte sie ihren Zeigefinger an seine Unterlippe und kam ihm mit dem Gesicht so nahe, dass er dem Drang kaum noch widerstehen konnte, ihren Hals unter seinem Mund zu entblößen.

„Hast du es etwa immer noch nicht bemerkt?“, flüsterte sie ihm leise zu und in ihrer Stimme schwang ein undefinierbarer Unterton mit.

James blinzelte verwirrt. „Was meinst du?“

Ihr Grinsen wurde breiter. „Ich bin auch schon seit geraumer Zeit kein Mensch mehr.“

„Was?!“, entkam es ihm entsetzt. Was meinte sie nur damit? Aber doch, ja, es stimmte. Jetzt, da sie es erwähnte, bemerkte er tatsächlich einen fremden Geruch an ihr. Irgendwie roch sie zwar noch nach wie vor nach sich selbst, aber irgendwie auch anders. „Du bist auch ein Vampir?“

„Nein“, sie schüttelte mit dem Kopf, „kein Vampir.“

„Was dann?“

Sie grinste und ihre Pupillen verengten sich dabei unmenschlich. „Ich bin ein Werwolf.“

„Wa-?“, wollte er erneut seinem Entsetzen Luft machen, doch er brach ab. Kurz überdachte er ihre letzten Worte, wobei er kurz schluckte. Dann sah er ihr wieder fest in die Augen. „Ich habe das nie bemerkt. Seit wann schon?“

„Etwa seit einer Woche, bevor du zum Vampir wurdest“, gab sie ehrlich zur Antwort und seufzte kurz. Schließlich ließ sie wieder von ihm ab, wandte sich um und trat einige Schritte von ihm weg. „Das heißt, jetzt, da du ein Vampir bist und ich ein Werwolf, sind wir natürliche Feinde. Deswegen wäre es besser… du weißt schon. Wenn wir uns aus dem Weg gehen. Das ist sicherer für uns beide.“

Ihre Worte trafen ihn hart, doch er wusste, dass sie wieder einmal recht hatte. Also schluckte er erneut, ehe er schließlich entschieden nickte.

„Verstehe.“

Epilog

Und so kam es, dass sich Jessie und James aufgrund ihrer plötzlichen und ungewollten Feindschaft trennten. So glaubt man zumindest, denn erfahren hat man es nie.

Wieso, fragt ihr euch nun?

Es heißt, dass die tragische Geschichte von Vampir-James und Werwolf-Jessie niemals fortgeführt wurde. Zu viele verworrene Wege wurden eingeschlagen, zu viel Ungewisses blieb noch zu klären. Doch niemandem war es je gelungen – nicht einmal dem Autor dieser wirren Geschichte selbst, da zu viele ungewollte Richtungen eingeschlagen wurden und sich daraus viel zu viele ungewollte Entwicklungen ergeben hatten.

Es heißt, der Autor selbst sei so überfordert damit gewesen, noch zu retten, was es (vielleicht) noch zu retten galt, dass die Muse  ihm bald den Rücken zugekehrt und ihn ohne eine weitere Inspiration in seinem trostlosen Dilemma zurückgelassen hatte.

So geschah es, dass das Drama um Jessie und James niemals zu Ende geführt wurde. Viele Leser blieben enttäuscht zurück.

 

Und wenn sie nicht gestorben sind – was sehr wahrscheinlich ist, da beide ja nun unsterblich und mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet sind –, dann drehen sie sich noch heute uneinig in einem zutiefst dramatischen Teufelskreis.

Amen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von: abgemeldet
2013-12-05T04:32:24+00:00 05.12.2013 05:32
Hehehehehe :D
Sehr schön. Ich bedanke mich *knicks*.
Dann habe ich ja demnächst gut was zum Lesen und darf mir diese lustige Geschichte durchlesen. Jedenfalls hoffe ich, dass sie lustig wird, aber der Prolog ist doch schon mal ein angenehmer Leckerbissen gewesen, der Lust auf mehr macht *o*
Hoffentlich nimmst Du alles so richtig schön auf die Schippe. So was hab ich schon länger nicht mehr gelesen.

LG
Grinserin
Antwort von:  Shizana
05.12.2013 13:56
Oha, ausgerechnet diese FF, ja? Na dann drücke ich dir mal die Daumen, dass du durchhalten wirst. x)

Liebe Grüße
Shizana


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