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A Piece of Paper

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo und herzlich Willkommen zu meiner ersten Magi-Fanfic. Ich hab diese Idee schon sehr lange und ich möchte jetzt auch gar nicht groß drum rum reden, sondern wünsche euch einfach mal viel Spaß ^^ Komplett anzeigen

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Prolog

A Piece of Paper


 


 

Der Himmel war grau, die Wolken hatten sich zusammengezogen und eine angenehme Kälte breitete sich über das Land aus. Vor wenigen Stunden hatte es bereits angefangen zu regnen und Kougyoku verbrachte ihre Zeit damit, den Regentropfen dabei zuzusehen, wie sie von den Blüten des Kirschblütenbaumes perlten, der sich mit voller Pracht über den Palast ausbreitete. Das Leben einer Prinzessin konnte schön sein, war aber in manchen Zeiten auch sehr einsam, vor allem wenn man bis zur Hochzeit von der Bevölkerung abgegrenzt und weggesperrt wurde und wenn man das Gefühl hatte, dass das Personal nichts mit einem zutun haben wollte, aus Angst sich aufzudrängen. Da ihre Brüder immer sehr beschäftigt waren, sei es nun aus politischen Gründen oder mit Frauen, blieb ihr nur noch ihr Leibwächter Masrur, der leider aufgrund seines Postens nicht immer Zeit für sie hatte. Doch im Moment war er bei ihr, stand neben der Tür des viel zu großen Zimmers und sah der Prinzessin dabei zu, wie sie traurig aus dem Fenster schaute.

„Gibt es noch etwas, was ich für Euch tun kann?“, fragte er höflich, doch sie seufzte nur.

„Masrur…“, erwiderte sie nörgelnd. „Du sollst mich doch nicht siezen, wenn wir allein sind. Schließlich sind wir doch Freunde.“ Den letzten Satz hatte sie eher zu sich selbst gemurmelt, doch er hatte sie sehr gut verstanden und bereute es sofort, dass er sich ihr gegenüber wieder so vornehm verhielt. Da er der einzige war, der sich mit ihr beschäftigte, bedeutete er ihr alles. Zu dem war er ihr einziger Freund und er wusste, wie wichtig es für sie war, Freunde zu haben. Kougyoku hatte auch ein genaues Bild von Freundschaft. Sie wünschte sich, von jemanden als sie selbst angesehen zu werden und nicht als die kleine Prinzessin, die immer funktionieren musste. Sie wollte jemanden, der sie anschrie, wenn sie einen Fehler machte. Jemand mit dem sie bis in die Nacht reden konnte, wenn es ihr nicht gut ging. Jemand, der ihr die Welt zeigte, anstatt sie hinter Mauern einzusperren und nicht jemand, der sich wegen jeder Kleinigkeit vor ihr verneigte und um Vergebung bat.

„Vergib mir, Kougyoku.“, kam es von ihm und sie biss sich auf die Unterlippe. Da war es wieder.

„Wie lange hab ich noch Zeit?“

„Ein bisschen über einen Monat.“

Sie drehte sich langsam zu ihm um. Sie sah nicht überrascht aus, denn innerlich wusste sie schon lange, dass die Zeit bald reif war, schließlich gab es momentan kein anderes Gesprächsthema im Königshaus. In nicht mal zwei Monaten würde Kougyoku ihr achtzehntes Lebensjahr erreichen und somit war es für sie bitter nötig, sich noch vor ihrem Geburtstag zu vermählen. Sie wendete sich wieder dem großen Fenster zu.

„Wenn ich erst einmal verheiratet bin, darf ich endlich raus und die Welt sehen.“

Masrur war froh, dass sie offenbar doch etwas Positives an der künftigen Hochzeit fand. Seit Wochen weinte sie jede Nacht, aus Angst, dass sie jemanden heiraten musste, den sie nicht liebte. Dass eine Hochzeit in ihrem Falle bloß zum Erhalt der Blutlinie gedacht war, wollte sie nicht einsehen und weigerte sich strikt dagegen, auch nur einen der Kandidaten näher kennenzulernen. Er konnte ihre Einstellung zwar nachvollziehen, allerdings konnte weder er noch sie irgendetwas dagegen unternehmen.

„Ich werde das nicht so einfach hinnehmen.“, sagte sie plötzlich und stand mit einer entschlossenen Miene auf. Er glaubte, er hatte sich verhört.

„Was willst du tun?“

„Ich bin vielleicht nicht in der Lage, die Hochzeit zu umgehen, aber ich will nicht als Sklavin eines Prinzen zum ersten Mal das Grundstück unseres Palastes verlassen, sondern als selbstständige Frau!“

Sie hatte ihre Hände leicht zu Fäusten geballt und schritt nun auf ihn zu.

„Würdest du mir helfen, Masrur? Würdest du mir helfen, nach draußen zu gehen?“

Er sah sie ein wenig zweifelnd an. Er war niemand, der etwas unversucht ließ, jedoch war das Vorhaben der Prinzessin sehr riskant. Sollte einer ihrer Brüder - allen voran Kouen - davon Wind bekommen, würden beide mächtig Ärger bekommen. Es war nun mal Gesetz, dass die Bevölkerung eine Prinzessin des Königshauses nicht zu Gesicht bekommen darf, solange sie minderjährig und unverheiratet war. Er war nicht egoistisch und dachte daran, was aus ihm werden würde, sollte alles auffliegen, doch würde es auch enorme Konsequenzen für die Prinzessin geben und das war es, was ihn zweifeln ließ. Zu allem Überfluss war da auch noch der Magi der Königsfamilie, der das Schloss mit einem Schutzschleier ummantelt hatte. Masrur war sich nicht klar, ob Kougyoku überhaupt über all dies nachgedacht hatte.

„Dort draußen kennt niemand dein Gesicht. Was tust du, wenn man dich verletzt oder du aus irgendeinem Grund negativ auffällst? Für die Leute bist du dann nicht Prinzessin Kougyoku, sondern ein ganz gewöhnliches Mädchen.“

„Aber genau das ist es doch, was ich möchte.“, fing sie an, ihm zu erklären. „Ich will behandelt werden, wie jeder andere und solange ich unbekannt bin, habe ich noch die Möglichkeit dazu. Und ich werde schon nicht negativ auffallen. Du kennst mich doch.“

Sie lächelte ihn zuversichtlich entgegen und er schloss kurz die Augen. Er wusste, dass sie alleine klarkommen würde, daran zweifelte er kein bisschen.

„Was ist mit Scheherazade?“

„Was soll mit ihr sein? Glaubst du, sie würde es bemerken, wenn ich für eine Zeit verschwinde?“

„Da bin ich mir sicher. Sie ist ein Magi. Wenn sie es nicht merkt, wenn jemand durch ihren Schutzwall tritt, wer dann?“

Das brachte sie ins grübeln. Sie kannte den Magi des Hauses nicht gut genug, um einzuschätzen, ob sie es unterstützen würde. Auf Kougyoku hatte Scheherazade immer sehr lieb und ruhig gewirkt, allerdings war sie auch äußerst loyal der Königsfamilie gegenüber. Wenn alles so klappen sollte, wie sie es sich vorgestellt hatte, dann war tatsächlich Scheherazade die einzige Person, die ihr noch im Weg stand.

„Ich muss es versuchen.“, sagte sie nach einer Weile. „Und wenn etwas schief geht, muss ich mit den Konsequenzen leben.“

„Bist du dir auch ga-“, wollte ihr Wächter fragen, doch sie unterbrach ihn.

„Ich würde es bereuen, wenn ich es nicht tun würde.“, entgegnete sie und sah ihn flehend an. „Bitte, Masrur. Ich will nur einmal frei sein.“

Er sah ihr lange in die Augen, suchte etwas, was er nicht finden konnte. Zweifel und Angst hatten in dem Moment nichts in ihrem Blick zusuchen, stattdessen fand er etwas, was ihm die Entscheidung nahm: Entschlossenheit und Abenteuerlust.

„Wann willst du gehen?“

Kougyoku konnte ihren Ohren nicht trauen. Ihr fester Blick verwandelte sich in ein Strahlen, dass selbst die stärkste Sonne für einen Moment übertreffen konnte. Dass er ihr helfen wollte, machte sie unfassbar glücklich. Ein Gefühl, was sie schon seit längerer Zeit nicht mehr gespürt hatte.

„Ich habe von sieben Uhr heute Abend, bis sechs Uhr in der Früh Zeit. Das ist die einzige Zeit, in der ich das Recht habe, Zeit für mich anzuordnen.“

„Also willst du über Nacht gehen?“, fragte er ein wenig verwirrt. Er wusste nicht, was sie davon erwartete, die Außenwelt bei Nacht zu sehen. Sie hat vielleicht ein paar Stunden, um überhaupt etwas von dem regen Treiben der Menschenmassen in den kleinen Straßen mitzubekommen, doch schon bald würden sich alle in ihren Häusern verbarrikadieren und sie wäre alleine.

„Alles andere ist zu gefährlich.“, antwortete sie ihm und schaute etwas belustigt. „Ich weiß, was du denkst, aber lass mich nur machen. Wenn das die einzige Chance ist, die ich habe, dann muss ich sie so gut nutzen wie es geht.“

Er nickte leicht. Es war nun eh zu spät, um ihr die Sache auszureden.

„Wie soll es dann weiter gehen?“, wollte er wissen und die Prinzessin deutete auf den großen Baum vor ihrem Fenster, der etwas näher stand, als der große Kirschblütenbaum.

„Wie du weißt, ist der Palast umstellt und damit uns niemand bemerkt, musst du mich über den Baum nach draußen bringen.“

Sie verließ sich bei ihrer Vorgehensweise völlig auf seine Körperkraft. Da er ein Fanalis war, wog sie für ihn grade mal so viel wie ein Kieselstein.

„Das dürfte kein Problem werden.“

„Sehr schön!“, rief sie in aller Vorfreude und klatschte ihre Hände begeistert zusammen. Ihr Fluchtplan war sicher, das wusste auch Masrur, jedoch machte er sich trotz allem ein wenig Sorgen, ob alles so glatt verlaufen würde, wie die Prinzessin es sich ausmalte.
 

Langsam wurde es ruhiger auf den langen Fluren. Da Kouen momentan die Position des Königs inne hatte und wegen der bevorstehenden Hochzeit viel zutun hatte, hatte er sich schon vor einer ganzen Weile zurückgezogen und als erster Prinz sah Koumei es als seine Pflicht an, seinen Bruder bei allen wichtigen Entscheidungen zu unterstützen, weshalb nun auch von ihm jede Spur fehlte. Hakuryuu hatte vor knapp einer Stunde sein Training eingestellt und selbst Kouha tollte nicht mehr in dem großen Schlossgarten, der sich in der Mitte des Grundstückes ausbreitete. Einzige und allein Hakuei, Frau und Cousine des Königs, schritt noch durch einen Gang, der zu ihrem Zimmer führte und wünschte hier und da einer Bediensteten eine angenehme Nacht. Doch es brauchte nicht lange und in dem Palast wurde es sehr ruhig. Dies sah Kougyoku als Zeichen, um die Vorhänge ihrer Fenster zurück zu ziehen. Draußen war es noch einigermaßen hell, aber da sich die Sonne den ganzen Tag über nicht gezeigt hatte, war es schwierig auszumachen, wann die Dunkelheit eintreten würde.

„Wir müssen uns beeilen.“, flüsterte sie Masrur zu, welcher nicht lange zögerte und sie vorsichtig über seine Schulter warf. Sofort hielt sie sich an ihm fest, damit sie nicht fiel. Er drehte seinen Kopf leicht in ihre Richtung.

„Bist du dir auch ganz sicher?“, wollte er sich noch mal vergewissern und Kougyoku grinste in Vorfreude. „Sicherer kann ich mir gar nicht sein.“

Dies war wie ein Startsignal für den Fanalis und sofort schwang er sich aus dem großen Fenster und zielte beim Sprung genau auf den riesigen Baum, der ein paar Meter vor ihrem Fenster verwurzelt war. Kougyoku musste sich zusammenreißen, nicht zu schreien. Sie war es nicht gewohnt, durch die Luft zu fliegen, auch wenn es nicht all zu hoch war. Unter ihr sah sie Wachen, die sich direkt vor dem Schutzschleier aufgestellt hatten, jederzeit bereit, einen Angriff zu starten und erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, wie gefährlich das ganze eigentlich war. Die Männer standen keine sechs Meter unter ihr und es war einfach naiv zu glauben, dass man sie nicht bemerken würde. Masrur landete mit ihr auf einem dicken Ast zwischen dichten Blättern.

„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte er sich und hielt sie weiter fest, damit sie nicht runter fiel.

„Ja.“, antwortete sie. Sie atmete schwer und zitterte leicht. Masrur bemerkte, dass sie unter Adrenalin stand, zusätzlich Angst hatte und grade überhaupt nicht wusste, was sie tun sollte. Ein falscher Schritt könnte für beide enorme Folgen haben und dem schien sie sich jetzt erst bewusst zu werden. Jetzt, wo alles Realität war, wo sie es wirklich geschafft hatte, vor die Mauern des Palastes zu treten. Doch sie hatten es noch nicht ganz geschafft, noch befanden sie sich in einem gefährlichen Gebiet und erst wenn sie sicher mit beiden Beinen auf dem Boden steht, würde sie wieder einen tiefen Atemzug wagen.

„Sie haben uns bemerkt.“, flüsterte ihr Begleiter und Kougyoku sah ängstlich zu ihm rüber. Er deutete auf kleine Lücken zwischen den Blättern, die es ihnen ermöglichten, einen Blick auf den Boden zu werfen. Sie schaute vorsichtig hindurch und erspähte einen Blick auf die Wachen, welche den Baum fixierten und bereits ihre Waffen in den Händen hielten.

„Sie wurden durch das Rascheln der Blätter aufmerksam. Wir waren zu laut, als das sie uns für einen Vogel halten würden.“, erklärte er ihr und fuhr mit angespannter Miene fort. „Sie warten nur darauf, dass wir einen Fehler machen.“

„Und was sollen wir nun tun?“, flüsterte sie verzweifelt und Masrur fing an sich umzuschauen, so weit ihm das denn möglich war.

„Es gibt kein zurück. Wenn wir jetzt in dein Zimmer springen, würde alles auffliegen. Wir müssen irgendwie vorwärts kommen.“

Kougyoku nickte zaghaft. In dem Moment war sie unfassbar froh darüber, dass nicht nur sie, sondern auch Masrur sich etwas Schlichtes angezogen hatten. Durch die eintönigen Farben und die Kapuzen fielen sie weder durch ihre Kleidung, noch durch ihre Haarfarben auf.

„Warte kurz.“, diese Worte waren alles, was sie noch von ihm mitbekam und dann ging alles ganz schnell. Er schwang sich von Ast zu Ast, immer höher in die Baumkrone. Er trat dabei mit Absicht gegen die Blätter, ließ sie rascheln und machte Krach wo es ging. Als er ganz oben angekommen war, ließ er sich einfach fallen, bis er wieder bei der Prinzessin angekommen war. Als in dem Moment der erste Pfeil in die Baumkrone jagte, schmiss er sich die nun mehr als verwirrte Kougyoku wieder über die Schulter und sprang mit rasender Geschwindigkeit vom Ast und landete auf einem weiteren, jedoch gehörte dieser zu einem anderen Baum. Masrur dachte gar nicht daran, stehen zu bleiben, er sprang einfach weiter von Baum zu Baum und ließ den Palast immer weiter hinter sich.

„Wie hast du das geschafft?“, meldete sich nun auch Kougyoku wieder, die langsam realisiert hatte, dass sie nun in Sicherheit waren.

„Ich hab sie glauben lassen, dass wir in die Baumkrone geflohen sind. Das hat sie abgelenkt.“

Sie wirkte kurz etwas baff. Dies war eine Taktik, auf die sie nie gekommen wäre und ihr wurde klar, dass sie ihm das Ganze eigentlich zu verdanken hatte. Die Tatsache, dass sie nun unentdeckt draußen sein konnte, dass sie nicht erwischt wurde und dass alles unverletzt funktioniert hatte.

„Du bist unglaublich!“, rief sie und lachte leicht in Erleichterung. Noch nie war sie so angespannt gewesen und noch nie war ihr ein so großer Stein vom Herzen gefallen. Masrur erwiderte darauf nichts und sprang von dem kleinen Baum, auf dem sie sich grade befanden. Auf dem Boden angekommen, setzte er auch die junge Frau wieder ab und sah zu ihr runter.

„Ich muss dich langsam verlassen.“, sprach er ruhig und Kougyoku nickte ihm zu. Sie wusste, dass er sie nicht ewig begleiten konnte, schließlich hatte auch er einen Wachposten, den er bald wieder zu besetzen hatte. „Pass auf dich auf.“, fügte er noch hinzu und sie strahlte wieder.

„Du aber auch. Nicht, dass sie dich doch noch erwischen.“, antwortete sie und blickte Richtung Boden. Wenn er nun Ärger bekommen sollte oder auffliegen würde, wäre das ganz allein ihre Schuld.

„Da ich nun alleine bin, kann ich durch das Tor rein. Mir wird nichts passieren.“

Dies war etwas, was sie total vergessen hatte. Ihm war es schließlich erlaubt, ein und aus zu gehen.

„Du hast Recht, es gibt nichts zu befürchten.“, sagte sie und schaute wieder auf. Sie wollte sich damit selbst etwas Mut zusprechen, was auch funktionierte. Sie trat einen Schritt zurück und fing wieder an zu lächeln.

„Ich werde mich dann auf den Weg machen. Und danke vielmals, ohne dich hätte ich es nicht so weit geschafft.“

Auch er rang sich zu einem kleinen Lächeln durch, was ihm immer etwas schwer fiel. Er wandte seinen Blick von ihr ab, schaute über sie hinweg und zeigte mit einem Finger in eine Richtung.

„Wenn du diesen Weg lang gehst, wirst du auf ein kleines Dorf treffen. Du wirst allerdings eine Weile laufen müssen. Ich werde um halb sechs morgen früh wieder hier sein und dich abholen.“, versicherte er ihr und sprang wieder auf den Baum. Er drehte sich noch einmal um, ehe er auf den nächsten Baum sprang und schon bald aus ihrer Sichtweite verschwand. Sie sah ihm noch lange nach, bis ihr wieder einfiel, was sie nun zutun hatte.
 

Es verging eine Menge Zeit und Kougyoku irrte immer noch durch den Wald, immer stur in die Richtung, die Masrur ihr vorgegeben hatte. Alles was sie sah, waren Bäume in ihren unterschiedlichsten Formen und Größen. Unter ihren Füßen knisterte das Laub und ihre Haare waren längst verstrubbelt, da sie sehr lang waren und sich alle zehn Meter in lästigem Geäst verhedderten. Irgendwann wurde es ihr zu viel und sie zog sich ihre Kapuze wieder tief ins Gesicht, um somit zu verhindern, dass auch nur eine Strähne entwischte. Sie war weder müde, noch erschöpft, doch bereitete es ihr etwas Sorgen, dass der Wald kein Ende zu haben schien. Sie wusste gar nicht, wie lange sie nun schon unterwegs war und wie viele Meter sie bereits hinter sich gelassen hatte, doch dies alles bereitete ihr weniger Sorgen als die Tatsache, dass es langsam dunkel wurde. Was sollte sie denn tun, wenn sie nun in der Dunkelheit in diesem Wald festsaß? Für einen kurzen Moment kam ihr der Gedanke, dass das alles eine dumme Idee war. Sie hatte gehofft, nicht in einem Wald zu landen, sondern in eine Stadt gebracht zu werden. Vielleicht hätte sie das Masrur sagen sollen… Doch wenn sie heute noch aus diesem Wald rauskommen wollte, musste sie sich beeilen und vielleicht war es gar keine schlechte Idee, die Beine in die Hand zu nehmen, und los zu laufen. Und genau das tat sie nun auch. Sie hatte ihren Mantel hochgehoben und rannte in die Richtung, in der sie einen Ausweg erhoffte. Ihre Kapuze flog ihr wieder vom Kopf und einzelne Haarsträhnen befreiten sich, nur um wieder Bekanntschaft mit kleinen Ästen zu schließen, doch das war ihr im Moment egal. Sie wollte einfach nur raus, endlich mehr sehen, als nur Blätter und Baumstämme und nach langem Laufen und viel Sauerstoffverlust erblickte sie dann endlich etwas, was sie vorher noch nie gesehen hatte. Es war einerseits wunderschön, da es so fremdartig war, doch andererseits wusste sie, dass es ihr das Weiterkommen unnötig erschweren würde. Ein breiter Bach zog sich waagerecht durch ihre Laufbahn und glitzerte unschuldig vom letzten Tageslicht. Kougyoku schnaufte und stützt sich auf ihren Knien ab, nachdem sie vor dem Bach angehalten hatte, und beäugte ihn mit einem gequälten Blick.

„Warum muss das ausgerechnet mir passieren?“, jammerte sie auch sofort drauf los und ging in die Knie, doch sie versuchte sich schnell zu fangen und nicht direkt zu verzweifeln, denn das würde sie erst recht nicht weiter bringen. Sie wusste, dass sie nun eine Lösung finden musste und das möglichst bald. Ihr Blick schweifte nach links ab, doch als sie nicht das fand, wonach sie suchte, schaute sie nach rechts und stand wieder auf. Mit müden Beinen schritt sie auf einen großen Ast zu, der auf dem Boden lag. Sie versuchte ihn aufzuheben, jedoch war er viel zu schwer für sie und somit versuchte sie es damit, den Ast so gut es ging über das Laub zu schleifen. Vor dem Bach ließ sie ihn wieder fallen, ging zum anderen Ende des Astes und schob ihn über das Wasser. Mit ein wenig Geschick schaffte sie es, beide Enden am Land zu positionieren, so dass der große Stock über dem Wasser hing und eine schmale Brücke bildete. Dies war allerdings nicht breit genug, um darüber zu laufen und somit suchte Kougyoku noch nach weiteren Ästen, die ebenfalls dick waren, damit sie eine Brücke bilden konnte, die sie auch tragen würde.

Schwitzend stand sie nun vor ihrem halb fertigen Werk und beäugte es. Die kleine Brücke war nun mittlerweile breit genug und schien auch stabil zu sein, jedoch hatte sie Angst, dass die Äste wegrollen würden, sollte sie einen falschen Schritt wagen und somit entschied sie sich dafür, auf die vertikal gelegten Stöcke noch mal welche horizontal als zweite Schicht darüber zu legen, nur um sicher zu gehen.

„Machst du’s dir immer so schwer?“

Sie war grade dabei, noch einen Ast vom Boden zu pflücken, als plötzlich die fremde Stimme ertönte. Sie erschrak fürchterlich und ließ vor Schock das Ende wieder fallen, welches nur knapp ihren Fuß verfehlte.

„Wer ist da?“, fragte sie vorsichtig und blickte hastig in alle Richtungen. Die Stimme erklang zu plötzlich, als das sie nun sagen könnte, von wo sie gekommen war. Sie drehte sich ständig im Kreis, in der Hoffnung, jemanden zu erblicken, auch wenn sie sich nicht recht sicher war, ob sie überhaupt wissen wollte, wer ihr da Gesellschaft leistete. Die Stimme war männlich, so viel hatte sie mitbekommen, doch war die Person, die da hinter steckte, anscheinend momentan nicht in Stimmung, ihr zu antworten, denn es blieb still. Für eine kurze Weile hatte sie sich eingeredet, sich die Stimme vielleicht nur eingebildet zu haben, doch dann ertönte sie noch mal.

„Jetzt geh endlich rüber.“

„Wo bist du?!“, schrie sie nun ungewollt laut und sie begann wieder den Wald mit ihren Augen abzusuchen. Sie wollte nicht, dass man sie beobachtete. Der Gedanke, nun nicht mehr allein zu sein, aber nicht zu wissen, wo sich die andere Person befand und wer es war, machte ihr Angst und ließ sie nervös ihre Finger kneten.

„Du musst ja nicht gleich losbrüllen.“, ertönte wieder die Stimme, doch diesmal klang sie genervt. „Wie wär’s, wenn du einfach mal nen Blick nach oben wirfst?“

Etwas verwirrt stellte sie ihre hektischen Bewegungen ein und richtete ihren Blick nach oben. Dort, auf einem hohen Baum, saß ein junger Mann, der sich auf dem Ast ausgebreitet hatte, als wäre dies der gemütlichste Ort der Welt. Seine langen schwarzen Haare baumelten in einem kugelförmigen Zopf durch die Luft, doch seine Haarpracht war nicht das Auffälligste an ihm. Er besaß stechend rote Augen, was Kougyoku ein wenig verunsicherte. Als Fanalis war es für Masrur normal, rote Augen zu haben, deshalb war sie diesen Anblick gewohnt, doch der Junge auf dem Baum vor ihr war definitiv kein Fanalis. Dafür waren seine Augen zu hell, seine Haare zu schwarz.

„Was wollt Ihr von mir?“

Sie rang sich dazu durch, ihn anzusprechen und ihn das zu fragen, was ihr auf der Zunge lag. Sie fühlte sich zwar nicht wohl, allerdings hatte sie auch nicht das Gefühl, sich in Gefahr zu befinden. Der Junge schien sich jedoch weniger für sie zu interessieren, denn er biss nur teilnahmslos in eine Frucht, die einem Pfirsich ähnelte. Es konnte auch ein Apfel sein, doch das konnte Kougyoku nicht so genau erkennen.

„Warum so vornehm?“, stellte er dann die Gegenfrage, nachdem er fertig mit kauen war.

„Auf eine Frage mit einer Gegenfrage zu antworten ist unhöflich.“, keifte sie und war selbst wegen ihrem plötzlichen Selbstbewusstsein überrascht. Er warf einen Blick zu ihr runter und hob eine Augenbraue.

„Unhöflich, hm? Tja, ich bin nicht derjenige, der dich siezt. Hast du dann was anderes erwartet?“

Er biss wieder in die kleine Frucht und schloss genüsslich die Augen. Sie sah ihm nur ein wenig überfordert dabei zu, wusste nicht, wie sie mit so einem Menschen umzugehen hatte. Vielleicht war es auch einfach die Tatsache, dass sie sein Verhalten als frech empfand. Ein Verhalten, das noch nie zuvor jemand ihr gegenüber an den Tag gelegt hatte. Sie seufzte leicht und wollte es dabei belassen.

„Was willst du nun?“, lautete ihre Frage und er öffnete wieder seine Augen, um zu ihr runter zu sehen.

„Waren Gegenfragen nicht unhöflich?“

Sie glaubte, sich verhört zu haben. Wollte er sie auf den Arm nehmen?

„Was soll das jetzt?“, fragte sie aufgebracht, doch er schloss wieder amüsiert die Augen.

„Du kriegst es ja selbst nicht hin.“

Fassungslos schaute sie zu ihm hoch und schnappte sich wütend einen kleinen Ast.

„Willst du mich damit jetzt erschlagen?“, wollte er wissen, doch sie wusste genau, dass er sich nur über sie lustig machte.

„Ich will, dass du verschwindest!“, rief sie ihm zu und drehte sich wieder von ihm weg, um sich ihrem eigentlichen Problem zuzuwenden.

„Natürlich werde ich diesem Befehl nun ohne weiteres Folge leisten.“, erwiderte er sarkastisch und änderte seine Position auf dem Baum, so dass er nun mit dem Bauch auf dem Ast lag. In dieser Lage war es ihm möglich, ihr dabei zuzusehen, wie sie weitere Stöcke über ihre kleine Brücke stapelte.

„Was macht so ein kleines Mädchen wie du überhaupt so spät allein im Wald?“, erkundigte er sich dann, nachdem er das Gefühl bekommen hatte, von ihr ignoriert zu werden.

„Ich bin kein kleines Mädchen.“, widersprach sie ihm, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen.

„Okay, was macht dann eine alte Hexe wie du so spät allein im Wald?“

Die Provokation hatte ihr Ziel nicht verfehlt, denn sie ballte ihre Hände zu Fäusten, schnappte sich wieder einen kleinen Stock und pfefferte ihn ihm mit voller Wucht entgegen. Sie hatte ihn nicht ganz verfehlt, allerdings traf sie nur den langen Zopf, der nun wieder leicht zu baumeln begann.

„Das nächste Mal etwas höher zielen.“, grinste er, war jedoch tatsächlich überrascht, dass sie ihn überhaupt getroffen hatte. Kougyoku fand das ganze nicht so witzig und entschied sich dafür, sich einfach hinzusetzen und nichts mehr zu tun. Alles was sie tat wurde irgendwie kommentiert oder ins Lächerliche gezogen. Sie hatte keine Lust mehr, für den Fremden als Unterhaltung zu dienen. Alles was sie wollte, war aus diesen Wald raus zu kommen, doch verließ sie allmählich die Motivation dazu.

Der Junge sah sie kritisch an, nachdem er festgestellt hatte, dass sie nun wohl nichts weiter unternehmen wollte. Er richtete sich auf und warf ihr den übriggebliebenen Kern der Frucht zu, welcher sie direkt an der Schulter traf. Sie reagierte nicht, hatte bloß ihren Kopf auf ihre Knie gebettet und verdeckte ihr Gesicht mit ihren Armen. Er konnte nicht erkennen oder hören, ob sie weinte, da sie keinerlei Reaktion zeigte. Es war nicht so, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, jedoch war dieses Schweigen für ihn unerträglich, weshalb er sich mit einem Satz vom Baum schwang und vor ihr in die Hocke ging.

„Hast du auch nen Namen?“, fragte er nun doch eher vorsichtig, auch wenn er gar nicht mit einer Reaktion rechnete. Es dauerte auch sehr lange, bis sie sich ein klein wenig räkelte und anfing, etwas zu murmeln.

„…Yoku...“

„Yoku?“, wiederholte er und sie hielt inne. Sie hatte noch nicht den kleinsten Gedanken daran verschwendet, mit welchem Namen sie sich vorstellen sollte, falls sie jemand danach fragen sollte. Und ehrlich gesagt hatte sie niemals damit gerechnet, dass tatsächlich jemand danach fragen würde, doch nun war dieser Moment gekommen und sie hatte dem Fremden fast ihren richtigen Namen verraten. Sie sah zu ihm auf, in sein fragendes Gesicht und ihr fiel ein Stein vom Herzen, als ihr klar wurde, dass er sie wirklich nicht ganz verstanden hatte.

„Ja.“, bestätigte sie und ihr Gegenüber setzte sich in das kalte Laub.

„Gut, Yoku. Was machst du hier?“

„Ich… hab mich verlaufen.“, schwindelte sie, auch wenn dies vielleicht nicht ganz ungelogen war. „Ich komm von weiter weg und wollte mich eigentlich nur… etwas unter Menschen mischen.“, sprach sie weiter und zu ihrer Verwunderung schien er ihr aufmerksam zuzuhören. „Ein Freund von mir meinte, dass ich auf ein Dorf treffe, wenn ich diesem Weg folge.“

Sie deutete in eine Richtung und sein Blick folgte ihrem Finger. Er hob beide Augenbrauen und richtete seinen Blick wieder auf sie.

„Du willst da nachts hin? Da wirst du selbst hier im Wald besser unterhalten.“

Genervt von seiner Aussage sah sie ihn etwas wütend an und stand wieder auf. Er brauchte gar nicht erst versuchen, ihr ihr Vorhaben auszureden. Sie würde dort hingehen, wo Masrur sie hingeschickt hatte, da hatte irgendein dahergelaufener Kerl nicht mitzureden.

„Ich bin auf dem Weg nachhause.“, sagte er plötzlich, doch Kougyoku blieb unbeeindruckt.

„Dann verschwinde doch endlich.“, keifte sie und er hob seine Hände in Unschuld.

„Woah, nicht gleich so zickig. Ich wollte dich ja nur fragen, ob du mitkommen willst, weil es nachts hier draußen gefährlich für dich werden kann und du eh noch zwei Stunden brauchen wirst, bis du im Dorf ankommst.“

„Glaubst du ernsthaft, dass ich auf diesen Trick reinfalle?“

„Was für’n Trick?“, wollte er wissen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Als ob ich mich in das Haus eines Fremden schleppen lassen würde. Ich bin nicht so naiv.“, stellte sie klar und er sah erst etwas verwirrt aus, dann seufzte er.

„Wenn ich dir was antun wollen würde, hätte ich das schon längst machen können. Immerhin sind wir alleine.“

Sie wusste zwar, dass er damit Recht hatte, aber ihr war einfach nicht wohl bei dem Gedanken, ihm nachhause zu folgen.

„Weißt du, mir kann’s eigentlich auch egal sein, was aus dir wird.“, meinte er ruhig, doch sie zeigte ihm weiter die kalte Schulter.

„Dann geh doch.“

Ihr Trotz war nicht zu stoppen und dies regte ihn ein wenig auf. Es kam nicht oft vor, dass er sich so nett einer fremden Person gegenüber verhielt und sie wusste das nicht mal zu schätzen, sondern reagierte durchgehend patzig. Er kam zu dem Entschluss, dass er dies nicht nötig hatte und drehte sich somit mit einem „Dann ciao“ um und machte sich auf den Weg.

Kougyoku warf einen Blick über ihre Schulter und sah ihm dabei zu, wie er sich immer mehr entfernte. Sie hätte nicht damit gerechnet, dass er nun wirklich verschwinden würde und sie bekam langsam ein schlechtes Gewissen. Was wäre, wenn er ihr wirklich nur helfen wollte? Vielleicht hatte sie überreagiert. Und nun allein im Wald zurück zu bleiben war nicht die beste Option. Sollte sie wirklich noch so lange bis zum Dorf brauchen, dann hätte sich ihre Flucht gar nicht gelohnt. Doch was würde sie erwarten, wenn sie mit ihm gehen würde? Würde sie noch andere Menschen treffen? Sie biss sich leicht auf die Unterlippe und langsam aber sicher breitete sich Panik in ihr aus, als sie registrierte, dass er schon fast gänzlich verschwunden war.

„Warte bitte!“, rief sie ihm nun hinterher, doch er reagierte nicht drauf. Sie biss sich noch einmal, doch dieses Mal fester, auf die Unterlippe und fing an ohne auch nur darüber nachzudenken, ihm hinterher zu laufen. Da sie rannte und er gemächlich ging, hatte sie ihn schnell eingeholt. Als sie dann neben ihm lief und er sie immer noch vollkommen ignorierte, schaute sie beschämt zu Boden.

„Ich wollte nicht so überreagieren, ich bin bloß mit der ganzen Situation etwas überfordert.“, versuchte sie ihm zu erklären und er warf ihr einen skeptischen Seitenblick zu, so als würde er ihr das nicht abkaufen.

„Das ist mein Ernst. Würdest du eine Entschuldigung annehmen?“

„Wie komm ich zu der Ehre?“, erwiderte er sarkastisch und Kougyoku war froh, dass er überhaupt reagierte, was ihm sein Stolz vorher anscheinend verboten hatte.

„Ich glaub, ich brauche deine Hilfe.“, gab sie dann ehrlich zu und er blieb stehen. Er sah sie lange misstrauisch an, hatte dabei die Arme vor der Brust verschränkt und schien zu überlegen, ob er ihr noch mal eine Chance geben oder sie nun einfach im Wald zurück lassen sollte.

„Ich bring dich nicht ins Dorf.“

„Das will ich auch gar nicht mehr.“, meinte sie und er zog wieder eine Augenbraue hoch.

„Wenn du mich mitnimmst… Werde ich dann noch mehr Menschen treffen?“, fragte sie dann zaghaft und war sich ziemlich sicher, dass er sie für bescheuert halten musste. Doch er grinste nur.

„Klar.“

Ihre Augen weiteten sich in Überraschung. Hatte er ihr etwa verziehen?

„Heißt das, du nimmst mich mit?!“, wollte sie vorsichtshalber noch mal klarstellen und er kratzte sich leicht am Hinterkopf.

„Ja, wenn du mir versprichst, mir nicht auf die Nerven zu gehen.“

Sie plusterte leicht ihre Wangen auf. Wie unverschämt, sie indirekt als Nervensäge abzustempeln. Aber sie hielt sich damit zurück, eine erneute Diskussion anzufangen, schließlich hatte sie ihn grade so weit, dass er ihr helfen würde.

„Ich verspreche es.“, murmelte sie dann leise, womit er sich auch zufrieden gab.

„Na geht doch… alte Hexe.“

Sie ballte ihre Hände wieder zu Fäusten, entschied sich aber dafür, still zu bleiben. Dieser Kerl wusste wirklich, wie man sie zur Weißglut bringen konnte.

Ein weiser Magi

Entgegen ihrer Erwartungen krachte es zwischen den beiden nicht mehr, was hauptsächlich daran lag, dass sie generell nicht viel sprachen. Kougyoku wollte von ihm wissen, was das für ein Ort war, an dem er lebte, doch er meinte daraufhin nur, dass sie von seiner Antwort wahrscheinlich nicht so begeistert wäre. Dies beruhigte sie nicht wirklich, aber sie hatte sich von vorn herein geschworen, dass sie aufmerksam bleiben würde, sollte er ihr doch noch etwas antun wollen. Also war es ihr egal, ob nun er oder sein Zuhause eine Gefahr darstellen würde. Allerdings war sie nicht erfreut darüber, dass er ihr keine Antwort geben wollte, doch immerhin wusste sie mittlerweile, dass sein Name Judal war.

Umso dunkler es wurde, desto mehr Abstand brachte sie zwischen sich und den merkwürdigen Mann, der selbstsicher durch den dichten Wald schritt. Ihr Unterbewusstsein schien ihr wieder signalisieren zu wollen, dass sie ihm nicht so einfach vertrauen sollte und die düstere Atmosphäre, die sich langsam ausbreitete, schaffte einen geeigneten Ort für das perfekte Verbrechen. Dass sie so still geworden war und nun gut vier Meter hinter ihm lief, brachte ihn dazu, sich umzudrehen, um sich zu vergewissern, dass sie noch anwesend war.

„Ich hab kein Bock auf Wölfe, also trödel nicht rum.“, rief er ihr zu und musste leicht grinsen, als er sah, wie sie ihre langen Haare mal wieder aus einem Ast pflückte. Der Grund, weshalb sie nun ein Stück zurück lag, war nicht nur wegen ihrer Unsicherheit, sondern lag auch zum größten Teil daran, dass sie mit ihrer Umgebung nicht klar kam und sich ständig irgendwo verhedderte oder stolperte. Judal hielt es schließlich nicht für nötig, einen vorgegebenen Weg entlang zu laufen, sondern er steuerte direkt durch irgendwelche Büsche, die ihnen den Weg versperrten. Es war ein Wunder, dass sein Haar ihm nicht dieselben Probleme bereitete, schließlich waren diese auch nicht gerade kurz. Zusätzlich wunderte sich Kougyoku darüber, ob er keine Schmerzen hatte, da er Barfuss lief.

„Wölfe?“, ertönte eine ängstliche Stimme hinter ihm. Sie hatte viel über die Tiere draußen gelesen und natürlich hatte sie sich auch über Wölfe informiert, schließlich wurden diese als sehr gefährlich beschrieben. „Wie kannst du dann so friedlich hier rum laufen, wenn du weißt, dass es hier Wölfe gibt?!“, fragte sie weiter aufgebracht, doch Judal schien ihre Aufruhr nicht nachvollziehen zu können.

„Du brauchst keine Angst vor den Viechern haben, die sind nicht das Problem. Nur die würden uns noch mehr aufhalten, als du es eh schon tust.“

Kougyoku hielt inne und sah teils entnervt, teils ungläubig zu ihm rüber. Arroganz war eine Charaktereigenschaft, die sie schon vorher an ihm erahnt hatte, aber dass er sie ständig provozierte oder wütend machen konnte, machte sie sprachlos. Egal was sie tat oder sagte, er schien sich immer über sie zu amüsieren. Da Schweigen, womit sie es zu Beginn ihres Wanderausflugs schon einmal probiert hatte, nicht funktionierte, versuchte sie es wieder mit Ignoranz. Wenn sie erst mal andere Leute kennengelernt hatte, konnte sie ihn bestimmt wieder los werden und bis dahin sollte es ihr ziemlich egal sein, was ein Fremder zu ihr sagte. Sie konzentrierte sich wieder auf den Weg vor ihr und ging schnellen Schrittes an ihm vorbei, um ihm zu demonstrieren, dass sie keines Falls lahm war oder irgendwen aufhielt. Wenigstens konnte sie die Erkenntnis, dass seine Worte ihr wohl doch nicht so egal waren, gut ignorieren. Sie lief einfach weiter, denn sie ging davon aus, dass er sie schon aufhalten würde, sollte sie falsch gehen. Weit kam sie jedoch nicht, da sie schon bald Licht erblickte, das sich durch ein paar Äste schummelte.

„Judal, da vorne ist Licht!“, rief sie begeistert und zeigte in die Richtung, aus der die Beleuchtung strömte.

„Wir sind endlich da.“, antwortete er ihr und sie schien plötzlich sehr entspannt zu sein. Dass der Ort, an dem ihr Begleiter sie führte, ein heller Ort war, beruhigte sie doch sehr. Worum es sich dabei genau handelte, konnte sie aber noch nicht ausmachen, weshalb sie anfing, die ersten Äste, die ihr die Sicht versperrten, wegzuschieben und sich dem Licht entgegen zu bewegen. Nach einem kleinen Kampf und viel zerzaustem Haar, konnte sie nun endlich erkennen, dass das Licht aus einem Haus hervorging. Es war komplett aus Holz und besaß eine stolze Größe. Es war keinesfalls vergleichbar mit ihrem Zuhause, doch klein war es sicherlich nicht.

„Und dort lebst du?“, wollte sie auch sofort wissen, doch Judal zögerte kurz und kratze sich leicht am Kopf.

„Na, mehr oder weniger. Ich bin eigentlich nur nachts hier.“

„Zum Schlafen“, stellte sie fest, doch er schüttelte den Kopf.

„Wieder falsch. Nachts ist hier viel los, deshalb komm ich hier her. Ich bin ein Nachtmensch, darum schlaf ich tagsüber im Wald. Natürlich nur, wenn ich nicht grade von seltsamen Personen geweckt werde, die versuchen eine Brücke zu bauen.“

Er ließ sie stehen und machte sich auf den Weg zu dem großen Haus. Kougyoku wirkte nur etwas verdattert und brauchte eine Weile, bis sie registrierte hatte, dass er ihr wieder einen Vorwurf gemacht hatte. Sie wusste, dass sie noch viel zu lernen hatte, was das Zusammenleben mit anderen Menschen anging, weshalb ihr mal wieder bewusst wurde, dass ein Kerl wie Judal vielleicht doch eine zu große Herausforderung war.

Ein lautes Lachen ertönte und riss sie wieder aus ihren Gedanken. Ihr Blick richtete sich auf das Gebäude vor ihr und sie konnte im Fenster jemanden erkennen, der irgendein Getränk aus einem dicken Krug runter kippte. Ihre Vorfreude stieg, als sie erneut Gelächter wahrnahm. Sie hatte zwar Angst vor den Reaktionen der Menschen, die sich hinter der breiten Holztür verbargen, jedoch gab ihr die fröhliche Stimmung, die offenbar dort drin herrschte, ein Gefühl von Sicherheit.

„Die fragen sich bestimmt schon, wo ich bin, also lass uns nicht noch mehr Zeit verschwenden.“, sagte er bestimmt und lief ein Stück zu ihr zurück, um ihr Handgelenk zu packen und sie hinterher zu schleifen.

„Ich kann selber laufen!“, keifte sie und auf einmal wurde es sehr leise hinter den Wänden und kurz darauf konnte man leises Gemurmel wahrnehmen. Judal verdrehte die Augen und zog sie mit einem Ruck neben sich, schenkte ihr einen Blick, der ihr signalisieren sollte, dass sie nun leise sein sollte und stieß die Tür auf.

Kougyokus Augen schmerzten, als ihr das helle Licht entgegen donnerte und sie war gezwungen, sie kurz zu schließen. Letztendlich war sie doch sehr lange im Wald herumgeirrt und ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt. Dies legte sich aber schnell und nachdem sie wieder sehen konnte, konnte sie direkt in die verwunderten Gesichter mehrerer Männer blicken. Doch dann, wie auf Kommando, erschallte lautes Jubeln, wobei sie Judal fröhlich willkommen hießen und ihm zu schrien, warum er denn so lange weg gewesen war und was er getrieben hatte. Kougyoku merkte schnell, dass sie alle wohl gute Freunde von Judal sein mussten und da sie nun eh mit Jubelschreien beschäftigt waren, nutzte sie die Zeit, in der sie noch keiner mit Fragen bombardierte, um sich ein wenig umzusehen. Ihr fiel recht schnell auf, dass sich in diesem Haus fast ausschließlich Männer befanden. Alle mussten ein gutes Stück älter sein als Judal und im Gegensatz zu ihm trugen sie auch weniger auffällige Kleidung. Alle saßen in großen Gruppen mit ein oder zwei Krügen an Tischen und tranken fröhlich das wohl alkoholische Gesöff. Auch wenn das ganze auf Kougyoku wie ein Saufgelage wirkte, so schienen alle Anwesenden doch noch klar bei Verstand zu sein und sich benehmen zu können. Vielleicht lag dies auch nur daran, dass der Abend noch jung war.

Als sie weiter nach rechts schaute, konnte sie hinter einer langen Theke eine Frau erkennen, die mit Schürze bekleidet und einem leichten Lächeln auf den Lippen ein Glas trocknete. Wenn sie sich nicht irrte, dann war die Frau auch schon deutlich gealtert. Kougyokus Blick wanderte weiter und blieb an einem Mann hängen, der ganz allein am Tresen saß und in sein Glas starrte. Sie wusste nicht wieso, doch sie hatte das Gefühl, dass es kein Alkohol war, der sich in seinem Glas befand und dies war nicht der einzige Punkt, worin er sich von den anderen Männern unterschied. Seine Kleidung war auffällig grün und auf seinem Kopf hatte es sich ein großer Hut, der mit Federn bestückt war, bequem gemacht. Sein Haar war hellblond, fast schon weiß, und hing in einem langen Flechtezopf über seiner Schulter und endete fast auf dem Boden. Doch es war nicht sein außergewöhnliches Aussehen, was ihre Aufmerksamkeit erregte, sondern die kleinen leuchtenden Vögel, die um ihn schwirrten. Diese leuchtenden Objekte hatte sie schon einmal bei Scheherazade gesehen, doch noch nie bei jemand anderem. Das war auch nicht verwunderlich, denn so ein deutliches Auftreten dieser Lichtgestalten war nur für ganz bestimmte Menschen üblich und das war der Grund, weshalb sich Kougyoku sicher war: Dort am Tresen saß ein Magi.

„Yoku.“, sagte Judal plötzlich wie aus dem Nichts und zwang sie somit dazu, ihren Blick von dem Magi abzuwenden.

„Eh, ja?“, fragte sie verwirrt und verfluchte sich innerlich für ihr unhöfliches Verhalten. Sie wollte einen guten ersten Eindruck hinterlassen und sich nicht zum Affen machen.

„Man hat nach deinem Namen gefragt, aber du warst zu beschäftigt damit, Yunan zu begaffen.“, meinte er abfällig. Wie auf Stichwort drehte sich der seltsame Mann, der offensichtlich den Namen Yunan trug, zu den beiden um und lächelte nur leicht. Kougyoku lief tiefrot an, als nun auch noch ein paar der Anwesenden anfingen zu lachen.

„Macht sie doch nicht sofort fertig und lasst sie erstmal reinkommen.“, erklang nun eine Frauenstimme und die ältere Dame kämpfte sich hinter der Theke hervor und lief mit offenen Armen auf die Prinzessin zu. Kougyoku wusste nicht recht, wie sie auf die plötzliche Umarmung reagieren sollte, doch sie entschied sich dafür, diese einfach zu erwidern. Es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit, dass eine Frau anwesend war, die sie im wahrsten Sinne des Wortes mit offenen Armen empfing.

„Du bist also Yoku.“, stellte sie lächelnd fest und Kougyoku nickte. Sich an diesen Spitznamen zu gewöhnen, sollte ihr nicht all zu schwer fallen. „Möchtest du dich erst mal setzen und was trinken? Ich kann dir alles bringen, was du möchtest.“, sprudelte sie weiter und machte sich sofort auf den Weg, ein Glas zu besorgen, nachdem sie das etwas überforderte Mädchen sanft auf die Bank neben Judal gedrückt hatte, der es sich bereits bequem gemacht hatte.

„Ich möchte keine Umstände machen.“, fing sie an und knetete, noch immer leicht gerötet, ihre Hände. Ihr war es sehr unangenehm, dass nun alle Aufmerksamkeit auf ihr lag. „Aber wenn Sie ein Glas Wasser hätten…“

„Nicht so bescheiden!“, lachte die andere Frau. „Hier wird jeder Gast bedient. Außerdem hatten wir schon lange nicht mehr so jungen und vor allem weiblichen Besuch.“

Sie war deutlich froh darüber, endlich weibliche Unterstützung bekommen zu haben.

„Wo hast du die Kleine überhaupt aufgegabelt?“, fragte nun einer der Männer neugierig an Judal gewand, der grade prüfend in einen Krug schaute, dem man ihm zugeschoben hatte, bevor er einen Schluck daraus trank.

„Hab ich im Wald gefunden.“, nuschelte er hinter dem Gefäß hervor und Kougyoku war empört darüber, wie seine Aussage klang. Ganz als hätte er einen Gegenstand im Wald gefunden, den er nun stolz präsentieren musste.

„Sie hat sich verlaufen und dann hab ich sie halt mitgenommen.“

„Das übliche Programm.“, kommentierte ein anderer und sah zu einem dritten Mann, der allem Anschein nach aufgrund des Alkohols bereits nicht mehr so viel mitbekam, und erhielt bestätigendes Nicken.

„Und wo kommst du her?“

Damit ging die Fragerunde los. Kougyoku wusste gar nicht, wem sie zu erst antworten sollte, zu viele hatten plötzlich Fragen an sie. Es fiel ihr auch nicht leicht, die Fragen zu beantworten. Fast jeder wollte etwas über ihre Heimat wissen, worauf sich jedoch keine richtigen Antworten finden ließen, schließlich war sie dazu gezwungen, alle anzulügen. Sie konnte niemandem erzählen, dass sie die Prinzessin war und das ihre Heimat aus schön bemalten Wänden und einem großen Garten bestand. Und dass sie einen Unfall hatte und alles vergessen hatte, würde ihr eh keiner abkaufen. Letztendlich entschied sie sich dafür, zu erzählen, dass sie gar keine Heimat hat, da sie seit ihrer Geburt immer nur umher gewandert war, nachdem ihre Eltern verstarben. Die mitleidigen Blicke, die sie durch ihre Geschichte erhielt, bereiteten ihr ein schlechtes Gewissen. Sie entschied sich dafür, endlich von ihr abzulenken und mit Gegenfragen zu beginnen.

„Und wer seid ihr?“, fragte sie in die Runde und plötzlich wurde jeder still. Sie war sich nicht sicher, ob sie vielleicht etwas Falsches gefragt hatte, weshalb sie unsicher zu Judal hoch schaute. Der blickte nur grinsend auf sein Glas runter, welches er zwischen seinen Fingern drehte. Er wollte ihr offenbar keine Antwort geben und wartete genau wie sie auf die Aussagen der anderen.

„Jaa… wer sind wir?“, wiederholte ein verhältnismäßig jüngerer Mann ihre Frage und blickte ebenfalls in die Runde. Ein paar grinsten, andere schienen wirklich nachzudenken.

„Der letzte Rest.“, meinte nun jemand und einige fingen an zu lachen.

„Ja, das trifft es sehr gut.“

„Der letzte Rest?“, wiederholte sie nun die Frage, um eine Erklärung zu bekommen.

„Alte Leute, die ihr Leben unabhängig und in Ruhe ausklingen lassen wollen.“

„Das trifft es noch besser.“

Kougyoku war verwirrt. Wenn dies ein Haufen Menschen war, die bereits einen großen Teil ihres Lebens hinter sich hatten, was machte dann jemand wie Judal dazwischen? Da Yunan ein Magi war, war sein Alter schwer einzuschätzen, doch bei Judal war sie sich sicher, dass er nicht viel älter als sie selbst sein dürfte. Mit interessiertem Blick wendete sie sich wieder an den rotäugigen Mann.

„Wie alt bist du eigentlich?“

„Aber, aber, Kleines. So etwas fragt man doch keine Lady.“, witzelte ein dicklicher Mann mit Schnauzbart und kassierte dafür einen tödlichen Blick von Judal. Auch Kougyoku stimmte in das Gelächter der anderen mit ein, was Judal gar nicht passte.

„Zwanzig, wenn du’s genau wissen willst.“, erwiderte er deutlich verärgert. „Aber darum geht es nicht. Wir leben hier im Wald, damit wir von den Palasthockern in Ruhe gelassen werden.“

Kougyoku verstummte augenblicklich und legte den Kopf etwas schief. Palasthockern? Meinte er damit…ihre Familie?

„Ich nehme an du meinst den König.“

In ihrem Magen breitete sich ein unangenehmes Gefühl aus. Sie vermutete, dass sie sich in eine brenzlige Situation ritt und ihr gefiel dieses Gesprächsthema gar nicht.

„Wenn’s denn nur der König wäre!“, brüllte die erste wütende Stimme los. „Bei denen ist ja einer schlimmer als der andere!“

„Kein Verlass auf dieses Adelspack.“

„Hab selten Menschen gesehen, die sich so unmenschlich verhalten!“

In Kougyoku zog sich alles zusammen. Welches Ausmaß dieses Gespräch nun annahm, bereitete ihr Sorgen. Die einst so fröhliche Atmosphäre wirkte nun angespannt und sie konnte in vielen Gesichtern Wut und Trauer lesen. Sie fühlte sich plötzlich nicht mehr willkommen, auch wenn niemand ahnte, dass man hier grade lautstark ihre Familie verurteilte. Selbst in Judals Blick sah sie Hass und das bereitete ihr am meisten Angst. Woher kamen dieser Hass, diese Wut und die Trauer? Es war nicht schwer zu erkennen, dass jeder von ihnen schlechte Erfahrungen mit der Königsfamilie gemacht zu haben schien, doch dass es in diesem Land, welches auch ihr gehörte, Menschen gab, die so dermaßen verletzt und enttäuscht von ihrer Familie waren, brach ihr das Herz. Sie wusste, dass ihre Brüder nicht fehlerfrei waren, und auch sie war nicht perfekt, doch dass solche Menschen, wie sie nun vor ihr saßen, offenbar ignoriert wurden, war unverzeihlich.

Die ganzen Beschimpfungen sind an ihr vorbei gerauscht, während sie ihren Gedanken nachging, doch plötzlich wurde es so still in dem Gasthaus, dass man eine Nadel hätte fallen hören können. Yunan hatte sich erhoben und plötzlich schienen alle daran interessiert zu sein, was er nun als nächstes tun würde. Nur Judal wirkte teilnahmslos und schenkte dem Magi keine Beachtung.

„Wollt ihr sie sofort verschrecken?“, ein trauriger Blick lag auf dem Gesicht des blonden Mannes, welcher mit seiner Frage dafür sorgte, dass sich die ersten schuldbewusst am Kinn kratzten. „Ihr seid sicherlich sehr wütend und verletzt, aber wollt ihr sie nun damit belasten?“

Kougyoku war davon begeistert, wie erwachsen er sich benahm und wie er die anderen mit wenigen Worten beeinflussen konnte. Judal spielte mal wieder die Ausnahme, indem er einen abschätzenden Ton von sich gab. Er hatte ihm offenbar doch zugehört, allerdings war er kein bisschen von dem Auftreten des mysteriösen Mannes beeindruckt.

„Spiel dich nicht so auf.“, fing er auch schon an, ihm Kontra zu geben. „Wenn sie schon in diesem Land ist, dann soll sie auch wissen, welche Spinner über uns herrschen.“

Yunan nickte leicht. Er wusste, dass Judal Recht hatte, doch er wollte auf etwas anderes hinaus.

„Das ist in Ordnung, aber belastet sie nicht mit euren Problemen.“, sprach er und wendete sich nun Kougyoku zu, um zu zeigen, dass diese Diskussion nun für ihn beendet war. „Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mich gerne kurz mit dir unterhalten.“

Ein Raunen ging durch die Menge und Kougyoku wurde ganz anders. Sie hatte keine Ahnung, was er von ihr wollen könnte und allem Anschein nach war es auch eine Seltenheit, dass Yunan sich mit jemandem unterhalten wollte und das wahrscheinlich unter vier Augen. Doch sie wusste, dass ihr wohl nichts anderes übrig blieb, als zuzustimmen. Außerdem wollte sie ja auch wissen, was sein Anliegen war.

Sie bejahte und erhob sich, bereit ihm zu folgen. Er öffnete die Tür, hielt sie für sie auf und bat sie heraus. Bevor sie den Raum verließ, schaute sie noch einmal kurz zu Judal, der ihr mit einer Geste symbolisieren wollte, dass Yunan nicht ganz dicht sei, was diesem natürlich nicht verborgen blieb. Jedoch ignorierte er den Jüngeren und folgte Kougyoku nach draußen, wobei er die Tür hinter sich schloss.
 

Draußen war es mittlerweile sehr kalt geworden, was Kougyoku zum Frösteln brachte. Auch an Dunkelheit hatte es zugenommen und ihr fiel es schwer, einen einzigen Baum zu erkennen. Yunan schritt an ihr vorbei, ein Stück weit in den Wald hinein. Wahrscheinlich wollte er sicher gehen, dass sie wirklich niemand hören konnte. Zögernd folgte sie ihm und verweilte mit einem ausreichenden Abstand hinter ihm. Sein Blick war nach oben gerichtet und sie vermutete, dass er grade einen verträumten Blick aufgesetzt hatte, mit dem er die Sterne beobachtete.

„Ich muss sagen, ich bin sehr erfreut, Euch kennen zu lernen, Prinzessin.“

Seine Worte kamen so plötzlich, dass sie deren Bedeutung gar nicht richtig wahr nahm. Sie wollte antworten und ihm davon berichten, wie überrascht sie darüber war, einen weiteren Magi getroffen zu haben, doch dann dämmerte ihr es und sie schlug die Hände vor ihren Mund.

„Woher…“, fing sie an, doch sie konnte keine richtigen Worte fassen. Der Schock saß tief und es machte sich augenblicklich Verzweiflung in ihr breit. Die Kälte war vergessen, denn ihr war plötzlich ganz heiß. Er konnte sie nicht wirklich grade Prinzessin genannt haben.

„Ich habe es gehört.“, erklärte er ruhig und Kougyoku verstand die Welt nicht mehr. Er hatte es gehört? Wann war er in der Nähe gewesen? Er drehte sich zu ihr um und schien sichtlich amüsiert über ihren verwirrten Gesichtsausdruck. „Ich kann alles in diesem Land hören.“

Sie sah ihn verblüfft an. War das etwas, wozu nur ein Magi im Stande war? Sie blieb ruhig und wartete gespannt auf seine Erklärung. Er schien verstanden zu haben, dass sie nicht wusste, was sie nun erwidern sollte, deshalb fuhr er fort.

„Natürlich kann ich keine Gespräche aus dem Palast hören, solange er von eurem Magi beschützt wird.“

„Kannst du nicht?“, fragte sie verwundert nach. „Du müsstest doch gegen den Schutzwall ankämpfen können!“

Yunan seufzte leicht. Er dachte, dass er sie mit seinen Worten beruhigen könnte, da er davon ausging, dass sie nun unter Paranoia stand. Es war nicht üblich, dass jemand so offen aufdeckte, dass er in der Lage war, jeden auszuspionieren und normalerweise wollte man auch nicht bespitzelt werden. Sie machte sich aber mehr Gedanken darum, warum er es nicht tat.

„Das könnte ich tun, aber…“, antwortete er zögerlich und hatte plötzlich einen beschämten Gesichtsausdruck aufgesetzt. „So etwas macht man nicht.“

Kougyoku blinzelte einmal. Und noch ein zweites Mal. Er hatte die Möglichkeit, die Herrscher dieses Landes zu belauschen und alle Pläne zu erfahren, doch er tat es nicht, weil es sich nicht gehörte. Sie musste leicht schmunzeln. Diese Einstellung war selten und es machte sie deshalb umso glücklicher. Yunan schien wirklich ein guter Mensch zu sein.

„Verwundert dich das? Dachtest du, ich würde die Chance nutzen und den anderen dabei helfen, gegen deine Familie vorzugehen?“, fragte nun er amüsiert und sah zu Kougyoku rüber, die kurz nachzudenken schien. Tatsächlich wäre das eine optimale Gelegenheit, um Rache auszuüben. Als sie ihm nicht antwortete, sprach er weiter.

„Wie du nun mitbekommen hast, sind diese Menschen dort drin sehr verletzt.“

Er schaute an Kougyoku vorbei zu dem Haus, welches nun hinter hier lag. Sie folgte seinem Blick und beobachtete, wie zuvor auch schon, eine Silhouette im Fenster.

„Was ist passiert?“, stellte sie nun die Frage, die nun schon seit einer kleinen Weile auf ihrer Seele brannte. Sie wollte nicht taktlos sein, doch sie war sich sicher, dass Yunan ihr eine Antwort geben würde, ohne sie dafür zu verurteilen.

„Du kannst es dir sicherlich denken. Geliebte Menschen wurden hingerichtet und ganze Dörfer ausgelöscht. Man verlor seine Existenz, durch die Hände deines Bruders.“

Sie sah wieder nach vorn zu ihm und starrte ihn ungläubig an. Wann waren solche Dinge geschehen?

„Es war aber nicht nur Kouens Schuld. Auch der ehemalige König, dein Vater, war an solchen Taten beteiligt. Es tut mir leid für dich, dass du nun mit hineingezogen wirst, obwohl du nie etwas Schlimmes getan hast.“

Er hatte nun wieder diesen traurigen Blick aufgesetzt, den er auch vorhin hatte, als er die Männer zur Rechenschaft zog. Kougyoku senkte ihren Blick Richtung Boden. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Was Yunan ihr grade erzählt hatte, hatte sie nicht gewusst. Die anderen taten ihr schrecklich leid, doch sie war nicht in der Position, ihrem Bruder Anweisungen zu geben. Und selbst wenn sie etwas gegen das Leid der Männer tun könnte, so war sie sich nicht sicher, ob die Wunden nicht schon zu tief saßen. Ihren Bruder zur Rede stellen würde auch nicht in Frage kommen, denn sonst würde alles auffliegen. Trotzdem waren dies Dinge, die man nicht verschweigen sollte. Hatte denn außer ihr niemand ein schlechtes Gewissen den Menschen gegenüber, die man mit seinen egoistischen Entscheidungen verletzte? Sie hielt ihren Bruder für einen Gott, jemand der alles regeln konnte und den alle verehrten. Doch dann gab es dort diese Gruppe von Menschen, die in Hass lebten.

„Mach dir bitte keine Vorwürfe.“, kam es von Yunan, der offensichtlich bemerkt hatte, dass sich Kougyoku nun auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle begeben hatte und sich nicht sicher war, was sie nun zu tun hatte.

„Es ist wirklich nicht deine Schuld und eigentlich haben sie es auch gut verarbeitet. Du hast sie einfach wieder daran erinnert.“

Er hatte wieder ein Lächeln aufgesetzt und Kougyoku seufzte. So viel zum Thema „Mach dir keine Vorwürfe“.

„Du bist hier, um das zu sehen, was sich hinter den Palastmauern verbirgt, hab ich Recht?“, wechselte er das Thema und wartete auf eine Antwort. Sie sah zu ihm auf und nickte leicht. Er hatte die Antwort sowieso schon gewusst.

„Ich möchte niemanden noch mehr verletzen und ich bin auch nicht hier, um meinem Bruder von eurer Lebensweise zu berichten.“, versichte sie ihm und sah ihm fest in die Augen. „Das musst du mir glauben. Ich möchte wirklich nur wissen, wie es ist, ein normales Leben zu führen.“

Sein freundliches Lächeln verblasste nicht, was ihr die Bestätigung gab, dass er ihr glaubte. Sie war nicht hier, um Unruhe zu stiften und das sollte auch niemand von ihr denken.

„Die Leute kommen und gehen. Ich habe in meinem Leben schon viele Menschen und auch Magier getroffen, aber noch nie hab ich die Gesellschaft so genossen, wie bei diesen Personen.“, fing er an und nickte kurz in Richtung des Hauses. „Ich bin eigentlich ein Einzelgänger und lebe alleine.“

Sein Lächeln war unsicher, aber mit Ehrlichkeit bestückt und Kougyoku freute sich, dass er ihr etwas von ihm erzählte.

„Sie verdienen es, in Ruhe zu leben.“, sagte er fest und richtete seinen Blick wieder auf sie. „Ich werde ihnen nichts verraten, solange du nichts Schlimmes anstellst.“

Ihre Augen weiteten sich. Vertraute er ihr etwa doch nicht? Sie wusste nicht, wie sie ihm sonst noch versichern konnte, dass sie keine bösen Absichten hatte.

„Beruhige dich, ich möchte nur sicher gehen.“, merkte er an und sein Lächeln war herzlich. Er verwirrte sie sehr und das schien er sichtlich zu genießen. Sie wusste momentan gar nicht, wie sie handeln oder was sie sagen sollte, doch sie freute sich darüber, seine Unterstützung zu bekommen.

„Wie soll ich mich nun verhalten?“, wollte sie wissen und vergrub ihre Finger unsicher in dem festen Stoff ihres Kleides. Yunan ging an ihr vorbei auf das Holzhaus zu und machte eine Geste, die sie dazu aufforderte, ihm zu folgen.

„Ganz natürlich. Sie mögen dich.“

Sie hatte einen verblüfften Gesichtsausdruck aufgesetzt, während sie dem jung wirkenden Mann hinterher sah. Sie wusste nicht, ob er sich bei seiner Aussage sicher war, da er es gehört hatte, oder ob es an seinen Menschenkenntnissen lag, weshalb er es vermutete. Sie entschied sich dafür, ihm zu glauben und folgte ihm mit etwas mehr Selbstbewusstsein.
 

Drinnen war es angenehm warm, doch auch der Gestank von Alkohol hatte zugenommen. Kougyoku musste für einen kurzen Moment die Nase rümpfen, da sie mit diesem Geruch nicht gerechnet hatte. Yunan machte sich direkt auf den Weg zu seinem Platz am Tresen und ließ die Prinzessin etwas verloren in der Tür stehen. Nachdem sie besagte Tür geschlossen hatte, suchte sie instinktiv nach einem Platz neben Judal, der genau wie alle anderen gespannt zur Tür geschaut hatte, als die beiden eingetreten waren. Ganz so, als hätten sie jemand Fremdes in der Türschwelle erwartet.

„Ein Wunder, dass sie’s überlebt hat.“, kam auch sofort der Kommentar, doch Yunan schien es gekonnt ignorieren zu können. Es gab bestimmt noch die ein oder andere Sache, die Kougyoku von dem Magi lernen konnte.

Von Frau zu Frau

Umso später es wurde, desto mehr stieg die Stimmung. Kougyoku war froh, dass nach ihrem Gespräch mit Yunan schnell das Thema gewechselt wurde und auch niemand mehr ein Wort über die schlimmen Dinge, die ihre Familie angerichtet haben sollte, verlor. Hin und wieder vielen die Namen ihrer Brüder allerdings doch, jedoch nur, wenn man sich über sie lustig machte. Kougyoku sah lächelnd dabei zu, wie sich einzelne Männer über den einen oder anderen Witz köstlich amüsierten, auch wenn es ihr einen leichten Stich ins Herz versetzte. Selbst Judal wirkte nicht mehr ernst und genervt, sondern lachte oft und da es diesmal nicht auf Kougyokus Kosten war, fand sie, dass ihm dies verdammt gut stand.

Immer mehr Männer gingen und irgendwann saß sie nur noch mit knapp zehn Leuten in dem großen Raum. Laut Judal waren es die, die immer blieben und in dem Haus ihren Rausch ausschliefen. Kougyoku sah zu einer alten Holztreppe in einer Ecke des Hauses. Sie war ihr vorher schon einmal aufgefallen, allerdings hatte sie sich keine Gedanken darüber gemacht, wo sie hinführen würde. Allem Anschein nach befanden sich in der ersten Etage Zimmer, die von den Gästen belegt wurden, aber vielleicht täuschte sie sich auch. Da es nun auch schon sehr spät war und sich allgemeine Müdigkeit breit gemacht hatte, dachte Kougyoku darüber nach, nicht auch um ein Zimmer oder einem Platz zum Schlafen zu bitten. Ihr war nicht wohl dabei, in einem fremden Haus mit lauter fremden Leuten zu übernachten, aber wenn nun langsam alle zu Bett gehen würden, blieb ihr nichts anderes übrig, denn ein Blick auf die Uhr, die hinter dem Tresen an der Wand hing, verriet ihr, dass sie noch gut zweieinhalb Stunden Zeit hatte, bis Masrur sie abholen wollte. Dass die Zeit aber nur dann schnell verging, wenn man Spaß hatte, hatte sie heute erst gelernt. Zudem dürfte es für die Prinzessin schwierig werden, wieder zu ihrem Begleiter zurück zu finden. Als Judal sie mitgenommen hatte, hatte sie nicht daran gedacht, sich den Weg zu merken. Ihr wurde bewusst, dass sie wohl oder übel wieder das Gespräch mit Yunan suchen und ihn um Hilfe bitten musste.

„Soll ich dir dein Zimmer zeigen?“

Wieder einmal erklang die fröhliche Stimme der alten Dame, die offensichtlich bemerkt hatte, dass Kougyoku mit ihrer Müdigkeit kämpfte.

„Nur, wenn Sie noch eins frei haben. Ich möchte mich wirklich nicht aufdrängen.“, antwortete sie und Judal verdrehte die Augen.

„Hör doch endlich auf, so höflich zu sein.“

Kougyoku verstand immer noch nicht, warum man sich darüber beschweren konnte. Im Palast war Höflichkeit an der Tagesordnung, auch wenn sich zumindest Kouha nicht immer daran hielt, doch dieser Ort war eben nicht der Palast und genau deshalb war er auch nicht ihr Zuhause, weshalb es nicht selbstverständlich war, dass man ihr einen Schlafplatz anbot. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, machte die Barkeeperin bereits eine Geste, die Kougyoku dazu auffordern sollte, ihr zu folgen und fügte noch mit einem Lächeln hinzu, dass sie Judal einfach ignorieren solle, was diesem überhaupt nicht passte. Kougyoku allerdings hielt dies ebenfalls für die beste Idee, folgte der anderen Frau und ließ ihren ehemaligen Begleiter empört zurück. Auf dem Weg zur Treppe sah sie noch kurz in Yunans Richtung, welcher sich bereits vor einer Weile umgedreht hatte und ihr nun lächelnd zunickte, was sie erwiderte.

Auf der Treppe wurde Kougyoku sehr schnell klar, wie alt das Haus bereits sein musste. Mit jedem Schritt knarrten die Stufen und schienen unter ihrem Gewicht nachgeben zu wollen. Die junge Frau war sich nicht sicher, ob sie heile oben ankommen würde, doch wenn sich auch andere Menschen, die wesentlich mehr Gewicht auf die Waage bringen dürften als sie, sich dort hoch trauten, dann war ihr Gewicht für die Treppe eher ein Geschenk des Himmels. Nachdem sie den Weg nach oben gemeistert hatte, fand sie sich vor einem Flur mit acht Zimmern wieder. Vier auf der rechten Seite, drei links und das Achte ganz am Ende des Ganges.

„Meine Zimmer sind leider nicht sehr groß, aber ich hoffe, dass es dir trotzdem hier gefällt.“, begann die Besitzerin und schob Kougyoku sanft den Gang entlang, als sie plötzlich stoppte.

„Ich hab mich noch gar nicht vorgestellt, oder?“, fragte sie und legte mit einem fassungslosen Blick ihre Hand an die Wange. „Kein Wunder, dass du so still bist! Mein Name ist Esra.“, fuhr sie fort und begann wieder damit, Kougyoku in die Richtung eines Zimmers zu schieben und ließ ihr somit gar keine Chance, etwas zu erwidern. Sie steuerten offensichtlich das Vierte Zimmer auf der rechten Seite an, vor dem sie auch letztendlich stehen blieben.

„Ich würde dir gerne dieses Zimmer geben, weil es direkt neben dem Badezimmer liegt und du als Frau bestimmt eher das Bedürfnis hast, ein Badezimmer aufzusuchen.“, scherzte sie und deutete auf die Tür vor Kopf.

„Vielen Dank, dass ich hier übernachten darf.“, sprach Kougyoku schüchtern und Esra winkte ab.

„Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dich vor die Tür setzen würde! Grade bei einer so jungen, hübschen Frau muss man aufpassen und dann auch noch um die Uhrzeit!“

Die Prinzessin stimmte ihr nickend zu, wobei sie eher wegen des plötzlichen Kompliments ablenkt war. Es war nichts Neues, dass man sie hübsch nannte, dies hörte sie im Palast häufig, doch so etwas von einer Fremden zu hören, war etwas anderes.

„Nun lass uns aber rein gehen, du musst ja schrecklich müde sein.“

Und schon öffnete Esra die schmale Holztür und ermöglichte den Blick, auf ein spärlich eingerichtetes Zimmer. Der Raum war zwar nicht so groß wie Kougyokus Zimmer bei ihr Zuhause, jedoch besaß es genügend Platz. Alle Möbel waren ebenfalls aus Holz, wobei das Mobiliar zwei Betten, eins am Fenster und eins an der Wand gegenüber, eine kleine Kommode und einen Stuhl umfasste. Es war auf keinen Fall vergleichbar mit ihrem Zimmer im Palast, doch für Kougyoku war es perfekt. Dies war genau das, was sie sich von einem Leben außerhalb der Palastmauern vorgestellt hatte. Ein kleines, gemütliches Zimmer an einem Ort, an dem sie völlig sie selbst sein konnte. Esra schloss die Tür hinter ihr und sah Kougyoku dabei zu, wie sie alles lächelnd beäugte.

„Es tut mir leid, dass meine Jungs vorhin lauter geworden sind.“, sprach sie mitleidig und sah beschämt zu Boden. Kougyokus Lächeln verschwand nicht, während sie sich zu der alten Frau umdrehte. Die Tatsache, wie herzlich Esra die anderen betitelte, brachte sie fast zum Schmunzeln.

„Manchmal habe ich das Gefühl, Yunan ist der einzig Vernünftige von ihnen. Bitte sei ihnen nicht böse.“, seufzte sie und sah zu Kougyoku.

„Bin ich nicht, sie haben ihre Gründe.“

Esra lächelte wieder, als sie diese Worte hörte. Sie schien sich wirklich Gedanken darüber gemacht zu haben, was Kougyoku nun von ihr und den Männern halten würde.

„Sie sind froh, dass sie nun in Ruhe leben und den Schmerz vergessen können. Ihnen geht es schon lange wieder gut, nur Judal scheint nicht vergessen zu wollen…“

Sie wurde gegen Ende immer leiser und sah angespannt Richtung Boden, so als wäre sie sich nicht sicher, ob sie Kougyoku nun davon erzählen sollte. Das Lächeln der Prinzessin verschwand und sie sah besorgt zu Esra.

„Was ist mit ihm?“, fragte sie vorsichtig und hoffte, damit nicht einen Schritt zu weit gegangen zu sein. Yunan hatte ihr zwar grob erklärt, worum es ging, jedoch hatte er vielleicht bewusst Judal außen vor gelassen. Aber vielleicht belastete den jungen Mann auch etwas, was der Magi gar nicht wusste.

„Judal ist einfach noch sehr jung…“, begann sie und schaute wieder auf. „Es ist noch nicht genug Zeit vergangen.“

Kougyoku nickte leicht und versuchte Esra damit zu signalisieren, dass sie verstanden hatte. Die ältere Frau fing wieder an zu lächeln

„Ihr seid euch sehr ähnlich, was eure Vergangenheit betrifft. Er hat auch seine Eltern verloren, als er grade mal ein Baby war.“

Ihr Lächeln verschwand nicht, doch in ihrem Blick lag Trauer, als sie an der Prinzessin vorbei aus dem Fenster sah.

„Er war bestimmt sehr überrascht, als er deine Geschichte gehört hatte, denn er kann deinen Schmerz am besten nachvollziehen.“

Kougyokus Herz zog sich zusammen, als sie den Worten von Esra lauschte. Judal verstand sie? Als Yunan sagte, dass Judal sie mögen würde, war es dann weil er dachte, sie würden sich ähnlich sein? Erhoffte er sich Beistand von einer Person, die Ähnliches durchgemacht haben sollte? Kougyoku wusste nicht, was sie denken sollte und sie schloss kurz die Augen, nur um daraufhin in das freundliche Gesicht ihrer Gastgeberin zu schauen. Eine Frau, die sie wie alle anderen belügen musste. All diese Menschen, die sie – musste sie sich eingestehen – bereits in ihr Herz geschlossen hatte, sahen in ihr das arme, kleine Mädchen, das ihre Eltern verloren hatte und nun seit ihrer Geburt auf sich allein gestellt war und das obwohl sie in Wahrheit ein verhasstes Mitglied der Königsfamilie zu sich hereingebeten hatten. Wenn heraus kam, wer sie wirklich war, dann wäre dies für alle und gerade für Judal ein enormer Schlag ins Gesicht.

„Wie du dir bereits denken kannst, war die Königsfamilie für den Tod seiner Eltern verantwortlich.“

Kougyoku kniff die Augen wieder zusammen und schlang die Arme leicht um sich. Sie hatte es bereits geahnt, doch es bestätigt zu bekommen, traf sie tief. Das war alles zu viel für sie. War ihre Familie so schrecklich? Waren sie so verhasst?

„Hab ich etwas Falsches gesagt? Geht es dir nicht gut?“

Esra schritt besorgt ein paar Schritte auf die junge Frau zu, jederzeit bereit, sie zu umsorgen. Das die ganzen Erzählungen rund um das Königshaus Kougyoku so sehr mitnahmen, war ihr schon vorhin aufgefallen, doch sie dachte sich nichts dabei und ging davon aus, dass Kougyoku einfach nur eine sehr sensible und mitfühlende Person war.

Sanft drückte sie die Prinzessin auf das Bett an der Fensterseite und setzte sich mit einem wachsamen Blick neben sie. Sie beäugte sie leicht, doch Kougyokus Augen wirkten leer, während sie auf ihren Schoß gerichtet waren. Esra befürchtete, dass sie das Mädchen nun verschreckt hatte oder ihr Angst einjagte, weshalb sie versuchte, sie zu beruhigen.

„Du brauchst dir keine Sorgen machen. Diese Dinge haben sich vor langer Zeit zugetragen und seitdem König Kouen an der Spitze steht, ist auch alles gar nicht mehr so schlimm. Was die Gerechtigkeit unter der Bevölkerung angeht, scheint sich zwar nichts geändert zu haben, allerdings scheint Kouen im Gegensatz zu dem ehemaligen König darauf bedacht zu sein, kaum unschuldige Zivilisten zu töten.“, sprach sie ruhig und erhoffte sich somit, dass Kougyoku wieder anfing zu lächeln. Dies tat sie auch, allerdings wirkte es ein wenig traurig. Weniger zu töten war keine Entschuldigung.

„Du kannst ja nichts dafür, also mach dir nicht so viele Gedanken. Uns geht es gut und auch Judal hat besseres zutun, als sich tagtäglich aufzuregen.“

Esra strahlte ihr schon fast entgegen und somit kam auch Kougyoku nicht drum herum, wieder ein aufrichtiges Lächeln aufzusetzen. Sie hatte Recht. All die Dinge sind schon lange her und somit gar nicht mehr Taten ihrer Brüder, weshalb sie diese auch nicht verurteilen sollte. Vielleicht war es wirklich so, dass sich die Bürger ungerecht behandelt fühlten, aber daran ließe sich sicher etwas ändern. Wenn sie wieder Zuhause war, sollte sie mit Kouen mal darüber reden, nur so aus Neugierde. Nun gut, vielleicht sollte sie lieber mit Hakuei sprechen…

„Ich werde mir keine Gedanken mehr machen.“, versprach Kougyoku und untermalte ihre Worte mit einem sanften Händedruck, dem sie der älteren Frau schenkte.

„Das beruhigt mich.“, erwiderte sie erleichtert und erhob sich wieder. „Dann sollte ich dich so allmählich schlafen lassen.“

Esra schenkte ihr noch eine kurze, aber herzliche Umarmung, die Kougyoku etwas überraschte. Mit den Worten, dass sie sich melden solle, falls sie etwas brauchen sollte, schritt sie mit großen Schritten zur Tür und verließ daraufhin mit einem kleinen Winken den Raum.

Kougyoku ließ sich seufzend aufs Bett fallen. Der Abend war erfolgreicher, als sie erwartet hatte. Sie hatte viele nette Menschen kennengelernt und wurde leider über Dinge aufgeklärt, die sie nicht so gerne gewusst hätte. Aber sie hatte Esra versprochen, dass sie sich nun keine Gedanken mehr machen würde. Wenn sie erst einmal wieder Zuhause war, konnte sie versuchen etwas zu regeln und dann würde es allen Beteiligten auch gleich viel besser gehen, dem war sie sich sicher. Jedoch war alles nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte. Erst einmal musste sie es schaffen, wieder sicher nach Hause zu kommen und am besten so, dass niemand etwas von ihrer nächtlichen Tour mitbekam. In dem Moment fiel ihr ein, dass sie ja noch mit Yunan sprechen und ihn um Hilfe bitten wollte, damit sie auch schnell zurück zu Masrur fand und dieser sie rechtzeitig zum Frühstück im Palast absetzen konnte. Doch sie konnte nun schlecht wieder runter gehen, um mit dem Magi zu sprechen, denn dann würden alle Anwesenden wissen wollen, was die beiden zu besprechen hatten und vor allem Judal würde sich wohl wieder beschweren. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass sie Yunan mit ihren Worten erreichen konnte. Sie fixierte die Wand auf der gegenüberliegenden Seite ihres Bettes und fühlte sich seltsam, als sie anfing in den leeren Raum zu sprechen.

„Yunan… Ich hoffe, du kannst mir einen Gefallen tun. Bitte komm um fünf Uhr zu meinem Zimmer.“

Daraufhin schloss sie kurz die Augen und ließ sich dann zurück ins Bett fallen.

Eine Etage tiefer saß Yunan am Tresen und hatte seine Augen geschlossen, während er sich auf etwas konzentrierte. Kougyoku war nicht weit entfernt, deshalb vernahm er ihre Stimme, als würde sie neben ihm stehen. Ein Lächeln breitete sich wieder auf seinen Lippen aus und sein Blick richtete sich runter auf sein Glas.

„In Ordnung.“
 

Es waren kaum zwei Stunden vergangen, als ein kalter Windzug durch das Zimmer fegte und Kougyoku aus ihrem dringend benötigten Schlaf riss. Fast schon panisch schreckte sie auf und hätte beinahe losgeschrien, als sie den blonden Mann in ihrem Zimmer entdeckte.

„Guten Morgen.“, begrüßte dieser sie, doch Kougyoku brauchte noch eine Weile, um zu realisieren, wo sie sich gerade befand und wer dort vor ihr stand.

„Hast du gut geschlafen?“, erkundigte sich der Mann, dem sie mittlerweile den Namen Yunan zuordnen konnte. Leicht nickte sie.

„Ich hätte ja angeklopft, aber dann hätte ich ihn aufgeweckt.“, entschuldigte sich der Magi freundlich und zwang sie mit seiner Aussage dazu, den Kopf schief zu legen.

„Ihn?“

Yunan öffnete mit einer eleganten Bewegung die Tür und brachte somit einen schlafenden Judal zum Vorschein, der sich im Flur, neben ihrer Zimmertür, auf den Boden gelegt hatte und nun in einer weniger bequemen Position leise vor sich hin schnarchte. Kougyoku wirkte nun noch verwirrter.

„Was macht er da?“

„Schlafen, nehm ich an.“, antwortete ihr ihr Gegenüber und schloss vorsichtig die Tür. Darauf wäre sie nie gekommen.

„Schläft er immer im Flur… auf dem Boden?“, wollte sie wissen und streckte sich leicht. Yunan zuckte nur mit den Schultern und erklärte ihr, dass er selten in den Morgenstunden in der ersten Etage war, weshalb er es nicht wissen konnte. Kougyoku gab sich damit zufrieden, denn eigentlich war es ihr auch egal, wo Judal schlief, solange er damit niemandem im Weg war und er es trotz allem bequem hatte.

Sie zuckte leicht zusammen, als ihre nackten Füße den kalten Boden berührten. Im Palast war es immer wohlig warm, so dass sie so etwas wie kalte Füße nicht kannte.

„Wobei brauchst du meine Hilfe?“, wollte nun Yunan wissen und sah Kougyoku dabei zu, wie sie ihre langen Haare ein wenig mit ihren Fingern durchkämmte.

„Ich muss zu Masrur, meinem Leibwächter. Er hat mir all das hier erst ermöglicht und nun muss ich wieder zurück, bevor irgendjemand im Palast was bemerkt.“, erklärte sie ihm und Yunan nickte wissend.

„Er ist auf dem Weg.“

„Du kannst ihn hören?“, fragte sie überflüssigerweise und er nickte schmunzelnd.

„Er scheint gerne Selbstgespräche zu führen.“

Kougyoku musste lachen. Das sah dem Fanalis ähnlich. Sie freute sich bereits darauf, ihm von allem und jedem berichten zu können.

„Bist du schon fertig? Wenn wir uns beeilen, können wir ihm den Weg ersparen.“

Kougyoku warf einen nachdenklichen Blick Richtung Tür und dachte darüber nach, ob sie nicht hier das Bad benutzen sollte. Wenn Judal allerdings vor ihrem Zimmer lag, war die Gefahr einfach zu groß, diesen zu wecken und somit ihm alles erklären zu müssen. Deshalb entschied sie sich schweren Herzens gegen einen kurzen Abstecher ins Bad und bejahte Yunans Frage.

„Wie kommen wir denn zu ihm?“, fragte sie nun und Yunan griff nach einem dicken, mit Efeu bestückten Ast, den er in der Ecke des Zimmers platziert hatte.

„Ich flieg dich.“

Kougyokus Augen weiteten sich und Yunan lachte leicht. Das konnte doch unmöglich sein Ernst sein.

„Keine Sorge, ich fliege nicht zu hoch und nicht zu schnell.“

Sein Lächeln war ehrlich und vermied jeden Widerspruch. Den Ast hatte er bereits in eine horizontale Position gebracht, welcher auch gleich anfing zu schweben. Er schwang sein Bein über den festen Stock und sah mit seinem großen Hut kurz aus wie eine Hexe auf einem fliegenden Besen. Kougyoku blieb wohl nichts anderes übrig, als es ihm gleich zu tun.

„Halt dich gut fest.“, rief er über seine Schulter hinweg und brachte sie damit dazu, sich sofort an seine Taille zu krallen. Diese Situation kam ihr bekannt vor. Fast auf ähnliche Art und Weise hatte sie gestern mit Masrur den Palast verlassen und nun war es an der Zeit, an diesen Ort zurück zu kehren. Mit weniger Schnelligkeit als der Fanalis, flog Yunan nun mit ihr durch das schmale Fenster und steuerte in den Himmel, über die Bäume. Kougyoku warf einen Blick nach unten und bemerkte relativ schnell, dass fliegen deutlich angenehmer war als springen.

Sie richtete ihren Blick über ihre Schulter und sah zu dem großen Holzhaus zurück. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie dieses Haus nicht zum letzten Mal gesehen hatte und sie hoffte, dass sie schon bald wieder die Möglichkeit bekam, die anderen zu besuchen. Doch um das zu schaffen, musste sie erst einmal heile bei Masrur ankommen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Pandidita
2017-04-09T20:04:35+00:00 09.04.2017 22:04
wird die FF noch fortgesetzt? Ich bin ein riesen Fan von Judal und Kogyoku mag ich eigentlich auch. Die FF ist bisher sehr spannend auch wenn mich die vertauschten Rollen auch ein wenig verwirrt haben. Trotzdem super geschrieben. =)
Von:  Naoki_Ichigo
2014-04-15T19:42:15+00:00 15.04.2014 21:42
Also erst mal hallo.
Hab deine FF schon vor etwas längerem entdeckt und daher ist jetzt auch mal ein Kommentar von nöten, immerhin ist die FF bisher her klasse.
ZWar mag ich Kougyoku, aber sie in der Hauptrolle, naja...
Und Judal ist nicht so ganz mein fall. Also ich mag ihn aber naja, Hauptrolle und so.

Aber egal. Bisher liest sich alles angenehm und auch die Darstellung der Charaktere und die Idee allgemein ist spannend und interessant.
Anfangs war ich etwac irrtiert, dass Scheherazade der Magi ist und Masrur Kougyokus Diener, aber künstlerische Freiheit und so.

Ich bin echt gespannt wie es weitergeht.

Ja, ich weiß, sehr konstruktiver Kommentar und so, aber was besseres fällt mir ehrlich gesagt nicht ein.
Die FF ist echt angenehm zu lesen und spannend und Fehler wären mir jetzt auch keine aufgefallen. Passt also alles.

Mit vielen freundlichen Grüßen

Ich
Antwort von:  Ditzix3
15.04.2014 23:23
Vielen, vielen Dank für deinen Kommentar!
Nun ja, das ist ja dann jedem selbst überlassen, wen er gerne in der Hauptrolle sieht und wen nicht ^^ Freut mich aber, dass du trotzdem Interesse an meiner Geschichte hast!
Das mit Scheherazade und Masrur ist eine Sache, die ich für mich einfach ein wenig so gedreht habe, weil ich Ka Koubun nicht so mag und Judal bereits wo anders seine Rolle einnimmt. Esra ist ja eigentlich auch woanders vertreten, aber wenn ich das bisher so genau sagen kann, dann bleiben die drei auch die einzigen Charas, die in "verkehrte Rollen" geschlüpft sind xD

Nochmal vielen Dank für deinen Kommentar, ich freue mich wirklich :)

Liebe Grüße!


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