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Das Glasherz

von

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Der Glaskörper

Die Freude war zu viel gewesen.

So viel Zufriedenheit und Euphorie hatte er noch nie gespürt - es war so anders, wenn sich andere mit einem freuten, wenn sie die gleiche Freude in sich spürten, wenn sie alle denselben Grund hatten.

Dabei war es sogar eigentlich eher Youmas Freude die auf ihn übergeschwappt war und von der Nocturn sich hatte mitreisen lassen - denn eigentlich... was interessierte es ihn, dass sie, nach all der langen Arbeit und Vorbereitungszeit, den vielen schlaflosen Nächten, der Frustration, gegenseitigem Anschweigen und Streitereien, ihre Mission endlich zu einem Erfolg gebracht hatten? Was interessierte es Nocturn, dass sie eine Allianz eingegangen waren? Die Politik der Dämonenwelt... das Geplänkel der Fürsten... ging ihm doch eigentlich nichts an; das war Youmas Interessengebiet, nicht seins.  

Aber trotzdem war er so froh wie schon lange nicht mehr, aber nicht des Erfolgs wegen... sondern vielleicht deshalb, weil er zum ersten Mal in diesen zwei Leben gebraucht worden war und sein Dasein, seine Existenz, nicht nur erwünscht, sondern, dass dieser andere von ihm abhängig war – weil sie zusammen arbeiteten. Weil sie gemeinsam ein Ziel erreicht hatten, besser als sie beide es für möglich gehalten hatten.

Das war... ein eigenartiges Gefühl. So unbekannt. Unbekannt, aber... irgendwie angenehm.

Aber auch erschöpfend. Nocturn fühlte sich ohnmächtig, beinahe so als hätte er eine ganze Woche nicht mehr geschlafen. Das Essen seiner Tochter Feullés war ausgezeichnet gewesen; sie hatte sich so viel Mühe gegeben zur Feier des Tages ein richtiges Festessen zu machen und es war ihr durchaus gelungen – sogar Youma lobte sie in höchsten Tönen und brachte sie zum Erröten und Stammeln. Die ausgelassene Freude in Appartement 667 ließ sich nicht einmal von Blues in sich gekehrtes Gesicht vertreiben; zwar hatte er maßgeblich zum Erfolg der Mission beigetragen, doch isolierte er sich nun vollständig von den Gefühlen der anderen, ließ sich nicht mitreisen, stand außerhalb.

Wie konnte er das überhaupt? Wie ging das? Wie war es möglich sich nicht mitreißen zu lassen? Vielleicht gehörte er einfach wirklich nicht dazu... aber wozu gehörte er nicht?

Was waren sie eigentlich?

Die, die sich gemeinsamen freuten? Was waren sie? Was ergaben sie zusammen?
 

Youma summte bei der Arbeit vor sich hin, Feullé war völlig erschöpft ins Bett gefallen, Blue noch nicht zurück; er suchte seinen Bruder, nachdem Nocturn ihn dazu aufgefordert hatte, seiner Sorge um ihn doch einfach nachzugehen und das ihn dafür schon niemand schelten würde. Nicht einmal Youma kommentierte sein Gehen, obwohl ihm ja eigentlich klar sein müsste, dass Blue zu Ri-Il gehen würde.
 

Was summte Youma eigentlich? Nocturns müde Ohren glaubten Vivaldi zu hören; auf jeden Fall die Bruchstücke die Youma irgendwann mal aufgeschnappt hatte... ein paar Töne... ha, er konnte sich der Schönheit der „Vier Jahreszeiten“ eben doch nicht entziehen... er war energisch bei seiner Arbeit, energischer als normal. Youma lächelte dabei; die Euphorie schien ihm viele neuen Ideen zu geben, viele neue politische Ideen, die, wenn sie Erfolg hätten... zu noch mehr Freude führen würden...

Konnte man zu viel Freude in sich sammeln? Gab es ein Limit? Eine Begrenzung?
 

Das Letzte was Nocturn sah, ehe er langsam auf dem schwarzen Sofa einschlief, war Youma der seinen Kopf zu ihm wandte und ihn anlächelte. Komisch. Das Lächeln sah so anders aus, als normal... es brachte Nocturn ebenfalls dazu zu lächeln, es steckte an, dieses Lächeln, diese Freude...
 

„Ohne dich wäre das alles nicht möglich gewesen. Vielen Dank, Nocturn.“ Antwortete Nocturn? Er wusste es nicht... er war eingeschlafen, die Worte im Ohr, im Herzen. Ausfüllend.

 

 

Nocturn wusste nicht wie lange er geschlafen hatte.

Aber es war sein Instinkt der ihn empor riss – es war auch sein Instinkt welcher die Fingernägel seiner rechten Hand dazu gebracht hatten sich zu verlängern und sich zu verteidigen, noch ehe er sich selbst wusste, wogegen er sich verteidigen musste – was überhaupt passiert war.  

Die Fingernägel streiften die Wange des Angreifers und dunkles Blut schoss hervor, lief an seiner Wange herunter und tropfte auch auf den Boden auf den er gestürzt war.
 

Die Fingernägel immer noch drohend und verteidigend vor sich ausgestreckt, hatte Nocturn das Gefühl als hätte er Fieber. Kurz war sein Geist vernebelt; er sah nichts, konnte nicht klar fokussieren und hörte auch die ihm so bekannte Stimme nicht; sie drang nicht zu ihm. Erst nach einigen Sekunden wurde ihm plötzlich wie ein Schlag klar, was passiert war und genauso klar drang auch Youmas Stimme plötzlich wieder zu ihm:

„Was sollte das denn?! Mein Gott, du hättest mich aufspießen können!“ Nocturn sah zu ihm, blickte in Youmas zorniges, aber auch schockiertes Gesicht, und fixierte das herunter laufende Blut, welches er verursacht hatte, das auch noch an seinen Fingernägeln haftete, die er immer noch nicht zurück gezogen hatte.

„Dabei habe ich mich nur über dich gebeugt – und du tust so als hätte ich versucht dich umzubringen...“, meckerte Youma weiterhin, doch wurde schlagartig still als Nocturn langsam aber deutlich antwortete:
 

„Du wolltest mich küssen.“

 

Jetzt sahen sie sich erst an; Youma wurde langsam rot, Nocturn wurde blass. Er hatte Youma nicht nur auf frischer Tat ertappt, er hatte ihn auch noch sofort durchschaut, weshalb jeder Versuch Youmas sich rauszureden nur peinlich gewesen wäre.

„Jedenfalls habe ich nicht versucht dich umzubringen“, stellte er trotzig fest und wischte sich das Blut mit der Hand ab um es nicht auf seine Kleidung zu bekommen – es war eine beträchtliche Menge entstanden.

„Warum hast du versucht mich zu küssen?“, harkte Nocturn nach als wäre Youmas Bestreben tatsächlich ein Mordversuch gewesen, dessen Hintergründe jetzt unbedingt aufgeklärt werden müssten. Aber Youma wurde nur noch röter und antwortete nicht. Er hatte sich vom Boden erhoben und war in den Küchenbereich gegangen um seine Hände abzuwaschen. Dort blieb er eine ganze Weile und lange war das laufende Wasser – den er blutete immer noch – das einzige was in dem Appartement zu hören war.  

Doch er antwortete, noch ehe er sich herum drehte:

„Ich weiß es nicht.“ Erst dann drehte er sich herum und die Blicke der beiden trafen sich. Nocturn wusste nichts mit Youmas Blick anzufangen; er sah ein wenig hilflos aus, verwirrt –  und umgekehrt verstand Youma Nocturns Feindseligkeit nicht.
 

„Du weißt es nicht?“, wiederholte Nocturn zögerlich, aber beharrlich. Youma deutete ein Kopfschütteln an. Dann stellte er plötzlich eine Gegenfrage, die Nocturn kurz aber effektiv ablenkte:

„Wie oft hast du White-san geküsst?“ Nocturn verstand zwar nicht warum er diese Frage stellte, aber er musste nicht lange über die Antwort nachdenken, sie kam sofort:

„Drei Mal.“

„...Dann weißt du doch, warum man es tut.“ Augenblickliche Stille. Beide wurden jetzt rot.
 

„Aber du... heißt das... du... verlangst nach mir?“

„Du weißt, ich mag das Wort nicht.“

„Ist jetzt doch egal wer das wie nennt?!“

„...“

„Also?“

„... ich weiß es nicht.“

 

Schweigend sahen sie den jeweils anderen an; keiner von ihnen rührte sich, keiner von ihnen sagte etwas; sie blickten sich nur an, quer über dem Wohnzimmer hinweg, Nocturn immer noch mit ausgefahrenen Fingernägeln. Allerdings schien es eher so, als hätte er vergessen diese zurückzuziehen, als dass sie ihm immer noch als Verteidigung dienen sollten. Das Blut hatte aufgehört zu fließen, war versiegt. Dann begann Nocturn plötzlich hohl zu lachen:

„War irgendetwas im Essen, dass du auf solche Gedanken kommst? War da etwa Alkohol in der Soße? Du verträgst ja kein Alkohol; nicht einmal die kleinsten Mengen – das würde erklären, warum du so einen Schwachsinn redest und so komische Ideen hast!“

„Nocturn, da war überhaupt nichts im Essen“, antwortete Youma ärgerlich und fuhr fort:

„Ich bin bei absolut klarem Verstand.“ Noch einmal lachte Nocturn auf:

„“Bei klarem Verstand“? Wie erklärst du dir denn, dass du bei klarem Verstand so etwas tust, so etwas sagst?“

„Das habe ich dir schon gesagt.“

„Du hast gesagt „Du weißt es nicht“ - Du weißt es nicht. Trotzdem hast du es getan, hast mich einfach im Schlaf überfallen...“

„... meine Absicht war nicht dich zu überfallen.“ Doch Nocturn hörte ihn gar nicht, oder ignorierte seinen Einwurf einfach:

„Auf die Idee so etwas zu tun wäre ich nie gekommen und mir sagt man immerhin nach, dass ich nicht immer bei klarem Verstand bin: ich habe mich White in ihrem Schlaf nie genähert. Das ist doch auch nicht sonderlich höflich! Ich dachte du seist so gut erzogen und dann überfällst du mich einfach, willst mich küssen, ohne dass ich mein Einverständnis dazu gegeben habe! Zugeben, White war auch nicht gänzlich einverstanden, aber wenigstens habe ich sie nicht im Schlaf überfallen, in so einem hilflosen Zustand...“

 

„Nocturn.“

Sofort als er seinen Namen hörte kam Nocturns schneller Wortschwall zum Stillstand und er sah auf, denn ihm unbemerkt hatte Youma sich von dem Waschbecken gelöst und war zu ihm gegangen, wo er nun auf ihn herab sah, mit einer Mischung aus Sorge und Verwirrung.

„Beruhige dich. Ich wollte dir nichts Böses.“ Nur kurz erwiderte der Angesprochene seinen Blick, ehe er weg sah. Eigentlich hatte er seine Hände zu sich ziehen wollen, wobei er nun bemerkte, dass seine rechte Hand immer noch als Waffe fungierte. Kurz sah er die Fingernägel an, dann schrumpften sie wieder mit einem leichten Zischen und er verschränkte die Arme abwehrend vor der Brust – und stellte wieder eine Frage, die Youma nicht beantworten konnte:

„Und was wolltest du dann?“ Youma seufzte aufgebend – sie drehten sich im Kreis, das war auch Nocturn klar.

„Was wolltest du denn, als du White-san geküsst hast?“ Komischerweise wurde Nocturn nicht rot als er daran zurück dachte und antwortete gefließlich:

„Beim ersten Mal ging es darum eine Verbotene Technik anzuwenden, da muss ich sie bei küssen. Beim letzten Mal habe ich sie geküsst, weil ich wusste...“ Jetzt nahm seine Stimme eine andere Gestalt an, sie wurde ruhiger, driftete ab, genau wie seine Augen.

„... dass ich sterben würde. Ich wollte, dass ihre Lippen das Letzte sein sollten, was ich fühle. Ich wollte mit diesem Gefühl sterben. Ich wollte ihr nah sein.“ Kurz schwieg er, dachte an den Moment zurück, an das Gefühl ihre Lippen zu berühren... dann lachte er ironisch auf:

„Dieses Gefühl teilte mein Engel aber offensichtlich nicht! Sie rammte mir – während dem Kuss wohl bemerkt – ihren Stab durch den Oberkörper. An der Verletzung bin ich auch gestorben; man kann es also mit Recht einen „Kuss des Todes“ nennen, haha! Und das Ganze war auch noch improvisiert, das muss man sich mal vor Augen halten. Jaja, manchmal ist das Leben das beste Theater.“

 

Nocturn hatte ein schelmisches Lächeln auf dem Gesicht; ein schelmisches, aber auch leicht trauriges Lächeln. Er war so tief in seine Gedanken versunken, dass er erst nach einigen Sekunden bemerkte, dass Youma sich zu ihm gesetzt hatte – allerdings ans andere Ende des Sofas. Die Wunde an seiner Wange hatte ihm wohl vorerst gereicht.

„So etwas hatte ich auf jeden Fall nicht vor zu tun.“ Nocturn deutete ein Nicken an:

„Das weiß ich. Ich habe aus Instinkt gehandelt, ich dachte es wäre ein Angriff.“

„Es war keiner.“ Nocturn nickte noch einmal. Wieder schwiegen sie. Nocturn wollte sich gerade etwas sagen, als Youma ihn zu vor kam.

 

„Du weißt also gar nicht wie es ist... normal geküsst zu werden.“

 

Es war keine Frage, es war eine Feststellung.

Nocturn wollte gerade lachend erwidern, dass sein Gegenüber die falschen Wörter gewählt hatte – denn eigentlich war er ja noch nie geküsst worden, er hatte jemanden küssen wollen – als ihm plötzlich schmerzlich bewusst wurde, dass es eigentlich nicht sonderlich witzig war.

 

Und plötzlich tat es weh, schrecklich weh – als würde all die Abneigung und all der Hass Whites ihn auf einmal treffen und zu Boden werfen.

Er spürte ein verräterisches Brennen in den Augen zusammen mit dem drängenden Bedürfnis sich in seinem Zimmer zurückziehen zu wollen. So sollte ihn niemand sehen. Niemand.

 

Aber dann legte Youma seine Hand auf seine. Nocturn zuckte zusammen, aber dieses Mal erfolgte kein Angriff. Dieses Mal ging alles langsam, zögerlich – es war kein Instinkt, der ihn dazu brachte langsam den Kopf zu heben und Youma in die schwarzen Augen zu sehen.

„...bevor du mich jetzt noch einmal angreifst... darf ich?“

„...Mon Dieu.“

 

Es war nur ein kleines Flüstern, denn mehr konnte Nocturn nicht sagen, zu mehr war er nicht fähig. Aber es war ein Nicken. Klein, nur angedeutet, aber Youma verstand. Nocturn verstand es allerdings nicht; verstand nicht gänzlich was im Begriff war zu geschehen; er spürte nicht bewusst, wie er kurz zur Seite sah, Youmas sich ihm nähernde Augen auswich, ehe er seine Augen schloss und er von Dunkelheit und Wärme aufgefangen wurde.

 

Diese beiden Worte hatte er noch nie miteinander in Verbindung gebracht... was für eine komische, eigenartige, nicht zusammen gehörende Konstellation.  

 

Zuerst wusste Nocturn nicht was geschah. Es war so vollkommen anders geküsst zu werden, als jemanden anderen zu küssen... ihm die Zuneigung aufzuzwingen... zu wissen, der andere wollte es eigentlich gar nicht, man zwang ihn zu etwas... tat es gegen seinen Willen.

Wie warm ein Kuss sein konnte! Die Wärme löste Zentimeter für Zentimeter die Starre seines Körpers auf und als Youmas Finger Nocturns nun fest mit seinen umschlungen hielten, legte Nocturn ihn den freien Arm um den Nacken, zog ihn zu sich, überraschte Youma dabei offensichtlich, denn er brach den Kuss kurz erstaunt ab – nicht aufhören – nicht aufhören – diese Nähe, diese Wärme, diese Zuneigung – sie war zu schön, zu schön um wahr zu sein; wie sehr hatte er sich nach etwas gesehnt, wovon er gar nicht wusste, dass es existierte...

 

Als sie sich voneinander lösten, fragte Youma nicht, was mit Nocturn los war. Er ließ ihn protestlos gewähren als sein Partner seine Arme um seinen Nacken schlang und kommentierte dessen ersticktes Weinen an seiner Schulter nicht.

 
 

 
 

Denn Nocturn war aus Glas.
 


 

Die Glasseele

 

 

„Du bist wirklich nah am Wasser gebaut.“

Ganz ohne Kommentar hätten sie sich an diesem Abend auch nicht voneinander trennen können; besonders da Nocturn lange gebraucht hatte, um sich wieder zu beruhigen. Erst als sie beide auf jeweils ihrer Seite des schwarzen Sofas saßen, kam er langsam wieder zur Ruhe, kam zu sich selbst. Youma grinste ein wenig über seinen eigenen neckischen Kommentar und nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee; Nocturn hatte seinen eigenen bis jetzt unberührt gelassen, obwohl er eigentlich der Kaffee-Trinker von ihnen war. Aber Kaffee hatte einen starken, dominierenden Geschmack und Nocturn fürchtete, dass... wenn er ihn trank, das Gefühl der Nähe, die er gerade mit Youma geteilt hatte, getilgt werden würde, als wäre es nur eine Illusion gewesen, bloßes Wunschdenken – obwohl es niemals ein Wunschgedanke gewesen war, denn Nocturn wäre nie auf den Gedanken gekommen, so etwas mit Youma zu teilen. Niemals.  

„Ich bevorzuge die Formulierung, dass ich emotional bin – und daran sehe ich nichts Verwerfliches“, erwiderte Nocturn darum bemüht, normal zu klingen. Aber was war jetzt noch normal?

Youma lachte als Antwort. Er hatte an diesem Abend wirklich oft gelacht, viel gelächelt – es musste wirklich eine große Bürde von ihm gefallen sein, als die Allianz geglückt war.

 

Und das war es auch. Endlich war etwas gelungen; endlich war ein Plan in die Tat umgesetzt worden, war von keinen Unregelmäßigkeiten gestört oder gar zerstört worden. Die ganze Arbeit hatte sich ausgezahlt und es war sogar besser verlaufen, als Youma es zu hoffen gewagt hatte. Lacrimosa hatte recht gehabt und im Endeffekt war es sogar tatsächlich ein Stück weit Nocturns Verdienst, dass es so gut verlaufen war; es war eine gute Idee gewesen, auf dessen Gefühl zu vertrauen, anstatt dem Plan strikt zu folgen.

Sie hatten jetzt viel zu tun.

Aber nicht mehr an diesem Abend, weshalb Youma sich zu Nocturn herumwandte und ihm gerade eine „Gute Nacht“ wünschen wollte, als er dann jedoch plötzlich überrumpelt wurde.

 

„Ich will mehr.“

 

Sofort verschwanden alle strategischen Gedanken als Youmas Herz sich umgehend beschleunigte, denn er kannte diesen Tonfall, wusste, was diese Worte bedeuteten. Den Kaffee hatte Nocturn unberührt auf den Stubentisch gestellt, seine Augen leuchteten eigenartig im von gelb und lila geprägten Halbdunkel des Raumes und obwohl es dennoch relativ dunkel war, erkannte Youma deutlich, dass Nocturns Gesicht rot geworden war – oder immer noch war – und fast war ihm, als könnte er seinen Herzschlag hören, oder war es sein eigener?

„Nocturn, du... bist du dir... sicher, dass du das willst?“

Es gab dann kein Zurück mehr; unaufhaltsam kein Zurück mehr.

 

Nocturn war sich aber offensichtlich sicher und Youma hatte kurz bei all der schüchternen Röte und der verzagten Tränen fast vergessen, dass es sich bei Nocturn um einen Dämon handelte, welcher nicht nur gut kämpfen konnte, sondern auch recht schnell war.

Aber er stellte sich ungeschickt an – ja, woher sollte denn auch die Erfahrung kommen – und als Nocturn auf ihn zustürzte, um ein weiteres Mal diese ihm unbekannte Wärme zu verspüren, warf er Youma stattdessen zu Boden, da dieser mit der Hand weggerutscht war.

Ein dumpfer Schmerz am Hinterkopf teilte Youma mit, dass er beim Sturz die Tischkante gestreift hatte, was Nocturn allerdings nicht aufgefallen war; er war bereits zu sehr in deren Kuss versunken und auch Youma gab sich nun nach der ersten Überraschung dem wohltuenden Gefühl hin, ihm dabei die Haare zärtlich aus dem Gesicht streifend und es war ihm, als könnte er Nocturn während des Küssens lächeln spüren.

 

Aber wenn er dahin wollte, wo Youma sich sicher war, dass er sie hinführen wollte, dann stellte er sich ungeschickt an – aber gut, vielleicht wusste er es auch einfach nicht besser, wusste nicht, dass es noch eine andere Art des Küssens gab---

„Nocturn“, stieß Youma ein wenig atemringend hervor, nachdem er das Abbrechen des Kusses forciert hatte.

„Blue, er... er könnte jeden Moment zurückkommen. Es ist schon spät.“ Youma sah Nocturn deutlich an, dass er überrascht war, Blues Namen zu hören und er schien ihm auch nicht folgen zu können.

„Ja. Ja - und?“

„Ja, willst du denn, dass er uns ... so sieht?“, antwortete der Untenliegende eine Spur verärgert, deutlich röter werdend und da Nocturn ihm immer noch nicht folgen konnte, formulierte er seine Bitte anders:

„Versuch mit deinem Gedankenlesen darauf zu achten und sag Bescheid, wenn er sich nähert.“

„Ja – ja, von mir aus, aber wies-“

 

Weiter kam Nocturn nicht, denn Youma wollte nicht länger warten. Um einiges geübter schlang Youma den einen Arm um Nocturns Nacken und küsste ihn abermals, ehe er den anderen Arm um dessen Hüfte legte, um ihn zu sich herunter zu drücken – wie schmal er war! Kurz schoss Youma der Gedanke durch den Kopf, das ganze doch lieber abzubrechen; er würde Nocturn noch kaputt machen, so dünn und zerbrechlich wie er war... nein, er würde aufpassen, würde auf ihn Acht geben. Er war es nicht, der diese gläserne Existenz zerstören würde und er würde auch nicht zulassen, dass andere es taten.

 

Huh? Woher kam dieser Gedanke so plötzlich? Woher kam dessen Stärke, dessen Zuversicht?

 

Genau wie Youma es vermutet hatte, hatte Nocturn tatsächlich nicht gewusst, dass es noch andere Arten des Küssens gab – obwohl er selbst die Augen geschlossen hielt, spürte er regelrecht, wie Nocturn sie überrascht wieder öffnete. Aber er wehrte es nicht ab; war nur kurz in die Defensive gegangen, ehe er Youma gewähren ließ und sich ebenfalls langsam lernend vortastete.

Aber dann kam der Abbruch.

 

Youma hatte seine Hand unter Nocturns langes – ihm war vorher noch nie aufgefallen, wie lang es eigentlich war – Oberteil geschoben, flüchtig und nur für einen kurzen Augenblick seine Haut berührt, als Nocturn sich abrupt und wie auf Knopfdruck von Youmas Lippen löste, indem er den Kopf hochriss.

„Was... was tust du da?“ Youma verstand nicht, warum er abbrach; war es nicht ganz klar, was er vorhatte?

„...Du hast zu viel an“, erwiderte er errötet, aber mit leichter Ärgernis in der Stimme, denn er mochte es nicht, über solche Dinge zu reden; sie auszusprechen gehörte sich nicht. Aber er schien es tun zu müssen, denn Nocturns Gesicht zeigte heillose Verwirrung.

„Ich komme an nichts heran, wenn du dich hinter so viele Kleidungsschichten verbirgst.“ Weiterhin Verwunderung.

„Du kommst an nichts...“

Dann kam die Erkenntnis.

 

Nocturn sprang hoch, schockiert, verärgert - und... angeekelt? – und entfernte sich umgehend von dem ziemlich überrumpelten Youma, welcher überhaupt nicht verstand, was gerade geschah.

„Oh mein Gott!“, entfuhr es Nocturn aufgebracht, sich rückwärts stolpernd von Youma entfernend:

„Oh mein Gott – du... du willst Sex!“

„Nenn es doch nicht so schamlos beim Namen! Und sowieso – du wolltest es, du hast gesagt, du willst „mehr“!“

„Ja, aber doch nicht das! Ich wollte mehr, mehr fühlen – ich wollte, dass du mich noch einmal küsst und noch einmal, damit ich die Wärme besser in mir speichern kann, ich sie nicht vergesse, um mir sicher zu sein, dass es keine Illusion war, dass ich es mir nicht eingebildet habe...“ Er war an der von Youma am weitesten entfernten Wand angelangt. Er stieß mit dem Rücken gegen diese und bemerkte somit, dass er sich nicht weiter von ihm entfernen konnte und während Youma sich nun stirnrunzelnd aufsetzte, verschränkte Nocturn in stärkster Abwehr seine Arme vor seiner Brust.

Youma grummelte etwas und musste sich zurückhalten, nicht zu fluchen; es war also ein Missverständnis, ein überaus, überaus peinliches, aber ein Missverständnis, gut – aber Nocturns sehr heftige Reaktion beleidigte ihn dennoch. Vor ein paar Sekunden noch war er so...erpicht darauf gewesen, das Erlebnis zu intensivieren und jetzt war Youma sich sicher, dass er Ekel in Nocturns blassem Gesicht sah. Warum? Und da war mehr, da war ... regelrecht Angst.

„Mein Gott, Nocturn, man sollte meinen, du hättest noch nie ...“ Und dann überkam ihn die Erkenntnis; sie traf den Sensenmann so heftig, dass er sich am liebsten die Hand gegen die Stirn geworfen hätte, weil er vorher noch nie darauf gekommen war. Er war mit seiner Sexualität aufgewachsen; er und Silence hatten sie zusammen erforscht – sie war immer ein Teil seines Lebens gewesen und sie war ihm so natürlich, dass er nie auch nur einen Augenblick darüber nachgedacht hatte, dass Nocturn – der immerhin älter und auch dämonischer war als er – noch nie ...

 

„Du hast noch nie mit jemandem das Bett geteilt. Du besitzt deine Unschuld noch.“ Youma erwartete, dass Nocturn rot werden würde, aber das tat er nicht. Er war nach wie vor blass.

„Ja, ich habe noch nie Sex gehabt und es interessiert mich auch ni...“

„Aber natürlich, warum bin ich selbst noch nie darauf gekommen, es ist doch so deutlich! – Und nenn es nicht beim Namen, das ist unverschämt und gehört sich nicht – ich meine, mit wem hättest du auch? Ich muss zugeben, ich dachte immer, du hättest White-san vergewaltigt...“

Wie bitte---?!“

„... immerhin hätte sie sich dir nicht freiwillig gefügt und bei deiner starken Obsession bin ich einfach davon ausgegangen. Aber nun ist mir klar, dass das ein wahrer Fehlgedanke war. Mein Gott, das erklärt so einiges!“

„Und dich wollte ich küssen ...“ Nocturn seufzte wütend und himmelte aufgebend mit den Augen, ehe er sich wieder an Youma richtete, welcher ganz begeistert war von seiner Erkenntnis.

„Am liebsten würde ich die Erinnerungen von uns beiden löschen, aber das kann ich ja leider nicht. Also lass uns uns darauf einigen, dass wir es einfach vergessen. Es ist nichts passiert. Gar nichts.“ Das brachte Youma dazu, aufzuwachen, aber er hatte scheinbar den Sinn hinter Nocturns Worten nicht ganz verstanden.

„Willst du denn gar nicht wissen, wie es ist?“

„Nein.“

„Du hast nur Angst, das ist beim ersten Mal normal, aber das brauchst du nicht zu haben. Ich werde auf dich aufpassen.“ Jetzt wurde Nocturn rot, allerdings aus Ärgernis, statt aus Scham.

Danke, aber ich verzichte.“ Aber so schnell gab Youma nicht auf: er verstand nicht, konnte nicht verstehen, warum Nocturn sich so sträubte, wenn er ihm doch offensichtlich nicht abgeneigt war – wo also war das Problem? Glaubte Nocturn ihm etwa nicht? Oder ging es ihm um etwas anderes... er hatte erst abwehrend reagiert, als Youma seine Haut ...

 

Und plötzlich durchspülte Youma die eiskalte Erkenntnis.

Nocturns Narben. Seine Abwehr. Dass er ihn sofort angegriffen hatte, nur weil Youma sich über ihn gebeugt hatte... seine Skepsis, sein Ekel, seine Angst.

 

Youmas Lächeln war dahin, er verbarg seinen Mund nun hinter seiner Hand, um ein Aufkeuchen zu unterdrücken. Aber warum schockierte ihn diese Erkenntnis, von welcher er sich sicher war, dass sie wahr war? Vergewaltigung war normal in der Dämonenwelt; es war nichts Ungewöhnliches. Nocturn war nicht der einzige, der vergewaltigt worden war – man musste sich nur lange genug in Lerenien-Sei aufhalten, dann würde man schon schnell ein Kind finden, welches Rettung vor einem sexuellen Übergriff benötigte. Aber waren diese Narben auf seinem Körper auch normal? Es war lange her, dass Youma sie bei Nocturns Wiederbelebung gesehen hatte, aber er erinnerte sich noch deutlich daran, wie überrascht er über die Menge und deren systematischen Platzierung gewesen war.

 

„Nocturn... kann es sein, dass du... vergewaltigt worden bist?“ Youma wusste, dass er die Frage eigentlich nicht stellen brauchte oder durfte – war das nicht ein Thema, über welches man nicht reden wollte, welches man tief in sich vergrub? Aber es war ihm ein Bedürfnis, es auszusprechen, wirkliche Gewissheit zu bekommen... auch wenn das wahrscheinlich egoistisch war.

Nocturn jedoch blieb ruhig. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich kaum; nur seine Zornesröte verschwand.

„Ich habe dir doch schon einmal gesagt, dass ich mich an nichts vor meinem 17. Lebensjahr erinnern kann – ich erinnere mich also nicht an irgendeine Vergewaltigung. Aber ja, ich habe auch schon mal darüber nachgedacht, ob ich es vor meinem 17. Lebensjahr mal wurde. Kann sein. Weiß ich nicht. Und ich will es auch gar nicht wissen.“ Kurz hatte Nocturn weggesehen, hatte aus dem Fenster gesehen, seinen Blick in dem nächtlichen Leuchten des Eiffelturmes verloren.

„Fakt ist – und ich weiß, das kannst du dir schwer vorstellen, ich erwarte es auch nicht – dass ich nie Lust nach sexuellem Verkehr verspürt habe. Menschen nennen das asexuell. Die Dämonen haben viele weitere, weniger schmeichelhafte Worte dafür. Es wäre also für unsere Pläne gut, wenn du es für dich behältst. Sexualität und Macht gehen in Enfer einfach zu sehr Hand in Hand... hm? Was siehst du mich denn so mitleidig an?“ Überrascht über Nocturns Worte schreckte Youma auf; hatte er ihn mitleidig angesehen? Wahrscheinlich; er spürte auf jeden Fall das Mitleid in sich hochkommen.

„Das ist keine Krankheit, Youma.“ Der Angesprochene deutete ein nachdenkliches, nicht unbedingt verständnisvolles Nicken an, doch sagte vorerst nichts.

 

„...es tut mir leid. Das alles. Es war nicht meine Absicht, dass du dich unwohl fühlen musst.“ Sie waren sich jetzt wieder näher; das Wohnzimmer lag nicht mehr zwischen ihnen, denn Youma war auf ihn zugegangen – allerdings sehr langsam, als wäre Nocturn ein schreckhaftes Tier, das bei einer zu hastigen Bewegung verschwinden könnte. Nocturn ergriff allerdings nicht die Flucht; er stand immer noch an der Wand, die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt.  

Er antwortete nicht sofort.

Seine Augen drifteten zuerst wieder an einen Youma nicht zugänglichen Ort.

Er war stehen geblieben und sah nun förmlich dabei zu, wie Nocturn langsam röter wurde.

 

„Das Küssen... das Küssen mochte ich. Das mochte ich sehr. Beide... Varianten.“

 

Youma wollte gerade erleichtert aufatmen – wenigstens war nicht alles für ihn unangenehm gewesen – doch wurde von Nocturn abgelenkt, der sich nun endlich von der Wand löste und auf seinen Partner zuging. Erst kurz vor ihm blieb Nocturn stehen und einen Augenblick lang – vielleicht auch mehrere Minuten – waren sie in die unterschiedlichen Augen ihres Gegenübers vertieft, als sähen sie sie zum ersten Mal.

Und ganz plötzlich, als hätten sie etwas gesagt, anstatt sich nur in den Augen des anderen zu verlieren, legte Youma die Arme um Nocturns Hüfte und Nocturn seine um Youmas.

 

Stirn und Stirn berührten sich, die schwarzen Haare vermischten sich und es wurde still.

 

Bis Nocturns stille, fast geflüsterte Worte das einstimmige Schweigen brachen.

„Wir können uns auf einen... Kompromiss einigen.“ Youma bewegte kurz lächelnd den Kopf von der einen Seite zur anderen.

„Es ist schon gut, Nocturn.“

„Ich meine es ernst.“ Dass er das tatsächlich meinte, verstand Youma auf einmal, als er in den Augen Nocturns wieder etwas aufleuchten sah; ein kleines, flackerndes Licht, versteckt in dem roten Meer seiner alles durchbohrenden Augen.

„Wenn wir es tun – und ich sage jetzt mit Absicht nicht das Wort, denn das magst du ja nicht – dann verlange ich...“ Seine Entschlossenheit kam ins Wanken, seine schüchterne Unerfahrenheit kam wieder zum Vorschein, aber Youma zeigte Geduld:

„... dass du mich die ganze Zeit ansiehst und mich dabei...“ Seine Stimme brach ab; seine Augen flüchteten kurz wieder – war er schon immer so liebenswert gewesen? Gott, was dachte er hier eigentlich... das war doch Nocturn…

„... küsst. Und nur zum Luftholen aufhörst.“ Das brachte Youma zum Grinsen. Er konnte gar nicht anders.

„Das klingt wie eine Kampfbedingung.“ Auch Nocturn musste grinsen:

„Was für eine unromantische Formulierung – und das von jemandenm wie dir!“

„Wer von uns hat denn mit den Bedingungen angefangen ...“

 

 

Die weitaus größte Hürde waren Nocturns Kleider – beziehungsweise ihn dazu zu bringen, aus diesen heraus zu kommen. Zuerst hatte er sich den langen Rollkragenpullover selbst ausziehen wollen, dann entschied er sich um, woraufhin sein Selbstbewusstsein so sehr zusammenzubröseln schien, dass Youma ihn schon dazu zwingen wollte, das ganze abzubrechen, da er es nicht ertrug, Nocturn so klein und ängstlich zu sehen – es war so gar nicht er... oder doch? Gehörten all diese wahrlich sehr unschönen Narben zu ihm wie seine Skeletthände zu ihm gehörten, zu diesem emotionalen Dämon, der an seiner Schulter geweint hatte, zu dem gleichen Dämon, der boshaft über das Leid anderer lachen konnte, es liebend gerne mit großer Verspieltheit und Kreativität selbst verbreitete? Gehörte all das zu ihm, war all das das Wesen, dass er seinen Partner nannte, das Wesen, mit dem er diese Intimität teilte... war all das Nocturn?

 

Es war Youma ein dringendes Bedürfnis, seine vorigen Aktionen wieder gut zu machen, denn er wollte, dass Nocturn sich mit ihm sicher fühlte – immer wenn er zurückzuckte, das kleinste Anzeichen von Angst zeigte, war Youma da, um ihn zu beruhigen, ihm zu vergewissern, dass alles in Ordnung war, dass er nicht vor Nocturns dürrem Körper zurückschauderte und die Narben ihn nicht abstießen – und dass er ihm nicht wehtun wollte. Es war ein kompliziertes Unterfangen – aber als sie in der Morgendämmerung erschöpft atmend nebeneinander auf dem warmen Teppichfußboden lagen, da wurde Youma bewusst, dass er es selten so intensiv erlebt hatte.

 

Schweigend lagen sie nebeneinander, den Kopf zueinander gedreht, die Arme über Kreuz, wieder einfach nur ansehend.

 

Nocturn grinste, erschöpft, aber ziemlich erfreut, wie Youma erleichtert feststellte.

„Was hat uns da eigentlich geritten?“ Für ein Grinsen war Youma zu müde, er lächelte daher nur:

„Das weiß ich nicht.“

„Das ist wohl das Motto des Abends.“

„Es dämmert, Nocturn.“

„Na, dann eben des Tages.“

 

Eine Weile noch blieben sie liegen, bis Nocturn sie beide daran erinnerte, dass nicht Blue nun die Person war, die sie entdecken könnte, sondern Feullé, welche bald aufstehen würde. Dem konnte Youma nicht viel entgegensetzen, doch er hatte es nicht so eilig sich wieder anzuziehen wie Nocturn es hatte. Er setzte sich vorerst nur auf, genoss die ersten, zarten, Sonnenstrahlen des Tages auf seiner Haut und schloss kurz seine Augen – bis ein etwas schmerzhaft klingendes Stöhnen sie wieder dazu brachte, sich hastig zu öffnen.

 

„Habe ich dir doch wehgetan?“ Er war selbst kurz überrascht, wie besorgt seine Stimme klang, aber Nocturn reagierte auf diese Besorgnis mit unwirschen Worten, während er seine Kleidung umständlich zusammensammelte, da er dabei versuchte, so wenig wie möglich von seiner Haut sehen zu lassen:

Bon sang, Youma! Mir wurde einmal fast mein Arm abgerissen, Lerou wollte meine Beine brechen, White hat mir ihren Stab durch den Oberkörper gestoßen und ich habe so oft Lichtintus gehabt, dass ich es nicht mehr zählen kann.“ Er sah über seine spitze Schulter zu Youma und fügte mit einem sarkastischen Grinsen hinzu:

„Ich denke, ich überlebe es. Ich bin doch nicht aus Glas.“

 

Doch. Doch. Genau das war er.

 

Aber Youma sagte es nicht. Er himmelte mit einem leichten Lächeln mit den Augen, ehe er Nocturn seinen Rollkragenpullover zuwarf, den er mit den Füßen hätte heranfischen müssen. Dann zog auch er sich an – und das genau rechtzeitig, denn kaum, dass er sich angezogen hatte und er Nocturns Lippen noch einmal mit seinen berührt hatte, hörten beide, wie sich Feullés Zimmertür öffnete und wie sich ihre langsamen, kleinen Füßchen in Richtung Wohnzimmer bewegten, um wie jeden Morgen den Kaffee aufzusetzen.

 

Bon jour, Ma’Petit!“ Feullé verharrte sofort; sie errötete standardgemäß, als sie Nocturn sah, aber ihre müden Augen, aus denen sie gerade noch den Schlaf gewischt hatte, weiteten sich, als sie Youma und Nocturn beide im Wohnzimmer sah – und Youma schoss ein unangenehmer Gedanke durch den Kopf: hatte sie es gemerkt? So schnell?! Oder wunderte sie sich nur darüber, dass Youma, der am längsten von allen schlief, schon wach war?

Was auch immer sie dachte, sie sprach es nicht aus. Sie ließ sich von Nocturn anstrahlen, sah immer wieder weg, weil ihre Röte einem direkten Blickkontakt nicht standhielt und ging dann ihrer morgendlichen Routine nach – allerdings kam es Youma so vor, als würde sie ein paar Blicke mehr als üblich Richtung Youma werfen.

 

Der Kaffee kochte, Feullé hatte sich ins Badezimmer begeben und Nocturn zog sich seine Stiefel an, um wie jeden Morgen seine Zeitung an der Metrostation Bir Hakeim zu holen. Und Youma hatte das Gefühl, als würde er einfach stillstehen. Sein Körper sowie seine Gedanken.

 

Bis Nocturn seine Gedanken schneller und brutaler wieder in Bewegung brachten, als ihm lieb war:   

„Was ist eigentlich mit Silence?“

„Mit...Silence?“, wiederholte Youma. Seine Stimme wurde heiser.

„Ja, deiner Verlobten.“ Ein erstickter Schrei entfloh ihm, als er verstand, worauf Nocturn hinaus wollte und für einen Augenblick sah es so aus, als würde er sich am liebsten aus seiner eigenen Haut heraus teleportieren wollen.

„Oh Gott, Silence! Was habe ich...“ Ohne weitere Worte stürzte Youma in sein Zimmer und ließ Nocturn, welcher ihm halb lachend, halb seufzend hinterher sah, im Gang zurück.

 

 

Sollte er beleidigt sein?

Vielleicht.

Aber er war es nicht.

 

 
 

Denn jetzt kannte seine gläserne Seele das Gefühl, von jemandem berührt zu werden, der ihn nicht hasste.
 

 

 

        

 

 

    

 

  

 

La Neige

„Wieder zwanzig mehr im Laufe der letzten zwei Tage.“ Noflieke machte sich nicht die Mühe, die Richtigkeit dieser Worte zu überprüfen; sie hätte sich über die Schulter ihres Bruders lehnen können, um die Dokumente zu lesen, die er gerade nebenbei studierte, doch sie war des Lesens ohnehin nicht mächtig, also vertraute sie Shonas Urteil und antwortete griesgrämig:

„Die sind doch alle bekloppt.“ Shona war es vollkommen egal, ob die neuen Hordenmitglieder bekloppt waren oder nicht; sie traten ihrer sehr geschrumpften Horde bei, das war alles, was für ihn erst einmal wichtig war; warum sie es taten war etwas, worüber sie sich jetzt keine Gedanken machen brauchten – oder konnten. Denn ihre Horde war mittlerweile so klein, dass sie froh sein konnten über jedes neues Mitglied. Das bedeutete natürlich nicht, dass Shona es nicht nachvollziehen konnte, dass Noflieke es beschämend fand, dass der Zuwachs nicht ihnen zu verdanken war, sondern ihren neuen Allianzpartnern. Sie konnte ihnen nach wie vor nichts abgewinnen und obwohl die Allianzgründung zwei Monate zurücklag, ließ sie ihren Bruder immer noch spüren, dass sie deswegen wütend auf ihn war. Das war auch der Grund, weshalb Shona lieber nichts sagte und seinen Blick über das neu ernannte Trainingsareal schweifen ließ. Genau wie einige andere Schaulustige – die darum wetteten, wer gewinnen würde – beobachtete er kurz den Schlagabtausch Youmas und Nocturns, staunte mit leiser Eifersucht darüber, wie flink ihre Beinarbeit war und dass sie, scheinbar ohne bewusst darauf zu achten, die Oberfläche des giftigen Wassers bis jetzt kein einziges Mal berührt hatten.

 

Shona wollte sich gerade kopfschüttelnd wieder seiner Arbeit zuwenden, als ein beeindrucktes Raunen ihn ablenkte, weswegen er kurz über seine Papiere schielte. Nocturn war es wieder einmal gelungen, Youmas Kehle zu packen.

„Wie langweilig“, urteilte Noflieke, aber diese Auffassung teilten andere Dämonen nicht und  Shona hörte, wie die wenigen, die auf Youmas Sieg gesetzt hatten – er war immerhin ein Wächter und wer setzte schon auf einen Wächter – unter lautstarken Beschwerden ihren Wetteinsatz übergaben.

„Nocturn-sama ist einfach der Beste: eigentlich wäre dieser Wächter doch schon längst tot!“

„Ja, aber er ist es ja nun einmal nicht ...“

„Das liegt an seiner Aura. Die darf man nicht unterschätzen.“

„Nein, das ist Gnade.“

„Gnade, so’n Quatsch!“

„Nein, nein – sie sind doch Partner ...“  

Davon bekamen die beiden Kontrahenten nichts mit; sie waren zu weit weg, um darauf zu achten, was andere Dämonen über sie sagten, obwohl Youma es natürlich brennend interessiert hätte.

„Du lässt immer deine Kehle ungeschützt. Weißt du eigentlich, wie leicht es jetzt wäre, dich umzubringen? Wie viele Tötungsmöglichkeiten ich gerade habe?“ Statt seine Drohungen wahr zu machen, ließ Nocturn Youmas Kehle allerdings los und beide sprangen auseinander, jeder auf den eigenen aus dem grünen, trüben Wasser herausragenden Pfahl, wobei Youma seinen Kragen wieder richtete.

„Selbst wenn ich dir den Kopf nicht abreißen würde – was nur mit ordentlich Schwung oder dem Einsatz von Magie möglich ist, je nachdem wem die Kehle gehört – haben wir da noch die Luftröhre und natürlich die Wirbelsäule... und ich für meinen Teil habe ja auch noch meine Fingernägel, mit denen ich dich aufspießen könnte. Und natürlich dürfen wir das klassische Erwürgen nicht vergessen, was allerdings unter Dämonen als Tötungsmethode nicht so beliebt ist – zu wenig Blut – aber als Druckmittel gerne angewandt wird.“ Youma konnte nicht umhin, über diese lange und ausführliche Erklärung zu Grinsen:

„Dein Sieg gefällt dir, was? Ich glaube, er steigt dir ein wenig zu Kopf.“ Nocturn deutete ein Zucken mit den Achseln an, was wohl bedeuten sollte, dass er es nicht verneinen konnte und wenn er die Gelegenheit erhielt, Youma belehren zu können, dann tat er es auch – ohja!

„Irgendwie haben sie sich verändert“, gab Noflieke zu bedenken, während Youma und Nocturn sich darüber stritten, wer während des Kampfes die Oberhand gehabt hatte. Shona antwortete nicht, da Youma sich nach der Diskussion mit seinem Partner zu Shona herüber teleportiert hatte und ihn sofort durch ein Gespräch über die letzte Konferenz mit den Hohen in Beschlag nahm.

 

 

Noflieke lag allerdings falsch. Es hatte sich eigentlich gar nichts verändert. Während Youma sich politisch interessiert zeigte, versuchte Nocturn, sich an den Dämonen interessiert zu zeigen – jedenfalls zehn Minuten lang, ehe er wie ein ungeduldiges Kind verlangte, nach Paris zurückzukehren. Dort angekommen würden sie zusammen ein Crepé essen, dabei über das Training reden und wenn Youma nicht gerade versuchte, Nocturn für die Politik zu begeistern, dann würden sie in ihr Appartement zurückkehren, vorerst getrennte Wege gehen, um sich dann abends beim Abendessen wieder an der gewohnten Küchenbar zu treffen. Danach dann würde Nocturn in der Stube einschlafen, während Youma noch über seiner Arbeit brütete und einen Kaffee trank.

 

Es war alles normal.

Es hatte sich nichts verändert.

Sie stritten und diskutierten. Sie planten und führten aus. Sie kämpften, gewannen mal und verloren mal. Und manchmal entfloh dem einen ein Grinsen, dem anderen ein Lächeln.

 

Sie hatten kein Wort darüber verloren, was geschehen war. Fast so... als wäre nie etwas geschehen.

 

Aber Youma wusste, dass etwas geschehen war. Nocturn mochte sich vielleicht keine Gedanken darüber machen, weil er zufrieden war mit dem, was er bekam und bekommen hatte, aber Youma spürte, dass etwas geschehen war ... und dass etwas aufgetaucht war, was vorher nicht so war. Er spürte es an Abenden wie diesem, wenn Nocturn eingeschlafen war und Youma kurz aufsah, weil er zu erschöpft war, um sich auf seine Dokumente zu konzentrieren. Diese Minuten waren es, die das verräterische Lächeln auf seinem Gesicht hervorbrachten, wenn er zu dem friedlich schlafenden Nocturn herüber sah.

Es schlich sich auf sein Gesicht, ganz ungewollt und ungefragt.

Aber Youma schob es beiseite. Immer und immer wieder.

Er war verlobt. Er liebte Silence.

Daher gehörte das Bedürfnis, Nocturn zu berühren, seine Haare aus seinem Gesicht zu streichen, sich womöglich noch einmal über ihn zu beugen, um herauszufinden, ob er ihn noch einmal angreifen würde ...  all das gehörte verboten. Es war einmal geschehen – und das eine Mal war schlimm – nein, nein, unverzeihlich – genug gewesen.

Also schob Youma solche Gedanken immer wieder in den Hintergrund.

Irgendwann würden sie schon verschwinden.

 

Und dann wandte Youma sich wieder seiner Arbeit zu.

  

 

Es geschah nicht an diesem Abend. Es geschah auch nicht am darauffolgenden Abend. Es geschah, als der Winter kam und Paris in Weiß kleidete, während Nocturn und Youma immer stärkere Präsenz in der Dämonenwelt zeigten und die Unzufriedenheit der Hohen wuchs. An diese politischen Dinge dachte Youma, einen neuen Füller über seinen Fingern hin und her wippend, mit den Gedanken gänzlich in der roten Welt. In Paris schneite es stark; der Eiffelturm war durch das Fenster nur an gelben Funken auszumachen und jedes Geräusch, das Youma - als der einzige, der im Appartement wach war - verursachte, schien dumpfer, stiller zu sein. Selbst sein Atem ging unter.

 

Youma war so in seine Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, dass Nocturn schon länger wieder wach war. Er war liegen geblieben, die Hand ein wenig von sich ausgestreckt und über die Kante des Sofas hängen lassend und ebenfalls in Gedanken versunken, während er in das weiße Schneegestöber hinausblickte.

 

„... Schnee stimmt mich melancholisch.“

Youmas Gedankengänge wurden unterbrochen und überrascht sah er zu dem liegenden Nocturn herab, welcher immer noch den Schnee beobachtete, aber bemerkt hatte, dass Youma ihn ansah.

„Ich glaube, ich verbinde irgendeine verlorene Erinnerung mit Schnee. Deswegen ruft der Schnee etwas in mir empor, weckt etwas in mir ... die Erinnerung sehe ich zwar nicht mehr, aber die Traurigkeit fühle ich wie ein Echo.“ Youma wusste nicht, was er dazu sagen sollte und das spürte Nocturn, weshalb seine Augen kurz zu ihm herüber huschten und er mit einem leichten Grinsen sagte:

Pardon, dass ich dich gestört habe. Arbeite weiter, ich versuche, wieder zu schlafen.“

 

Aber Nocturn schlief nicht wieder – keiner der beiden hatte wirklich damit gerechnet – und Youma war daher auch nicht sonderlich überrascht, als Nocturn ihn nach dem Verstreichen mehrerer Minuten wieder ansprach, mit einem fast schon entschuldigenden Tonfall:

 

„Youma?“

„Ja, Nocturn?“

 

Nocturn antwortete nicht sofort, aber Youma sah, dass er kurz lächelte, als er seinen Namen gesagt hatte – nur kurz, dann verschwand es wieder, denn das Thema, was er ansprechen wollte, war ernst, das war Youma bewusst, weswegen er auch den Füller beiseitelegte.

 

„Wenn ich die Hilfe eines Freundes bräuchte ... wärst du dann derjenige, der mir helfen würde?“

 

Die Antwort folgte ohne Umschweife, ohne ein Nachdenken, ohne Zögern:

 

„Das wäre ich.“

Youma konnte sich keinen Begriff davon machen, wie unendlich erleichtert und froh Nocturn über diese klare und unbeirrte Antwort war. Das Thema hatte ihm den ganzen Tag schwer im Magen gelegen; er hatte versucht, es sich nicht anmerken zu lassen und da Youma mit seiner Strategie beschäftigt gewesen war und sich unter anderem mit Shona und Lacrimosa getroffen hatte, um die nächsten Schritte zu besprechen, war es niemandem aufgefallen; außer Feullé, aber sie hatte sich nicht getraut, es anzusprechen. Doch obwohl es ihn wahrlich bedrückt hatte, kam es nun leicht von seinen Lippen:

„Ich habe heute einen Brief von einer Anwaltskanzlei bekommen.“

 

Youma runzelte die Stirn, denn ein menschliches Thema hatte er nicht erwartet. Solche Dinge besprach Nocturn – wenn er sie nicht alleine klärte – eigentlich mit Feullé oder Blue. Warum bat er ihn da um Hilfe? Und wie sollte er bei menschlichen Angelegenheiten überhaupt eine Hilfe sein?

 

„In dem Brief steht, dass ich geerbt hätte ... es sieht so aus, als würde mir nun ein Haus in einem kleinen Dorf namens La Roche in der Nähe von Cherbourg-Octeville gehören.“

Bis zu diesem Augenblick hatte Nocturn ihn nicht angesehen; jetzt tat er es aber und die Blicke der beiden trafen sich. Youma verstand nun, worauf er hinauswollte, dennoch sprach Nocturn es aus:

„Ich erinnere mich nicht daran, jemals in dieser Stadt oder dem Dorf gewesen zu sein, in dem das Haus sich befindet. Es ist mit anderen Worten etwas, das mich nun aus der Zeit einholt, die ich vergessen habe.“ Er holte Luft, brach den Blickkontakt nicht ab, doch in seinem Blick lang eine inständige Bitte:

„Würdest du mit mir zusammen da hin reisen? Ich weiß, wir haben momentan eigentlich keine Möglichkeit dazu ... den Hinweg müssten wir nämlich wie Menschen bestreiten und das ist schon eine lange Strecke. 400 Kilometer. Irgendwo im Westen von Frankreich. Zurück können wir uns ja teleportieren.“ Und wenn es 1000 Kilometer gewesen wären und sie in ein anderes Land hätten reisen müssen, so verstand Youma, dass es unmöglich war, Nocturns Bitte abzulehnen. Sein Partner war nie erpicht darauf gewesen, das Mysterium seiner verlorenen Erinnerungen zu enthüllen – wenn jetzt der Zeitpunkt gekommen war, es zu tun, dann war Youma nicht derjenige, der dem im Weg stehen würde. Daher stimmte er zu, obwohl er natürlich am besten wusste, dass sie eigentlich keine Zeit hatten, um anderes zu tun, als in der Dämonenwelt aktiv zu sein.

 

„Ich wusste, ich könnte mich auf dich verlassen“, antwortete Nocturn und grinste, obwohl das ein wenig gelogen war – er hatte es gehofft. Er hatte es so innig gehofft, aber gewusst hatte er es nicht, war keineswegs davon überzeugt gewesen, aber hatte diese Worte so gerne sagen wollen, dass es ihm egal war, ob sie nun ein wenig gelogen waren oder nicht. 

Von diesen Gedanken wusste Youma natürlich nichts – er sah nur seit sehr langer Zeit wieder Röte auf Nocturns Gesicht, was ihn sofort ebenfalls zu einem Lächeln brachte.

        

La Femme

Das Glasherz

Youma x Nocturn

2014
 

                                                                                                                                                                             II
 

 

Youma bestand darauf, dass deren Expedition – wie er es nannte – bereits am nächsten Tag stattfinden sollte. Als Grund dafür nannte er, dass es ansonsten nicht mit seinen Plänen überein stimmte, aber der eigentliche Grund war viel eher, dass er Nocturn keine Gelegenheit für einem Rückzieher geben wollte; oder gar panisch zu werden, denn er kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass das unzweifelhaft kommen könnte. Noch deutete sein Partner allerdings nichts an; es kam Youma sogar so vor, als würde er sich darauf freuen. Jedenfalls war er mit Inbrunst dabei deren kleine Reise zu planen; was Youma sehr überraschte, immerhin war Nocturn nicht gerade dafür bekannt Freude am Planen von Dingen zu haben. Wenn er mit dieser Einstellung deren Pläne verfolgen würde, wären sie schon ein ganzes Stück weiter…

 

Feullé schmierte ihnen so viele Brote und füllte ihnen so viele Wasserflaschen ab, dass man meinen konnte, sie würden wochenlang auf eine Reise ins Ungewisse gehen; Blue verhielt sich schweigend wie immer, aber Youma konnte sich vorstellen, dass er es sicherlich nicht so schlecht fand, dass die beiden „Herren des Hauses“ nicht da waren – und wieder einmal war Youma sehr froh darüber, dass er seine Pläne alle in der Sprache der Wächter schrieb, denn so wie er ihn einschätzte, war das erste, was er tun würde, wenn die Haustür hinter Youma und Nocturn zugefallen war, sich Zugriff zu Youmas Zimmer zu verschaffen um dessen Dokumente zu analysieren.

 

„Du musst gut auf Feullé aufpassen, Blue – ich vertrau sie dir an!“ Youma, bereits in Mantel gekleidet und mit einem Rucksack bepackt himmelte genervt mit den Augen:

„Nocturn, hast du mir nicht gerade erklärt, dass wir morgen schon wieder zurück sein sollten? Warum tust du jetzt so als…“ Aber Youmas Einwand wurde überhört, denn jetzt folgte der sehr dramatische Abschied von Nocturn und Feullé, der aus einer Umarmung und sehr viel, sehr schnell gesprochenem  Französisch bestand, weswegen Youma einfach nur noch einmal mit den Augen himmelte und sich dann selbst an Blue wandte – was ihn sichtlich überraschte.

„Du rufst an, sollte etwas geschehen.“ Um seine Worte zu untermauern hielt er sein Handy hoch:

„Wir können uns zwar nicht direkt zu unserem Bestimmungsort teleportieren, aber zurück ist jederzeit möglich.“

„Natürlich, das…“ Da wurde Blue allerdings unterbrochen, denn von dem Abschied von Feullé berauscht, umarmte Nocturn doch tatsächlich plötzlich auch noch Blue zum Abschied. Eine Aktion mit der Blue genauso wenig anfangen konnte, wie die anderen Anwesenden, aber Nocturn schien sich nichts dabei zu denken – er klopfte Blue sogar noch väterlich auf die Schulter, ehe Youma sich dazu entschied, dass er das Theater nun lange genug mit angesehen hatte und er seinen Partner am Arm packte:

„Wegen dir und deinem Drama verpassen wir noch den Zug!“

 

Von der Metro Station Bir Hakeim ging es dann nach einem Umsteigen, zum Bahnhof Gare du Nord und kaum waren sie angekommen war Youma schon genervt, denn wie üblich war die Metro so voll gewesen, dass man sich kaum bewegen konnte; der Boden matschig und rutschig von dem in die Untergrundtunnel hinein gebrachten Schnee und die Luft stickig. Nocturn schien es nicht zu stören; noch besser, er vollbrachte es irgendwie in diesem Gedrängel die Route des Zuges zu studieren.

„Ich befürchte, dass es keine öffentlichen Transportwege zwischen La Roche und Cherbourg-Octavie geben wird“, gab Nocturn zu bedenken, während die beiden Dämonen wie die Menschen um sie herum aus der Metro stiegen und die Menge sich allmählich aufteilte je nach dem in welche Richtung sie ihre Reise fortsetzen würden.

„Wie überaus bedauerlich“, antwortete Youma säuerlich, nachdem sich ein paar Teenager mit genuschelten „Pardon“ an ihm vorbei drängten um schneller die Rolltreppe herauf zu kommen.

„Du musst doch rechts stehen, Youma.“ Der Angesprochene unterdrückte eine wütende Antwort und folgte Nocturn stattdessen durch den letzten Tunnel, ehe sie in den vom elektrischen Licht hell erleuchteten Bahnhof gelangten. Hier auf dem größten Bahnhof Paris ging es nicht weniger eilig und chaotisch zu als unter der Erde und Youma war kurz über das ständige Rauschen der Lautsprecherdurchsagen und der vielen Menschen verwirrt – allerdings nur so lange, bis Nocturn plötzlich seine Hand nahm, um ihn durch die Menge zu führen.

Er ging vor ihm, nach deren Gleis Ausschau haltend, aber als Youma kurz einen Blick auf sein Gesicht erhaschen konnte, sah Youma, dass Nocturn ein wenig rot geworden war. Wieder dieses Gefühl, das er kannte, weil er es oft gespürt hatte, aber was einfach in dieser Situation nicht richtig war, nicht richtig, nicht richtig---

 

„Unser Zug!“

Youma wusste nicht genau, was er mit dieser Aussage anfangen sollte, aber er merkte auf jeden Fall schnell, dass sie es plötzlich eilig hatten, denn Nocturn hatte zu rennen begonnen und zog ihn nun hinter sich her – und dass sie es plötzlich sehr eilig hatten, verstand Youma auch, denn Nocturn schlängelte sich nun mit dämonischer Schnelligkeit durch die Menge, sprang mit ihm zusammen verbotenerweise über einen der Abgründe worin die Schienen lagen und zusammen stürzten sie den Bahnsteig herunter, dem sich entfernen Zug hinterher rennend.

„Teleportier uns do-“ Das tat Nocturn auch noch bevor Youma seine Worte zu Ende bringen konnte, aber der Zug war bereits zu schnell und obwohl Nocturn das Ende des Zuges als Punkt anvisiert hatte, landeten sie beide in der Luft. Es gelang Nocturn allerdings noch – begleitet von Youmas überraschtem Fluchen – eine Eisenstange, die am Zug angebracht war, zu fassen bekommen und sie somit beide nach oben zu ziehen, während der Zug an den Häusern von Paris vorbei raste.

„Haha, wie in diesen Hollywood-Filmen!“, lachte Nocturn vergnügt dem Fahrtwind entgegen, einer Freude die Youma sich garantiert nicht anschließen konnte:

„Dir überlass ich nochmal die Planung!“ Er wollte sich noch weiter beschweren, aber der Fahrtwind wehte ihm die Haare in den Mund, die er auch nicht heraus bekam, da er sich mit beiden Händen an der rettenden Stange festklammerte; ganz offensichtlich hatte er zu viel Respekt vor der Schnelligkeit des Zuges und den Schienen unter ihnen. Nocturn dagegen schien tatsächlich Spaß an ihrer Situation zu haben; er lachte sogar noch, als sie sich endlich in den Zug hinein teleportiert hatten, denn das gerade nicht benutzte Führerabteil war natürlich verriegelt gewesen, aber für jemanden der sich teleportieren konnte natürlich kein Hindernis.

 

Viel schwieriger war es da einen Sitzplatz zu bekommen, denn der Zug war ziemlich voll – die Jahreszeit erklärte Nocturn wissend. Die Weihnachtsferien –was auch immer er damit meinte – würden bald beginnen und das war der Grund, weshalb der Zug gut gefüllt war von Familien, die auf den Weg zu ihren jeweiligen Weihnachtsfesten waren und da alles sehr kurzfristig gewesen war, hatte Nocturn keine Plätze reservieren können. Nach dem dritten Wagon bereitete Youma sich bereits darauf vor, dass sie drei Stunden lang stehen mussten, aber im vierten und letzten Wagon fanden sie tatsächlich noch zwei Sitzplätze – und sofort wünschte Youma sich, dass sie doch lieber stehen würden, denn jene zwei Plätze waren Teil einer Vierersitzgruppe und die anderen zwei Plätze waren von einem sehr, sehr turtelndem Paar belegt. Und mit denen musste Nocturn natürlich auch noch ein Gespräch anfangen, natürlich - er nutzte einfach immer jede Gelegenheit um in seiner geliebten Sprache kommunizieren zu können. Konnte er die beiden so offensichtlich ineinander Verliebten nicht einfach in Ruhe lassen und sie ignorieren wie Youma versuchte sie zu ignorieren, in dem er strickt aus dem Fenster sah? Und mussten die beiden ihre Liebe so öffentlich zur Schau stellen? So etwas hatte er nie getan… naja, gut, mit Silence… gut… ja… doch…

 

Nocturn machte sich über solche Dinge natürlich keine Gedanken; genau wie Youma es sich gedacht hatte, war er einfach nur froh darüber ein Gespräch auf Französisch führen zu können - es war ihm eine durchaus willkommene Ablenkung. Denn obwohl er sich auf das Paar ihm gegenüber konzentrierte und er natürlich, wie es sich gehörte, während des Gespräches Augenkontakt hielt, spürte er regelrecht, wie der Zug sich mit schneller Hast aus Paris heraus bewegte. Die weisen Häuser, die er so gut kannte und so sehr liebte, wichen hässlichen Hochhäusern, der Eiffelturm und die Zuckerspitze des Sacre Cæur verschwanden und umso mehr Minuten vergingen, umso mehr Kilometer legten sie hinter sich. Bald waren sie auf dem offenen Land und die Stadt, von der er sich so beschützt fühlte, lag hinter ihnen.

 

Zum Glück für Nocturn begann das Paar genau in dem Moment, als er einen heftigen Anflug Nervosität in sich hochkommen spürte, Interesse an ihnen zu zeigen:

„Und? Wohin seid ihr beide unterwegs?“ Bereitwillig erzählte Nocturn der neugierigen jungen Frau davon, dass er geerbt hatte und dass er sich das Haus nun genauer ansehen wollte. Während er dies sagte, warf er einen verstohlenen Blick zu Youma, aber er bemerkte gar nicht, dass sie von ihnen sprachen; er bemerkte auch Nocturns Blick nicht, da er zu sehr damit beschäftigt war aus dem Fenster zu stieren und alles um ihn herum zu ignorieren.

„Werdet ihr zwei dann da auch Urlaub machen? Die Küsten Frankreichs sind doch so romantisch! Ich hoffe nur für dich, dass dein Freund nicht mehr lange so schlecht gelaunt bleibt, damit ihr den Aufenthalt genießen könnt!“ Nocturn spürte, dass er rot wurde und als er kurz durch ihre Gedanken huschte, bemerkte er auch, dass er durchaus Grund hatte rot zu werden. Mit den Händen hin und her gestikulierend beeilte sich Nocturn das Missverständnis aufzuklären:

„Oh nein, nein! Wir sind kein Paar. Wir sind…“ Er wandte sich zu Youma herum, dem Nocturns Gebären nicht unbemerkt geblieben war und sich daher, ihn argwöhnisch musternd,  zu ihm herum gedreht hatte. Kurz sahen sie sich an, dann wirbelte Nocturn wieder herum:

 

„Wir sind Partner.“

„Partner? So etwas wie Arbeitspartner?“

„Ja… so etwas in der Art.“    

 

Als das junge Paar dann Händchenhaltend an der nächsten Station ausstieg, wandte Youma sich an Nocturn:

„Was war das Problem?“

„Problem? Ach, es war kein Problem. Das junge Paar – sie wollen ihre Verlobung bei ihren Familien bekannt geben – hielt uns nur ebenfalls für eins.“ Youmas Wangen wurden rot, Nocturn allerdings lachte nur.

„Sie hielten uns für ein Paar? Wie kamen die denn auf solche abstrusen Gedanken?“ Nocturn lachte immer noch, aber die erfreute Röte war aus seinem Gesicht verschwunden:

„Stimmt, stimmt! Abstrus ist das richtige Wort, ich meine, haben sie deinen Verlobungsring denn nicht gesehen?“ Youma versuchte mit zu lachen, aber irgendwie war ihm nicht nach Lachen zumute und als sich gegenüber von ihnen nun eine ältere Dame hinsetzte, nutzte er sofort die Gelegenheit das Gespräch abzubrechen. Als er sich allerdings wieder dem Fenster zuwandte, bemerkte Nocturn, dass er seinen Verlobungsring mit den Fingern hin und her drehte - eine Angewohnheit, die er noch nie bei ihm beobachtet hatte. 

 

 

Nach dem Platzwechsel war es sofort deutlich ruhiger geworden; die alte Dame war in einem Buch vertieft, was Youma jetzt auch war, mit der Ausnahme, dass Youma nicht las, sondern natürlich weiter arbeitete, indem er sich Notizen in seinem kleinen Notizbuch machte. Nocturn verhielt sich nun ruhig. Kurzzeitig dachte Youma, er wäre eingeschlafen, bis er bemerkte, dass sein Partner an ihm vorbei aus dem Fenster sah. Ob er versuchte die Landschaft wieder zu erkennen? Oder war es der nun wieder fallende Schnee, der ihn wehmütig machte, wie am gestrigen Abend?

 

„Bist du nervös?“, frage Youma nun direkt, nachdem die alte Frau an der nächsten Station ausgestiegen war und sie somit alleine in der Vierergruppe zurück geblieben waren.

„Nein. Noch nicht“, antwortete Nocturn ehrlich, denn er kannte sich natürlich selbst ebenfalls gut genug, um zu wissen, dass das was vor ihn lag nicht leicht werden würde. Youma wollte ihm gerade aufmunternde Worte schenken, als er ins Stocken geriet – was sollte er ihm sagen? Er wusste was er Silence gesagt hätte… er wusste, was das liebende Paar einander gesagt hätte, aber… er sollte seine Hand nehmen, oder? Ihm sagen, dass er ja bei ihm war und ihn helfen würde…? Aber sollte er das nicht nur Silence sagen? War die Hand Silence‘ nicht die einzige, die er nehmen sollte?

 

Eine Durchsage unterbrach Youmas Gedanken und brachte Nocturn zum aufhorchen. Youma verstand natürlich nicht was los war, aber er spürte wie der Zug sich verlangsamte und an dem Gesichtsausdruck seines Partners erkannte er auch, dass es keine besonders gute Nachricht hatte sein können.

 

„Was ist los?“, fragte Youma, während Nocturn sich über Youma streckte um an seinen Mantel heran zu kommen, der neben Youma am Fenster gehangen hatte.

„Die Schienen sind vereist. Wir müssen an der nächsten Station aussteigen…“

„…Und dann?“

„… und dann auf weitere Durchsagen warten. Als ob man nicht darauf vorbereitet sein könnte, dass es im Winter kalt wird!“

„Menschen eben.“

Nein, Zuggesellschaften!“

 

Der Bahnhof, an dem sie nun widerwillig ausstiegen, war kalt, dunkel und verlassen und sofort stellte Youma die durchaus berechtigte Frage, warum sie nicht im Zug bleiben konnten. Natürlich konnte Nocturn die Frage nicht beantworten, weshalb er auch sofort ein Mitglied des Bahnpersonals konsultierte, während Youma einen müden und missgelaunten Blick zu einer großen, weisen Uhr warf; das einzige lebendige auf diesem Bahnhof wie es schien, denn er und Nocturn waren die einzigen Passagiere die um 23 Uhr noch nach Cherbourg-Octavie hätten fahren wollen.

 

Übel gelaunt, weil der Tee, den Feullé für sie abgefüllt hatte natürlich nicht mehr die erwünschte Aufwärmung bieten konnte, schlug Youma seinen Kragen hoch und wartete darauf, dass Nocturn zurückkommen würde. Wo sie wohl waren? Auf jeden fall nicht in einer besonders belebten Stadt; sie sah viel eher ausgestorben aus. Nur wenige niedrige Häuser reihten sich um den ärmlich aussehenden Bahnhof und keines der Fenster war erleuchtet. Der Wind, begleitet von den fallenden Schneeflocken, war das einzige was neben den französischen Worten Nocturns und des Menschens zu hören waren.

 

Als Nocturn zurückkehrte sah Youma schon, dass das was Nocturn heraus gefunden hatte ihm nicht gefallen würde.

„Also: Der Zug fährt heute nicht weiter. An der Küste wütet wohl ein ziemlicher Schneesturm - und ja, da müssen wir hin. Der Zug fährt daher zurück nach Paris, weil es heute Nacht keine Chance auf ein Auftauen der Schienen gibt.“ Nocturn machte eine Pause und Youma wusste genau warum; er stellte die Frage zwar nicht, aber es hang deutlich in der Luft, dass er eigentlich fragen wollte, ob sie dann auch nach Paris zurückkehren sollten. Aber darauf sprang Youma nicht an:

„Und wann fahren die Züge wieder?“ Nocturn schwieg kurz; es war Youma, als wolle er selbst eine Rückkehr nach Paris vorschlagen, aber das tat er nicht:

„Das konnte er natürlich nicht sagen. Menschen sind der Natur ausgeliefert; sie können nicht einfach ein Element darum bitten, es nicht mehr schneien zu lassen.“ Youma himmelte mit den Augen, ließ Nocturn aber fortfahren, ohne die Ohnmacht der Menschen zu kommentieren:

„Es geht aber wohl ein Bus von hier aus nach Cherbourg-Octavie. Allerdings beginnt der erst wieder um fünf Uhr zu fahren, also in gut sechs Stunden.“

„Und wie viele Kilometer sind es von hier bis nach Scherbo…“ Nocturn konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er hörte wie falsch Youma den Namen der Stadt aussprach, was Youma zu einem erröteten Grummeln brachte:

„… also dieser Stadt?“ Nocturn grinste immer noch als er antwortete:

„Noch gut 20 Kilometer.“

„Die können wir doch auch fliegen. Es ist Nacht; uns sieht sowieso keiner.“

„Also ich fliege bestimmt nicht durch diesen Schneesturm bei Gegenwind. Außerdem frage ich mich, wie du dich in der Luft orientieren willst – da oben sind immerhin nicht gerade Wegweiser angebracht. Und wie ich dir schon sagte: ich war noch nie in Cherbourg-Octavie; ich kann uns da nicht hinlotzen.“

 

Ein gutes Argument, obwohl Youma vermutete, dass das nicht der einzige Grund war, weshalb Nocturn nicht fliegen wollte – er vermutete ganz stark, dass sein Partner das Ankommen hinauszögern wollte. Im Gegensatz zu Youma schien es ihn auch gar nicht sonderlich zu stören, dass sie nun gezwungen waren sechs Stunden lang zu warten und es kam Youma immer noch so vor, als lauere er darauf, dass Youma etwas in Richtung von Abbrechen sagen würde. Statt ihm diesen Gefallen jedoch zu tun, sah Youma sich nach einem Ort um, wo sie die nächsten Stunden dann verbringen konnten.

 

„Glaubst du wir finden hier ein Hotel?“ Nocturn lachte kurz auf und machte dann einen Wink zu einem kleinen verglasten Wartebereich, den einzigen, kleinen „Luxus“ den dieser Bahnhof zu bieten hatte, wo nicht einmal die elektrischen, schneeverhangenen Schilder noch funktionierten.

„Ich befürchte das ist unser Hotel für heute Nacht.“ Youma verzog das Gesicht; die einzige sich dort drin befindende Bank sah alles andere als gemütlich aus – erst Recht nicht, wenn man sechs Stunden auf dieser ausharren musste. Sofort nutzte Nocturn die Chance und schoss vor, wohl nicht länger darauf warten wollen, dass Youma auf die Idee kam:

„Wir können natürlich auch nach Pari…“

„Nein, nein. Das sind doch nur sechs Stunden; das werden wir schon überleben.“

 

Auf Nocturns Stöhnen achtete Youma nicht und ignorierte auch seinen eigenen Drang sich zu Beschweren als sie beide auf der mageren Holzbank Platz nahmen, wo es zwar ziemlich kalt war, aber doch wenigstens vor dem Wind und dem Schnee geschützt war. Sie waren nun die Einzigen auf den verlassenen Bahnhof: der Zug war wieder Richtung Paris abgefahren und die schneeweiße Einöde der Häuser lag tot um sie herum.

Sie tranken den kalten Tee und aßen Feullés liebevoll zubereiteten Brote, ehe sie beschlossen wenigstens den Versuch zu wagen, etwas Schlaf zu bekommen; sie wollten immerhin früh aufbrechen und morgen – das verkündete Youma mit felsenfester Härte – würden sie ankommen und Abends wieder in Paris zurück sein, so wie es eigentlich geplant war. Daraufhin folgte eine übliche, völlig obligatorische Diskussion, dass Nocturn nicht planen könne und dass das Planen das einzige wäre was Youma könne, dass er nicht kreativ wäre, der andere wiederum zu kreativ sei und das doch gar nicht so wünschenswert sei, wie er es immer darstelle…  

 

… und irgendwann, begleitet von dem lauten Ticken der Bahnhofsuhr, schliefen sie beide tatsächlich ein.

 

Nach und nach, angezogen von der Körperwärme des jeweils anderen, lehnten sie sich mehr und mehr zu den jeweils anderen herüber, bis sie gegeneinander gelehnt, Kopf an Kopf, tief schlafend, jeden Gedanken an den im fahlen Licht der Bahnhofsbeleuchtung glänzenden Verlobungsring vergessend.

 

Es war Nocturn der als erstes aufwachte.

Er meinte einen vorbei rausenden Zug zu hören und noch während er die Augen öffnete, war ihm als könne er das Rattern der Schienen hören als er Zug rasenden Tempos vorbei schoss. Langsam, ziemlich schlaftrunken, hob er den Kopf, womit er auch Youmas Schlaf störte, da dessen Kinn auf Nocturns Haaren geruht hatte. Aber von ihm war nur ein Grummeln zu hören; er war nicht gänzlich aufgewacht, anders als sein Partner.

Er war nun hellwach.

 

Gegenüber, auf der anderen Seite des Bahnsteiges, stand eine Person.

 

Eine Person, eine weibliche, die Nocturn direkt ansah.

Es könnte ein Mensch sein, aber es war keiner. Eine Aura war spürbar und er glaubte zwischen den tosenden Schnee das Aufleuchten von einem roten Augenpaar zu erahnen.

 

Die Aura war nicht stark, weitaus schwächer als seine oder Youmas, aber… irgendetwas… irgendetwas machte ihn schrecklich nervös. Er spürte kalten Schweiß auf seiner Stirn, seinen Rücken – was…was war nur …?!

 

Die Uhr tickte dröhnend.

Der Schnee stand still.

 

Und dann stand sie lächelnd vor dem Glas.

 

  

 

            

 

La Réticence

Mit einem Ruck wachte Youma auf, als sein Kopf, den er eben noch an die kühle Glasscheibe gelehnt hatte, abrutschte und nach unten sackte.

Wie lange hatte er geschlafen? Er wunderte sich, dass er bei dieser Kälte und den nicht sehr komfortablen Umständen überhaupt Schlaf gefunden hatte...

Youma entfloh ein herzhaftes Gähnen und noch ein wenig schläfrig wischte er sich den Schlaf aus den Augen – obwohl... es war noch dunkel; wahrscheinlich könnte er noch weiter schlafen... die sechs Stunden waren sicherlich nicht vorüber... wie spät war es? Es war schon vier Uhr?

„Nocturn...“ Noch einmal entfloh Youma ein Gähnen, welches ihm jedoch sogleich im Halse stecken blieb:

„... wir müssen zum Bu– Nocturn?!“

Aber da war niemand, der ihm hätte antworten können; der Platz neben ihm war leer. Die Decke lag auf dem Boden, sein Rucksack unberührt daneben.

 

„Nocturn?!“ Sofort hellwach war Youma aufgestanden und verließ auch schon den gläsernen Wartebereich – ohne dabei auf lange, senkrechte Kratzspuren an der Glasscheibe ihm gegenüber zu achten.

 

„Nocturn!“ Das Wetter hatte sich nicht beruhigt und somit drang auch Youmas Stimme nicht durch den heftigen Wind, wurde von dem um ihn herum wehenden Schnee verschluckt. Angst und Sorge spürte er flutend in sich hochkommen, denn er wusste, spürte regelrecht, dass Nocturn nicht einfach ohne ihn nach Paris zurückgekehrt war. Etwas war geschehen, als er geschlafen hatte...

Noch einmal und noch einmal rief Youma den Namen seines Partners, während er den Bahnsteig herunter lief, den Umstand verfluchend, dass er keine Aura besaß. War er noch hier? War er vielleicht woanders? Wie sollte er ihn nur wieder finden, wenn er verschwunden war?!

 

„Noctur-“

Aber dann erblickte Youma ihn. Durch den vielen Schnee konnte er ihn nur schemenhaft erkennen, aber er war sich sicher, dass es sich bei der dünnen, am Ende des Bahnsteiges stehenden Person um Nocturn handeln musste.

„Nocturn!“, rief er nun noch einmal, doch sein Partner schien ihn nicht zu hören, obwohl Youma sich ihm nun rennend näherte, die Hand nach ihm ausstreckte, seine magere Schulter packen wollte --- wenn er ihn nicht sofort berühren würde, würde Nocturn verschwinden, für immer ---

 

„Youma?“

Youma kam sofort zum Stillstand, seine ausgestreckte Hand fiel herunter – Nocturn hatte sich noch zu ihm herumgewandt, ehe sein Partner ihn hätte berühren können und sah ihn nun verwundert an. Doch noch ehe Youma fragen konnte, was geschehen war, drehte Nocturn sich wieder herum und seine glühenden Augen verfolgten den Lauf der Schienen, die sich im Schnee verloren.

„Wir werden verfolgt.“

 

 

Dank des Schneesturmes kam der Bus alles andere als pünktlich an und die beiden reisenden Dämonen waren gezwungen, weitere 30 Minuten auf eben diesen zu warten, ehe sie in einem kleinen, hin und her wackelnden Bus Platz nehmen konnten. Nocturn verhielt sich während der Fahrt sehr ruhig; sein Blick war die gesamte Zeit auf die Anzeigetafel gerichtet, auf der man die Haltestellen sehen konnte. Youma dagegen blickte aus dem Fenster und beobachtete das Treiben der Schneeflocken, welches langsam zur Ruhe kam. Immer wieder warf er dabei einen kurzen Blick zu Nocturn herüber, doch sprachen sie nicht miteinander. Seitdem er ihm gesagt hatte, dass sie verfolgt wurden, hatte er seine Worte darauf beschränkt, die Reise voranzutreiben und während sie an dem verlassenen Bahnhof auf die Ankunft des Busses gewartet hatten, hatte er sich äußerst unruhig verhalten, hatte sich zwischendurch sogar ziemlich verärgert über die Verspätung des Busses gezeigt, obwohl er eigentlich nicht sonderlich ungeduldig war.

 

Youma hätte ihn natürlich fragen können, was Nocturn mit seinen Worten gemeint hatte und wie er auf den Gedanken gekommen war, aber das hatte er nicht getan. Er wusste, dass Nocturn es ihm schon noch erzählen würde und dass Youma sich geduldig zeigen musste. Es gab mit Sicherheit einen Grund, weshalb Nocturn erst einmal Abstand erreichen wollte, ehe er etwas erzählen wollte.

 

Sie erreichten das Stadtzentrum Cherbourg-Octavies mit dem ersten fahlen Licht der winterlichen Morgensonne und dem beginnenden Marsch zur Arbeit. Diese Stadt war um einiges größer und lebendiger als die, aus der sie gerade gekommen waren; überall leuchtete ihnen Weihnachtsdekoration entgegen und die Schaufenster der vielen kleinen Lädchen luden mit ihrer weihnachtlichen Dekoration und ihren Sonderangeboten Passanten zum Geldausgeben ein.

Youma war verblüfft darüber, dass Nocturn immer noch so angespannt war – normalerweise beruhigte ihn doch das Treiben der Menschen...?

„Ich weiß nicht, wie es mit dir aussieht, aber ich könnte gut einen Kaffee gebrauchen.“ An sich keine unnormale Aussage für Nocturn, aber sein Tonfall klang eigenartig fremd und es beruhigte Youma nicht gerade, dass er sich immer wieder umsah, während er sie eine sich windende Straße hinabführte.

 

Alle Cafés hatten zu dieser Zeit des Tages noch geschlossen, weshalb die beiden sich dazu gezwungen sahen, sich in einem Fastfood-Restaurant niederzulassen. Skeptisch beäugte Youma das ausgelegte Essen und ließ seinen Blick über die bunten Anzeigetafeln gleiten, in der Warteschlange wartend.

„Wird das Essen etwa nicht frisch zubereitet...?“, raunte er Nocturn zu, welcher – wie er sehr erleichtert feststellte – grinsen musste:

„Das ist ein Fastfood-Restaurant. Ich bezweifle, dass du hier überhaupt irgendetwas Frisches finden wirst.“ Auf die darauffolgende Frage, was Nocturn denn für ihn bestellen sollte, kannte Youma keine Antwort. Er fand, dass das alles nicht sehr appetitlich aussah und wenn er die Menschen so betrachtete, die herzhaft in einen Burger bissen, wobei ein Großteil des matschigen Burgerinhaltes auf der anderen Seite herausgequetscht wurde, wurde ihm schlecht.

„... Kaffee. Ich denke, ich nehme nur einen Kaffe.“

„Quatsch, du wirst davon nicht sterben! Wir haben kaum noch was von Feullés Broten... ah, Bon jour, Mademoiselle! Je voudrais...“

 

Youma war sich nicht sicher, ob er davon nicht doch sterben würde; die Pommes, die Nocturn ihm bestellt hatte, betrachtete er überaus argwöhnisch, als könne er sich nicht vorstellen, dass sie wirklich essbar waren.

„Jetzt stell dich nicht so an; deine Hüfte wird es schon überleben.“

„Um meine Hüfte mache ich mir keine Sorgen, sondern eher um meinen Gaumen.“

„Der wird es auch überleben“, wiederholte Nocturn grinsend. Er war bereits fast fertig mit seiner Portion, ehe Youma überhaupt begann, seine zu verspeisen. Der Kaffee war gar nicht so schlecht gewesen – auch wenn er nicht verstand, warum er in einem Pappbecher serviert worden war – aber wie konnte man Kartoffeln nur in dieser Form und mit so viel Fett versehen genießen?

„Youma“, begann Nocturn nun lachend über Youma, der die einzelne, lange, sich leicht biegende Pommes ansah, als wäre sie sein ärgster Feind:

„Das ist natürlich kein Gaumenschmaus, aber es ist durchaus essbar!“ Na, wenigstens hatte das ganze eine gute Seite... dachte sich Youma, als er nun endlich damit begann, seine Pommes zu essen, auf deren Geschmack allerdings kaum achtete, da es ihn zu sehr erleichterte, Nocturn wieder lachen zu sehen. Es passte einfach nicht zu ihm, so ernst zu sein...

 

... schnell wurde er dann allerdings wieder ernst, denn das Lachen schien Nocturn daran zu erinnern, dass er Youma etwas erzählen musste.

„Es ist eine Frau, die uns verfolgt.“ Nocturn nahm einen großen Zug seiner Limonade, ehe er fortfuhr:

„Ihre Aura ist nicht sonderlich stark, aber ich konnte spüren, dass von ihr eine Gefahr ausgeht. Was für eine kann ich allerdings nicht sagen... sie hat uns beobachtet, während wir geschlafen haben; wie lange weiß ich nicht. Als ich aufgewacht bin, ist sie dann plötzlich näher gekommen...“ Noch einen hastigen Schluck:

„... dann ist sie wieder verschwunden. Ich bin ihr hinterher gerannt, aber ich konnte sie nicht einholen.“

„Und du bist dir sicher, dass du es dir nicht einfach nur eingebildet hast?“ Angesichts Nocturns Nervosität und der Tatsache, dass er das Thema ziemlich ernst nahm, war das womöglich nicht die beste Antwort, die Youma hatte geben können, aber auf der anderen Seite konnte er sich eigentlich nicht vorstellen, dass sie verfolgt werden sollten – und gerade weil Nocturn nervös war wegen ihrem bevorstehenden Ankommen, war es immerhin durchaus möglich, dass er sich Dinge einbildete... er war immerhin nicht ganz... nun ja, gesund.

 

Nocturn hatte durchaus allen Grund, sich von Youmas Antwort beleidigt zu fühlen, aber das war er nicht: ob er selbst schon darüber nachgedacht hatte, ob er es sich vielleicht nicht nur eingebildet hatte?

„Nein, ich bin mir ziemlich sicher. Außerdem kannte ich sie nicht. Würde ich mir unbekannte Personen einbilden...?“ Er stellte diese Frage eher an sich selbst als an Youma, wie ihm schien.

„Nun ja, du hast einen sehr großen Teil deines Lebens vergessen. Vielleicht kennst du die Person, nur kannst du dich nicht mehr daran erinnern.“ Nocturn deutete ein leichtes Nicken an, schwieg allerdings.

„Kannst du sie vielleicht beschreiben?“

„Ja“, Nocturn grinste und lachte hohl:

„Schwarze Haare und rote Augen – das passt zu jedem zweiten Dämon, mich eingeschlossen!“ Ja, gut, damit konnte man bei Dämonen tatsächlich nicht viel anfangen, gab Youma zu und stellte stattdessen eine andere Frage:

„... aber wer sollte uns verfolgen? Und warum? Ich meine, was sollte ein Dämon daran interessant finden, dass du ein Haus in der Menschenwelt geerbt hast?“

„Hast du mir nicht gesagt, dass wir uns von Tag zu Tag unbeliebter machen bei den Fürsten?“

„Ja, aber wenn die Fürsten uns angreifen wollten, warum warten sie dann, bis wir auf einer Expedition sind? Warum sollten sie sich die Mühe machen, wenn sie doch wissen, wo wir in Paris leben? Sie könnten uns jederzeit angreifen! Dazu kommt, dass sie uns gar nicht aufspüren können; ich trage einen Ingnix und du hast keine Aura.“

„Und wie erklärst du dir, dass diese Dämonin uns gefunden hat?“

„Vielleicht hat sie uns ja gar nicht gesucht; es gibt ja nun einmal Dämonen, die in der Menschenwelt leben.“ Ungläubig verengten sich Nocturns Augen:

„Und einer dieser Dämonen rennt uns mitten in der Nacht auf einem verlassenen Bahnhof ganz zufällig über den Weg?“ Da musste Youma Nocturn recht geben: das klang sehr unwahrscheinlich.

„Und wenn wir schon seit Paris verfolgt wurden?“ Youma antwortete darauf nicht: er war nun fertig mit seinen Pommes und löste den Deckel samt Strohhalm von seiner Limonade, dabei die Stirn nachdenklich in Falten gelegt.

„Das ist natürlich nicht auszuschließen, immerhin gibt es mittlerweile auch viele Dämonen, die Ingnixe tragen... aber ich bleibe dabei, dass es eigentlich für keinen Dämonen interessant sein kann, dass du geerbt hast. Du hast doch nur das Haus geerbt und keine... was weiß ich...magischen Artefakte oder Ähnliches, oder?“

„So weit ich weiß nur das Haus und das Grundstück samt allem, was darin und darauf ist.“

 

„Hmmm...Wir werden das Haus gründlich unter die Lupe nehmen.“ Das war keine Neuigkeit, die Nocturn besonders zu begeistern schien. Er antwortete nicht, nahm wieder einen hastigen Schluck seiner Limonade und deutete nur ein kurzes Nicken an.

 

Youma sollte ihm wirklich Mut zusprechen. Den Drang, die auf dem Tisch liegende Hand zu nehmen, sollte er nicht unterdrücken.

Aber er tat es.  

 

„Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, woher sie überhaupt von unserer Expedition wissen.“ Youma gab Nocturn gar nicht die Möglichkeit, zu antworten:

„Nur Feullé-san und Blue-san wissen davon...“ Nocturn kam ihm nun mit Ironie zuvor:

„Ja und Blue ist natürlich sofort zu Ri-Il gegangen, kaum dass wir aus der Tür waren.“ Offensichtlich fand Youma den Gedanken gar nicht so abwegig und er schien auch Nocturns sarkastischen Unterton überhört zu haben:

„Und dieser berichtet es den Fürsten.“

„Also...“

„Aber dann stellt sich dennoch wieder die Frage, warum sie uns jetzt auflauern sollten, wenn sie uns doch zu jeder anderen Zeit genauso gut angreifen können...“

„Du vertraust Blue wirklich nicht, oder?“

Natürlich tue ich das nicht. Das wäre ja auch dumm. Ich lerne von den Lektionen anderer.“

 

Nocturn kam nicht drum herum über diese Antwort zu grinsen, einfach weil sie so typisch... typisch Youma war.

 

„Ich glaube nicht, dass es Blue war“, antwortete Nocturn dennoch, aber davon wollte Youma nichts wissen:

„Und wer soll es sonst sein? Feullé-san würde es nicht einmal unter Zwang...“

 

Sie sahen sofort im Gesicht des jeweils anderen, dass sie das gleiche dachten. Die Fürsten wussten alle, wo sie lebten. Die Fürsten wussten alle, dass Feullé ein gutes Druckmittel war – und zum jetzigen Zeitpunkt hatten sie fast allen Fürsten auf die Füße getreten.

Youma zog sein Handy aus der Jackentasche heraus, doch Nocturn war schneller und mit einer hastigen Handbewegung bedeutete er seinem Partner, ruhig zu sein und dieser verstand – Nocturn wollte per Gedankenübertragung mit ihr Kontakt aufnehmen. Eine gute Idee, wie Youma erstaunt feststellte, ein Anruf war wahrscheinlich in der Tat unvorsichtig...

 

Eine ganze Weile blieb Nocturn ruhig und starrte konzentriert ins Nichts; einen Augenblick lang glaubte Youma, dass sein Partner womöglich zu weit von seiner Tochter entfernt war, um Kontakt mit ihr aufzunehmen, aber nach einigen angespannten Minuten atmete er auf und sein Gesichtsausdruck lockerte sich wieder.

„Geht es ihr gut?“ Youma war selbst einen Augenblick überrascht über seinen besorgten Tonfall; eine Überraschung, die Nocturn teilte, denn im Alltag zeigte sich Youma Feullé gegenüber zwar höflich und freundlich, aber distanziert. Als Nocturn ihm allerdings nun erzählte, dass es ihr gut ging und nichts geschehen war, atmete er erleichtert auf und es schien, als würde es ihm dabei mehr um Feullé gehen als um ruinierte Pläne.

„Hast du sie gefragt, ob sich irgendwelche Zwischenfälle ereignet haben?“ Nocturn begann die Überreste ihres Essens auf dem benutzten Tablett zu sammeln und als er seinen Mantel griff, tat Youma es ihm gleich – sie sollten tatsächlich aufbrechen.

„Nein“, begann er, nachdem er das Tablett weggestellt hatte und auf den Aufgang zusteuerte und ehe Youma etwas dazu sagen konnte – denn ihm stand deutlich ins Gesicht geschrieben, dass er nicht verstand, warum Nocturn nicht gefragt hatte – fuhr Nocturn mit entschlossener Miene fort:

„Ich wollte Feullé nicht beunruhigen. Ich habe ihr einen „Guten Morgen“ gewünscht und sie gefragt, wie es ihr geht. Sie war ohnehin schon überrascht, dass ich Kontakt mit ihr aufgenommen habe...“

„Und Blue?“

„War in ihrer Nähe“, erwiderte er eine Spur genervt von Youmas ständigem Misstrauen:

„Wenn du es genau wissen willst: am Fenster. Lesend. Wie immer!“   

 

Aber gegen Youmas Misstrauen und seine Skepsis allem und jedem gegenüber kam Nocturn natürlich nicht gegenan; das wusste er auch. Das war einfach die Art, wie er war, weswegen er sich auch nicht wunderte, dass deren Verfolger natürlich Thema Nummer Eins war. Immer wieder versank er in grübelndes Schweigen, studierte eines seiner treuen Notizbücher während des Gehens oder während Nocturn die Karte der Gegend begutachtete, um sie auf den richtigen Weg aus der Stadt heraus führen zu können.

Eigentlich sollte er sich angesichts Youmas Skepsis sehr glücklich schätzen, dass er ihm überhaupt so sehr vertraute, was den Weg anging, aber er fühlte sich eher schlecht deswegen. Denn Youmas Unwissen über die öffentlichen Verkehrsmittel nutzte er nun aus, um die Ankunft zu verlangsamen. Sie hatten nur noch knapp zehn Kilometer vor ihnen, dann waren sie in La Roche; einen Weg, den sie natürlich ohne Probleme mit einem Taxi hinter sich bringen konnten, was Nocturn schuldbewusst auffiel, als sie einen Taxistand auf dem Weg aus der Stadt passierten.

Aber nein... nein... er war noch nicht bereit.

Mit einem Taxi wären sie in zehn, vielleicht zwanzig Minuten in La Roche, das... das war einfach zu schnell, zu früh.  

Auf der anderen Seite war das Hinauszögern vielleicht ein zweischneidiges Schwert; vielleicht machte das Hinauszögern alles nur noch schlimmer, nicht nur für ihn... vielleicht brachte er sie alle in Gefahr?

Er schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken herauszubekommen – wer sollte schon eine Gefahr für sie sein? Nocturn sollte logisch denken; die Aura der Frau war schwächer gewesen, weitaus schwächer... und anders als Youma vertraute er Blue und glaubte weder, dass er sie verraten würde – jedenfalls nicht unter den gegebenen Umständen, solange weder das Leben seines Bruders noch Greens in Gefahr waren – noch dass er Feullé nicht beschützen würde.

Ohnehin... war da ein Gefühl, ein Gespür, vielleicht Instinkt, das ihm sagte, dass die Frau nicht an Feullé interessiert war und dass sie auch in keinster Weise mit den Fürsten in Verbindung stand.

 

Nocturn warf einen Blick über seine Schulter, vorbei an seiner Hengdi; Youma ging nachdenklich in seine Notizen vertieft vor ihm, der kleinen, verlassenen Landstraße folgend.

 

Nein, irgendetwas sagte ihm, dass ihr Interesse ihm gegolten hatte.

Einzig und alleine ihm.

 

Plötzlich überkam Nocturn das dringende Bedürfnis, auf seiner Hengdi zu spielen und er wollte Youma gerade fragen, ob es ihn stören würde, als dieser ihm zuvorkam:

„Vielleicht war es das „französische“ Paar?“

 

Nocturn konnte Youma einen kurzen Augenblick nicht folgen, denn er hatte ganz vergessen, dass dieser noch mit seinen skeptischen Gedanken beschäftigt war. Als es ihm dann wieder einfiel, stöhnte er allerdings, schloss zu ihm auf und musste dann gleich mal ein paar Dinge klarstellen:

„Also, Youma, die beiden waren garantiert keine Dämonen, die sich als Menschen ausgegeben haben. Garantiert ni-“

„Und warum nicht? Du hast ihnen doch erzählt, wohin wir unterwegs sind? Sie hätten durchaus die Möglichkeit, uns zu verfolgen.“

„Youma, lass mich dir etwas über Französisch nahebringen: es ist eine sehr schwer zu lernende Sprache und dir wird vielleicht schon aufgefallen sein, dass die Aussprache eine ganz andere ist als die von Dämonisch? Die beiden Sprachen sind extrem gegensätzlich; gar nicht zu vergleichen! Ich habe noch nie, noch nie, einen Dämon getroffen, der Französisch gesprochen hat und wenn irgendwelche Dämonen in Henel Französisch, aus welchen Gründen auch immer, gelernt haben, wäre ihr Französisch garantiert nicht fehler- oder akzentfrei. Vertrau mir. Ich hätte es gehört.“ Youma runzelte die Stirn über Nocturns ausführliche Erklärung, schien sie aber nicht gänzlich zu glauben, weshalb Nocturn hinzufügte, dass selbst sein eigenes Französisch nicht ganz perfekt war.

 

Das verwunderte Youma:

„Ist es nicht?“

„Nein, leider“, geistesabwesend legte Nocturn den Kopf in den Nacken und blickte in den hellen, fast eisblauen Himmel:

„Ich hatte einmal das Vergnügen, bei einer Vorstellung vom Schwanensee neben einem Sprachforscher zu sitzen. In der Pause von Akt I und Akt II hatten wir ein anregendes Gespräch über die Doppeldeutigkeit der Odette – des Schwanes. Nach dem Gespräch fragte er mich, aus welchem Land ich stamme. Ich war ziemlich verblüfft, da mir vorher nie aufgefallen war, dass mein Französisch sich von dem der anderen Franzosen unterschied und ich hatte eigentlich auch immer geglaubt, dass es meine Muttersprache sei... aber das war es offensichtlich nicht.“

„Das ist interessant – das bedeutet, dass Dämonisch deine Muttersprache ist.“

„Auf jeden Fall ist es wohl die Sprache, die ich zuerst gelernt habe...“ Youma hatte seinen Notizblock grübelnd an sein Kinn gelegt, sah nun aber zu Nocturn, der immer noch in den Himmel sah und wehmütig, fast traurig auf Youma wirkte.

„Das bedeutet, dass sich jemand die Mühe gemacht hat, dir Französisch beizubringen.“ Nocturn senkte den Kopf wieder und deutete dabei ein leichtes Nicken an.

 

Was waren das nur für mystische 17 Jahre, die Nocturn fehlten? Was war in der Zeit geschehen? Was war das für eine Person, die Nocturns Körper mit diesen schrecklichen Narben übersät, sich aber gleichzeitig die Mühe gemacht hatte, ihm eine andere Sprache beizubringen – und ihm dann auch noch ein Haus zu vermachen? War das womöglich gar nicht ein und dieselbe Person? Und wer war die Person, die sie verfolgte?

 

Noch waren sie viele Kilometer von ihrem Ziel entfernt, aber mit jedem Schritt, den sie taten, näherten sie sich diesem.

Würden dort Antworten auf sie warten? Und würden diese Antworten... Nocturn überhaupt helfen?

   

            

La Maison

Nocturn wünschte sich, er hätte eine andere Landstraße ausgesucht als die, auf der sie unterwegs waren - denn die Straßenschilder verkündeten leider, dass die beiden Reisenden sich nun auf dem direkten Weg nach La Roche befanden - es blieb ihm also kein Weg mehr zurück und keine Möglichkeit mehr, Zeit zu schinden, obwohl er am liebsten rückwärts gegangen wäre. Immer wieder versuchte er verzweifelt, Youma abzulenken, seine Aufmerksamkeit auf die Landschaft zu ziehen… jede Sekunde, in der sie nicht einen Fuß vor den anderen setzten, war eine gewonnene Sekunde.

 

Nur war Youma nicht dumm und dass Nocturn Zeit schinden wollte, war ihm schon bewusst, ehe dieser ihm zweimal hintereinander die Klippen und die tosenden Wellen darunter zeigen wollte.

„Nocturn, du wirst es bald überstanden haben.“

 

Ja, sie würden bald ankommen, aber ob er es dann überstanden hatte… das war eine gänzlich andere Frage. Er hatte schon solange mit dem Wissen gelebt, dass ihm 17 Jahre seines Lebens fehlten und… ging es ihm nicht gut damit? Musste er wissen, was in diesen 17 Jahren geschehen war? War das nicht eigentlich… vollkommen unwichtig?

 

Wenn Nocturn alleine unterwegs gewesen wäre, wäre er schon viermal wieder umgedreht und längst wieder in Paris. Immer wieder spürte er, wie ein leichter Anflug Nervosität sich in reißende Panik verwandelte und immer wieder blieb er stehen, starrte mit laut pochendem Herzen die Straße herunter, als lauere dort der Abgrund auf ihn, als würde er sich nur für ihn öffnen und nur ihn herabziehen.   

 

Was tat er hier eigentlich? Was sollte schon Gutes dabei herauskommen? Es war doch alles gut so wie es war!

 

Immer wieder blieb er stehen. Wollte umdrehen, die Straße nicht weitergehen. Aber immer wieder zog Youma ihn vorwärts, ließ ihn seine Angst kurz vergessen, ließ ihn kurz vergessen, wohin sie auf dem Weg waren… ja, er sorgte für einige Minuten sogar dafür, dass Nocturn glaubte, dass sie einfach nur zu zweit irgendwo in Frankreich unterwegs waren; brachte ihn dazu, Spaß zu haben - bis das nächste Schild am Straßenrand auftauchte und ihn immer wieder daran erinnerten, dass deren Ankunft in La Roche kurz bevorstand.

 

Bedrückendes Schweigen legte sich dann über ihn, aber er hielt nicht mehr an, denn es war zu spät. Kleine von Wind und Wetter mitgenommene Häuser und Höfe tauchten neben der Straße auf, verborgen zwischen den schneebehangenen Hügelchen; das Meer war nicht mehr zu sehen, aber das Rauschen der Wellen wurde vom Wind zu ihnen herüber getragen. Nach einigem Zögern Nocturns verließen sie die von Autos befahrene Landstraße und befanden sich nun auf einem kleinen, engen nach unten führenden Pfad, auf dem kaum ein einzelnes Auto genug Platz hatte. Kleine, fast von Büschen und Sträuchern versteckte Pfade führten zu niedrig gelegenen Höfen und links und rechts tauchten zierliche Laternen auf.

 

Youma fand eigentlich, dass dieses in glitzerndem Weiß schlafende Dörfchen sehr sympathisch wirkte; es wirkte einladend, in sich gekehrt, aber gemütlich.

„Ist das wirklich der richtige Ort? Es sieht so nett aus“, fragte Youma leicht grinsend:

„Ich hatte etwas… nun ja, anderes erwartet, als ich hörte, wir würden deine Heimat besuchen.“

„Was hast du denn erwartet? Einen Friedhof an jeder Ecke und an jedem Dach mindestens eine Krähe? Und natürlich dass sich der Himmel unheilschwanger verdunkelt, sobald wir uns der Stadt nähern?“ Youma musste lachen, weil Nocturn seine Gedanken ziemlich genau getroffen hatte:

„So etwas in der Art, ja!“ Aber sein Partner stimmt nicht in sein Lachen ein und anders als Youma sah er sich auch nicht ausgiebig um, sondern konzentrierte sich auf die kleine Straße vor ihnen, die um die Ecke bog und sie tiefer hinein in das kleine Dorf führte.

„Außerdem wissen wir ja gar nicht, ob das meine Heimat ist. Hier befindet sich lediglich ein Haus, das ich geerbt habe.“ Youma ließ seinen Blick über die dicht an dicht gelegenen Häuser gleiten; sie sahen sich alle sehr ähnlich - klein, niedrig, mit weißen Backsteinen und alle Richtung Meer ausgerichtet. Kaum vorstellbar, dass Nocturn nicht nur eines dieser idyllischen Häuser gehörte, sondern dass er vielleicht auch in einem von denen aufgewachsen war. 

„Und welches von denen ist nun dein Haus?“ Nocturn zuckte mit den Achseln:

„Auf jeden Fall keines von denen hier. Wir sind nicht auf der richtigen Straße.“ Diese Aussage verblüffte Youma, denn er hätte nicht gedacht, dass dieses kleine Dort überhaupt über mehr Straßen verfügte.

 

„Vielleicht war ich ja auch nie hier. Vielleicht habe ich gar keine Bindung zu diesem Ort.“ Youma gab ihm Recht, denn natürlich war das eine Möglichkeit, aber Nocturn wusste, dass seine eben gesagten Worte gelogen waren. Er war hier gewesen. Nicht nur einmal. Er hatte dort gelebt; lange gelebt.

Ohne auf eine Karte schauen zu müssen führte Nocturn sie ab von der Straße und auf einen sich nach oben schlängelnden Kieselsteinweg. Das Geräusch der Kieselsteine unter seinen sich langsam nach oben bewegenden Füßen, das Meer in der Ferne… es war ihm bekannt. In seinen Erinnerungen war es nicht mehr verankert, aber sein Körper, sein Gehör erinnerte sich… vernahm, dass er diesen Weg früher oft gegangen war, diesen Weg, verschluckt von hohen, alten Stieleichen, vorbei an deutlich jüngeren Häusern als die unten im Dorf, die in sich gekehrter, verborgener lagen; hier und dort leuchtete Weihnachtsdekoration hervor.

 

Nachdem mehrere Minuten vergangen waren, ohne dass weitere Häuser aufgetaucht waren, der Wald immer dichter wurde und die Straßenlaternen ausblieben, runzelte Youma die Stirn:

„Sind wir hier wirklich richtig? Du hast lange nicht mehr auf die Karte geschaut… glaubst du wirklich, dass hier noch Häuser sind?“

Nocturn antwortete nicht.

 

Er war stehen geblieben und sah mit leeren, kaum anwesend scheinenden Augen auf ein Schild, welches Youma beinahe übersehen hatte. Es war ein kleines, verwittertes, kaum lesbares Schild, das auf einen kleinen Pfad aufmerksam machte, der rechts nach oben führte. War das der Weg, den sie gehen sollten?

„Wenn wir weiter geradeaus gehen, kommen wir zum Haus.“

„Woher…“

„Und dieser Weg hier führt zu einer alten, verlassenen Kirche, in der ich White das erste Mal getroffen habe.” 

 

Youma wählte bewusst, zu schweigen. Weder wollte er entscheiden, wohin sie gingen, noch wollte er Nocturn in seiner Wahl irgendwie beeinflussen. Er selbst wusste, wo er lieber hinwollte - es wurde langsam kälter und die Sonne fand ihren Weg nicht durch die dichten Baumkronen, weshalb er fror und daher lieber zum Haus wollte. Warm wäre es wahrscheinlich nicht, aber vom Wind ein wenig geschützt sicherlich. Aber er sagte nichts, sondern wartete geduldig, den Drang, seine Arme warm zu reiben, unterdrückend. Nocturn dagegen achtete nicht auf die Kälte; er war ganz in Gedanken, war zwar am gleichen Ort wie Youma und er es nun waren, aber zu einer anderen Zeit. Ob die Erinnerungen schon zurückkamen? Sollte er ihn einfach fragen?

 

Aber gerade als Youma das Schweigen brechen wollte, rührte sein Partner sich plötzlich und erleichtert stellte Youma fest, dass er den Weg zum Haus einschlug.

 

Es war nicht mehr weit; das spürte Nocturn. Nur noch ein paar Meter, um die nächste Ecke. Er wollte seine Schritte verlangsamen, anhalten, umdrehen, fliehen, aber sein Körper tat genau das Gegenteil; er hielt ihn nicht nur davon ab zu fliehen, sondern beschleunigte sogar und überrascht sah Youma ihn an, als er plötzlich losrannte… weiter durch den Wald, die Kieselsteine rasselnd unter den Füßen und mit pochendem Herzen blieb er erst stehen, als sie vor einem hohen, fast von den Bäumen verschluckten am Ende der Straße gelegenen Haus ankamen.

 

Verblüfft betrachtete Youma das Haus, denn ein solches hatte er nicht erwartet; besonders nicht, nachdem sie das Dorf betreten hatten. Es lag zwar genauso versteckt wie die anderen Häuser, war aber alles andere als klein und niedrig gebaut: es hatte einen ganz anderen Stil, war höher und ein wenig verspielter gebaut, obwohl es dank seiner dunklen Farbe und den zugezogenen Fenstern nicht gerade einladend wirkte. Auch das Grundstück schien groß zu sein; es war allerdings schwer zu beurteilen, was zum Haus gehörte und was zum Wald, denn der Garten war so verwildert, dass es schwer war, zu beurteilen wo er aufhörte.

Das Haus war beeindruckend, aber er wusste nicht, ob er es hübsch fand - vielleicht zu einer anderen Tageszeit, in der Sonne und mit offenen Fenstern und gepflegtem Garten… aber so? So wie es jetzt da stand… wirkte es ein wenig unheimlich, als würde es bedrohlich auf sie hinabsehen und seine Besucher verschlucken wollen.

 

Nocturn verhielt sich weiterhin schweigend und als Youma seinem Blick folgte, sah er, dass sein Partner auf den sehr heruntergekommenen Briefkasten sah - und nun war jeder Irrtum ausgeschlossen, dass es sich bei dem Haus womöglich nicht um das Richtige handelte, denn auf dem Briefkasten stand mit zierlicher Schrift „Le Noires“ geschrieben.

 

„Hast du einen Schlüssel?“, fragte Youma behutsam, als er bemerkte, dass Nocturn sich nicht rührte und keine Anzeichen darauf machte, es in der kommenden Zeit zu tun – kein Wunder, er hatte die Luft angehalten, wie Youma auffiel, denn als er ihn ansprach, atmete er hastig aus. Youma wollte ihn gerade fragen, ob mit ihm alles in Ordnung sei, da hastete er schon auf ihn zu, da es kurz so aussah, als würde er zusammenbrechen. Doch noch bevor Youmas Arme ihn auffangen konnten, fing er sich selbst wieder und schüttelte die Hand, um seinem Partner zu bedeuten, dass alles in Ordnung sei.

 

Youma glaubte ihm natürlich nicht und beäugte Nocturn besorgt und skeptisch, als sie den Briefkasten passierten, um danach geübt über den niedrigen Zaun zu springen, da das Gartentor völlig vereist und unter dem Eis wahrscheinlich verrostet war, weshalb sie es nicht öffnen konnten.

Während sie sich ihren Weg durch den verwilderten Garten bahnten, studierte Youma das immer näher kommende Haus – und blieb plötzlich stehen:

„Nocturn.“  

Der Angesprochene war bereits an einem zur Haustür führendem Treppenabsatz angekommen, drehte sich aber um, ehe er die Hand auf das schwarze Treppengeländer legte:

„Was ist?“ Dass es nicht Gutes sein konnte, war Nocturn bewusst, noch ehe er sah, dass Youma sein eigenes Glöckchen von seiner Glöckchensammlung löste, um es angriffsbereit in der Hand zu halten.

„Ich bin mir recht sicher, dass ich gerade einen Schatten gesehen habe – und da oben...“ Er machte einen leichten Wink mit dem Kopf:

„... ist ein Fenster geöffnet.“

„Ein Dämon würde auch ohne geöffnetes Fenster eindringen können, wenn er wollte.“ Nocturn versuchte, seine Nervosität mit Lässigkeit zu überspielen, aber Youma konnte er damit nicht reinlegen. Er sah ihm nicht nur an, dass das Grinsen auf seinem leicht bläulichen Gesicht nicht echt war, er spürte seine Furcht regelrecht – nicht seine Furcht vor einem möglichen Eindringling, sondern vor dem Haus.

 

Aber er nahm sich zusammen; dennoch zitterte seine Hand, als er den Schlüssel in das Schloss steckte. Das Schloss war alt und vereist wie fast alles; Nocturn musste ein wenig rütteln, um die Tür aufzubekommen, aber dann gab sie nach. Er schluckte und hielt wieder die Luft an; Youma konzentrierte sich auf Auren, konnte aber keine spüren.

 

Einen Spalt breit öffnete sich die verglaste Eingangstür.

 

Youma, der unbewusst ebenfalls die Luft angehalten hatte, erschrak fürchterlich, denn das Öffnen der Tür hatte einen durchzuckenden Klang verursacht, so laut und durchdringend, dass er beinahe rückwärts ausrutschte. Nocturn dagegen blieb davon gänzlich unberührt; unterbewusst war er wohl darauf vorbereitet gewesen, denn für ihn war der helle Klang eines Glockenspiels, wogegen die Tür beim Öffnen gekommen war, nicht unbekannt. Sie ging auch ihm durch Mark und Bein, berührte jeden Teil seines Körpers, genau wie der Klang durch jede Ecke des Hauses raste und den Staub zum Vibrieren brachte, aber sie löste keinen Schrecken in ihm aus. Sie löste...Wehmut aus. 

 

„Was zur Hölle?!“, entfuhr es Youma, immernoch schnell atmend, die Treppen wieder hinaufgehend:

„Was war das---“ Dann entdeckte er die immer noch leicht schwankenden Glocken hinter der Tür:

„Wieso bringt man denn so etwas an seiner Haustür an?!“ Nocturn blieb ruhig; seine Nervosität war kurzweilig verschwunden:

„Das ist ein Alarmsystem. Wird die Tür geöffnet, hört man es überall im Haus.“   

 

Und dann trat er ein, dicht gefolgt von Youma, der beim Schließen der Tür darauf achtete, nicht noch einmal die Glocken zu berühren. Sie standen nun in einem kleinen, vielleicht zwei Meter großen Eingangsbereich, durch dessen Fenster kaum Licht hereinkam, da sie komplett zugeschneit waren. In der Ecke stand ein Behälter für Regenschirme und gleich um die Ecke eine kleine Garderobe, die auch benutzt aussah – es hingen dort Mäntel, Jacken und Kapuzen und unter diesen ein paar aufgereihte Schuhe. Aber die Habseligkeiten schienen lange nicht mehr angerührt worden zu sein; auf ihnen lag eine genauso dicke Staubschicht wie auf allem anderen.

Ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen sahen vor ihnen einen langen, breiten und bei Licht sicherlich einladenden Gang, ausgelegt mit einem Teppich, dessen Farbe Youma nicht mehr zu deuten vermochte. Rot? Braun? Er war von der Zeit zerfressen worden, wie vieles an diesem Ort. Links und rechts besaß der Gang zwei ovale Öffnungen; die eine schien zu einer Küche zu führen, die gegenüber, der Garderobe am nächsten, schien zum Hauptraum des Hauses zu führen, einem großen Wohnzimmer. Obwohl.... vielleicht war der Hauptraum viel eher der Raum, der sich hinter den beiden Doppeltüren verbarg, an die der Gang anschloss? Und was befand sich wohl auf der zweiten Etage, zu der eine lange, neben der Küche anfangende Treppe führte?

 

Die beiden Dämonen befanden sich noch im Eingangsbereich, horchend und auch, auf jeden Fall Youma, fasziniert von diesem in der Zeit eingeschlossenen und von dieser mitgenommenen Ort.

 

„Ich glaube nicht, dass hier jemand ist“, raunte Nocturn Youma leise zu:

„Ich kann kein fremdes Atmen hören... und auch keine Gedanken.“

„Ich bin mir aber sicher, dass ich einen Schatten gesehen habe“, erwiderte Youma ebenfalls flüsternd, obwohl es dafür womöglich keinen Grund gab. Nocturn grinste ihn ein wenig von der Seite an:

„Bist du sicher, dass das nicht einfach eine sich bewegende Gardine gewesen ist?“

„Natürlich bin ich mir sicher! Wie soll sich denn eine Gardine von alleine bewegen? Und bevor du das geöffnete Fenster erwähnst: das war ein anderes Zimmer!“

„Na, wenn der Kronprinz das sagt...“ Auf Grund der Umstände wählte Youma, Nocturns spöttischen Tonfall zu ignorieren – versetzte aber dennoch einen leichten Stoß seines Ellbogens in die Rippen seines Partners, als er an ihm vorbeiging.

 

„Gut, wo fangen wir an?“ Nocturn machte eine leicht aufgebende Bewegung:

„Was suchen wir denn eigentlich?“ Youma warf einen Blick in die Küche und antwortete immer noch leise:

„Wir suchen nach Dingen, die deine Erinnerung zurückholen könnten – an einige Dinge kannst du dich ja scheinbar noch erinnern. Fotografien, Tagebücher... in diese Richtung.“ Er ging an Nocturn vorbei und schlenderte durch die sehr aufgeräumte Küche – dem ehemaligen Besitzer täte es sicherlich leid, dass sie so in Staub getaucht war. Alles, was Youma sah, stand ordentlich in Reih und Glied; Gläser, Teller, Kräuter... nur auf dem Tisch lag eine geöffnete, längst vergilbte Zeitung.

„Und natürlich ob sich hier irgendwelche Gegenstände befinden, die irgendeinen magischen Ursprung haben könnten und vielleicht für Dämonen interessant wären. Immerhin müssen wir noch das Mysterium mit unserer Verfolgerin klären...“ Youma drehte die Zeitung zu sich herum und warf einen hastigen Blick auf diese – lesen konnte er sie natürlich nicht und die menschlichen Buchstaben waren ihm auch immer noch Fremdkörper, aber die Überschrift ähnelte der, die Nocturn immer las:

„Nocturn, ist das nicht die Zeitung, die du auch liest? ... Nocturn?“

 

 

Genau wie Youma hatte auch Nocturn sich vorgewagt, allerdings in die entgegengesetzte Richtung, an der Garderobe vorbei – er hatte eigentlich in das Wohnzimmer gewollt, da blieb er allerdings an einer kleinen Kommode stehen. Auf eben dieser standen einige kleine, eingerahmte Fotografien; von der Zeit völlig verstaubte und daher kaum erkennbare Motive verbargen sich hinter dem verschmutzten Glas, weshalb Nocturn seinen Ärmel ausschüttelte und das Glas sauberwischte. Er hob den Kopf, wollte Youma gerade zurufen, dass er fündig geworden war, als er sich selbst in einem alten, goldgerahmten Spiegel sah – sich und das Spiegelbild einer anderen Person.

 

Youma hörte, wie etwas zu Bruch ging und schon das Donnern der Glocken.

„Nocturn?!“

Eilig ließ er alles stehen und liegen und rannte Nocturn hinterher – die Glocken donnerten ein weiteres Mal, die Tür klapperte, Youma sprang über das Treppengeländer, landete im Schnee und stürzte zu Nocturn.

 

„Pardonnez-moi, pardonnez-moi, Raria... Pardonnez-moi, pardonnez-moi...“  

 

Am ganzen Körper zitternd war er am Gartentor zum Stillstand gekommen, vor eben diesem auf die Knie gefallen, fast so, als könne er nicht mehr über ihn hinwegspringen.

 

„Raria, Raria, pardonnez-moi, je ne peux pas, je ne peux pas ...“  

 

„Nocturn?“

 

Pardonnez-moi, que je suis ici, pardonnez-moi, pardonnez-moi... Pardonnez-moi que je tu ai oublié ... que je dois tu oublier. Pourquoi, Raria? Pourquoi? Je endurer la ne souffrance pas... Je l'ai oublié ... Pardonnez-moi...“

„Nocturn!“, versuchte er es jetzt eindringlicher und legte dabei auch seine Hand auf Nocturns bebende Schultern, die langsam zum Stillstand kamen, als Nocturn stoßweise aufsah, dessen Hand mit seinen umschließend.

„Wir müssen weg, bitte, bitte bring mich weg, ich darf hier nicht sein...“, flehte er und die Tränen, die Youma völlig zum Erstarren brachten, rannten Nocturn aus den geröteten Augen:

„... wir hätten nie herkommen dürfen, nie, niemals... Ich darf mich nicht erinnern!“

Die Worte waren kaum über seine zitternden Lippen geflohen, da sackte er auch schon ohnmächtig zusammen und wäre in den Schnee gestürzt, hätte Youma ihn nicht aufgefangen.

Mit Nocturn in den Armen wollte er sich gerade, überzeugt, dass es das Beste für ihn war, zurück nach Paris teleportieren, als er bemerkte, dass das nicht möglich war – irgendjemand hatte einen Antiteleportationsbannkreis gewirkt. 

L'Impasse

 

Es gab keinen Weg, die momentane Situation zu verschönen: sie saßen in der Klemme. Teleportieren war nicht länger möglich, was jeden Zweifel auslöschte und bestätigte, dass sie tatsächlich verfolgt wurden... und Nocturn war bewusstlos. In der Hoffnung, dass der Antiteleportationsbannkreis vielleicht nur um das Haus herum wirkte, nahm Youma seinen bewegungslosen Partner Huckepack und machte sich auf den Weg zurück ins Dorf, dabei nach gefühlt jedem zurückgelegten Meter eine erneute Teleportation versuchend. Aber wer auch immer den Bannkreis gelegt hatte, so hatte er seine Arbeit gut getan, denn auch als sie wieder im Dorf ankamen, war das Teleportieren unmöglich. Ganz offensichtlich wollte irgendjemand – die Frau, die Nocturn am Bahnhof gesehen hatte? – nicht, dass sie diesen Ort allzu schnell wieder verließen.  
 

Natürlich – Nocturn war nicht sonderlich schwer, Youma könnte wahrscheinlich noch viele Kilometer mit ihm auf dem Rücken zurücklegen, aber es hatte wieder angefangen zu schneien und keiner von ihnen war warm genug angezogen für eine nächtliche Wanderung im Schnee... und irgendetwas sagte Youma, dass er es bei Nocturns momentanem Zustand nicht auf Zufälle ankommen lassen sollte. Von Minute zu Minute bildete Youma sich ein, dass Nocturn schwächer zu werden schien...  zu Beginn war sein verzagt gestammeltes „Pardonnez-moi“ und „Pourquoi?“ noch in kurzen Abständen über seine schwachen Lippen gekommen - fast so, als hätte er einen Albtraum –  doch nun vernahm Youma diese Worte kaum noch und sein Atem war langsam; der Arm, der an Youmas Schulter herunterhing, schlapp. Er sah nicht danach aus, als würde er in der nächsten Zeit wieder aufwachen – war es da nicht besser, den Versuch zu wagen, anstatt hier draußen in der nahenden Dämmerung darauf zu warten und zu hoffen, dass er aufwachen würde?

Noctürn?“

Youma, welcher gerade Nocturns blasses Gesicht besorgt gemustert hatte, sah auf. Vor ihm auf der dünnen „Hauptstraße“ von La Roche stand eine Frau mittleren Alters, gekleidet in einen dicken Mantel, Schal und eine sehr warm aussehende Wollmütze. Von Sorge und Argwohn eingenommen, hätte Youma sie sicherlich für einen verkleideten Dämon gehalten, aber die eigenartige Aussprache, die sie beim Sagen von Nocturns Namen angewandt hatte, verwischte seine Zweifel. Nocturn hatte ihm nämlich einmal erzählt, dass sein Name, da es ein französischer Name war, eigentlich anders ausgesprochen werden musste; er war die Aussprache, die die Wächter und die Dämonen benutzten, allerdings gewohnt und ärgerte sich nicht damit, jemanden in dessen Aussprache zu korrigieren.

Die Frau kannte Nocturn also offensichtlich – nun, bei einem so kleinen Dorf wahrscheinlich auch kein Wunder... und wäre Nocturn nicht gestorben und somit gealtert, wäre er sicherlich im gleichen Alter wie sie. Ob sie sich als Kinder gekannt hatten?

Aber so günstig dieser Zufall auch war, Youma konnte ihn leider nicht nutzen, da er sich nicht verständigen konnte. Aber die Frau verstand auch so: dass Nocturn Hilfe benötigte war deutlich zu sehen und dass Youma nicht derjenige war, der ihn in diesen Zustand versetzt hatte, erkannte sie wohl an dessen verzagtem Gesichtsausdruck.

Do you speak English?“ Youma hörte, dass sie eine andere Sprache benutzte, aber welche und was sie sagte war ihm ein Rätsel – verflucht sei die Sprachblockade! Zur Abwechslung hätte er Blue wirklich gut gebrauchen können... aber da er ihm nun einmal nicht helfen konnte, hoffte Youma, dass sein Gesichtsausdruck seine stumme Bitte übermitteln konnte.

Und zum Glück: das konnte sie. Das Haus, in dem sie lebte, war gleich um die Ecke und mit großer Fürsorglichkeit und großer Gastfreundschaft bereitete sie in aller Hast ein kleines unter dem Dach gelegenes Gästezimmer vor, in dessen Bett sie Nocturn legten. Kaum dass Youma Nocturn nicht mehr auf dem Rücken trug, verneigte er sich vor der helfenden Frau, in der Hoffnung, das könne seine Dankbarkeit übermitteln. Sie lächelte als Antwort und warf einen Blick zu Nocturn, der, wie Youma mit Schrecken feststellte, blasser geworden war. Irgendetwas teilte sie Youma mit; irgendetwas, was er natürlich nicht verstehen konnte, aber es hatte etwas mit Nocturn zu tun, denn seinen Namen hatte er heraushören können – wahrscheinlich so viel wie „Pass gut auf ihn auf“?

Dann ging sie die Treppe herunter und hinterließ einen ratlosen Youma, der sich, weil er nichts anderes tun konnte, einen niedrigen Hocker heranschob und sich neben Nocturn setzte. Seid sie hier angekommen waren, hatte er sich nicht mehr geregt; auch seine Stimme war kein weiteres Mal mehr zu hören gewesen.

Die Hilflosigkeit war schrecklich. Youma konnte nichts anderes tun, als bei ihm sitzen zu bleiben und zu warten... wenn er nur nicht alleine wäre; wenn sie zu zweit gewesen wären, dann hätte einer auf Nocturn aufpassen können, während der andere sich auf die Suche nach dem Urheber des Bannkreises machte, denn Youma wagte es nicht, Nocturn mit dieser Menschenfrau alleine zu lassen. Nicht weil er ihr nicht vertraute, sondern weil es, wenn der Verfolger hinter Nocturn her war, für ihn ein Leichtes wäre, die Frau umzubringen, um an den Bewusstlosen heranzukommen.

 

Youmas unheilschwangere Gedanken wurden von einem erneuten Besuch der Frau unterbrochen; überrascht hob er den Kopf und sah, dass sie eine dampfende Suppe auf einem Tablett mitbrachte. Da Nocturn immer noch schlief und keine Anzeichen darauf machte, in der nächsten Zeit wieder aufzuwachen, war es deutlich, dass sie dieses Essen für Youma vorbereitet hatte. Wieder versuchte der Dämon, sich mit Gebärden erkenntlich zu zeigen, als er das Tablett entgegennahm - sobald Nocturn wieder wach war, musste er unbedingt für ihn dolmetschen.

Erst als Youma die cremige Hackfleischsuppe probierte, spürte er nicht nur, dass er seit geraumer Zeit Hunger verspürt hatte, sondern auch, dass sein Körper ziemlich durchgefroren war - die warme Suppe tat gut und schmeckte obendrein. Nur das dazu servierte Brot war ziemlich hart, aber das schien eine Eigenart der Franzosen zu sein.

 

Kaum dass Youma den Teller geleert hatte, kehrte die Menschenfrau auch schon wieder zurück - allerdings nicht um das Service wieder abzuholen, sondern um ihm etwas zu zeigen - ein altes Fotoalbum, gefüllt mit sepiafarbenen Bildern. Warum verstand Youma zuerst nicht, aber nachdem sie hastig mehrere Seiten umgeblättert hatte und nach kurzem, nachdenklichen Zögern die richtige Seite gefunden hatte, verstand Youma es. Denn auf dem bräunlichen Foto, das sie ihm zeigte, war Nocturn am Rande einer kleinen Kindergruppe zu sehen.

 

Youma war sich bewusst, dass er das Bild anstarrte - aber es war einfach so ungewohnt, Nocturn so zu sehen! Youma hatte sich ihn irgendwie nie als Kind vorgestellt, aber hier sah er ihn vor sich und obwohl er seinen Augen zuerst nicht trauen wollte, war es ganz ohne Zweifel sein Partner, vielleicht zwölf Jahre alt, gemeinsam mit anderen Kindern seines Alters, auf einem hübsch dekorierten Teppich sitzend. Alle Kinder blickten lachend in die Kamera, Nocturn aber - und Youma musste grinsen, als er seine Hengdi erkannte, die er an sich drückte - sah in eine andere Richtung, als hätte irgendetwas seine Aufmerksamkeit erregt; etwas außerhalb des Bildes. Er war kleiner als die anderen; doch genauso dünn wie heute, aber seine Haare waren kürzer, gingen ihm nur bis zur Schulter - ob er Kontaktlinsen trug, konnte Youma aufgrund der Bildqualität nicht beurteilen.

 

Die Menschenfrau nahm ihm das Fotoalbum wieder aus der Hand und als Youma aufsah, zeigte sie mit dem Zeigefinger auf die Fläche unterhalb ihres rechten Auges - und Youma verstand, was sie meinte; sie wollte ihm sagen, dass sie Nocturn an seinem Zeichen wiedererkannt hatte.  

 

Wieder bedankte Youma sich und verfluchte dabei die Sprachblockade - wie interessant doch ein Gespräch mit ihr gewesen wäre! Hoffentlich war Nocturn zu irgendeinem späteren Zeitpunkt noch gewillt, ein Gespräch mit ihr zu führen; es würde Youma sehr interessieren, was sie über seinen Partner zu erzählen hatte. Denn es war ja nicht nur so, dass sie ihn ohne Zweifel kannte, sondern auch, dass es eine gute Bekanntschaft sein musste, wenn man jemanden nach so vielen Jahren von der Straße auflas und ihn dann auch noch in seinem Bett schlafen ließ, samt einer Person Essen gab, die man überhaupt nicht kannte.

 

Wieder ließ sie die beiden Dämonen alleine; schaltete vorher aber noch ein kleines Lichtlein an, das neben Nocturns Bett stand. Auf die Idee war Youma natürlich nicht gekommen, da ihm die Dunkelheit keine Beschwerden bereitete. Doch das Entzünden der Lampe erinnerte ihn an etwas - es war fast abends. Zu diesem Zeitpunkt hätten sie eigentlich schon wieder in Paris sein müssen.

 

Youma erhob sich daher und suchte das Handy aus seinem Rucksack heraus, welches natürlich mittlerweile über keine Batterie mehr verfügte. Aber zum Glück war er so voraussehend gewesen und hatte das Aufladekabel mitgenommen und kaum, dass er das Kabel angeschlossen hatte, leuchtete das Handy auch schon auf. Nocturn den Rücken zugekehrt wählte er die Nummer des Haustelefons in Appartement 667 und bekam - zu seinem Unsegen - Blue an den Hörer.

„Wo ist Feullé-san?“, fragte Youma daher sofort, denn eigentlich war es immer sie, die den Hörer abnahm, wenn es denn nicht Nocturn selbst war. Immerhin waren die beiden die einzigen, die Französisch wirklich beherrschten. 

„Sie ist gerade einkaufen gegangen.“  Eigentlich wollte Youma nicht mit Blue reden, aber es führt wohl kein Weg daran vorbei, wie er mit himmelnden Augen feststellte:

„Wir werden heute Abend wohl nicht mehr zurückkehren können.“

„Weshalb?“

„Zügele deine Neugierde“, zischte Youma verächtlich und fügte dann im gleichen Tonfall hinzu:

„Es dauert nur ein wenig länger als geplant, das ist alles.“

„Warum rufen Sie an und nicht Nocturn-sama?“ Warum nur war er ein so guter Beobachter - sogar durch das Telefon durch? Natürlich, es war eine berechtigte Frage, denn normalerweise wäre es wohl Nocturn, der angerufen hätte, um die Verspätung mitzuteilen. Aber warum bemerkte er diese Unregelmäßigkeit sofort, nein, warum zog er sofort immer die passenden Schlüsse!? Dieser Kerl war einfach schrecklich, schrecklich - warum hatten sie ihn im Team?!

„Er ist im Augenblick verhindert.“

„Was ist geschehen?“ Natürlich fragte dieser neunmalkluge Halbdämon nicht, ob etwas geschehen war, sondern sofort was. Wie er ihn hasste!

 

Aber Youma kam nicht dazu, zu antworten, denn aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er, dass Nocturn sich zu regen anfing. Kurz löste er das Handy von seinem Ohr, wollte gerade auf ihn zugehen, da hörte er aber noch Blue etwas überaus Interessantes sagen, was ihn sofort dazu brachte, sich von dem langsam aufwachenden Nocturn abzuwenden.

„Was?! Lacrimosa-san war da?! Warum hast du mich nicht sofort angerufen?!”

„Das habe ich. Ihr Handy war ausgeschaltet.“

„Was wollte Lacrimosa-san? Weshalb war sie da?“, drängte Youma zu wissen, dabei bemerkend, dass Nocturn langsam aufstand und an ihm vorbei aus dem Zimmer herausging.

„Das hat sie mir nicht sagen wollen. Sie spricht nicht mit mir, wie Sie wissen.“ Eigentlich wollte Youma das Gespräch sofort beenden, doch sein politisches Interesse hielt ihn am Handy gefesselt. Als sein dämonisches Gehör dann aber Französisch vernahm, das von unten zu ihm heraufkam, beruhigte er sich ein wenig.

„Du hast aber doch sicherlich deine eigenen Schlüsse gezogen. Also?“

„Lacrimosa-sama war in Eile. Es war so dringend, dass sie es mir sogar fast erzählt hätte - aber sie konnte sich gerade noch zurückhalten. Ich denke…. was auch immer Sie und Nocturn-sama tun, es sollte nicht mehr allzu lange dauern.“

„Wir können hier aber nun einmal gerade nicht weg - würdest du Green-san dazu zwingen, an Pflichten zu denken, wenn es ihr gerade nicht gut geht?!“

 

Schweigen.

 

Beide wurden rot.

 

„Was… was hat Green damit zu tun?“

„Nichts, ich meinte auch eigentlich deinen Bruder, weil der… also der Vergleich mit Nocturn ist ja… also… passender.“ Blue schien ihm immer noch nicht folgen zu können und auch Youma verstand sich selbst gerade nicht - aber er hörte unten die Tür aufgehen.

Von Instinkt getrieben schmiss er nun endlich das Handy beiseite, rannte herunter, vorbei an der verwirrt aussehenden Frau und zog im Vorbeigehen seinen Mantel vom Harken - und schon stand er in der Dunkelheit der Nacht.

 

La Médicine

 

 

Nocturns Mantel hatte noch an der Garderobe gehangen, seine Sachen lagen in dem Gästezimmer und wenn Youma genauer nachdachte… hatte er, als er das Französisch erkannt hatte, gar keine männliche Stimme gehört. Was war nur in ihn gefahren? Und viel wichtiger: wo war er?

 

Verwirrt und schnell atmend blieb Youma auf der Dorfstraße stehen, sich zu beiden Seiten umsehend; teleportieren war immer noch nicht möglich; er musste also in der Nähe sein. Nur welche Richtung sollte Youma einschlagen, um ihn zu finden? Die Straßenlaternen gaben nicht viel Licht und der nun wieder stark fallende Schnee erschwerte Youmas Sicht… war Nocturn die Straße herunter oder hoch gegangen? Rein logisch betrachtet, wenn Nocturn das Dorf verlassen wollte, dann müsste er der Straße nach unten folgen… aber ein Gefühl sagte Youma, dass dem nicht so war und er begann, den Weg zum unheilschwangeren Haus zu nehmen, dabei so schnell rennend, wie er nur konnte; ob ihn dabei Menschen sahen und die Stirn runzelten war ihm egal. Er musste Nocturn finden, er musste ihn finden, er musste es---

 

Nocturn legte die Hand auf das vereiste Treppengeländer. Das eiserne Metall war eisig kalt, dennoch umklammerte er es mit seinen dürren Fingern und hielt auch einen Moment inne; erstarrt, als wäre er selbst für einen kurzen Moment vereist. Das Heben seines Kopfes war eine langsame Bewegung; seine von Schmerz und Müdigkeit getrübten Augen schweiften über die geschlossene Tür vor ihm, nach oben, doch er konnte nur unscharf die Konturen des Hauses ausmachen; zu stark war der Schneefall. 

 

„Was mache ich hier… ich will doch gar nicht hier sein…“

Dennoch löste sich ganz automatisch seine Hand von dem Treppengeländer; sie streckte sich aus, er lehnte sich vor und berührte mit der empfindungslosen Hand die kalte Klinke der Tür. Er zögerte nicht; etwas in ihm hatte die Oberhand übernommen, hörte nicht auf irgendwelche Proteste – und schon stand die Tür offen; das Donnergrollen der Glocken brachte den Schnee zum Beben, Nocturn erschrak aber genauso wenig wie beim ersten Mal.

Kaum hatte er einen Schritt über die Türschwelle getan, entstellte ein gepeinigtes Zucken sein blasses Gesicht--- 

 

„Was kommst du hier so rüpelhaft hereingestürmt, Junge? Im Haus wird nicht gerannt! Und zieh deine Schuhe aus…“

 

Sein Atem beschleunigte sich; er musste sich abstützen; seine Sicht verschwamm – aber dann übernahm sein Instinkt kurz wieder, seine Sicht kehrte zurück, wie auch sein Bewusstsein, denn er bemerkte, dass vor ihm, in dem langen roten Gang, jemand stand und deutlich spürte er auf einmal, wie diese Person ihn beobachtete.

 

„Willkommen Zuhause, mein Kleiner.“

 

Nocturn wusste schon, ehe er den Kopf hob, wer die Person war, die ihn freudig anlächelte, deren Lächeln aber absolut gar keine Wärme in ihm weckte oder gar ein erwiderndes Lächeln. Auch den Gruß ignorierte Nocturn und erwiderte stattdessen argwöhnisch:

 

„Wer bist du?“

 

Nathiel biss sich auf die Unterlippe, sah kurz wütend und verletzt aus und ein kurzes, aber starkes Zittern überspülte ihren Körper und ihre Stimme war heiser, als sie antwortete:

„Karou-san hat also recht gehabt… ich hasse es, wenn er recht hat… Du hast sogar mich vergessen? Wie kannst du nur! Wo wir doch… so viel… teilen…“ Nocturn war offensichtlich noch zu geschwächt und sein Instinkt hatte noch nicht gänzlich zurückgefunden, denn er sah ihre Reaktion nicht kommen, weshalb er sie im ersten Moment nur schockiert ansah und nichts tat, als sie seinen rechten Arm plötzlich packte und seinen Ärmel hochriss, womit das geschah, was er absolut verabscheute – seine Narben wurden sichtbar.  

„Aber dein Körper! Er kann mich nicht vergessen, unmöglich, niemals---“ Wie hypnotisiert starrte sie Nocturns Narben an; ihre Augen wurden kleiner, sie glühten förmlich, aber Nocturn riss seinen Arm aus ihrem Griff los, versuchte das unerklärliche Zittern in sich zu ignorieren, sowie das heftige Zusammenzucken, als die Frau seinen Arm berührt hatte… die immer stärker werdende Angst--- aber Angst? Wovor? Warum? Er konnte sich doch wehren; er konnte sich doch gegen alles wehren; was war mit seinem Körper los, warum fühlte er sich so gelähmt an? Er musste sich zusammenreißen, befahl er sich selbst, aber stattdessen starrten die beiden Dämonen sich nur an. Ihr Grinsen wurde langsam zu einem breiten Lächeln und ihre Stimme… ein hohes Flüstern… brachte sein Herz in Aufruhr; der Tonfall war es, nicht ihre Worte--- er kannte den Tonfall, er kannte ihn, nah an seinem Ohr, tief eindringend---

 

„Ich werde dir helfen, dich zu erinnern.“

„Nein, nein, das ist nicht…“

„An alles – es wird wehtun, aber ich bin ja für dich da!“

 

Zuerst verstand Nocturn nicht, was er sie da tun sah oder wofür das gut war; sie löste das Haarband, das ihren Zopf aufrecht hielt, ihre blauschwarzen Haare fielen herunter, sie schüttelte den Kopf hin und her und begann dann, beinahe gemütlich, alltäglich, leise summend, ihre Haare hochzustecken. Nocturn verstand immer noch nicht, wozu das gut sein sollte---- aber da durchfuhr ihn ein so heftiger Stoß, dass er rückwärts taumelte, wie von einer unsichtbaren Hand attackiert. Er stieß gegen die Fenster, konnte seine geweiteten Augen nicht von ihr abwenden, unterdrückte nur mit Müh und Not einen Schrei---

„Hihihhiihihihihihiiiiihihi, wie ich sehe, weckt dieses Aussehen etwas in dir?“ Sie grinste breit, mit weit nach oben gezogenen Mundwinkeln, was sie aber plötzlich zum Erstarren brachte:

„Oh nein, oh nein, ich darf ja nicht lächeln; sie hat ja nie gelächelt…“ Sie ging nun auf ihn zu und man sah ihr tatsächlich deutlich an, dass sie ein Grinsen unterdrücken musste:

„Sie war immer so streng; nie hat sie uns unseren Spaß gegönnt. Wir haben immer sehr unter ihr gelitten, erinnerst du dich?“

„Nein! Nein, nein, tue ich nicht!“ Aber das war gelogen, denn sein Körper zwang ihn dazu, sich zu erinnern; trotz allem Widerwillen war es ihm nicht möglich, seine bebenden Augen von der Person vor ihm abzuwenden und er spürte förmlich, wie etwas in ihm Risse bekam, dass etwas heraustrat wie Wasser in einem Becken, das einen Riss bekam---

„Dennoch hingen wir immer an ihr – wir konnten uns nicht abwenden, egal, wie streng sie war…“

 

Es stimmte. Sie war immer sehr streng gewesen.

 

Nein, ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht----

 

Sehr strikt. Konsequent. Sie hatte von den Gefühlsausbrüchen anderer gelernt, von ihnen Abstand genommen.

 

Ich kenne sie nicht, ich kenne sie nicht!

 

Sie strafte oft. Lohnte und lobte selten.

 

„Aber ihr Spielen…“ Nathiel konnte jetzt ein Lächeln unmöglich unterdrücken, als sie diese Reaktion hörte und sah, wie Nocturn den Kopf wieder hob. Er starrte mit verklärten Augen seine eigenen Hände an, jeden Widerstand aufgebend – die Erinnerungen waren zu stark, zu aufdringlich…

„… ihr Spielen auf dem Flügel… ihre Melodien…. Ihre Finger auf den Tasten…“ Nathiel beobachtete aufmerksam, wie er, während er diese Worte wispelte, einen Schritt vor den anderen setzte. Sie wartete geduldig, beobachtete jede einzelne Bewegung von ihm; seine zaghaften Schritte vorwärts, als hätte er das Gehen verlernt, das kleine, zerbrechliche Lächeln auf seinem Gesicht. Sie nahm alles begierig in sich auf – genauso freudig, wie sie nun die Arme öffnete und Nocturn völlig widerstandslos in diese schloss.

„Jetzt wird alles wieder gut. Alles wird wieder wie früher…“ Sie schlang ihre Arme fest um ihn und spürte, wie die Tränen in ihr aufkamen, als sie spürte, wie er seine dürren Arme ebenfalls um sie schlang.

„… aber zuerst musst du jetzt artig sein. Du musst deine Medizin nehmen.“ Du musst deine Medizin nehmen. Diese Worte hallten wieder in den Ohren Nocturns, dessen Gesicht halb verborgen war durch ihre feste Umarmung - Du musst deine Medizin nehmen. Er musste artig sein… er wollte nicht… die Medizin war schrecklich. Er mochte diese Worte nicht. Deren Abfolge mochte er nicht. Den Tonfall mochte er nicht. Die Medizin mochte er nicht. Er wollte nicht artig sein.

 

„Wenn ich artig bin… wenn ich die Medizin nehme… Spielen wir dann danach…?“    

„Ohja!“ Nathiel kicherte über Nocturns Kopf hinweg, was er nicht bemerkte, zu fern war er jeglicher Realität; in heller Vorfreude sprach er plötzlich von Melodien, welche sie spielen würden, ob sie wieder sein Lieblingslied spielen würde…

„Ohja, ohja, wir werden spielen.“ Voller Sehnsucht betrachtete sie seine Medizin; auf die er gar nicht achtete, weil sie nicht zu seinem Traumbild gehörte, nicht zu diesem passte – eine helle, purpurfarbene Kugel, die Nathiels Hand zum Leuchten brachte. Ein Versuch. Wie Karou es nennen würde. Ein Versuch.

„Und jetzt sei artig und mach den Mund weeeeeiiiiit auf, damit wir gleich, hihihi, spielen können.“   

 

 

Wieder im Wald angekommen verlangsamte Youma seine Schritte, sich sorgfältig umsehend, was hier leichter war, da die Baumkronen nicht viel Schnee hindurchließen und seine Sinne als Wächter der Dunkelheit damit uneingeschränkt waren. Aber egal in welche Richtung er sah, egal wie tief seine sich nun im Dämonenmodus befindenden Augen in die Dunkelheit hinein drangen, nirgends sah er jemanden. War er schon beim Haus angekommen? Aber warum? Was wollte er da, wenn er ihn doch angefleht hatte, ihn wegzubringen?

 

Youma wollte gerade wieder anfangen zu rennen, da blieb er auf der Stelle stehen - hinter ihm stand jemand.

 

Die Hand angriffsbereit an seinem Glöckchen wandte Youma sich herum - und war kurz überrascht über die Person, die er da vor sich stehen sah.

„Na-Nathiel-san? Was… was machen Sie denn hier?“ Noch bevor er seine Verwunderung zum Ausdruck gebracht hatte, verstand er schon - schwarze Haare, rote Augen; Nathiel war ihre Verfolgerin; aber… wieso? 

„Oh, Sie erinnern sich an mich?“ Ihre roten Lippen verformten sich zu einem schmalen Lächeln, welches die glasklaren Worte einrahmte:

„Das hatte ich eigentlich nicht erwartet. Aber ich fühle mich natürlich sehr geschmeichelt, dass so ein attraktiver Dämon sich an mich erinnern kann.“ Sie lächelte immer noch, nur unterbrochen von einem kurzen Kichern, das Youma durch Mark und Bein ging - sonderlich geschmeichelt fühlte er sich auch nicht.

„Was tun Sie hier, Nathiel-san?“ Sie löste ihre roten Augen nun von ihm und sah mit in den Nacken gelegten Kopf in den Wald hinein:

„Eine schöne Gegend, nicht wahr, Youma-san? Und ein so schönes Haus; so viele schöne Erinnerungen… es hat lange gedauert, bis mein Kleiner Nachhause zurückgekehrt ist. Viel zu lange.“ Lächeln wandte sie sich wieder zu ihm herum; ein seeliges Lächeln, voller Glück und sehnsüchtiger Vorfreude:

„Er will endlich wieder mit mir spielen, endlich. Endlich!“

 

 

Jede einzelne Stufe knatschte unter Nocturns Füssen. Sie knatschten lauter als früher; die Zeit war daran Schuld… ja… die Zeit… Sein Körper fühlte sich eigenartig an… seine Augen brannten… seine Sicht verschwamm immer wieder… das war die Medizin. Er hatte sie genommen. Sie war anders als sonst gewesen. Ein anderer Geschmack. Eine andere Konsistenz. Aber bald durfte er wieder mit ihr spielen. Er musste nur noch… musste nur noch…

Er öffnete die Tür zu dem Zimmer, in das er eigentlich nicht durfte. Sie war nie abgeschlossen gewesen, aber weil sie ihm gesagt hatte, dass er den Raum nicht betreten durfte, hatte er es nie getan. Man hielt sich an ihre Vorschriften.  

„…es tut mir leid…“ Entschuldigte Nocturn sich mit leiser, zitternder Stimme bei dem ehemaligen Besitzer des Zimmers und bei ihr, weil er ihr Verbot missachtet hatte.

Er ging zum Fenster, zum darunter stehenden Stativ, zur Halterung, die schon so lange leer gewesen war. Aber dann erwachte der letzte Rest von Nocturns Bewusstsein: 

„Was…was tue ich denn hier…?“ Seine Hände zitterten, bebten, Tränen brannten in seinen Augen, als er seine Hand über seinen Kopf nach hinten bog; so eine gewohnte Bewegung, weil dort seine Hengdi saß.

„…nein, nein, das ist meine, warum löse ich sie; ich will doch jetzt gar nicht…“ Das bekannte Geräusch des leichten Klickens ertönte. Die Hengdi löste sich aus ihrer Halterung. Er musste sie abgeben, zurückgeben, sie gehörte ihm nicht…doch, doch, das tat sie, ohne sie war er nicht… war er nicht…

Aber das ist das Mindeste. Das Mindeste, was er tun konnte... um sich zu... um zu...

Nein! Nein! NEIN!

 

 

„Nun, er wird seine Gründe gehabt haben, diesen Ort zu meiden“, antwortete Youma herablassend, denn er war nicht gewillt, Nathiels komisches Spiel auch nur in irgendeiner Weise zu unterstützen, indem er auf ihre Worte einging. Diese Frau war ihm schon immer unheimlich vorgekommen und dass sie hier plötzlich auftauchte und sie offensichtlich schon eine Weile verfolgt hatte, machte den Eindruck, den er von ihr hatte, nicht gerade positiver.

„Was wollen Sie eigentlich von Nocturn?“

„“Nocturn“?“, wiederholte sie leise und ihre Augen verengten sich dabei eine Spur, doch sie sah ihn dennoch nicht wieder an - sah sie in die Richtung des Hauses?

„Sie benutzen also auch diesen beschämenden Namen…“

„Welchen Namen sollte ich denn sonst benutzen?“

 

 

Es sollte aufhören; er wollte das alles gar nicht sehen, er wollte sich nicht erinnern - diese Erinnerungen! Diese verfluchten Erinnerungen, das waren nicht seine! Sie waren nicht seine, er wollte sie nicht sehen, wollte nicht ihren Schmerz spüren, sie mussten verschwinden, alles musste verschwinden, alles; das Haus, jede Erinnerung, die sich damit verband, die ihn quälen wollte - er hielt es nicht aus, er hielt es nicht aus, aufhören, aufhören!

 

Er wollte diesen toten Körper im Schnee nicht sehen - aufhören----

Er wollte diese Frau nicht kennen - er kannte sie nicht, er kannte sie nicht----

Nicht wissen, nicht wissen, niemals wissen, wie sie gestorben war - es ging ihn nichts an, das alles… das alles berührte ihn nicht… aber dieser Schmerz, er zerriss ihn, er würde ihn in Stücke reißen… viele kleine Einzelteile, nie wieder zusammen----

 

„…Hilfe, Hilfe, irgendwer, hilf mir---- ich kann das nicht aushalten; irgendwer, Hilfe! Irgendwer, mach, dass es…es aufhört---- aufhören, AUFHÖREN!“

 

Youma wirbelte in die gleiche Richtung, in die Nathiel die ganze Zeit geblickt hatte, weshalb er nun nicht sah, dass sie erstaunt, aber auch überaus erfreut lächelte. Nur ihre Worte hörte er noch, ehe er losrannte:

„Oho, mein Versuch ist gelungen! Karou-san wäre stolz auf mich!“

 

Youma sprang über den Zaun, landete auf den rutschigen Treppenstufen, riss die Eingangstür auf, achtete nicht auf das schier bebende Haus, stürzte die Treppe hoch und geriet dann doch ins Stocken.

 

Das gesamte Zimmer war in ein vibrierendes, purpurfarbenes, grell leuchtendes Licht getaucht - ein Licht, das von Nocturn ausging, der auf dem Boden in sich zusammen gekrampft kauerte, die Hände in seinen Kopf vergrabend; irgendetwas in schneller Hast vor sich hin redend - aber zugegeben, das war nicht das, was Youma im Moment am meisten schockierte - diese Magie--- das… das war keine dämonische Magie, das… sah aus wie, das fühlte sich an wie… die Magie eines Wächters?! Aber das… das konnte doch nicht sein, das konnte doch keine freigesetzte Illusionsmagie sein - doch nicht von Nocturn!

 

„Nocturn!“, schrie Youma, sich zu ihm vorkämpfend, den Arm dabei vor sein Gesicht haltend, denn das Licht blendete stark; es war schwer, voranzukommen, als würde ein Wirbelsturm in dem Zimmer toben, sich ausbreiten, alles verschlingen - war das wirklich Illusionsmagie?!

 

Wieder rief Youma seinen Namen - er streckte die Hand nach ihm aus, aber Nocturn hörte nichts, sah nichts--- und dann ergriff Youma Nocturns Schulter.       

 

 

 

 

 

 

 

 

L'Illusion de Youma

Es war warm; behaglich. Um einiges behaglicher als die Holzbank des gestrigen Abends... ah, kein Wunder; Youma erkannte es, noch ehe er die Augen aufschlug; den Geruch eines frisch gepressten Kaffees, das ferne Geräusch der lebendigen Stadt... er lag in seinem eigenen Bett und genau wie jeden Tag wollte er sich noch einmal herumdrehen, obwohl er wusste, dass es bereits spät war... er musste aufstehen, aber er wollte sich noch ein einziges Mal herumdrehen...  

Gähnend ging er diesem drängenden Wunsch nach, sich bewusst, dass er ein störrischer Langschläfer war... als er bemerkte, dass er nicht alleine war.

 

„Du hast dich schon zweimal umgedreht; du bist einfach unverbesserlich.“

 

Widerstrebend öffnete Youma ein Auge und sah Nocturn neben sich im Bett liegen. Offensichtlich war er schon eine Weile wach, denn sein neckisches Grinsen deutete keine Müdigkeit an.

„Was machst du in meinem Bett?“

„Hatten wir nicht vor Kurzem erst festgestellt, dass es eigentlich mein Bett ist?“

„Ich bin es aber, der in diesem schläft und es auch gerne noch ein wenig tun würde.“ Demonstrativ schloss Youma seine Augen wieder und wollte sich gerade von ihm abwenden, als jeglicher Versuch, wieder einzuschlafen oder wenigstens noch ein wenig zu schlummern, von Nocturn durchkreuzt wurde:

„Warum denn jetzt so abweisend? Das sah gestern Abend aber noch anders aus.“ Youma öffnete die Augen wieder und Skepsis zeigte sich in ihnen:

„Wovon redest du?“

„Ach, will der Herr es etwa schon wieder verdrängen?“ 

 

Youma verwirrte diese Aussage; wovon... wovon sprach er?

Aber ehe er mehr als Verwirrung erwidern konnte, beugte Nocturn sich plötzlich zu ihm und – Youma hätte es verhindern können, aber warum sollte er? – legte seine Lippen auf seine.

Der erste Impuls war Überraschung, der zweite Abwehr, aber warum? Es war lange her, aber für einige Stunden war es ihm so natürlich vorgekommen und als er es jetzt wieder spürte, fragte er sich, warum er gegen den Drang überhaupt angekämpft hatte; ließ es deshalb geschehen, froh, den ganzen Zwängen plötzlich entfliehen zu können.

 

Nocturn löste sich wieder von ihm, indem er grinsend den Kopf ein Stück anhob, so dass sich ihre Nasenspitzen gerade berührten und sein schwarzes, leicht zerzaustes Haar Youmas Wange streifte.

„Ich frage mich, wie lange du es noch verdrängen kannst.“  

 

Nocturns Grinsen wurde breiter, aber ehe Youma antworten konnte, erhob er sich aus dem Bett und verschwand ein wenig vor sich hin summend aus dem Zimmer. Youma, welcher sich einfach nicht von einer unergründlichen Verwirrung befreien konnte, ließ sich noch einmal ins Kissen zurückfallen, ehe er dann entschieden aufstand und Nocturn folgte.

 

„Wo sind Feullé-san und Blue-san?“, fragte Youma, da das Wohnzimmer samt der Küche ungewohnt leer war. Es war auch nicht Feullé, die den Kaffee kochte, sondern Nocturn. Er reichte ihm den frischgepressten Kaffee und antwortete lächelnd:

„Die sind nicht hier. Hier sind nur du und ich.“

 

Nocturn lächelte immer noch, obwohl Youmas Gesichtsausdruck misstrauisch wurde.

„Trink deinen Kaffee, Youma, ansonsten wird er kalt.“ Aber er war schon kalt; er war von Anfang an nicht heiß gewesen.

„Ich habe Kopfschmerzen“, antwortete er statt seinen Kaffee anzurühren, die Stirn in skeptische Falten gelegt, als würde er dem Schmerz auf den Grund gehen wollen – Nocturn schien sie allerdings nicht ergründen zu wollen, denn er antwortete wissend:

„Die werden bald verschwinden.“

 

Irgendetwas an Nocturns Tonfall machte Youma unruhig – aber was war es? Es war doch alles normal... nein, warte. Eigentlich war nichts normal. Aber was war es, das ihn irritierte? Was war es, das es nicht normal machte... denk nach, Youma, denk nach – er wusste, dass er die Lösung kennen musste, aber sein Kopf schmerzte so sehr; der Schmerz blockierte seine Gedanken.

Wie waren sie überhaupt hierher gelangt? Das Dorf... waren sie nicht im Dorf? Gefangen weil... oh Gott, der Schmerz... ein Antiteleportationsbannkreis, gewirkt von... aaaaaaaaargh--- er musste weiterdenken, aber der Schmerz, argh, denk nach, denk nach!

 

Der Schmerz hatte ihn dazu gebracht, sich zusammenzukrampfen, aber das Aushalten der Schmerzen hatte etwas bewirkt; das allzu bekannte Zimmer, die Welt um ihn herum, sie war... grau. Sie hatte jegliche Farbe, jegliches Leben verloren – kein Geräusch drang mehr herein, es herrschte absolute Stille; die Vögel, sie flogen nicht mehr, waren eingefroren – das einzige, das noch Farbe besaß und in dieser grauen Welt leuchtend hervorstach, waren Nocturns purpurne Augen.

 

„Was... was ist mit deinen...“ Der Schmerz gewann an Intensität; er durchzuckte Youma bohrend und als könne seine Hand etwas daran ändern, fuhr sie automatisch hoch zu seinem Kopf.

„Ist das hier eine Illusion? Wir sind immer noch...“ Er konnte nicht darüber nachdenken; es ging einfach nicht; der Schmerz blockierte ihn.

 

„Nein, so kann man das nicht nennen. Es ist eher eine... sagen wir, Visualisierung.“

„“Visualisierung“?“, wiederholte Youma skeptisch, aber auch stöhnend; der Schmerz nahm immer weiter zu, weshalb er auch nichts tun konnte, um Nocturn dazu zu bringen, ihn nicht mehr so widerlich anzulächeln. So von oben herab, so herablassend, hochmütig...

„Ach, das magst du nicht? Das ist eigenartig, denn so lächelst du immer; so siehst du aus, wenn du auf andere herabsiehst.“

„Wie ist das möglich---wie kannst du meine Gedanken lesen?!“

„Du hast wirklich noch nicht begriffen, wo wir hier sind, oder? Aber keine Sorge, ich werde es dir zeigen...“

 

Und dann wurde der Schmerz so unerträglich, dass Youma aufschreien musste – es war unmöglich, es zu unterdrücken; er ging auf die Knie, musste sich den Kopf jetzt mit beiden Händen festhalten, bemerkte nicht, wie Nocturn weiterhin mit hochmütigem Lächeln auf ihn herabsah---

 

„Was habe ich mir nur dabei gedacht?“

 

Das... das war seine eigene Stimme---

 

„Warum habe ich nicht versucht, es zu unterbinden?“

„Es hat nichts bedeutet.“

„Es war ein Versehen.“

„Ich werde einfach nicht mehr darüber nachdenken.“

„Ich muss mit Silence reden, ich muss es ihr doch beichten...“

„Sie liebt mich doch sowieso nicht mehr.“

 

„Du weißt, wo wir sind, oder, Youma? Wir können nur an einem Ort sein...“

 

„Es ist nichts passiert, es ist gar nichts passiert.“

„Warum sagt er denn gar nichts dazu? Warum macht er mir keine Vorwürfe?“

„Es war ein Unfall. Darin sind wir uns wohl beide einig. Darüber müssen wir gar nicht reden.“

„Ein Unfall.“

 

„All diese Dinge, die du nie ausgesprochen hast, die vielleicht nie zu Worten geformt worden sind.

 

 „Ich vermisse seine Nähe...“

 

„Weil du sie verdrängt hast, aber das Unterbewusstsein ist immun gegen Verdrängung.“`

 

„Abstand halten. Ich muss Abstand halten.“

„Es wird nicht wieder passieren.“

„Ich würde ihn so gerne wieder berühren... ob nur ich das will?“

„Nocturn ist wie immer. Ich muss auch wie immer sein.“

„Nicht darüber nachdenken. Wenn ich nicht darüber nachdenke, dann bin ich auch nicht... dann bin ich auch nicht...“

„Wem mache ich eigentlich etwas vor?“

 

„Raus aus meinen Gedanken!“

Youma war es gerade noch gelungen, diese Worte zu rufen, da wurde er auch schon zu Boden geworfen und er spürte, dass Nocturn ihm ohne Probleme den Verlobungsring vom Finger zog.

 

„Gib ihn mir zurück!“, fauchte Youma wütend, doch Nocturn lachte nur boshaft:

„Der ging aber ganz schön leicht von deinem Finger! Saß der schon immer so locker?“ Youma wollte sich auftürmen, Nocturn von sich herunterstoßen, aber der Schmerz lähmte ihn, ließ seine Sicht verschwimmen – aber den Ring sah er; triumphierend hielt Nocturn ihn hoch --- er musste ihn zurückbekommen---

„Normalerweise, Youma...“, fuhr Nocturn fort, auf Youmas Proteste gar nicht achtend, die glühenden Purpuraugen auf den goldenen Ring gerichtet:

„Wäre es nicht so einfach, dir den Ring von deinem Finger zu ziehen. Du nimmst ihn nie ab. Du trägst ihn immer – aber hier, in deinem Unterbewusstsein, dem Ort, dem du nichts vormachen kannst, haben sich Zweifel eingenistet, die den Ring lockern – hier könntest du ihn leicht abnehmen, hier kannst du ehrlich zu dir sein. Du warst nicht überrascht, als du neben „mir“ aufgewacht bist; verwirrt ja, weil du du bist und deine ewigen Zweifel sich sogar in deinem Unterbewusstsein verbreiten – aber trotz deiner Zweifel konntest du dich nicht gegen das Gefühl des „Wollens“ wehren. Du willst den Ring abziehen. Du willst ihn berühren. Du willst all die Dinge wiederholen, die ihr schon einmal getan habt und dann willst du am nächsten Morgen neben ihm aufwachen. Und du willst hören, dass er das gleiche will, weil du in ihn verliebt bist. Also...“ Er beugte sich nun zu dem vollkommen sprachlosen Youma herunter, den Verlobungsring mit seiner Faust umschließend:

„... warum lässt du die Zweifel nicht mal Zweifel sein und lässt dieses „Wollen“ einfach geschehen?“

 

Sprachlos und schockiert war Youma zwar von dieser absoluten und schonungslosen Ehrlichkeit, aber nicht handlungsunfähig – und als der andere Dämon ihn ein weiteres Mal küssen wollte, stemmte er seine flache Hand gegen dessen Stirn, stieß ihn von sich weg, warf den nun Lachenden zu Boden, stemmte seinen Fuß auf dessen Oberkörper und beschwor seine Sense, deren Klinge an die Pulsader des anderen sauste und dort zum Stillstand kam. Offensichtlich sah der andere Dämon die Situation aber nicht als sonderlich ernst an:

„Ahahaha, natürlich, natürlich – der Kronprinz will natürlich dominieren; geht ja auch nicht, dass der so Hochwohlgeborene unten liegt!“

 

„Wer bist du?! Sag es mir auf der Stelle oder ich werde dich enthaupten!“

Der sich unter ihm Befindende lachte gegen das Sensenblatt, aber die Wohnung, die Welt um sie herum, zerfiel; wurde grauer und grauer, bis sie schwarz wurde und nicht mehr zu sehen war.

„Wie kommst du jetzt auf einmal darauf, dass ich nicht „Nocturn“ bin? Sehe ich nicht genauso aus wie er?“, antwortete er, die Drohung Youmas scheinbar nicht sonderlich ernst nehmend.

„Du magst aussehen wie er, aber Nocturn würde niemals das Wort „verlieben“ benutzen, weil er meint, es gäbe nur Verlangen.“ Das brachte das Lachen auf seinem Gesicht tatsächlich zum Verschwinden:

Wie bitte?! Ich habe die ganze Zeit Hinweise gestreut und du hängst dich an einem einzelnen Wort auf?!“Youma antwortete nicht; stattdessen aktivierte er seinen Dämonenmodus und schob die Sense ein kleines Stück näher an dessen Kehle.

„Also gut, also gut, du kannst mich zwar sowieso nicht umbringen, aber ich will mal nicht so sein. Ich „bin“ Nocturn, aber nur im Prinzip. Ich könnte aussehen wie jeder andere, aber er ist momentan der Präsenteste in deinem Unterbewusstsein, daher sehe ich aus wie er – und natürlich besteht eine kleine Verbindung zu ihm, weil er für diese Visualisierung deines Unterbewusstseins verantwortlich ist. Deswegen kann ich dich vielleicht auch zu ihm bringen – wenn du mal die Sense von mir wegnehmen würdest, besten Dank – im Endeffekt bin ich auch nur eine Visualisierung. Eine Visualisierung deines Unterbewusstseins – und das in deinem Unterbewusstsein, ist das nicht herrlich paradox!? – kombiniert mit deiner Vorstellung von „Nocturn“.“ Kaum dass diese komische Gestalt sich nun wieder aufrichten konnte, da Youma die Sense entfernt hatte, fiel ihm Youma ins Wort:

 

„Warte, warte – ich stelle mir Nocturn aber nicht so nervig vor wie du.“

„Danke, ich finde dich auch nervig – das ist dein Selbsthass.“

„Ich hasse mich nicht selbst.“

„Du willst mir wirklich etwas vormachen? Soll ich ältere Gedanken heraussuchen, Gedanken an Light? Wollen wir uns noch mal den Mord an ihm und Silence angucken?“

„Du bist trotzdem nicht wie Nocturn.“

„Ohohohoho und jetzt umgehst du das Thema – wie immer!“     

     

Die Umgebung um sie herum änderte sich langsam; die Schwärze nahm Form an, Graustufen erschienen und bildeten gemächlich eine bizarre Szene, die Youma allerdings schnell als Eterniya wiedererkannte; seine alte Heimat, jedoch fern von dem, an was er sich normal mit Schmerz und Sehnsucht erinnerte. Auch hier war alles grau, wirkte alt und heruntergekommen; die sonst so prachtvollen Säulen zerstört, der ornamentierte Boden aufgerissen; die Pflanzen waren eingegangen; das von ihm so geliebte goldene Gras war tot.

„Auf die Umgebung habe ich übrigens keinen Einfluss“, flüsterte der Nocturn neben ihm triumphierend, weil die neue Szenerie seinen Punkt natürlich wunderbar untermauerte. 

 

Youma begann zu gehen, gefolgt von seinem komischen Begleiter, denn eigentlich war er nicht überrascht über diesen Ort oder wie er aussah – es war immerhin tatsächlich sein eigenes Unterbewusstsein und wie oft hatte er sich in Träumen nicht schon an diesem Ort wiedergefunden?

 

„Wie ich schon sagte“, begann der „Nocturn“:

„Entspreche ich in etwa deiner Vorstellung von ihm. Aber es ist unmöglich, dass man, wenn man sich eine Person vorstellt, diese so treffen wird, wie sie in Wahrheit ist – man mischt etwas von sich selbst, seine eigenen Erwartungen, sein eigenes Denken, mit hinein in diese Vorstellung – daher bin „ich“ unter anderem so hochmütig und übernehme viele deiner Gesichtsausdrücke.“ Youma warf ihm einen finsteren Blick zu, ließ ihn aber ungehindert fortfahren:

„Nocturns Asexualtität zum Beispiel ist etwas, was du nicht verstehen kannst, weil du selbst alles andere als das bist. Du weißt zwar, dass er es ist, aber weißt du, wie es ist, asexuell zu sein? Nein. Daher weiß „ich“ das auch nicht.“ Youma deutete ein kleines, verstehendes Nicken an, während sie schnellen Schrittes vorangingen – aber wenn er so einen „Begleiter“ hatte, hatte Nocturn das dann auch? Oder war es bei ihm etwas anderes, weil er der Urheber dieser Scheinwelt war?

 

„Aber ich kann – wie gesagt – auch andere Gestalten annehmen.“ Sofort blieb Youma wie angewurzelt stehen, als er neben sich plötzlich niemanden mehr stehen sah. Er wusste sofort warum, denn die Person, in die er sich verwandelt hatte, war nicht genauso hoch wie er und als Youma nach unten blickte und somit Hikaru sah, erschrak er fürchterlich. Er sah diese kleine Kindergestalt, ebenfalls mit absolut nicht passen wollenden Purpuraugen, allerdings nur kurz, da verwandelte er sich wieder in Nocturn zurück:

„Buah, ich habe vergessen, dass Hikaru nicht reden kann!“

„Mach das nicht noch einmal!“

 

Aber er tat es noch einmal: während sie durch die Einöde dieser grauen Welt wanderten, verwandelte sein Begleiter sich zweimal in den namenlosen Dämonenherrscher und wagte es tatsächlich, sich auch einmal in Light zu verwandeln; ein Anblick, der Youma einfach nur zum Erstarren brachte, denn nicht nur die purpurfarbenen Augen waren ihm in diesem hellen Gesicht zuwider, sondern auch dessen absolut nicht nach Light aussehendes Grinsen.

Nach dieser schrecklichen Verwandlung wiederholte er keine mehr und verweilte in Nocturns Gestalt; Youma ignorierte ihn trotzdem, sich selbst fragend, ob er wohl zur Selbstbestrafung neigte, wenn er sich selbst solche Dinge in seinem Unterbewusstsein zeigte.

Zunehmend wurde es kälter und dunkler und schon bald erkannte Youma die Umgebung nicht mehr; es schien ihm, als würden sie durch einen Felstunnel wandern, aber es war so dunkel, dass er das nicht klar bestimmen konnte – vom Hallen seiner Schritte her deutete es nur darauf hin.

 

„Wir sind da.“

Youma wusste nicht, warum sie jetzt „da“ waren und nicht schon vorher, denn er machte keine Veränderung aus – es war genauso dunkel wie schon seitdem sie Eterniya verlassen hatten. Etwas musste sich jedoch verändert haben, denn als er einen Schritt weiter ging, packte sein Begleiter ihn am Arm und zog ihn zurück.

„Nicht. Pass auf, unter dir.“

 

Zuerst wusste Youma nicht, was er meinte, selbst als er unter sich geguckt hatte; doch dann bemerkte er, dass sich die Oberfläche des Untergrundes verändert hatte... sie war... glatt?

„Ist das etwa...“ Youma kniete sich hin und berührte die Oberfläche mit seiner flachen Hand; sachte, denn er spürte, genau wie sein Begleiter, dass hier Gefahr lauerte.

„... Glas?“

Seine Berührung war nur sehr vorsichtig gewesen; dennoch war ihm, als könne er ein Knacken hören – hatte so eine leichte Berührung etwa schon für Risse gesorgt?

 

Youma konnte nicht genau sagen warum, aber diese Feststellung brachte ihn zu einem beruhigenden Lächeln – und zum ersten Mal, seitdem er an diesem eigenartigen Ort aufgewacht war, fühlte er sich sicher.

 

„Auf der anderen Seite dieses Glassees ist Nocturn, nicht wahr?“ Er spürte ein Nicken des Nocturns mit den purpurfarbenen Augen neben sich.

„Auf der anderen Seite beginnt sein Unterbewusstsein. Als du ihn berührt hast, entstand eine Verbindung zwischen eurem Unterbewussten.“

„Ich weiß, auf diesen Gedanken bin ich auch gerade gekommen.“

„Logisch, ich bin ja auch du.“

 

Youma wollte gerade loslaufen, da hielt sein Begleiter ihn noch einmal am Arm fest:

„Bist du denn wahnsinnig? Das Glas wird dich nie und nimmer halten – es ist immerhin Glas! Und was ist, wenn du abstürzt; du weißt nicht, ob du in einer Illusion sterben kannst; willst du es denn wirklich auf einen Versuch ankommen lassen?!“ Kurz sah Youma den anderen Nocturn an, dann legte er lächelnd seine Hand auf die, die ihn festhielt, löste sie von sich und antwortete:

„Es ist in Ordnung. Wenn es eine Sache gibt, die mir keinen Grund gibt, zu zweifeln, dann ist es Nocturns Vertrauen in mich – und jetzt bin ich an der Reihe, ihm zu zeigen, dass ich ihm vertraue. Er wird mich nicht fallen lassen.“

 

Ohne noch etwas zu sagen und ohne aufgehalten zu werden, drehte Youma sich herum und rannte in die gläserne Dunkelheit hinein.

 

Und das Glas hielt.

 

„Youma!“ Er drehte sich herum; genau in dem richtigen Moment, um etwas aufzufangen – seinen Verlobungsring.

Youma sah über die Schulter, den Verlobungsring an sich drückend und ihm war, als würde die Person am anderen Ende des Ufers ihm entgegen lächeln – eine Person, deren Augen rot waren.

 

Dann rannte er weiter.

 

Von mehreren Ecken hörte er, zuerst leise, aber lauter werdend, das Knacken und Klirren der gläsernen Oberfläche, doch er verlangsamte nicht – er rannte und rannte, ohne auf den Boden zu sehen; atemlos, aber voller Zuversicht, in die Dunkelheit hinein.        

Le Passage

 

Youma wusste nicht, wie lange er schon gerannt war – er wusste nur, dass er nicht aufhören durfte zu rennen. Er hätte fliegen können, aber ein Gefühl sagte ihm, dass er das genauso wenig tun durfte wie anhalten. Er musste immer weiter und weiter rennen, tief in die Dunkelheit hinein, die nicht einmal von seinen Fähigkeiten als Wächter der Dunkelheit durchdrungen werden konnte.

Es gab kein Licht. Keine Veränderung in dieser Dunkelheit.

Nur das Knacken und Klirren des Glases – manchmal von fern, manchmal erstaunlich nahe, aber es zog sich immer wieder zurück und ließ Youma vorankommen; wo auch immer er im Endeffekt landen würde.

 

Und dann kam es.

 

Der eiskalte Schreck hätte Youma beinahe dazu gebracht, stehen zu bleiben, aber er konnte sich gerade noch dazu zwingen, weiter zu rennen – die bereits gewohnten Geräusche des brechenden Glases wurden unwirklich; vorhanden, ja, aber sie schoben sich in den Hintergrund, denn etwas Anderes drängte sich auf:

 

Ein hohes, markerschütterndes Lachen.

 

Youma wusste nicht, wo es herkam; es schien von überall her zu stammen – war die Quelle vor ihm, hinter ihm? Welchem Geschlecht gehörte diese Stimme an? Wem gehörte sie?

 

Weiter, weiter – er musste weiterrennen, er durfte nicht anhalten, durfte sich nicht umdrehen, obwohl er sich eigentlich sichergehen wollte, dass die Quelle der Stimme nicht hinter ihm war.

Was war das nur für ein schreckliches Lachen? Und warum hatte Youma das Gefühl, dass es nicht nur aus einem Munde stammte... sondern aus zwei?

 

Es schien näher zu kommen – Angstschweiß lief seinen Rücken herunter, renn weiter, renn weiter, renn, renn, renn, nicht zurückblicken, nicht zurückblicken---

 

Das Rennen fiel ihm immer schwerer; es war, als würde irgendetwas ihn behindern, ihn festhalten – und da spürte er es: Risse taten sich unter seinen Füßen auf. Aber nein, nein. Nocturn würde ihn nicht fallen lassen!

 

Jetzt hörte Youma es ganz deutlich; das Glas hinter ihm zerbröselte und das Gefühl, in seinem Vorankommen behindert zu werden, nahm Gestalt an; es kam ihm so vor, als würden viele, viele Hände nach ihm greifen, ihn zurückziehen wollen ---

 

Aber er kam näher. Er musste nicht mehr lange aushalten, sich nicht mehr wehren. Hier und dort tauchten graue Schatten auf und da! Ein Licht! Es flackerte, fast wie eine alte Leinwand es tat beim Wiedergeben eines alten Filmes; es war nicht vor ihm, eher links von ihm, er rannte daran vorbei, an diesem Licht, dieser kleinen Lichtgestalt – war das vielleicht White?

 

Das einzige, was Youma hören konnte, war das schreckliche Lachen und das drohende Geräusch des zerbrechenden Glases, aber es war ihm, als würde die kleine White etwas sagen; sie streckte die Hand aus, zeigte sich besorgt. Licht erstrahlte, dann wieder Dunkelheit. Youma sah sich bewegende Schatten; es schneite,  kleine, magere Kinderhände, die sich nach etwas ausstreckten... Die Tasten eines Klaviers, das eilige Vorbeihuschen der Treppenstufen, als sie strauchelnd erklommen wurden. Das Kind versteckte sich, wollte weg, es versteckte sich im Schrank, schloss die Tür, krümmte sich zusammen --- das Lachen nahm zu, wurde höher und höher--- die Hengdi; die zitternden Kinderhände nahmen sie entgegen, ein Geschenk? Oder ein Erbe?

 

Das Lachen drohte Youmas Kopf zu sprengen---

 

Die Kinderhände waren keine Kinderhände mehr; sie waren größer geworden, hatten ihre Unschuld verloren; die schwarze Flüssigkeit auf ihnen war Blut und die Körper unter seinen Händen waren leblos, tot, gemordet von ihm. Das Zittern seiner Hände stammte nicht von Abscheu, es entstammte Ekstase. 

 

---- Die vielen Hände packten ihn. Youma geriet nun selbst ins Straucheln;  sie zogen an seinen Haaren, zerrten an seiner Kleidung, umklammerten seine Füße --- Youma rutschte aus, stürzte, streckte die Hand vor---

 

Das Glas brach.

 

„NOCTURN!“

 

Das Lachen verstummte augenblicklich und Youma spürte, dass seine Hände Halt fanden, an dem er sich hochziehen konnte, ohne dass ihn noch irgendetwas behinderte. Plötzlich war alles ruhig; nur Youmas Pusten und Stöhnen und seine Erleichterung waren noch zu hören, als er sich hochzog:

„Meine... meine Güte, du... hast echt einen Hang zum...Dramatischen...“

 

Natürlich musste er sich erst einmal beschweren, aber in Wirklichkeit war er unheimlich erleichtert, angekommen zu sein. Er war nun in Nocturns Unterbewusstsein. Das wusste er, denn die Szene hatte sich nun wieder geändert.

Er kniete hinter dem Gartentor auf dem kleinen Weg, der zu Nocturns ehemaligem Zuhause führte. Auch hier war alles grau und trübe, aber der Garten war nun gepflegt, der Postkasten noch nicht verrostet und der  Eingang war vom Schnee gesäubert. Youma war alleine, aber er hörte das Spielen eines Klaviers aus dem Haus.    

 

Ehe er zum Haus ging, nahm er noch einen weiteren tiefen Atemzug und stand dann schon vor der nun polierten Haustür, sich auf das schreckliche Donnergrollen gefasst machend – das folgte auch sofort, aber die Person, die ihm die Tür öffnete, erschreckte ihn mehr als das Läuten der Glocken.

 

Vor ihm stand Nathiel.

 

„Was gucken Sie mich denn so überrascht an? Glauben Sie etwa, Sie sind der Einzige, der auf die Idee kommt, ihn zu berühren? Jetzt sind wir alle hier.“

 

Und dann lachte sie. 

L'Illusion de Nocturn

 

Noch konnte Youma nicht mit Gewissheit bestimmen, was ihn an Nathiel so unglaublich abschreckte, denn wie Nocturn schon bemerkt hatte, war ihre Aura tatsächlich um einiges schwächer als deren. Dennoch war sie deutlich darauf aus, ihnen zu schaden – aber warum das Ganze? Warum hatte sie die beiden daran gehindert, sich wegteleportieren zu können, um sie somit an diesen Ort zu ketten? Was lag hinter ihrem enormen Interesse an Nocturn, weshalb sie sogar willig war, in seine Illusion hineingezogen zu werden? Nein, eigentlich gingen die Fragen sogar noch weiter zurück: warum hatte sie überhaupt gewollt, dass Youma Nocturn wiederbelebte? Youma hatte immer geglaubt, dass Nathiel einfach nur Karous Begleitung gewesen war und dass sie selbst kein Eigeninteresse an der Wiederbelebung Nocturns hatte – aber das glaubte er jetzt nicht mehr und wenn er sich richtig erinnerte, dann war es auch sie gewesen, die ihm den Vorschlag unterbreitet hatte.

 

Aus diesen Gründen vergaß Youma auch jede Höflichkeit, schob die immer noch Lachende grob aus dem Weg und verschaffte sich somit Zutritt zu dem Haus, in welchem er sich – höchstwahrscheinlich – auch noch in der Wirklichkeit befand.

 

Nathiel lachte immer noch, als sie seelenruhig die Tür hinter sich schloss und ihre roten Augen sahen Youma hinterher, der schnellen Schrittes den Gang herunterging, immer der Musik folgend, die eindeutig aus dem Raum kam, die Nocturn und er in der Wirklichkeit noch nicht untersucht hatten – der Raum, der mit der großen Doppeltür versehen war. Youma legte entschlossen seine Hand auf die graue Klinke und wollte die Tür gerade mit einem Ruck öffnen, doch sie bewegte sich nicht. Sie war abgeschlossen.

 

„Nocturn!“, rief Youma laut und klopfte in der gleichen Lautstärke gegen die Tür, doch sie wurde nicht geöffnet und das Klavierspiel nicht unterbrochen. Was spielte er überhaupt? Sowieso, seit wann spielte er Klavier? In ihrem Appartement in Paris stand zwar ein Flügel, aber Youma hatte noch nie gesehen oder gehört, dass Nocturn auf ihm spielte. Er stand da einfach und sammelte Staub.

 

Gut, die Tür wollte sich Höflichkeit nicht erbarmen, weshalb Youma wohl nichts anderes übrig blieb, als die Tür mit Gewalt aufzubrechen. Aber davon hielt ihn Nathiel ab, die plötzlich neben ihm stand und breit lächelnd auf ihren Hacken vor und zurück wackelte.

„Ich glaube, das sollten Sie nicht tun – wir befinden uns immerhin in dem Unterbewusstsein von meinem kleinen Jungen. Wir wollen doch nicht, dass es noch irgendwie beschädigt wird, oder?“ Wieder kicherte sie leise in sich hinein und zu Youmas Erleichterung entfernte sie sich daraufhin von ihm:

„Ich denke, Sie brauchen einen Schlüssel.“ Von Youmas skeptischem Blick verfolgt legte sie die Hand auf das Treppengeländer und war schon dabei, die Treppe heraufzugehen.

„Viel Vergnügen – währenddessen werde ich in...“ Sie kicherte schon wieder:

„... in Erinnerungen schwelgen.“

 

Rein aus Prinzip wollte Youma nicht auf ihren Ratschlag hören und als sie oben angekommen war und sich somit aus seinem Sichtfeld entfernte – er hörte allerdings nicht das Öffnen oder Zugehen einer Tür... – versuchte er zuerst, sich in den Raum hinein zu teleportieren, doch das funktionierte nicht, als würde eine kraftvolle Quelle ihn davon abhalten. Frustriert wandte er sich auf den Hacken herum und ging zurück zur Haustür, in der Absicht, den Raum vielleicht von außen betreten zu können – aber die Haustür war plötzlich ebenfalls abgeschlossen.

„Das ist jetzt nicht euer Ernst...“, knurrte Youma, obwohl er nicht wusste, wen er genau für diese missliche Situation verantwortlich machen sollte.

 

Gut, er brauchte also wirklich einen Schlüssel. Warum machte Nocturn es ihm nur so schwer? Konnte er ihn nicht einfach hereinlassen, damit sie endlich aus dieser Illusion oder Visualisierung verschwinden konnten? Es konnte doch wohl kaum in seinem Interesse sein, an diesem Ort zusammen mit dieser Frau eingeschlossen zu sein...

 

Gerade als Youma kurz davor war, seine Bitte an Nocturn, ihm doch bitte den Schlüssel zu geben oder die Tür zu öffnen, einfach in den Raum zu werfen, bemerkte er aus dem Augenwinkel einen sich bewegenden Schatten.

Sofort wirbelte Youma herum, fest davon überzeugt, dass es sich um Nathiel handeln musste – und diese wollte er unter keinen Umständen nahe an sich herankommen lassen – als er bemerkte, dass es jemand anderes war.

Er sah diese Erscheinung nur sehr kurz, ehe sie in der Stube verschwand – aber dieser kurze Augenblick hatte genügt, um Youma dazu zu bringen, ihr zu folgen. Denn die Frau mit dem hochgesteckten Haar hatte einen kurzen Blick zu ihm geworfen und bei diesem Blickaustausch war Youma klar geworden, dass sie ihn zu dem Schlüssel führen würde, denn die Frau, die ihm gänzlich unbekannt war, hatte die gleichen purpurfarbenen Augen gehabt wie der Nocturn, der ihn durch sein Unterbewusstsein geführt hatte. Diese weibliche Gestalt war also Nocturns Unterbewusstsein, sein Begleiter – aber warum war sie dann nicht bei ihm? Darüber hinaus gab es noch einen weiteren Unterschied; sein Begleiter war farbig gewesen, Nocturns Begleiterin allerdings war genauso grau und schattenartig wie der Rest dieser toten Welt; nur ihre Augen hatten Farbe besessen.

 

All diese Gedanken rasten in aller Schnelle durch seinen Kopf, denn er ließ sich keine Zeit, stillzustehen und sich in aller Ruhe diesen Gedanken zu widmen; er war ihr sofort hinterher gerannt, denn er fürchtete, dass die Frau verschwinden könne – sie hatte sehr unwirklich und diffus gewirkt und immerhin hatte Youma kaum einen Anhaltspunkt, um den Schlüssel zu finden. Er stürzte daher an der Kommode vorbei; dabei nicht bemerkend, dass die Bilderrahmen, die in der Wirklichkeit noch mit alten Fotos gefüllt gewesen waren, nun allesamt leer waren...

 

Aber seine Sorgen waren unbegründet, denn als er um die Ecke bog, stand die fremde Frau dort noch. Jetzt tat sie allerdings so, als würde sie sein Eintreten in die Stube nicht bemerken, obwohl er sich sicher war, dass sie ihn eben direkt dazu aufgefordert hatte, sie nicht nur anzusehen, sondern ihr auch zu folgen.

„Darf ich fragen, wer Sie sind?“, fragte Youma höflich, denn er sah ihr an, dass sie keine normale Dämonin war; dass sie eine Frau war, die auf Höflichkeit und Benehmen achtete: ihre Haare trug sie hochgesteckt und ihre Kleidung war vornehm, aber eine Dämonin war sie dennoch; er erkannte es an ihren spitzen Ohren.

Doch sie schien ihn nicht zu hören, denn sie antwortete nicht. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und sah auf etwas herab – dann ertönte ihre geisterhafte, fern und verzerrt klingende Stimme:

 

„Wenn Sie ihre Arbeit beendet haben, dann verschwinden Sie von hier.“ Zuerst glaubte Youma, dass die Frau mit ihm sprach, aber dann ertönte eine Antwort von jemandem, der vor ihr in dieser aufgeräumten Stube stehen musste – eine Antwort von jemandem, den er hier garantiert nicht erwartet hatte. Die Stimme klang genauso verzerrt wie die der Frau, aber es war unzweifelhaft Karous Stimme, die ihr antwortete:

„Keine Sorge; ich habe nicht vor, mich länger als nötig in dieser Welt aufzuhalten, Raria-san.“

 

Raria? Dieser Name war Youma kein Begriff; er hatte ihn noch nie gehört – nein, warte; hatte er doch, allerdings erst vor Kurzem. Er hatte es dank seiner mangelnden Sprachkenntnisse nur für ein französisches Wort gehalten, aber jetzt wurde ihm bewusst, dass Nocturn ihren Namen immer wieder wiederholt hatte, während er bewusstlos gewesen war.

 

„Wenn Sie nur hierhergekommen sind, um ihm seine Medikamente zu injizieren, dann frage ich mich, warum Sie unbedingt Nathiel mitbringen mussten.“

„Wenn Sie wüssten, wie anstrengend die Allüren Ihrer Schwester sind, dann würden Sie es verstehen.“ Karou entfernte sich nun aus dem Winkel, auf den Youma keinen Einblick hatte und er fuhr zusammen, als er bemerkte, dass Karou direkt auf ihn zu ging – hastig sprang er zur Seite, bemerkte dabei, dass er nicht der Einzige war, der Karou aus dem Weg ging: die ganze Zeit von Youma unbemerkt hatte ein kleines Kind neben ihm an der Wohnzimmeröffnung gestanden und gelauscht: Nocturn!

Youma wollte sich schon nach ihm umdrehen, da war das kleine Kind schon die Treppen heraufgestürzt, gefolgt von Karous Augen, welcher sich nun allerdings abwandte und zu Raria zurück sah:

„Sorgen Sie dafür, dass er auf der Stelle wieder herunterkommt.“ Aber Raria schreckte nicht vor Karou zurück. Sie stemmte die Hände in die Hüfte und beugte sich ein wenig vor:

„Warum sollte ich? Ich denke, er hat einen guten Grund, um vor Ihnen wegzurennen.“ Was für eine schlagkräftige Frau, dachte Youma beeindruckt, und dabei war sie noch gar nicht fertig:

„Was ist das eigentlich, was Sie ihm da immer injizieren? Bis jetzt ist er noch nie krank gewesen.“

„Wenn Sie ihn nicht sofort runterholen, werden Sie unzweifelhaft herausfinden, weshalb die Spritzen notwendig sind.“

 

Youma wandte den Blick von den beiden ab und sah die Treppe hinauf – ganz wie er erwartet hatte, war Nocturn nicht in eines der oberen Zimmer verschwunden, denn wäre er es, wäre die Szene, die Youma gerade beobachten konnte, wahrscheinlich zu Ende gewesen; immerhin waren es Nocturns verlorene Erinnerungen. Anstatt gänzlich zu fliehen, hatte der kleine Junge sich auf der obersten Treppenstufe zusammengekauert und lauschte dem Gespräch, die Hände dabei am Geländer festhaltend.

 

„Gut“, gab Raria unzufrieden klingend wieder nach und Youma beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Karou zurück in das Wohnzimmer ging; Youma allerdings wandte sich nicht von dem kleinen Nocturn ab – er beobachte ihn, während er dem Gespräch von Raria und Karou mit halbem Ohr folgte:

„Aber ich habe eine Bedingung.“

„Oh denken Sie wirklich, Sie wären in der Position, Bedingungen zu stellen...“ Raria ließ sich nicht einschüchtern, wie Youma an ihrem Tonfall hören konnte, seine Augen allerdings immer noch auf Nocturn gerichtet... war da nicht jemand hinter ihm?

 

„Ohja, das denke ich. Und daher werden Sie mir jetzt auch sagen, woher der Junge seine Narben hat.“

„Das interessiert Sie?“, antwortete Karou erschöpft und ein wenig genervt klingend, aber obwohl deren Gespräch wirklich überaus interessant war, war Youma nicht in der Lage, sich vollends auf sie zu konzentrieren, oder sich gar von dem kleinen Kind abzuwenden, denn Nocturn hatte den Schatten, der eindeutig Nathiel gehörte, noch nicht bemerkt. Diese Nathiel allerdings gehörte in diese Erinnerung, denn sie war genauso grau wie die anderen hier wandelnden Gestalten, weshalb Youma wusste, dass er nichts tun konnte, um den kleinen Nocturn vor der Person hinter ihm zu warnen, die sich ihm mit äußerster Vorsicht näherte. Was hatte sie vor? Wollte sie ihn auf frischer Tat beim Lauschen ertappen?

 

„Waren Sie es mit Ihren kranken Forschungen?“, hörte Youma Raria fragen, was Karou ein dumpfes Auflachen entlockte – und dann verwischten die Stimmen der beiden plötzlich, denn Nocturn hatte Nathiel bemerkt, womit das Gespräch von Karou und Raria sich in den Hintergrund schob.

 

„Hast du mich vermisst?“

Die Stimme Nathiels war um einiges klarer und deutlicher zu hören als die der anderen Anwesenden – kein Wunder, denn sie hatte sich nun langsam zu ihm heruntergebeugt, um diese Worte mit einem überaus zufriedenen Lächeln in sein Ohr zu flüstern.

 

Youma erstarrte, genau wie er Nocturn erstarren sah. Er sah die Angst in seinen Augen und fühlte regelrecht, dass das kleine Kind zu große Furcht hatte, sich zu ihr herumzudrehen. Nur seine Augen huschten nervös in ihre Richtung, während seine sich immer noch an das Treppengeländer klammernde Hände weiß wurden.

Zuerst glaubte Youma, dass er sich das, was er da gezwungen war, zu beobachten, einbildete, denn er konnte sich keinen Reim daraus machen, warum sie ihre Hände unter den schwarzen Stoff seines Oberteils gleiten ließ, ihn dabei fest an ihren Körper pressend.

„Oh wie ich habe deinen Körper vermisst...“ Erleichtert, weil Youma die schreckliche Erkenntnis kalt in sich aufkommen spürte, sah er, dass Nocturn den Mund öffnete, um zu schreien --- Raria würde ihm doch helfen --- sie würde das ganze sicherlich unterbinden --- das durfte doch nicht geschehen, er war doch noch so klein ---

Doch da schnellte Nathiels Hand hervor und voller Genuss, wie es Youma vorkam, hielt sie dem kleinen Kind den Mund zu, steckte ihm förmlich die Finger in den Mund, davon keine Notiz nehmend, dass er sie, versuchend, sich von ihr loszureißen, blutig biss.

„Nein, nein, mein Kleiner – du darfst ein anderes Mal schreien, aber nicht jetzt. Du willst doch nicht, dass sie dich hören, oder?“

 

Voller Abscheu und zu völliger Ohnmacht verdammt stolperte Youma rückwärts, dabei gegen die Wand stoßend --- warum half ihm denn niemand!?

 

„Warum fragen Sie mich das? Sie sollten lieber Ihre Schwester fragen, anstatt mich mit solchen Fragen zu langweilen.“

 

Nathiel zerrte an seiner Kleidung, Nocturns Kopf stieß geräuschlos gegen das Treppengeländer --- aufhören, es musste aufhören---

 

„Warum ich Nathiel nicht frage? Weil Sie genauso gut wie ich wissen, dass sie schon lange nicht mehr zurechnungsfähig ist – dank Ihnen!“

 

Sie vergrub ihr Gesicht zwischen seinen mageren Schulterblättern, das Blut lief ihrer Hand herunter und Youma hörte Geräusche, die zwar leise waren, aber dennoch an Nocturns Ohren drangen und die Youma überhaupt nicht hören wollte.

 

„Nathiel-san war schon immer...“ Dann riss Karous Stimme ab – Nocturn konnte sie nicht mehr hören. Tatenlos ließ er es nun einfach über sich ergehen, die Stäbe des Geländers an sich klammernd, als wären sie der einzige Halt in dieser Welt --- Youma wollte die Augen zupressen, aber es ging nicht; er konnte sich von diesem Grauen nicht abwenden, musste mit ansehen, wie Nathiel das Kind auf die Treppenstufen herunterdrückte und ihrer unbändigen, abscheulichen Gier freien Lauf ließ.

 

„Nocturn!“

Viel, viel, viel zu spät kam Nathiel beim Klang Rarias Stimme zum abrupten Stillstand. Hoffnungsvoll hob Nocturn den von Tränen und Blut verschmierten  Kopf – diese Hoffnung, dieses stumme Flehen um Hilfe in diesen großen Kinderaugen zerriss Youmas Herz.

Es gelang Nocturn allerdings nicht, ihren Ruf zu erwidern, da Nathiel schneller war als er und mit geübter Hand packte sie seinen Kopf an den Haaren, zwang ihn so dazu, sie wieder anzusehen und leckte ihm in aller Hast, aber sehr systematisch sämtliche Spuren aus dem Gesicht und knöpfte ihm das Oberteil wieder zu. Dann gab sie ihm einen Stoß die Treppen herunter und folgte ihm mit großer Zufriedenheit.

 

„Wie siehst du denn aus, Junge – was hast du mit deinen Haaren gemacht!?“. entfuhr es Raria aufgebracht, als Nocturn zitternd im Eingang zur Stube erschien, dicht gefolgt von Nathiel.

„Sei doch nicht so streng mit ihm, Rari-nee! Der Kleine war draußen...“ Sie legte ihre Hand auf seinen Kopf und rubbelte die schwarzen Haare:

„... und hat... hihihi... gespielt, nicht wahr, mein Kleiner?“

 

Alle Abscheu verwandelte sich in blanke Wut und verzerrte Youmas Gesicht, als sie genau neben ihm stand und schelmisch und mit großer Zufriedenheit in die Runde lächelte – er hatte noch nie jemanden getroffen, der es so sehr verdient hatte, zu sterben! Wie konnte sie einem Kind etwas so Schreckliches antun; diese Narben, die Nocturn auch jetzt noch quälten, obwohl er sich nicht an sie erinnern konnte... sie hatte das nicht nur einmal getan!

 

Die Nathiel, die jetzt neben ihm stand, konnte er nicht zur Rechenschaft ziehen, aber die Nathiel, die sich in der oberen Etage befand, konnte er töten – und er würde es, würde diese Welt, Nocturn, von ihr befreien!

 

Sämtliches Interesse an dem Geschehen verloren habend wechselte Youma in den Dämonenmodus, wandelte seine Sense um und steuerte ohne an Konsequenzen zu denken die Treppe an, auf der diese Frau Nocturn gerade vergewaltigt hatte – und stellte fest, dass er nicht der Einzige war, der es beobachtet hatte: über ihm ans Geländer hatte sich die echte Nathiel gelehnt und sah ihn nun mit erwartungsvollen Augen an.

 

Sie wusste es. Sie sah es in seinem Gesicht.

 

„Wut steht Ihnen...“, wispelte sie verzückt und fuhr fort:

„Aber Sie sind es nicht, der mich umbringen wird. Es wird Menuét sein.“

 

Youma wollte keinen einzigen Ton mehr aus ihrem Mund hören, nie, nie wieder --- aber gerade als die Sense auf sie zurasen sollte, wurde er unterbrochen. Der Geist Rarias ging die Treppe hoch; sie trug andere Kleidung, das Haar offen – eine andere Erinnerung?

„Sie haben den Schlüssel doch noch gar nicht, Youma-san – vielleicht sollten Sie sich erst einmal der Arbeit zuwenden und dann dem Vergnügen?“

 

Youma knurrte hasserfüllt, aber da hatte Nathiel sich schon in den Schatten verzogen und widerwillig ließ er Raria passieren. Sie war in Gedanken verloren; Gedanken, die ihr nicht zu behagen schienen:

„Warum tut sie das nur... sie wurde doch selbst...“ Dann blieb sie vor der Zimmertür zu Youmas Rechten stehen; die Stirn besorgt in Falten gelegt.

„Nocturn, sie ist weg.“ Es dauerte lange, aber Raria zeigte sich geduldig und wartete, bis er die Zimmertür einen Spalt breit öffnete. Er sagte nichts; sah sie einfach nur an. Warum öffnete sie nicht einfach die Tür und nahm dieses arme Kind endlich in den Arm?!

 

Stattdessen versuchte Raria sich an einem Lächeln, doch es wollte ihr nicht gänzlich gelingen:

„Wollen wir musizieren?“ Erleichtert bemerkte Youma, dass Nocturns Augen aufleuchteten und er die Tür weiter auf schob:

„Spielst du das Lied des Herbstes für mich?“ Wie anders seine Stimme klang! So klein, so verzagt, so unsicher...

„Nein“, begann Raria, sich nun zu dem enttäuscht aussehenden Nocturn herunter kniend:

„Ich denke, du solltest spielen. Auf der Hengdi, ich werde dich dann mit dem Piano begleiten. So etwas nennt man ein Duett.“ Diese Vorstellung schien für Nocturn sehr abschreckend zu sein:

„Nein, das... das kann ich nicht, das will ich nicht, ich kann doch nicht...“ Er wollte die Tür wieder schließen, aber Raria schob ihren Fuß dazwischen, weshalb er sich umentschied und sich stattdessen hinter der Tür verbarg und noch einmal beteuerte, dass er es nicht konnte.

„Nocturn, was redest du da? Du hast doch schon so oft auf ihr gespielt.“

„Aber die Herrin... die Herrin hat gesagt, dass sie nicht mir gehört... dass sie jemandem gehört, der... der auch so heißt... wie ich.“ Die Hand, die Raria gerade ausgestreckt hatte, um die Tür zu öffnen, erstarrte kurz, doch dann öffnete sie sie entschlossen und Youma war überrascht, aber durchaus beeindruckt, dass sie sich nicht von ihrem eigenen Zögern abhalten ließ, die Tür öffnete und Nocturn trotz seiner anfänglichen Proteste nicht unbedingt liebevoll, aber mit vertrauensvoller Kraft auf den Arm hob.

„Ja? Ist das so? Die Frau redet viel, wenn der Tag lang ist und du solltest auf kein einziges Wort hören.“ Nocturn wehrte sich nicht mehr; die Nähe und die Worte Rarias schienen ihn zu beruhigen und Youma folgte ihnen die Treppe wieder herunter, den Punkt finster anstarrend, auf dem er Nathiel vor wenigen Minuten noch gesehen hatte. Hoffentlich würden sie ihn zum Schlüssel bringen – er ertrug die Vorstellung nicht, dass diese Frau noch in diesem Haus war.

 

Die beiden hatten seinen nicht ausgesprochenen Wunsch offensichtlich gehört, auch wenn er anders in Erfüllung ging, als er geglaubt hatte – Raria öffnete die große Doppeltür, setzte Nocturn ab und ließ ihn vorgehen... und dann hielt sie die Tür förmlich für ihn offen.

Er brauchte also keinen Schlüssel.   

 

Schnellen Schrittes hechtete Youma durch den Gang und in den großen, halbrunden Raum hinein. Kaum hatte er den Raum betreten, in dessen Mitte ein großer Flügel stand und dessen Wände mit Bücherregalen und anderen Instrumenten gepflastert waren, verstummte die Musik augenblicklich und mit einem leichten Schaudern stellte Youma fest, dass er alleine war – nein, gänzlich alleine war er nicht und noch bevor er den Raum näher untersuchen konnte, musste er ihm schon den Rücken zukehren. Jemand war an ihm vorbei gelaufen, aus dem Raum geflohen; eine kleine Gestalt – Nocturn!

 

Aber es war ein anderer Nocturn als der, den Raria gerade in den Raum gebracht hatte; er war genauso farbig wie Youma es war, aber wenn das der echte Nocturn war, warum war er dann... Kind?

 

Diesen Fragen konnte er sich allerdings später widmen: mit Panik bemerkte Youma nämlich, dass Nocturn die Treppen hochrannte – und da oben war Nathiel! Er würde ihr direkt in die Arme rennen!

„Nicht!“, rief Youma ihm hinterher, die Treppe wieder hoch und hinein in das einzige offene Zimmer; die Sense wandelte er sofort um, denn Nathiel hatte tatsächlich die Chance zu wissen genutzt und den kleinen Nocturn wild lachend in die Arme geschlossen:

„Wie stürmisch du bist! Hast du mich auch vermisst, mein Kleiner?“ Wie irrsinnig diese Frage war! Bemerkte sie nicht, dass er versuchte, sich aus ihrer Umklammerung zu befreien? Sah sie nicht den Widerwillen in seinen Augen?!    

 

„Lass ihn los!“, rief Youma, doch brachte Nathiel nur dazu, noch lauter zu lachen und Nocturn noch inniger an sich zu drücken:

„Oh, du kannst ja töten, erbarmungsloser Sensenmann! Töte uns beide! Mit ihm zusammen zu sterben ist eine wunderschöne Vorstellung! Vielleicht werden wir dann nie wieder hier heraus kommen – dann sind wir zusammen! ZUSAMMEN FÜR IMMER!“

 

Leider, leider, hatte Nathiel Recht – wenn er Nathiel mit seiner Sense angreifen würde, dann war die Gefahr sehr groß, dass er Nocturn auch treffen würde; ihre Köpfe waren zu nah; er würde sie beide köpfen---

 

„Das wäre für dich doch auch gar keine so schlechte Vorstellung, oder?! Du verlangst doch auch nach ihm, wo ist der Unterschied!?“

 

Denk nach, Youma, denk nach --- er ließ seine Augen durch das kleine Zimmer huschen; ein Kleiderschrank, ein Bett, ein Nachtschrank, Stuhl – ach, das brachte doch alles nichts; das graue Fenster gleich hinter der Wahnsinnigen, die Nocturn ebenfalls in den Wahnsinn hinab gezogen hatte und vor dem Fenster die Hengdi auf dem Stativ----

 

Die Hengdi!

 

„Nocturn!“

„Oh nein, nein, nein, nein! Diesen Namen will ich hier nicht mehr hören, den müssen Sie sich aber abgewöhnen, Youma-san, aber ganz schnell! Wussten Sie denn nicht, dass Rari-Nee, meine verfluchte Zwillingsschwester, ihm meinem Kleinen aufgezwungen hat?“ Youma versuchte, jedes Wort zu ignorieren, Nathiel gänzlich aus seinen Gedanken zu verdrängen, nur Nocturn zu fixieren, der seinen Blick allerdings nicht erwiderte. Er war zu sehr von seiner Angst und seinen Versuchen, sich von Nathiel zu befreien, gelähmt --- aber er würde ihn dazu bringen, zu hören!

 

„Nocturn, Nocturn, schau mich an! Ich weiß, diese Frau ist schrecklich und du hast allen Grund, Angst zu haben, aber hör mir zu!“

„Was redest du da eigentlich?! Wie kannst du es wagen, in der Sprache dieser jämmerlichen Wächter zu sprechen und seine Ohren zu beschmutzen!“

„Nocturn, schau mich an, ich bitte dich! Ignoriere diese Frau und hör nur mich! Du weißt doch, wer ich bin; der Idiot, der dich wiederbelebt hat, obwohl du es eigentlich gar nicht wolltest! Der ewig Machthungrige mit seinen ganzen nervigen Plänen!“

„Sei endlich still! Niemand will hören, was du zu sagen hast!“

 

Und dann kamen sie wieder; die Hände, die ihn bereits beim Übergang der gläsernen Passage hatten aufhalten wollen. Doch dieses Mal besaßen sie mehr Kraft; ohne Probleme rissen sie Youma rücklings zu Boden, wo sie ihn herunterzogen, als wäre der Boden ein schwarzer Sumpf, an dessen Grund Verdammnis lauerte. Aber Youma gab nicht auf, obwohl er nun schreien musste, um Nathiels wahnsinniges Lachen zu übertünchen:

„Weißt du nicht mehr, wer ich bin?! Ich bin dein Partner! Dein Freund! Und als dein Freund bitte ich dich, die Hengdi zu nehmen! Sie ist genau hinter dir, du kannst dich nach ihr ausstrecken!“

„... die Hengdi?“

 

Sie hatten Augenkontakt.

 

„Die... die kann ich doch nicht nehmen...“, flüsterte Nocturn und es war Youma, als wäre das das einzige, was in diesem so lärmenden Raum zu hören war:

„... sie gehört mir nicht.“

„Natürlich tut sie das!“, rief Youma nach Luft schnappend, denn die Hände zogen ihn hinab:

„Du bist doch Nocturn, der Flötenspieler!“

 

Kurz traute Youma seinen Augen nicht. Es war nicht Nocturn, der agierte – oder doch?! – und auch in Nathiels Augen sah er den Schock dieser unerwarteten Wendung; sie hatte es auch nicht kommen gesehen und starrte der angreifenden Raria kurz absolut verdattert in die purpurfarbenen Augen --- flüsterte den Namen ihrer Schwester, ehe ihre langen Fingernägel sie zu Boden rissen. Nocturn wurde losgelassen, er stürzte zu Boden, Raria genauso anstarrend wie die anderen.

 

Aber Youma löste sich schneller als die anderen von der Überraschung und da die Hände ihn nicht mehr festhielten, sprang er mit gezogener Sense auf Nathiel zu.

„NOCTURN, DIE HENGDI, VERDAMMT NOCHMAL!“

 

Und im gleichen Moment, wie Nocturns Finger das nun am Boden liegende Instrument umschlossen, schnitt Youmas Sense durch den Hals, der nun wieder zu lachen begonnen hatte.

 

 

  

 

     

  

  

  

 

 

 

 

La Aurore

Stoßartig atmend schlug Youma die Augen auf und sofort übernahm sein Instinkt: sie hockten alle drei auf dem Boden des alten Schlafzimmers, doch Nathiel war noch nicht tot – sie war im Begriff, ebenfalls zu erwachen. Es war also nicht möglich, jemanden in einer Illusionswelt umzubringen, aber das würden sie schnell ausbessern!

 

Noch ehe sie etwas tun konnte, stieß Youma sie mit einem gezielten Tritt von Nocturn weg, packte eben diesen, drückte den nach wie vor Ohnmächtigen an seine Brust und beschwor seine Sense, sie angreifen wollend – die Sense war lang genug, Youma geübt genug, um sie auch kniend zu halbieren, zu vierteln, wenn es sein musste! – aber da bemerkte er, dass es nicht nötig war.

 

Nathiel hatte sich mit glühenden Augen aufgerichtet, ein heiseres Kichern drang aus ihrer Kehle, sie wollte ihre schreckliche Stimme wieder dazu benutzen, Schaden anzurichten --- aber da sah Youma, dass sich ein gerade Strich an ihrem Hals auftat, sich öffnete, Blut freiließ und eben dieses im roten Sturzbach ihren Körper herunterlief.

Die Illusion war auf die Wirklichkeit übergegangen.

Nocturns Illusionsmagie war doch tödlich!

 

Und sie lachte immer noch.

 

Leider, leider, verstand Youma warum – Nocturn hatte in der Illusion dann doch zu schnell nach der Hengdi gegriffen. Das Sensenblatt hatte nicht durch ihren Hals geschnitten; aber sie verlor zu viel Blut...

„Karou hat Unmengen von meinem Blut!“, gackerte sie, wobei ihr Hals ekelerregend gluckste:

„Ich überlasse ihn dir nicht! Ich teile ihn nicht! Du wirst ihn nicht bekommen!“ Und dann verschwand sie in genau dem richtigen Moment, um Youmas Sense zu entgehen.

 

 

Es dauerte lange, bevor Youmas Herzschlag sich so weit beruhigt hatte, dass er seine Sense zurückverwandelte und den Dämonenmodus verließ. Tief atmete er durch, ließ sich nicht von der staubigen Luft stören und bemerkte erst da, dass es nicht länger Nacht war – die Sonne war aufgegangen und schien gleißend in das kleine Dachzimmer, wärmte seinen Rücken und berührte sein Gemüt.

Nocturn war immer noch bewusstlos, aber er wusste, er würde bald aufwachen. Er musste nur Geduld zeigen... und das tat er auch. Sanft änderte er deren Position, darauf bedacht, Nocturn nicht mit einer zu hastigen oder zu groben Bewegung zu wecken. Er sollte von selbst aufwachen. Youma würde bei ihm bleiben und warten.

 

Irgendwann – Youma wusste nicht, wie lange Nocturn mit dem Kopf auf seinem Knie geschlafen hatte, denn er hatte die Ruhe einfach nur stillschweigend genossen – regte der Schlafende sich.

Ruhig öffnete Nocturn die Augen, ließ die roten Augen durch das Zimmer gleiten, bis er zu Youma hochsah. Beide lächelten sie sofort.

„Ich wusste, dass du es sein würdest, der auf meinen Hilferuf antwortet.“

 

Youma antwortete nicht.

Er schloss ihn einfach nur in die Arme.       

L'épilogue

Nocturn erinnerte sich nicht an die Geschehnisse, die stattgefunden hatten, nachdem er sich in dem kleinen Dachzimmer seinem Element hingegeben hatte. Youma entschloss, ihn auch nicht daran zu erinnern. Irgendetwas hatte Nocturn dazu gebracht, all diese schrecklichen Erlebnisse, in die Youma nur einen kleinen Einblick erhalten hatte, zu vergessen - und wahrscheinlich war das sehr gut so. Was auch immer das Zurückerinnern bis zu dem Besuch in dem Haus blockiert hatte, so hatte Nocturns Element dafür gesorgt, dass es wieder tief in seinem Inneren verborgen blieb – jedenfalls war das Youmas Theorie. Es hatte sich also eigentlich nichts durch ihre kleine Reise verändert.

 

Doch nein, das war nicht ganz wahr. Youma fand, dass Nocturn ausgeglichener wirkte; beim Verlassen des Hauses war ihm aufgefallen, dass alle Nervosität von ihm gefallen war – er hatte sich sogar Zeit gelassen, hatte sich umgesehen und es kam Youma so vor, als würde er wortlos Abschied nehmen von diesem Ort.

 

Aber das war nicht das einzige, was die Reise bewirkt hatte. Youma hatte ein neues Ziel auf seiner langen Liste der Dinge, die er –sie – noch erreichen mussten: Nathiel musste sterben. Er wollte mit eigenen Augen sehen, wie sie starb, sich in Funken auflöste und nie wieder zurückkehrte, denn er war sich sicher, dass sie nicht verblutet war. Er würde erst an ihren Tod glauben, wenn er ihn selbst sah.

 

Und da war noch etwas Anderes...

 

Nocturn warf noch einen letzten Blick über die Schulter, ehe er Youmas Hand nahm und sie nach Paris zurückkehrten.

 

Dort angekommen nahm dann schnell alles wieder seinen gewohnten Gang; Youma wurde von Arbeit überhäuft und beschloss, dass sie dringend die Dämonenwelt aufsuchen mussten; Nocturn wollte aber lieber Zeit mit Feullé verbringen, von der er meinte, dass sie sich vernachlässigt fühlten würde und ihr gestottertes „A-A-Also e-eigentlich...“ komplett überhörte, während Blue alles nur mit aufmerksamen Augen verfolgte, seinen Kaffee trank und das Ganze unkommentiert ließ.

 

Doch obwohl alles wieder seinen gewohnten Gang nahm und Youma wieder von seinen politischen Ambitionen verschluckt wurde, war die Erkenntnis klarer denn je, dass er seine Gefühle nicht mehr länger unterdrücken konnte und es auch nicht mehr wollte.

Seine Gefühle für Nocturn.   

Die Tatsache, dass er sich in ihn verliebt hatte.

 

Und Youma hatte vor, es ihm zu sagen. Nur zögerte er noch; nicht, weil er fürchtete, dass Nocturn ihn abweisen würde, sondern weil er die Worte nicht fand. Oder die Gelegenheit. Oder den Mut.

Er konnte sich nicht daran erinnern, dass es so schwer gewesen war bei Silence – bei ihnen war es einfach eine Selbstverständlichkeit gewesen…

 

Knapp eine Woche später – in dieser Zeit hatte Youma weder Worte noch Gelegenheit für eine Liebeserklärung gefunden – hörte er, wie Blue und Nocturn über das Haus in La Roche sprachen. Sie saßen alle drei an der Küchentheke, jeweils über ihre Dinge gebeugt: Youma verarbeitete die neuen Informationen, die er von Lacrimosa bekommen hatte, in Form eines Diagrammes, während Nocturn und Blue über Kontoauszüge und anderen Dokumenten brüteten. Feullé war unterdessen dabei, Weihnachtskekse zu backen, womit ein angenehmer Geruch in der Küche entstand. Zuerst war Youma dem Gespräch von Blue und Nocturn nur mit einem halben Ohr gefolgt – bis er bemerkte, worüber sie eigentlich sprachen.

 

„Egal, wie wir es drehen und wenden, es ist nicht möglich, das Appartement und das Haus zu behalten, außer Sie machen ernsthafte Abstriche in Ihrem Lebensstil.“ Youma hob den Kopf, als er das von Blue hörte und musste sich natürlich sofort mit Kritik am Gespräch beteiligen, obwohl er nicht gänzlich mitbekommen hatte, worüber sie sprachen:

„Du lässt Blue-san deine Finanzen regeln?!“ Von Youma unbemerkt himmelte Blue mit den Augen, aber Nocturn schien das Problem nicht zu sehen:

„Ja, das tue ich – ich hatte nie Probleme mit Geld, aber seit der Euro den Franc abgelöst hat…“ Es folgte eine dramatische Schweigesekunde Nocturns:

„…habe ich Schwierigkeiten, es zu überschauen – das Umrechnen – und mit Zahlen war ich sowieso nie gut.“ Es war ganz deutlich, dass Youma diese Antwort nicht als gültiges Argument ansah, denn trotz seines mangelnden Wissens über die Welt der Menschen war ihm dennoch aufgefallen, wie überaus wichtig das Geld war – und so etwas überließ er ausgerechnet diesem…

 

Youma versuchte, sich zu beruhigen und wechselte das Thema:

„Ich dachte, du wolltest das Haus verkaufen?“

„Das wollte ich auch. Es ist nur so, dass ich dann nicht mehr bestimmen kann, was mit dem Haus geschieht. Ich habe nichts dagegen, dass dort andere wohnen, aber… ich will nicht, dass es abgerissen wird. Und eigentlich will ich auch nicht, dass es verändert wird…“

„Aber darin wohnen willst du nicht.“

„Nein.“

„Du willst einfach nur, dass es da ist und da bleibt“, schlussfolgerte Youma und Nocturn nickte bejahend.

„Das ist aber schwer umzusetzen“, mischte sich Blue ein und zeigte auf ein paar Zahlen, mit denen Youma nichts anfangen konnte:

„Das Haus mag abbezahlt sein, aber die monatlichen Kosten sind hoch bei so einem großen Haus… ganz zu schweigen von einer notwendigen Renovierung…“ Wie viel hatte er Blue denn erzählt?!

„… bei dem monatlichen Einkommen Nocturn-samas wäre es absolut kein Problem, das Haus zu unterhalten, wenn dieses Appartement verkauft werden würde und wir in das besagte Dorf ziehen würden. Bei den momentanen Wohnungspreisen hier in diesem Departement…“ Blues Finger rasten über den Taschenrechner:

„…wäre eine ausgiebige Renovierung des Hauses durchaus möglich.“

 

Youma wandte seinen immer finsterer werdenden Blick von Blue zu Nocturn, der ihn angrinste, um ihm zu bedeuten, dass er Blue dieses Thema nicht ohne Grund überließ, und bemerkte dabei nicht, dass auch Feullé nun hellhörig geworden war.

„U-Umziehen? Wir ziehen…weg?“

 

Alle Anwesenden schwiegen und sahen Nocturn an. Es war immerhin sein Geld. Sein Appartement, sein Haus. Seine Entscheidung.

Aber Nocturn brach die Stille nicht; er hatte die Stirn gerunzelt und schwieg nachdenklich. So wie Youma ihn kannte, konnte es allerdings auch gut sein, dass er über etwas ganz Anderes nachdachte und die angespannten Blicke der anderen nicht bemerkte. Zum Schluss war es Youma, der die Stille brach mit einem ungewöhnlichen Kommentar, womit er nicht nur sofort Nocturns Aufmerksamkeit hatte:

„Ich finde nicht, dass wir umziehen sollten. Das hier ist doch unser Zuhause.“

 

Nocturn sagte nichts, starrte ihn nur an. Blues Augen hoben sich mit größter Skepsis und Widerwillen. Feullé war gerührt:

„D-Das haben Sie aber sehr schön gesagt, Y-Youma-sama.“

 

Nachdem Nocturn den ersten Schrecken über Youmas Kommentar überstanden hatte, sorgte er schnell dafür, dass Youma seine Worte bereute. Denn seine Worte hatten für viele, viele Kommentare gesorgt, Kommentare wie:

„Ich wusste, du würdest dich in Paris verlieben, ich wusste es!“

„Die romantische Magie Paris‘ lässt sogar dich nicht kalt…“

„Und du sagst, die Stadt sei nur dreckig und schmutzig, ha!“

Und noch viele andere Varianten dieser Liebesbekundungen an Paris.

 

 

Natürlich war es Nocturn nicht möglich, diese wunderbare Gelegenheit Youma aufzuziehen zu ignorieren – aber das bedeutete nicht, dass er sich der Tragweite von Youmas wahrscheinlich unüberlegten Worten nicht bewusst war. Immerhin... immerhin war es Youma gewesen, der diese Worte gesagt hatte und ihm war der Begriff „Zuhause“ sehr wichtig, das wusste Nocturn... aber was... was bedeutete das? Was bedeutete es, dass Youma dieses Appartement als das „Zuhause“, nein „deren Zuhause“, betitelte? Bedeutete es mehr, als dass Youma angefangen hatte, sich gegen seinen Willen an diesem Ort wohlzufühlen?

Nocturn war verwirrt, aber nicht auf eine schlechte Art. Es war in Ordnung, dass es keine konkrete Antwort gab; es war auch in Ordnung, wenn er sie nie bekam. Er war zufrieden. Er war im Allgemeinen zufrieden. So zufrieden und... ruhig war er schon lange nicht mehr gewesen.

 

Dennoch gab es Dinge, die ihn wunderten. Er konnte sich zum Beispiel keinen Reim daraus machen, warum Youma ihn öfter fragte, ob es ihm gut ginge – warum sollte es ihm denn schlecht gehen? Und warum fragte er ihn, ob er gut geschlafen habe? Seitdem sie wieder zurückgekehrt waren, war er ein wenig eigenartig geworden; eigenartiger als vorher. Aber Nocturn machte sich normal keine Gedanken darüber – er machte sich erst dann Gedanken, wenn Youma am eigenartigsten war.

 

Abends, nach dem Essen, wenn die Stube nur noch von Youma und dem schlafenden Nocturn bewohnt war, hatte Youma eine neue... Angewohnheit entwickelt. Zuerst hatte Nocturn geglaubt, er hätte es sich eingebildet oder vielleicht nur geträumt, aber nachdem er es sich mehrere Male „eingebildet“ hatte, wurde ihm klar, dass es alles andere als eine Einbildung war: Youma hatte angefangen, ihn beim Schlafen zu beobachten. Manchmal setzte er sich sogar zu ihm hin, ganz nah, als wolle er überprüfen, dass er noch atmete. Es war nicht so, dass Nocturn sich unwohl fühlte, es war nur... warum? Warum tat er das, wenn er sich doch lieber seiner Arbeit widmen sollte? Er hatte viel zu tun, warum also arbeitete er nicht, anstatt Nocturn beim Schlafen zuzusehen?

 

An diesem Abend bemerkte Nocturn, unter den größten Anstrengungen sich wirklich schlafend zu stellen, dass Youma ihm näher kam als bei den anderen Malen. Sein Haar streifte sogar kurz Nocturns Wange, ehe Youma es sich hastig hinters Ohr strich. Was war nur in ihn gefahren? Nein, was war nur schon wieder in ihn gefahren? Das, was er da tat... war das... wollte er das gleiche tun? Wollte er ihn – warum auch immer?! – wieder küssen?

Nocturn sollte so tun, als würde er aufwachen, damit Youma sich ihm nicht weiter näherte, aber eigentlich... eigentlich... warum sollte er? Er mochte es doch...

 

Aber Youma tat es nicht. Er stand hastig auf und da Nocturn, nun da Youma ihm den Rücken zugekehrt hatte, die Augen öffnete, sah er auch, wie sein Partner sich frustriert die Haare raufte. Nocturn sollte wahrscheinlich einfach weiterhin so tun als würde er schlafen, aber der Drang eine Aufklärung zu bekommen war zu stark.

„Warum wolltest du mich schon wieder küssen?“

 

Augenblicklich blieb Youma stehen, sich allerdings nicht zu ihm herumdrehend, weshalb Nocturn, während er sich nun aufrichtete, andere Worte wählte, um seiner Verwirrung Ausdruck zu verleihen:

„Ich hätte dich nicht wieder angegriffen, es ist nur so, dass mich dein Verhalten momentan ziemlich verwirrt. Ich verstehe nicht, warum du mich küssen willst; wir haben doch schon letztes Mal geklärt, dass du nicht nach mir verlangst...“

 

„Doch.“

Nocturns Augen weiteten sich vor Überraschung und seine immer größer werdenden Augen trafen Youmas entschlossene Augen, als er sich mit leicht roten Wangen herumdrehte:

„Doch, das tue ich.“

 

Nocturn starrte ihn einfach nur an, nicht in der Lage, etwas zu erwidern und auch als Youma langsam wieder auf ihn zu ging, rührte er sich nicht.

„Ich würde es zwar lieber so formulieren, dass ich dich liebe, aber mit deinen Worten gesagt... ja, dann verlange ich nach dir.“

 

Youma stand nun vor ihm mit einem seltsamen, erwartungsvollen Leuchten in den Augen, die Hände leicht angehoben, ein wenig nach ihm ausgestreckt:

„Also, Nocturn... darf ich?“

„Ehhhh, was, ja – warte – was?“

 

Aber Youma hörte alles, was nach dem „ja“ kam, schon nicht mehr und die Hände, die eben noch nach Nocturn ausgestreckt waren, legten sich nun sanft, aber auch ein wenig stürmisch, um ihn, drückten den verwirrten Flötenspieler an sich. Tatsächlich verstand er immer noch nicht, was gerade geschah, doch als er Youmas Lippen auf seinen spürte, war das auch eigentlich vollkommen egal.

Dieses herrliche Gefühl, diese unglaublich starke Wärme – Nocturn hatte geglaubt, dass das eine Mal genug für sein gesamtes, restliches Leben gewesen war, aber jetzt spüre er deutlich, dass er es vermisst hatte... dass er Youmas Nähe vermisst hatte.

Youma, der nach ihm... der nach ihm... warte---

 

Nocturn zog den Kopf zurück und stemmte seine Hände gegen Youmas Oberkörper, um ihn von sich wegzudrücken. Verwirrt, aber auch ein wenig verletzt, sah Youma ihn an – und kam dann auf Gedanken, die Nocturn überhaupt nicht nachvollziehen konnte:

„Entschuldige bitte, ich war zu voreilig... habe ich dich erschreckt?“

„...Was?“ Nocturn schüttelte ärgerlich den Kopf:

„Nein, hast du nicht – wie kommst du überhaupt---- egal. Du meinst das nicht ernst, oder? Du... du verlangst nicht nach mir, oder?“

„Warum sollte ich dich denn sonst küssen wollen? Warum hätte ich dich jetzt küssen sollen und wie sonst hätte die eine Nacht vor vier Monaten möglich sein sollen?“ Nocturn erwiderte Youmas ernsthaften Gesichtsausdruck verdutzt:

„Ich dachte... du hast es aus Mitleid getan.“

„Aus... Mitleid?!“

„Ja, um mir zu zeigen, wie es ist, geküsst zu werden.“ Die Hand gegen die Stirn schlagend schien Youma sich abwenden zu wollen, doch nach einigen Sekunden, in denen er sich die Finger gegen die Stirn getrommelt hatte, wandte er sich halb grinsend wieder Nocturn zu:

„Deswegen hast du das Thema danach nie wieder angesprochen?“

„Ja, es war ja abgeschlossen.“

„Also, Nocturn, man küsst niemanden aus Mitleid. Das tut man nicht.“

„Ja, aber, warum hättest du es denn sonst tun sollen?“

„Das habe ich dir doch gerade gesagt?!“

 

Youma löste seine Hand von seiner Stirn und atmete tief durch, Nocturns verwirrten Gesichtsausdruck ein wenig belächelnd und es dann anders formulierend:

„Nocturn, das, was du dir immer von White-san erhofft hast... das empfinde ich für dich. Verstehst du?“

 

Nocturn sah immer noch heillos verwirrt aus, aber langsam lichtete sich dieses Chaos; er begann es zu verstehen, zu verstehen, was im Begriff war, zu geschehen, auch noch bevor Youma seine Hände nahm und sie fest in seinen hielt, ihn wieder erwartungsvoll ansehend. Als Nocturn jedoch nichts sagte, was dieser Erwartung gerecht wurde, hielt Youma es nicht länger aus:

„Nocturn – wie lautet deine Antwort?“

„Meine... Antwort?“ Youma deutete ein leicht ungeduldiges Nicken an, Nocturns Finger dabei ein wenig fester drückend und da wusste Nocturn, was er meinte; was er hören wollte... aber Nocturn wusste nicht, was er antworten sollte. Das Verlangen für White... das war so einfach in Worten auszudrücken; so einfach auszusprechen und so einfach zu beschreiben... und Youma behauptete, dass er genau so für ihn empfand? Nein, das war nicht wahr, es war... anders. Es konnte nicht mit den gleichen Adjektiven beschrieben werden, es konnte nicht verglichen werden... aber war es dann überhaupt das gleiche? War es das gleiche Gefühl? Gab es so viele verschiedene Facetten dieses Wortes, so viele Möglichkeiten, eine Relation zwischen zwei Individuen zu beschreiben...

 

„Wir sind Partner“, antwortete Nocturn, nicht auf Youmas missverstehendes Gesicht achtend – er dachte an den Moment zurück, in welchem Nocturn von ihm wiederbelebt worden war, deren ersten Kampf, deren erstes Gespräch in diesem Appartement, welches Youma mittlerweile sein Zuhause nannte... und den Moment, in welchem Youma ihm erklärt hatte, dass er ihn wiederbelebt hatte, um ihn zu seinem Partner zu machen. Sein Lebenszweck, sein Wiederbelebungszweck, bestand also daraus, eine Relation mit jemandem einzugehen. Wie eigenartig, wie komisch, wie absolut nicht Nocturn-mäßig. Aber so andersartig es auch gewesen war... es war toll. Das Gefühl, dass jemand ihn brauchte, ihn – nicht jemand anderes, sondern ihn. Dass sein Dasein erwünscht war, seine Meinung gefragt wurde, dass sich jemand auf ihn einließ... mit jemandem reden zu können, ohne dass er denjenigen mit einer Geisel dazu erpressen musste.

„... und wir sind... Freunde.“ Das brachte Youma dann doch dazu, zu lächeln und auch Nocturn lächelte, denn sie waren sich beide bewusst, wie untypisch und neu es für sie war, jemanden als einen „Freund“ betiteln zu können.

„Und...“ Da verlor Nocturn jedoch den Mut für das Fortsetzen seiner kleinen Rede; das Lächeln schwand und er schien sich kurzzeitig in seinem Rollkragenpullover verstecken zu wollen, bis er sich dann ganz plötzlich zusammenriss und Youmas Finger fest drückte, ihn wieder ansehend:

„Ich weiß nicht, was nach diesem „und“ kommt! Ich habe doch eigentlich überhaupt keine Ahnung! Was lernt man über solche Gefühle schon in den großen Meisterwerken; es ist leicht, sie zu besingen, aber schwerer, viel schwerer, sie zu erklären. Ich weiß es nicht, Youma! Das ist meine Antwort! Jetzt bin ich es, der diese dumme Antwort gibt und nicht du... ich weiß, dass ich nicht das gleiche für dich empfinde, wie ich für White empfinde. Ist das... normal? Gibt es so viele Facetten des Verlangens? Müsste ich das nicht eigentlich wissen, so viele Gedanken wie ich schon gelesen habe? Aber jetzt verwirrt es mich; jetzt verstehe ich... gar nichts mehr. Ich kenne doch nur diese eine Facette.“

 

Der plötzliche Drang zu fliehen überkam Nocturn; das Ganze war ihm auf einmal unangenehm und peinlich – aber da löste Youma seine rechte Hand von Nocturns Finger und legte diese sanft an sein Gesicht.

 

Sofort war alle Unsicherheit verschwunden; sofort fühlte Nocturn sich wieder sicher und er wollte nirgendwo mehr hin. Er wollte einfach nur noch an diesem Punkt stehen bleiben und von Youma berührt werden.

 

„Wir müssen nichts überstürzen, Nocturn. Du brauchst jetzt keine Antwort zu finden“, flüsterte Youma behutsam, nachdem Nocturn seine nun freie Hand auf Youmas gelegt hatte, um ihn davon abzuhalten, seine so wärmende Hand von seinem Gesicht zu entfernen.

„Das ist dir gegenüber nicht sonderlich fair, oder?“, flüsterte Nocturn, Youmas Hand an seiner Wange genießend.  

„Gut“, lachte Youma sein zurückhaltendes Lachen:

„Dann machen wir es anders. Beantworte mir einfach ein paar Fragen... wäre das für dich in Ordnung?“ Nocturn deutete ein leichtes Nicken an, sich lächelnd an Youmas Hand schmiegend.

 

„Magst du es, wenn wir uns wie jetzt berühren?“

„Ja.“

„Ist es dir wichtig, dass ich es bin, der dich so berührt?“

„Wer sollte mich auch sonst so berühren wollen?“

„Nocturn, die Frage war ernst gemeint.“

„Meine Antwort auch.“ Aber da öffnete er die Augen wieder und Youma war überrascht wie unverbannt er ihn plötzlich ansah:

„Ja, es ist mir wichtig. Nur du darfst das.“ Jetzt war es Youma, der überrascht war und er spürte, dass sein erwärmtes Gesicht im Takt seines beschleunigten Herzens errötete.

 

„Gut, dann... kommen wir zur letzten Frage.“ Sein eigenes pochendes Herz und die gespannten Augen Nocturns brachten ihn allerdings dazu, zu zögern.

„Ja?“ 

„Würdest du gerne... also... öfter von mir...?“ Ein wenig grinsend kam Nocturn ihm jetzt entgegen:

„...du meinst geküsst werden? Ja, das will ich.“

 

Als hätten sie es abgesprochen, lösten sie gleichzeitig die Finger voneinander und während Nocturn die nun frei gewordene Hand um Youma schlang, hob dieser Nocturns Gesicht mit seinen an – doch ehe sich ihre Lippen abermals berühren konnten, drangen noch einmal Nocturns Zweifel an die Oberfläche:

„Aber ich weiß gar nicht, wie es ist ein... also, ein Paar zu sein.“ Diese Worte brachten Youma zu einem glücklichen Lächeln, denn obwohl Nocturn noch Schwierigkeiten hatte, seine Gefühle für ihn in Worte zu fassen, nannte er sie ein „Paar“ – genau das, was Youma sich so lange unwissend erhofft hatte.

„Keine Sorge, das werde ich dir schon beibringen...“ Youma hatte schon den lächelnden Mund geöffnet, war im Begriff seine Augen zu schließen, als Nocturn ihn tatsächlich noch einmal unterbrach:

„So wie ich dir das ordentliche Töten beibringe?“

Nocturn... Über sowas redet man doch nicht in einem solchen...“   

 

 

Und dann küsste Nocturn ihn. ♥

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fin



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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von:  Tekuu
2014-11-16T12:18:16+00:00 16.11.2014 13:18
O3Ó CHARAKTERE, DIE ICH NOCH NICHT KENNE---- *saugt sich am Kapitel fest* Nofliekes und Shonas erste Szene, willkommen in der Öffentlichkeit >w</ xDD Interessant, so "nebenbei" noch ein bisschen Politik erstalken zu können ♥ Da ist jemand wohl ungern auf Nocturn und Youma angewiesen...aber was soll man machen ;; Und Youma ist eindeutig nicht ernst genug bei der Sache...oder aber seine mangelhafte Ausbildung zeigt sich. WO ICH DAS SO SCHREIBE--- da könnte man ja fast behaupten, dass Nocturn irgendwie sein "Lehrer" ist, was eine ordentliche Kampfausbildung betrifft >//v//< UND WIE NETT, DASS ER ERSTMAL AUSFÜHRLICH DARÜBER FACHSIMPELT, WIE ER IHN UMBRINGEN KÖNNTE--- das ist eine spezielle Art von "Shipping", aber sie passt zu den beiden und macht sie sympathisch ♥ ;w;/

Es ist so süß, wie Youma sich in den ruhigen Minuten zu Nocturn herumdreht und ihn einfach nur verliebt anlächelt u//v//u Silence hat ihm bereits deutlich den Laufpass gegeben - aber es ist einfach so Youma, dass er das "ignoriert". Er muss sich stattdessen das Leben schwer machen, jaja. Wo wäre der Herr denn auch ohne sein Drama Ò3O°°!! Genau, irgendwann verschwinden die Gefühle bestimmt.............wenn man den ganzen Tag irgendwie zusammen ist...EvE...

„Wenn ich die Hilfe eines Freundes bräuchte ... wärst du dann derjenige, der mir helfen würde?“ SO EIN WICHTIGER SATZ!!!!! WEIL KEINER DER BEIDEN VORHER FREUNDE GEHABT HAT ;A;!!!!! SO NIEDLICH. Und Youma kann es einfach...seine Art, nicht zu zögern, schafft Vertrauen (welches er leider auch enttäuscht, aber davon wollen wir hier mal nicht reden EvEb) ♥ Genau das, was Nocturn braucht uvu ...aber machen wir uns nichts vor, während Nocturn auch ohne andere "funktionieren" kann, ist das für Youma sicherlich schwieriger, weil er zu liebend aufgewachsen ist eve;;

Auf nach La Roche! Ò3O/ ♥ Der letzte Absatz ist auch toll...weil Nocturn diesen Satz so unbedingt sagen wollte und es ihn nicht mal interessiert, ob er wahr ist uvu Süß und tragisch zugleich.
Von:  Tekuu
2014-11-16T11:50:06+00:00 16.11.2014 12:50
Die Bestätigung, dass jemand ihn wirklich mag, haut Nocturn so aus den Söckchen...verständlich, aber wirklich schön, wie deutlich du gemacht hast, dass so etwas wie ein Kuss für Nocturn viel bedeutungsschwangerer ist als für den Ottonormalcharakter uvu ♥ Ich finde es schön, wie viel Beachtung du den einzelnen "Schritten" gegeben hast, die sie sich annähern...das hat etwas sehr einfühlsames und wirkt nicht wie 0815-muss-sie-ins-Bett-kriegen uvub Sie gehen achtvoll miteinander um und besonders Youma muss sein ganzes Maß an Empathie aufbringen (WIE GUT, DASS WIR NICHT IN "DER PIANIST" SIND---), um Nocturn nicht zu verletzen oder zu verschrecken. Viele Autoren schrecken vor "Missverständnissen" während Miepszenen zurück und Nocturn und Youma hatten hier eine ganze Menge davon. Das fängt bei "Ich will mehr" an und hört eigentlich nirgends wirklich auf /O/ Und du "zeigst" diese awkwardness, was einen nah an die Charaktere ranbringt - man hat einfach das Gefühl, sie zu verstehen und ungeschönt dabei zu sein?? xDDD SOZUSAGEN!?!? Das hört sich im Kontext jetzt vielleicht falsch an, aber ich hoffe, du weißt, was ich meine OTL""""""

"Nocturn war sich aber offensichtlich sicher und Youma hatte kurz bei all der schüchternen Röte und der verzagten Tränen fast vergessen, dass es sich bei Nocturn um einen Dämon handelte, welcher nicht nur gut kämpfen konnte, sondern auch recht schnell war." - hehe ♥ >w</ Es ist auch toll, wie du immer wieder witzige Szenen und Unterhaltungen eingefügt hast, wie dass Youma plötzlich versteht, dass Nocturn mit White nichts in der Form geteilt hat und sich darüber so auslässt...was Nocturn damit quittiert, dass er so einen küssen wollte xD Es hat einfach etwas Herzliches und so "charakterliches" an sich, da merkt man einfach, dass es deine eigenen Charaktere sind und du sie ernst nimmst uvù Und das macht dieses Kapitel unglaublich sympathisch ♥♥♥
Von:  Tekuu
2014-11-16T11:26:20+00:00 16.11.2014 12:26
"weil er zum ersten Mal in diesen zwei Leben gebraucht worden war und sein Dasein, seine Existenz, nicht nur erwünscht, sondern dass dieser andere von ihm abhängig war" - ich finde, dieses Zitat ist unglaublich interessant //// In seinem ersten Leben hatte Nocturn Feullé und Black um sich; Feullé aus freien Stücken als sehr junges Adoptivkind zum "Kümmern", Black als multitasking Packesel, Babysitter und Laufburschen...aber sie hatten keine gemeinsamen Ziele oder Pläne. Es ging nur um Nocturns obsessive Verlangenbefriedigung, seine Launen, sie existierten "um ihn". Und es wäre vermessen, sie "Team Nocturn" zu nennen - weil sie eben kein wirkliches Team waren. Es bestand eher eine "einseitige Abhängigkeit"...und jetzt haben wir da Team 2.0, die "miteinander" existieren und alle eigene Ambitionen haben, die sich aber überschneiden in einem Hauptziel uvu <333 Es ist eine gleichberechtigte Atmosphäre und Nocturn kann zum ersten Mal das Gefühl haben, auf Augenhöhe mit jemandem zu reden...und er will so unbedingt gebraucht werden. Das ist irgendwie tragisch, aber auch herzerwärmend ;w; (eine leise Stimme sagt mir, dass es nicht 100% cute ist, dass er mag, dass Youma von ihm abhängig ist...aber er sieht es wahrscheinlich als zusätzliche Versicherung) Ach ja uvu Und die Formulierung "zum ersten Mal in zwei Leben" ist soooooooooo niedlich OTL!! So besonders OTL!! (schönes Detail, dass Blue sich nicht mitreißen lässt...uvu sein Herz wird immer woanders sein ♥)

(und er sucht Silver auf, mein Anikiherz schreit jauchzend vor Freude auf ;A;!!!)

Es ist wirklich kennzeichnend, dass Nocturn sich fragt, ob man zu viel Freude in sich haben kann uvu <3
Und dass ein "Vielen Dank" so einen großen Wert für ihn hat, dass es ihn gänzlich ausfüllt <3333
Er hat ja selbst Schuld, dass er in seinem ersten Leben so isoliert war...aber es ist doch schön, dass er sein zweites Leben nun anders nutzen kann und es doch noch als zweite Chance sieht und nicht als sinnlose Verlängerung uvub

MOST AWKWARD VERSUCHTER KUSS UND DANN HALBE CONFESSION AHAHAHAHAHA--- /O/!!!!!!
"Dann weißt du doch, warum man es tut" - perfekt. Und immer wieder die Rückkehr in das "Ich weiß es nicht" als Schutz, um nicht mit klaren Worten etwas potentiell zu zerstören, obwohl Youma eigentlich hinter den Sachen steht, die er tut... Und als echter Gentleman (der gemerkt hat, dass im Schlaf küssen eine ganz ganz ganz doofe Idee war und wahrscheinlich dachte, dass Nocturn es nicht merkt) fragt er dieses Mal, ob er ihn küssen darf...und es kommt einem fast so vor, als ob Nocturn zustimmt, einfach weil er sich nicht vorstellen kann, dass jemand ihn wirklich küssen will. Und als der Kuss dann tatsächlich passiert, schwimmt er davon...sehr sehr niedlich geschrieben ;w; Seine Tränen zeigen deutlich, dass er sich gerade so unglaublich angenommen fühlt...was er wohl nie für möglich gehalten hat uvu ♥
Von:  JunAkera
2014-07-07T09:17:17+00:00 07.07.2014 11:17
auch ein sehr schönes Kapitel *^*
ich hätte wahrlich nicht erwartet dass sie gleich intim werden... aber... es sind schließlich Dämonen >D
...und... d'aw >///<
es ist schrecklich das zu sagen aber.,.. Gott, ist Nocturn cute >3<
(das passt so überhaupt nicht... !! Nocturn und Süss in einem Satz Ö_Ö man möge mich schlagen!!)
aber OMG >3<

sehr schön beschrieben wie Youma auf Nocturn eingeht! Das gefällt mir glaub ich am meisten an dem Kapitel **
seine Gedanken wie er Nocturn helfen kann und wie er nicht weiß wie er sich genau verhalten soll, aber es ja eigentlich Nocturn recht machen wollte mit dem "will mehr" und es dann falsch verstanden hatte |D (d'awww~~)

echt toll *^*
Von:  JunAkera
2014-07-07T08:42:58+00:00 07.07.2014 10:42
OMG ;///;
sehr sehr schön beschrieben, vor allem den Kuss...
die Empfindungen...
die Gedanken von Nocturn
echt sehr sehr süss >33<
ich liebe deinen Schreibstil einfach so sehr **
Von: MiyaToriaka
2014-06-22T08:49:33+00:00 22.06.2014 10:49
Es war mir eine Ehre, dieses zuckersüße Kapitel in deiner Autoren-Stimme hören zu dürfen. ;w; Vielen Dank noch mal dafür. Ich liebe diese Triologie so sehr. ♥ CUTEYS!!! ♥♥♥


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