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Nighttown

Die Nacht ist noch nicht vorbei
von

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Das Zeichen der Schatten

Es war eine eiskalte Nacht. Frischer Raureif hatte sich auf den Zweigen der Bäume abgesetzt und selbst die aufgeblühten Krokusse waren weiß und starrgefroren. Der milchige Atem vor meinen Augen verschwand nur langsam.

Fröstelnd schlug ich den Kragen meines Mantels hoch und steckte meine Hände in die Taschen.

Ich hatte die Polizeilichter schon von weitem gesehen. Das kalte Blau spielgelte sich an den weißen Wänden wieder. Meine Schritte beschleunigten sich. Ein paar Schaulustige hatten sich bereits versammelt. Ein unruhiges Gemurmel ging durch die Reihen.

Ich schaute an den Menschen vorbei, auf den Mittelpunkt aller Aufregung.

Und war erstaunt.

Ich wusste nicht was ich erwartet hatte, vielleicht eine kleine Prügelei oder etwas ähnliches… aber dies hier war anders.

Drei breitschultrige, große, punkermäßig aussehende Jungs saßen auf dem Boden, gefesselt und ziemlich zerschunden. Ein blaues Auge, heftige Schürfwunden an den Armen im Gesicht und große Beulen prägten ihr Äußeres. Einer von ihnen schien bewusstlos zu sein, die anderen beiden waren wach, blicken allerdings drein, als würden sie jedem, der es wagen sollte sie anzusprechen, sofort an die Gurgel springen.

Ich kannte die Jungs. Sie machten hier in der Gegend schon länger Ärger. Pöbelten, sprühten Wände mit Graffiti voll, prügelten sich mit scheinbar wahllos Bestimmten, meist Schwächeren, bedrängten Mädchen…

Doch wen auch immer diese Jungs sich heute vornehmen wollten, es war definitiv die falsche Person gewesen. Ich lächelte schadenfroh vor mich hin, als mir klar wurde, wie raffiniert diese Person vorgegangen war. Sie verprügelt, bewusstlos und gefesselt der Polizei auszuliefern, mit dem Beweis für ihre Graffitikünste im Hintergrund, musste eine ungeheure Demütigung für sie sein.

Allerdings hatte derjenige ebenfalls ein Zeichen hinterlassen. Er hatte es mit Graffiti über die Zeichnungen der Jungs gesprüht. Riesengroß und pechschwarz. Es war etwas wie eine eingerollte Katze mit comichaften Augen, die einen böse anzustarren schienen und einen halbaufgerissenen Mund. In ihrem Bauch war in Weiß ein einziges Wort eingeritzt.

     Shadows

Wie gebannt starrte ich auf das Gebilde und spürte wie kleine Schauer durch meinen Körper fuhren. Ich hatte so etwas noch nie im Leben gesehen. Ich wusste, dass hier etwas Außergewöhnliches passiert war.

Ich holte mein Handy heraus und schoss heimlich ein Foto von dem Gebilde.

„Würden Sie bitte weitergehen! Hier gibt es nichts zu sehen“, vertrieb ein Beamter alle Schaulustigen. Erschrocken steckte ich mein Handy wieder ein und lief weiter, drehte mich im Gehen jedoch immer wieder um.

„Hey, Vorsicht!“, schrie mich ein weiterer Polizist an, gegen den ich beinahe gelaufen wäre. „Entschuldigen Sie… Könnten Sie mir vielleicht sagen, was hier passiert ist?“, fragte ich hastig. Der Mann sah mich genervt an. „Keine Ahnung! Woher soll ich das wissen? Wir haben sie so gefunden! Mit diesem scheiß Zeichen!!“ Er ignorierte mich und drehte sich zu seinem Kollegen herum.

„Verdammt und ich dachte, bei uns gäbe es keinen Banden…“, sagte er leise zu ihm.

Ich drehte mich noch einmal nach der Katze herum. Ich hatte das Gefühl, sie würde mir hinterherstarren.

Ich rannte schnurstracks nach Hause. Mit genau zwei Wörter im Kopf.

   Shadows und Banden.

Zu Hause schmiss ich alle Türen hinter mir zu, ignorierte alle meine Bedürfnisse, fuhr meinen Laptop hoch und gab diese zwei Wörter ein. Ich bekam eine Reihe von Links, die nichts mit dem zu tun hatten, was ich finden wollte, aber nach einigem Suchen stieß ich auf den Vermerk „Schatten (Bande)“. Mit zitternder Hand klickte ich weiter. Das war das Aufregendste, was ich seit dem Beginn meines Studiums erlebt hatte. Ich hatte nie etwas mit Gangs oder Banden am Hut, ich kam aus einer kleinen Stadt am anderen Ende der Welt!

Ich überflog alle folgenden Seiten, suchte nach einem Anhaltspunkt.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Da war wieder dieses Zeichen von der Katze.

Ein Forum. Ich suchte hastig nach einen Forumsbeitrag, der mir sagen könnte, wer die Schatten waren, was sie taten, warum sie hier waren… Ich konnte spüren, dass ich meinem Ziel so nahe war wie nie zuvor. Ich fand einen Beitrag, der mir meine Fragen von der Zunge nahm.

   „Die Schatten (Shadows)

Die Schatten, offizieller Name Shadows, sind eine der bekanntesten Gangs aus Solana. Sie agierten hauptsächlich im Mondviertel, dem bekanntesten Stadtteil für Banden, wo sie sich bis zum höchsten Rang vorkämpften. Man sagt ihnen Kontakte zum Hofstaat, insbesondere zum Straßengott nach, was jedoch nicht nachgewiesen werden konnte.

Ihr Kampfstil ist sehr präzise und auf hohem Niveau, mit Ansätzen aus der asiatischen Kampfkunst, Boxen und Kickboxen. Zudem nutzen sie für den Fernangriff Steinschleudern. Die Schatten zeichnen sich in den Battles durch besonders taktisches Vorgehen; kleine, aber extrem starke Gruppen aus. Sie verloren nie ein ‚Hid and Seek‘-Battle.

Die Gang besteht aus ca. 30-40 Mitgliedern, die Hauptgruppe setzt sich aus festen zehn Mitgliedern zusammen. Zudem haben die Schatten bis zu 10 verbündete Gangs aus dem Mondviertel oder anderen Stadtteilen.

Für die Öffentlichkeit wurden sie durch ihre Aufräumaktion im Mondviertel bekannt...“

Ich las mir den Artikel ein zweites Mal durch. Mit demselben Erfolg:

Das meiste aus diesem Text musste ich mir selbst zusammenreimen. Ich öffnete mir einen neuen Tab und suchte nach „Banden Solana“.

Ein völlig neues Universum eröffnete sich mir in den nächsten Stunden. Ich hatte es nie für möglich gehalten, dass es einen solch organisierten, kleinen eigenen Staat innerhalb einer Stadt gab. Und der bestand zum größten Teil aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Mehrfach wurden sie mit der Mafia oder ähnlich organisierten Gruppen verglichen, obgleich sie für weniger kriminell und brutal gehalten wurden.

Solana war eine riesige Stadt mit mehr als zwanzig Stadtteilen und zig Außenbezirken. In einigen Stadtteilen, meistens jene, in denen es früher viel Industrie gab sowie jene, die zum größten Teil unbebaut oder veraltet waren, gibt es viele Gangs. Jedoch soll das berühmteste das Mondviertel sein, das im Osten der Stadt lag. Hier trieben sich die meisten Gangs herum und der Rang als stärkste Gang soll vor allem hier besonders erstrebenswert sein. Warum verstand ich selber nicht so ganz.

Zumindest schienen diese Gangs bestimmten Gesetzen und Regeln zu unterliegen. Ein Kampf am Tag war nicht erlaubt, alles schien nachts abzulaufen. Auch der Übergriff auf Nicht-Gang-Mitgliedern, also außenstehenden Personen war streng verboten. Es war von eigenen Polizisten die Rede und einem sogenannten Hofstaat, der über Gesetze und Gesetzesmissbrauch beriet.

Ansonsten war die Regel unter den Gangs relativ einfach. Gangs bekämpften sich untereinander in sogenannten Battles, deren Regeln sie zuvor festlegten. Dabei gab es auch Spiele, wie Verstecken - ‚Hide and Seek‘ genannt, Parcours-Kämpfe, Flaggen erobern oder Kämpfe unter besonderen Bedingungen, wie zum Beispiel in dicht bewachsenen Parks oder in alten Häusern, mit Waffen, in Zehn-gegen-Zehn-Kämpfen und so weiter. In den normaler Gang-gegen-Gang-Kampf kam es auf viele Sachen an. Allein die Größe der Gang  hatte keinen Einfluss auf den Gewinn. Es kam auch auf Taktik, Zusammenhalt und die Stärke einzelner Mitglieder an. Es faszinierte mich, dass gerade die Schatten in vergleichsweise kleinen Gruppen agierten, deren einzelne Mitglieder jedoch extrem stark sein sollen.

Die Gangs wurden mit Sternen bewertet. Man kämpfte gegen eine ranggleiche oder ranghöhere Gang und erwarb sich somit einen Stern, oder je nach dem auch halbe oder sogar mehrere.

Banden entwickelten mit der Zeit ihren eigenen Stil. Es zum Beispiel Gangs, die mit Giften kämpfen, oder Gangs, die ausschließlich mit Waffen kämpften, allerdings schienen die wirklich gefährlichen Sachen verboten zu sein. Das interessante war, dass die Gangs all dies so geheim wie möglich hielten. Auch wenn vieles im Internet stand, so schien es, als ob ein normaler Bürger kaum etwas von all dem mitbekommen würde. Es war Solanas größtes Geheimnis.

 

Ich hatte in der Nacht schlecht geschlafen. Die Sache mit den Gangs ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte noch so viele Fragen, die mir das Internet nicht beantworten konnte.

Wo kämpften die Gangs gegeneinander? Wie sah das aus? Wer kontrollierte ob die Gangs nicht schummelten? Warum gab es Gesetze und wer hatte sie aufgestellt? Wie sah es im Mondviertel aus? Wie konnte man so eine riesige Sache geheim halten? Wie sahen die Schatten aus? Was für Leute waren das? Wie benahmen sie sich? Und wie mochte es wohl aussehen, wenn sie kämpften?

Mein ganzer Körper kribbelte vor Anspannung. Ich wusste, dass es nur einen Weg gab, dies alles herauszufinden.

Ich musste nach Solana!

„Hey mein liebster Papili?“, rief ich fröhlich in den Telefonhörer. Mein Vater lachte. „Liebling! Unsere Tochter ist komisch. Sie nennt mich Papili.“, rief er zu ihrer Mutter. Sie hörte ihre Mutter kichern. „Dann will sie wohl was von uns.“, konnte ich sie leise im Hintergrund sagen hören.

„Was ist es diesmal?“, fragte mein Vater amüsiert.

„Ich möchte dich um einen Gefallen bitten!“, sagte ich. „Ich möchte uuuuuunbedingt nach Solana!“ Mein Vater schwieg einen Augenblick.

„Nach Solana??“, wiederholte er verwirrt. „Unsere Tochter möchte nach Solana…“, wiederholte er für seine Frau. Er stellte mich auf Lautsprecher. „Hallo Mama“, rief ich ihr zu. Meine Mutter lachte. „Hallo, meine Süße!“, rief sie zurück. „Warum willst du plötzlich nach Solana?“

„Ich möchte nur für ein paar Tage dorthin, mir die Stadt mal ansehen, mal was Neues kennenlernen.“

„Und wie kommst du so plötzlich darauf?“, erwiderte meine Mutter verwirrt.

„Ich hab viel gelesen von der Stadt und… bitte, bitte, bitte Mama!! Nur für ein paar Tage!!“

„Was sagst du dazu?“, fragte sie meinen Vater. „Von mir aus.“, murmelte er.

„Na gut, mein Schatz, aber du übernimmst ein Teil der Kosten“, hörte ich sie sagen. Ich jubelte laut. „Ja, ja! Danke! Danke, danke!“

„Schon gut“, sagte meine Mutter lachend. „Wann soll’s denn losgehen?“

„So früh wie möglich, übers Wochenende, ich hab donnerstags nur eine Vorlesung und freitags hab ich eh nichts.“

„Okay, wir kümmern uns drum, ich ruf dich heute Abend wieder an. Ich hab dich lieb, mein Schatz!“

„Ich euch auch!“, rief ich zurück. Ich legte auf und jubelte laut los, vollführte Freudentänze in meiner Wohnung, legte gute Musik auf und machte mir endlich Frühstück.

Wie gut, wenn man Eltern hatte, die in einem Reisebüro arbeiteten.

 

Eigentlich wurde mir beim Fliegen immer etwas schlecht. Aber ich war innerlich so aufgeregt, dass ich vom einstündigen Flug kaum etwas mitbekam.

Es waren zwei Wochen vergangen, seit ich das Zeichen gesehen hatte und ich in eine völlig andere Welt eingetaucht war. Ich war froh, dass meine Mutter den Flug organisieren konnte. Sie hatte mir eine günstige Jugendherberge in der Innenstadt herausgesucht. Aber ich wusste, dass ich eh nicht viel Schlaf finden würde. Zumindest nicht nachts, denn da begann gerade erst das, was ich so sehnsüchtig sehen wollte.

Ich sah aus dem Fenster. Wir befanden uns im Landeflug und ich hatte einen herrlichen Ausblick auf die Stadt.

Das Glitzern und Leuchten eines Sternes.

Das war mein erster Gedanke, als ich auf Solana herunterblickte. Die Stadt hatte etwas von einem Stern, der seine Zacken weit in die Landschaft herausstreckte und deren Lichtschein sich dabei langsam verlor. Im Inneren jedoch strahlte die Lebendigkeit einer Großstadt.

Ich war gespannt, wie es dort unten aussah.

Das Flugzeug landete gegen acht. Ich holte meinen kleinen Reisekoffer und suchte den schnellsten Weg nach draußen.

Die große Eingangshalle war voller Menschen. Ich grinste über die Lebendigkeit, die mir hier entgegenschlug. Ich kaufte mir ein teures, belegtes Brötchen als Abendbrot und verließ die Eingangshalle durch eine gläserne Tür, die sich surrend vor mir öffnete.

Ich war wieder aufgeregt.

Warme Luft schlug mir entgegen. Es war ungewöhnlich warm für Februar. Genüsslich atmete ich die Abendluft ein. Erst mal sollte ich zu meiner Jugendherberge.

Ich holte die Beschreibung meiner Herberge aus meiner Tasche und machte mich auf die Suche nach einem Taxi.

Die Taxifahrerin, die ich nach einer Weile fand, war sehr zuvorkommend, half mir, meinen Koffer zu verstauen und gab mir auf der Fahrt in die Stadt ein paar Tipps.

„Vielen Dank für Ihre Hilfe!“, sagte ich, als sie mir meinen Koffer aus dem Wagen holte.

„Immer gerne! Viel Spaß und viel Glück!“, sagte sie mit einem Zwinkern. Ich gab ihr ihr Geld und drehte mich zur weniger einladend wirkenden Jugendherberge um.

Nun ja, zum Schlafen und Duschen dürfte es gerade noch reichen.

Mit schnellen Schritten ging ich zum Eingang. Ein paar Jungs standen an der Tür und rauchten. Ich senkte den Blick und versuchte schnell an ihnen vorbeizukommen. Sie schenkten mir zum Glück keine Beachtung.

„Ja?“, fragte die Frau an der Theke unfreundlich. „Ich hab ein Zimmer gebucht“, antwortete ich hastig und mied ihren genervten Blick. Sie trommelte mit ihren Wurstfingern auf dem Tisch herum und ich verstand, dass ich ihr die Buchungsbestätigung geben sollte.

Gott! Hatte sie das sprechen verlernt oder erstickte sie vielleicht an ein paar Worten.

„Zimmer 309, dritter Stock. Du teilst dir das Zimmer mit einem anderen Mädchen…“ Sie gab mir den Zettel mit dem Schlüssel zurück.

Ich konnte einen Blick auf den Speisesaal erhaschen. Einladend war dann aber doch etwas anderes. Langweilige graue Wände, grauer PVC-Boden und lange, wer hätte es gedacht, graue Tische. Ein Traum in grau.

Es gab keinen Fahrstuhl, ich war gezwungen die Treppe zu nehmen. Meine Tasche bis in den dritten Stock hochzubekommen, war schwerer als erwartet. Ich war eindeutig zu verwöhnt. Völlig außer Atem suchte ich im dritten Stock nach dem Zimmer 309. Davon ab, das die Ausschilderung praktisch nicht vorhanden war, und der Ausblick auf die Toiletten nicht gerade erfreulich, war ich doch ganz froh, als ich mein Zimmer betrat.

Es war niemand da. Ich schob meinen Koffer neben das unbenutzte Bett. Es gab ein kleines Waschbecken, das mit den Schminkutensilien meiner Mitbewohnerin vollgestellt war.

Nachdem ich mich etwas frisch gemacht hatte und mich umgezogen hatte, wollte ich mich endlich auf den Weg machen. Es war halb Zehn. Spät genug!

Ich schloss das Zimmer wieder ab und steckte ihn in meine Umhängetasche.

Die Frau an der Theke sah mich seltsam unbeteiligt an. Die rauchenden Jungs standen immer noch da. Diesmal schenkten sie mir Beachtung.

„Hey Süße, du hast das was verloren!“, rief mir einer hinterher. Ich drehte mich nicht um. Ich konnte aus seiner Stimme hören, dass es nicht ernst gemeint war. „Bück dich doch mal“, schrie ein anderer. Ich beschleunigte nun doch meine Schritte.

Als ich weit genug von ihnen entfernt war, holte ich einen Zettel aus meiner Tasche. Auf ihm standen die Verbindungen innerhalb der Stadt. Am besten kam ich mit der U-Bahn zum Mondviertel. Ich fühlte mich beobachtet auf diesen fremden Straßen. Ich rieb mir nervös die Oberarme. Ich fand eine U-Bahn-Station und stieg erleichtert die Treppen hinab. Ein mir unbekannter Geruch kam mir entgegen. Auf dem Gleis standen ein paar Leute. Ich kaufte mir ein Ticket und sah mich um. Ich hätte vielleicht nicht allein herkommen sollen. Oder war ich einfach nur paranoid?

Ich würde die drei Tage ja wohl auch ohne Aufpasser überstehen.

Ein Luftzug strömte durch die Tunnel an mir vorbei und man konnte ein leises Rauschen hören, das die herannahende Bahn ankündigte.

„Gleis A: Bitte zurücktreten!“, ertönte eine klare Stimme aus den Lautsprechern. Ich ging vorsichtshalber einen Schritt zurück. Ein noch stärkerer Windstoß fegte vorbei, dann rollte die U-Bahn ein. Ein paar Leute stiegen aus und ich hüpfte an ihnen vorbei in die Bahn. Zumindest hier drin war es nicht ganz leer. Ich setzte mich auf einen freien Platz und beobachtete die Leute. Ein Mann las Zeitung, zwei ausländische Frauen mit Kopftüchern unterhielten sich leise, doch die meisten saßen einfach nur unbeteiligt da.

Ich schaute auf meinen Zettel, wann ich aussteigen musste. Dann konnte ich nur noch warten.

Und ich wartete. Während sich die Bahn immer mehr leerte, beschlich mich so langsam das Gefühl, dass es dort, wo ich hinwollte, nicht gerade viele Menschen gab. Die Bahn war fast leer, als meine Haltestelle angesagt wurde. Ich stand mit zitternden Beinen auf und wartete darauf, dass die Bahn anhielt. Die Bahn stoppte mit einem Ruck und gleichzeitig durchfuhr mich ein Kribbeln der Nervosität. Vorsichtig trat ich auf die leeren Gleise und sah mich in alle Richtungen um. Es sah verwahrlost aus. Als hätte sich schon seit einiger Zeit niemand mehr um diese Haltestelle gekümmert. Alte Werbung hin in Fetzen an den Wänden, die Läden, die es hier einmal gegeben haben muss, waren zugeriegelt und mit Graffiti besprüht. Ich ging die Treppen hinauf zur Straße und fand mich an einer wenig befahrenden Straße wieder. Die Laternen zuckten.

Hier lebten eindeutig nicht viele Menschen. Ich rieb mir die kalten Arme und schaute mich nervös um.

Ich hatte irgendwie etwas anderes erwartet. Ein Stadtteil voller schwarz gekleideter, seltsamer Leute und exotischer Stände und Läden, Gangmitglieder an jeder Ecke und schaulustige Menschen, die hinter vorgehaltener Hand mit ehrfürchtiger Stimme über die besten Gangs der Stadt redeten.

Aber eigentlich hätte ich mir das denken können. Diese Leute agierten im Dunkeln, heimlich und versteckt, denn alles was sie taten, war geheim. Ein bunter Rummel hätte sie nur in Gefahr gebracht. Trotzdem konnte ich nicht umhin, ein wenig enttäuscht zu sein.

Das Mondviertel war einfach gesagt, ein altes, verlassenes, dunkles Industriegebiet. Die Hoffnung verließ mich.

Wie sollte ich hier überhaupt jemanden finden?

Ich drehte mich nach allen Richtungen noch einmal um und entschied mich dann, an der hellen Straße entlang zu gehen. Ich fühlte mich unwohl.

Nach einer viertel Stunde war ich mir sicher: Ich hatte keine Ahnung wo ich war.

Die Gegend war nicht ansehnlicher geworden, im Gegenteil. Zu den verfallenen Gebäuden und demolierten Straßen hatten sich dunkle Ecken mit zwielichtigen Personen gesellt. Ich hatte nun doch so etwas wie Angst. Ich wollte am liebsten zur nächsten U-Bahn-Station und wieder zurückfahren. Aber die Straßen wurden einfach nur enger, die funktionierenden Laternen immer seltener und der Geruch von verrottenden Gebäuden und der herumliegende Müll immer unerträglicher.

Was hatte ich mir nur dabei gedacht?

Ich rieb mir fröstelnd die Oberarme. Ich wurde das Gefühl nicht los, das mich jemand verfolgte. Ich drehte mich herum und sah drei Gestalten, die auf mich zukamen. Ich ging etwas schneller, bekam Panik, als auch die Schritte hinter mir lauter wurden. Ich schrie als sie mich packten und über die Straße zerrten. Sie hielten mir den Mund zu und brachten mich in eine kleine, dunkle Gasse.

„Sei schön ruhig, Püppchen!“, säuselte einer der Männer. „Das wird dir Spaß machen.“ Ich starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Ich konnte nicht atmen und eine Angst hatte mich gepackt, die nicht zu beschreiben war.

Nein, nein, nein, nein… bitte nicht!

Die Männer lachten gehässig und drückten mich gegen eine Wand. Ich versuchte mich aus ihrem Griff zu befreien, trat um mich, versuchte die Hand zu beißen, die meinen Mund zuhielt. Doch der Griff, mit denen er mich festhielt wurde nur noch kräftiger. Ich schrie, vor Schmerz und Angst.

Warum war ich nur hierhergekommen?

Plötzlich schlug etwas neben mir auf und einer der Männer stöhnte. Es wurde laut. Einer von ihnen schien mit jemanden zu kämpfen. Ich blinzelte. Der Mann, der mich festgehalten hatte, ließ mich plötzlich los, ich sank zu Boden. Der Kämpfer war größer, als die drei Männer, schlank und völlig in Schwarz. Es war schwer ihn in der Dunkelheit überhaupt richtig zu erkennen. Die zwei Männer fluchten, dann schlug der Kämpfer ohne Vorwarnung zu. Es geschah viel zu schnell um es wirklich zu beschreiben. Der Kämpfer wusste genau was er tat, er bewegte sich schnell und präzise und schaltete dabei alle drei Männer nach und nach aus. Dabei schlug er sie in empfindliche Körperstellen, wie Magenhöhle, Nacken, Rücken, verdrehte ihnen Arme, warf sie in schnellen Handgriffen auf den Boden, bis sie alle bewusstlos auf den Boden lagen. Der Kämpfer holte etwas wie eine Schnur aus seiner Tasche und verband ihre Hände und Füße.

Ich zitterte immer noch. Dort wo sie mich am Arm gepackt hatten, breitete sich langsam ein stechender Schmerz aus. Der Kämpfer drehte sich zu mir herum.

„Alles okay?“, sagte er und trat näher. Seine Stimme klang jung, und ich konnte in der Dunkelheit einen Mann ausmachen, der vielleicht mein Alter hatte.

„Ja… ja, ich denk schon…“, brachte ich benommen heraus und fühlte die schmerzende Stelle an meinem Arm. Der Junge verschränkte die Arme und betrachtete mich eingehend. „Kannst du aufstehen?“ Ich nickte benommen und stemmte mich hoch. Sein Blick ging an mir herunter, wurde abschätzend.

Ich fühlte mich schlecht, weil ich genau wusste, was er dachte.

Du hast es doch nicht anders gewollt, sagte sein Blick. Ich schämte mich für den kurzen Rock und den engen Pullover, den ich angezogen hatte um einen guten Eindruck zu hinterlassen. In dieser Gegend zählte das Aussehen nicht.

Mir wurde schwer ums Herz. Der Gedanke, dass ich diese schreckliche Situation selbst herbeigeführt hatte, lag mir schwer im Magen.

Mein Retter räusperte sich merkbar und ich sah zu ihm herauf.

„Gib mir dein Handy!“, forderte er und blickte mich ernst an. Ich war verwirrt. Er drehte sich herum und sah sich nervös um. Wozu brauchte er mein Handy? Wollte er mich ausrauben? Er seufzte genervt, als ich zögerte und holte sein eigenes Handy hervor. Was wollte er mit meinem Handy, wenn er selber eins hatte?

„Hallo? Polizei?“, sagte er mit einer rauen, hohen Stimmte. Ich schauderte. Es klang wie die Stimme einer alten Frau. „Ich habe gerade gesehen, wie drei Jugendliche ein Mädchen in eine Gasse verschleppt haben, Heiliger-Anton Straße, ja im Mondviertel… ich glaube, da kommen gerade ein paar Leute, sehen aus wie diese Banden… bitte kommen sie schnell!“ Damit legte er auf, schaltete das Handy aus, steckte es wieder ein und betrachtete mich noch einmal. Ohne ein Wort drehte er sich herum und ging weiter in die Gasse hinein. Ich stutzte.

Ließ er mich etwa hier allein?

Ich rannte hinter ihm her. „Willst du die… die da einfach so liegen lassen?“, fragte ich und blickt nach hinten.

„Wenn du auf die Polizei warten willst, tu dir keinen Zwang an.“ Er würdigte mich keines Blickes. Ich wusste, dass er Recht hatte. Wenn die Polizei hier war, würden sie mich stundenlang befragen. Und ich wusste nicht, wie ich ihnen erklären sollte, dass mich ein Junge vor drei äußerst brutalen, stämmigen Männern gerettet hatte. Vor allem, da ihr Retter selbst vor der Polizei davon lief. Wir liefen schweigend nebeneinander her. Er führte mich durch ein Labyrinth aus engen Gassen, Hinterhöfen, verwilderten Plätzen.

„Danke für deine Rettung!“, sagte ich in die Stille hinein. Ich hatte immer noch ein schlechtes Gewissen und die Angst saß noch immer tief in meinen Knochen. Doch ich wollte auch von hier weg. Er antwortete nicht. Ich fühlte mich irgendwie hilflos. Ich wusste nicht einmal, warum ich ihm folgte. Ich hoffte einfach, dass er ein Herz hatte und mich aus diesem Alptraum herausführte.

Ich betrachtete meinen Retter aus den Augenwinkeln. Er hatte einen ernsten, unbeweglichen Gesichtsausdruck. Seine Kleidung war komplett schwarz und sportlich, wie ein Trainingsanzug. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass seine Schritte beinahe nicht zu hören waren, während ich mit meinen Absatzschuhen mehr als deutlich zu vernehmen war.

Er bewegte sich lautlos und beinahe unsichtbar durch die Nacht, ging es mir durch den Kopf.

Plötzlich erschien Licht am Ende der Gasse. Er führte mich auf eine kleine, aber hell beleuchtete und vor allem belebte Straße. Mein Herz schlug schneller und ein kleiner Jubelschrei kam über meine Lippen. Ich war unglaublich erleichtert!!

„Dort ist die nächste U-Bahn-Haltestelle“, sagte er und zeigte ein Schild, das unweit von uns entfernt lag. Dann drehte er sich herum und ging. Ich sah ihn einen Augenblick lang nach und wusste nicht ob ich ihn unhöflich oder einfach nur seltsam finden sollte. Er steckte die Hände in die Taschen und versuchte unauffällig zu bleiben.

Er war einer von ihnen, schoss es mir durch den Kopf.

Ich rannte wieder hinter ihm her. „Du gehörst zu einer Bande, stimmst?“, fragte ich, als ich ihn erreicht hatte. Er hielt mir mit einer hastigen Bewegung den Mund zu. „So was schreit man nicht auf offener Straße herum!“ Ich nahm seine Hand weg und senkte die Stimme. „Ich suche eine Bande. Kannst du mir helfen?“ Er musterte mich und schüttelte dann genervt den Kopf. Wir gingen an einem Zaun vorbei, den er genau betrachtete. „Bitte. Ich weiß nicht, wie ich an solche Leute herankommen soll. Du bist der erste, den ich getroffen habe, der etwas damit zu tun hat.“ Er drehte sich herum und sah sich nach allen Seiten um. Dann sprang er auf eine Mülltonne über den Zaun. Ich wusste, dass ich hartnäckig bleiben musste und versuchte ich es ihm nachzumachen. Doch ich rutschte von der Mülltonne ab und fiel um. Er war stehen geblieben und sah nach mir.

Man konnte zumindest nicht behaupten, dass er kein Herz hatte.

Warum tat ich das überhaupt? Noch vor kurzen hatte ich mich verlaufen und war beinahe überfallen worden und nun rannte ich einem fremden Mann hinterher, der mich eigentlich schnellstens loswerden wollte.

Und das alles nur, weil ich die Schatten finden wollte.

Ich richtete mich wieder auf und entdeckte dabei ein Loch im Zaun. Mein Retter stand immer noch da und betrachtete mich. Ich lief auf das Loch zu und kroch hindurch. Er seufzte und lief weiter, noch bevor ich ganz hindurchgekommen war. Ich kratzte mir die Wollstrumpfhose etwas auf, doch es war nicht wichtig im Moment.

„Warte doch!“, schrie ich im hinterher. Er wartete nicht, doch zumindest lief er auch nicht vor mir davon. Ich holte ihn ein.

„Bitte, du musst mir helfen!“, flehte ich, während wir durch dicht bewachsenes Gestrüpp liefen. Er reagierte nicht darauf. Ich kam mir wie ein Stalker vor.

„Ich komme aus einer anderen Stadt. Dort habe dieses Zeichen an meiner Uni gesehen. Dieses ganze System der Banden hat mich beeindruckt. Ich will unbedingt alles darüber lernen und vor allem diese eine Gang treffen“, versuchte ich ihn zu überzeugten. Er schien immer noch nicht beeindruckt.

„Du könntest mir auch einfach verraten, an wen ich mich wenden kann, dann bist du mich los!“ Na super. Jetzt feilschte ich auch noch mit meinem Verschwinden.

Als er immer noch stumm durch das Gestrüpp lief, wurde ich wütend.

„Redest du immer so viel?“, schnauzte ich ihn an.

Er blieb unvermittelt stehen, worauf ich in ihn hineinlief. Er drehte sich herum.

„Okay, du kommst nicht von hier, oder?“, fragte er. Ich schüttelte den Kopf, erstaunt, dass er überhaupt mit mir sprach. „Dann gebe ich dir einen guten Rat: Geh nach Hause! Das hier ist nichts für kleine Mädchen. Das hier ist nicht beeindruckend oder faszinierend, das ist auch kein Spaß. Vor allem nicht für so jemanden wie dich!“ Damit drehte er sich herum und ging weiter. Ich wusste, dass er mich nicht sonderlich mochte.

„Was meinst du mit ‚so jemand wie ich‘?“ Er seufzte und drehte sich wieder herum. „Diese Gegend ist gefährlich. Du kannst dich ja nicht einmal verteidigen. Du musst doch gelernt haben, das man sich nachts nicht auf dunkle Straßen begibt.“ Ich nickte, fühlte mich noch schlechter.

„Aber… aber ich muss doch die Schatten finden…“, murmelte ich. Er lachte kurz. Es klang traurig.

„Die Schatten gibt es nicht mehr…“

Ich sah betreten zu Boden. Der Grund aus dem ich hier war…

Die Gefahr in die ich mich begeben hatte, die Dummheiten die ich begangen hatte… Alles umsonst?

Mir war zu Heulen, doch ich riss mich zusammen. Er war immer noch nicht gegangen.

„Geh nach Hause, wo auch immer du herkommst“, sagte er, diesmal war seine Stimme sanft und freundlich. „Ja…“ Ich seufzte und wollte mich herumdrehen, als mir noch etwas einfiel.

„Aber das Zeichen! Es war das Zeichen der Schatten“, sagte ich plötzlich. Er schüttelte den Kopf. „Da hat sich jemand einen Streich erlaubt. Gangs malen ihre Zeichen nicht einfach so an Wände und schon gar nicht außerhalb dieser Stadt.“ Ich wusste nicht, was ich sagen solle. Das konnte es doch nicht gewesen sein?

Er drehte sich wieder herum und ging weiter. Ich sah ihm betreten hinterher. War es wirklich alles umsonst gewesen?

Ich konnte nicht glauben, dass ich hier war, für… dass ich mich in Gefahr begeben hatte für… für einen Schein… für etwas, das nicht mehr existierte…

„Sag mal. Wo kommst du noch mal her?“, fragte er plötzlich. Er war unweit von mir stehen geblieben.

„Aus Tessella…“, erwiderte ich matt. Er drehte sich zu mir herum und sah mich ernst an. Er ging wieder ein paar Schritte auf mich zu. Ein Funken Hoffnung regte sich in mir. Sein sonst so regloses Gesicht schien ihm zu entgleiten. Er schien irgendwie aufgeregt.

„Hast du ein Bild davon?“, fragte er hastig. Ich nickte und holte mein Handy hervor. Er war ziemlich aufgewühlt, das konnte man ihm ansehen. Ich zeigte ihm das Bild. „Ich weiß, keine gute Qualität…“ Doch er starrte nur auf das Bild. Er lächelte.

„Das ist… nicht möglich…“, stammelte er und das Lächeln wurde etwas breiter.

Er gab mir das Handy zurück. „Okay, heute ist dein Glückstag. Folg mir!“, sagte er nun wieder ernst und sein alter Gesichtsausdruck kehrte zurück.

Eine geheimnisvolle Truppe

Er hatte nun einen etwas zügigeren Schritt, sodass ich mich beeilen musste um mit ihm Schritt zu halten. Wir verließen das Gebüsch und gingen durch halb beleuchtete Gassen, über leere Straßen, kletterten über Mauern. Wir kamen in eine Gegend, die etwas belebter war. Es war etwas, wie ein großer Hof, an dem sich viele kleine Geschäfte befanden. Er steuerte auf eine Bar zu, durch die man durch die kleinen tiefgelegten Fenster gerade so dunkel gekleidete Menschen erkennen konnte. Ob dies hier so etwas wie eine Bar für Gangs war?

Er hielt mir dir Tür auf und führte mich durch die volle Bar. Es war beeindruckend, es wirkte wie ein altes Pub, wie im Film, mit den vertäfelten Wänden und Decken, den schweren Holztischen und der Bar, hinter der unzählige von Flaschen standen. Es war laut und trotzdem konnte ich hören, wie sie sich über Kämpfe unterhielten, über Gangs und berühmte Leute. Sie sahen nicht gefährlich aus, die Leute waren teilweise sogar jünger als ich und beinahe ausnahmslos in dunklen Kleidern. Meistens etwas bequem Aussehendes wie dünne Stoffhosen und -jacken. Mein Retter führte mich an einen großen Tisch, an der bereits ein paar Leute saßen.

„Heeeey!“, begrüßte ein Mädchen ihn freundlich. „Wie hat es dich denn hierher verschlagen?“ Sie war hübsch, hatte lange blonde Haare und obwohl sie nur in dunklen Farben gekleidet war, sah sie gut in ihrer Kleidung aus. Das andere Mädchen begrüßte ihn mit einem herzlichen Lächeln. Sie hatte braune, lockige Haare und ein liebes, niedliches Gesicht. „Schön, dass du da bist!“, sagte sie mit sanfter Stimme. Er umarmte die zwei Mädchen kurz und machte irgendein Handzeichen mit dem anderen Jungen, der noch an ihrem Tisch saß, einen Rothaarigen mit Sommersprossen, der irgendwie fertig aussah. Er hatte ein großes leeres Glas vor sich, das vorher wahrscheinlich mit Alkohol gefüllt gewesen sein musste.

Mein Retter setzte sich neben den Jungen und bedeutete mir, mich auch zu setzen.

Jetzt sahen mich alle an.

„Hallo…“, sagte ich leise und fühlte mich etwas unwohl in meiner Haut.

„Ungewöhnlich, dass du weibliche Begleitung mitbringst.“, sagte die Hübsche und lächelte mich an. Die mit den braunen Locken lachte und beugte sich etwas zu mir herüber. „Wie hast du ihn rumgekriegt?“ Ich lächelte verwirrt.

„Hört auf.“ Er drehte sich zu mir herum. „Wie heißt du?“ Ich war verwirrt. Sollte ich jetzt meinen richtigen Namen sagen? In Banden schien es üblich zu sein, sich Decknamen zu geben.

„Marie“, sagte ich spontan. Den Namen hatte ich schon immer gemocht.

„Marie!“, wiederholte er. „Das sind Yuni“ Er zeigte auf die Hübsche. „Cat,“ Die mit den Locken. „und Keks.“ Er sah wieder zu mir. „Ich bin Falke.“ Ich nickte. Ich verstand nicht zu ganz, was das Ganze zu bedeuten hatte.

„Wo ist Socke?“, fragte Falke plötzlich. Diesen Namen hatte ich schon einmal gehört.

„An der Bar“, sagte Cat und sah zu ihm. Wie auf ein Stichwort drehte sich einer der Männer am Tresen in diesem Moment herum und lief auf uns zu. Er war sehr attraktiv, groß, leicht muskulös, mit dunklen Haare und schönen, blauen Augen. „Falke, alter Freund!“, rief er und setzte sich mir gegenüber. Er blickte mich mit diesen beeindruckenden blauen Augen an. Ich bekam etwas Herzklopfen. „Hast du heute ein Date?“, fragte er an Falke gewandt und trank aus seinem Glas mit Bier.

„Nein, das ist Marie, Marie, das ist Socke!“ Ich nickte ihm zu. Er grinste frech, was ihn irgendwie noch attraktiver machte. „Freut mich Marie“, sagte er und reichte mir die Faust. Ich schlug ein.

Wahnsinn. Socke hatte eine seltsame Aura an sich. Man musste ihn einfach mögen.

Falke schien einen Moment mit sich zu hadern. Alle blickten ihn erwartungsvoll an.

„Ich habe Neuigkeiten“, fing er an. Zögerte wieder einen Moment, sah zu Socke, der ihm mit verwirrten Blicken antwortete.

„Zeig ihnen das Bild!“, sagte er nun wieder zu mir. Ich holte abermals mein Handy hervor und öffnete das Bild. Er zeigte es zuerst den beiden Mädchen. Sie sahen sich das Bild an, schienen aber nichts damit anfangen zu können. „Marie kommt aus Tessella und hat dieses Bild vor einer Weile gemacht.“ Beide Mädchen sahen geschockt aus, starrten wieder auf das Bild. Als Falke den Namen der Stadt nannte, erregte das Sockes Aufmerksamkeit. Er trank hastig aus seinem Glas und beugte sich zu den Mädchen herüber um auch auf mein Handy zu sehen.

„Das ist doch nicht möglich. Meinst du… sie war das?“, fragte Cat hoffnungsvoll.

„Sie hat uns nicht vergessen!“, sagte Yuni plötzlich erfreut.

„Das muss sie gewesen sein! Wer sonst würde das tun?“, sagte nun auch Keks, an den das Handy weitergereicht wurde. „Cool!“

„Entschuldigt mich kurz“, sagte Socke und stand auf. Er lächelte und zwinkerte mir noch einmal zu. „Ich muss nur mal eben aufs Töpfchen!“ Er ging, amüsiert über seinen eigenen Spruch, weg. Ein kurzes Schweigen kehrte am Tisch ein. Ich hatte das komische Gefühl, dass er vor etwas davongelaufen war.

„Oh je. Das war vielleicht doch noch etwas viel“, sagte Yuni nachdenklich.

„Der soll sich mal nicht so haben.“, schimpfte Cat. Ich war verwirrt.

„Habe ich was falsch gemacht?“

Die beiden Mädchen sahen sich an. „Schon gut, das hat nichts mit dir zu tun!“ Cat lächelte mich freundlich an. „Erzähl uns, wie du das Zeichen entdeckt hast.“

„Naja, da waren immer so ein paar Kerle an meiner Uni, die haben nur Ärger gemacht. Haben Wände mit Graffiti beschmierten, rumgepöbelt und Mädchen belästigt. Zu bestimmten Zeiten haben wir uns gar nicht mehr getraut, aus der Uni zu gehen. Und einen Abend, als ich nach Hause gehen wollte, war die Polizei an der Ecke zum Uniplatz. Sie haben diese Kerle eingeladen.“ Ich lächelte beim Gedanken, an ihren bemitleidenswerten Zustand. „Das sah wirklich komisch aus, sie waren ziemlich zugerichtet und gefesselt.“ Die anderen grinsten sich freudig zu.

„Das sieht ihr ähnlich!“, sagte Yuni. Cat lachte. „Ja, das ist unsere Choffi!“ Ich spitzte die Ohren. Auch diesen Namen hatte ich schon mal gelesen.

„Und über dem hässlichen Graffiti der Jungs war dann eben dieses Zeichen“, redete ich schnell zu Ende. „Cool“, sagte Keks. „Also sie hat’s auf jeden Fall noch drauf.“

„Ich glaub’s nicht!! Sie hat uns wirklich nicht vergessen!“ Die Freude am Tisch war fast greifbar.

Sie fingen an über alte Zeiten zu sprechen. Es klang spannend, aber ich fühlte mich doch etwas fehl am Platz.

„Jetzt ist erst Mal wieder gut, darüber könnt ihr euch auch noch später unterhalten“, hielt Falke sie nach einer Weile an. Die Gespräche verstummten. Ich sah zu Falke hoch und hatte ein bisschen das Gefühl, dass er es für mich getan hatte. Aber er blickte nicht zurück.

„Ach ja, wie kommst du eigentlich darauf, hierher zu kommen?“, fragte Yuni nun wieder. „Ich habe im Internet ein bisschen geforscht und war überrascht wie umfangreich und beeindruckend diese ganze Sache mit den Gangs war. Ich wollte einfach mal sehen, wie das so ist.“ Ich wurde ein bisschen rot. Falke hatte mir ja eigentlich schon bewusst gemacht, dass es kein Märchenland war. Trotzdem konnte ich nicht anders.

„Und da hast du dich einfach in den Flieger gesetzt und dachtest, ach such ich mal ‘ne Gang?“ Ich druckste. „Ich wollte die Schatten finden…“, gab ich zu. Yuni lachte. „Na dann, herzlichen Glückwunsch! Du hast sie gefunden.“

Mir fiel es wie Schuppen von den Augen!

Natürlich!

Ich war so dumm! Wenn diese Choffi ein Mitglied der Schatten war und diese Leute augenscheinlich ihre Freunde, dann konnten sie ja nur noch… der Name Socke… er war der Anführer der Schatten… Choffi… Falke… Plötzlich konnte ich die Namen zuordnen!

Ich sah zu Falke hinauf. „Aber du sagtest doch, es gäbe sie nicht mehr!“ Das Herz schlug mir bis zum Hals. Das konnte doch gar nicht sein.

„Ja, da hat er Recht“, sagte Yuni und sah mich tröstend an. „Genaugenommen haben sich die Schatten von circa einem Jahr aufgelöst. Wir sind nur der klägliche Rest!“ Sie lachte, wirkte aber etwas traurig. Ich freute mich trotzdem.

„Das ist ja cool! Jetzt lern ich euch doch kennen!“ Ich konnte nicht anders als von einem Ohr zum anderen zu grinsen. Ich konnte sie nun endlich all die Dinge fragen, die ich von dem Augenblick wissen wollte, als ich von ihnen las.

„Wie ist es so? Ich meine, wie ist es in einem Gang zu sein? Diese ganzen Kämpfe und so?“ Sie lachten. Sogar über Falkes Gesicht huschte kurz ein Lächeln. „Da ist jemand ganz neu“, witzelte Yuni. „Dann ist das immer noch beeindruckend“, seufzte Keks.

„Es ist unbeschreiblich!“, antwortete mir Cat. „Ich bin schon seit klein auf dabei und es gehört sehr viel Mut und Wahnsinn dazu das alles zu tun. Die Kämpfe sind hart und schwer. Man muss mit unzähligen Schmerzen leben. Aber der Erfolg und der Zusammenhalt der Gruppe sind das alles wert. Und!!! Es ist einfach… wie soll ich sagen… einfach verdammt geil!“

„Aber es ist schwer. Allein das Training, man muss ja ständig üben und immer auf dem neusten Stand sein“, fügte Keks hinzu.

„Und die Niederlagen tun weh“, sagte Yuni.

„Eigentlich tut dir immer irgendwas weh.“ Sie lachten. „Das war schon ‘ne geile Zeit, oder Falke?“ Er zuckte mit den Schultern.

„Nicht zu vergessen, das man ständig vor der Polizei davon läuft.“, sagte eine Stimme hinter mir. Ich zuckte zusammen, als Socke plötzlich wieder auftauchte. Er stellte ein Glas vor mir ab. „Für mich?“, fragte ich überrascht. Er lachte. „Bacardi Cola? Magst du sowas?“ Ich nickte. „Danke.“

Er setzt sich wieder. „Warum lauft ihr vor der Polizei weg?“, fragte ich nachdem ich einen Schluck getrunken hatte. „Erst weil wir Minderjährig waren und später weil sie die Bildung von Gangs verboten hatten.“ „Das ist ja gemein.“

„Eigentlich hat‘s den Reiz ausgemacht.“ Er lachte. „Alles war reizvoll, das heimlich Rausschleichen, die gefährlichen Klettereien, die verbotenen Kämpfe, König des Mondviertels werden…“ Seine Augen blitzten. Ich war voller Euphorie. Ich hätte mich ihm sofort angeschlossen. „König des Mondviertels?“, fragte ich vorsichtig.

„Die stärkste Gang im Mondviertel, die mit den meisten Sternen, die sich gegen alle anderen durchgesetzt hat, wird Königsgang und ihr Anführer König des Mondviertels. Es ist ein Rang, ein Titel, eine Ehrung… was auch immer aber es ist einfach geil sich so nennen zu dürfen.“

„Du?“

„Ja, ich und meine Gang, die immer bedingungslos hinter mir stand… naja in jeder Gruppe gibt es Schwierigkeiten und viele sind ausgestiegen, neue dazugekommen… das gehört dazu!“ Er zuckte mit den Achseln. Ich atmete tief aus.

„Schade, ich wäre gern dabei gewesen…“ Er lachte. Sein Lachen war einnehmend. Sein ganzes Wesen war einnehmend. „Nein, es ist wirklich schwer und man muss ziemlich hart im Nehmen sein. Ständig blaue Flecken, Prellungen, Stauchungen, Brüche… und seelisch ist es auch ganz schon hart.“ Ich verzog nachdenklich den Mund. „Aber es klingt trotzdem beeindruckend. Hat man euch mal erwischt?“ Socke beugte sich ein Stück weit zu ihr.

„Das ist eine Geschichte, die ich dir erzählen muss!“

 

Der Abend war das Unglaublichste und Schönste, was mir je passiert konnte. So unglücklich es am Anfang auch verlaufen war, es hatte mir doch diese wunderbare, beinahe unwirkliche Situation eingebracht. Sie waren alle so nett und redselig, beantworteten mir geduldig alle Fragen.

Ich hätte ihnen stundenlang zuhören können. Sie erzählten mir alles über die Kämpfe, über andere Gangs, über den Straßengott, über ihr Training, ihre Mitglieder. Es waren lustige Geschichten, und witzigen Namen aber auch schlimme Erlebnisse, mit tragischem Ende. Scheinbar war der Tod etwas, dem man bei einer so gefährlichen Sache nicht aus dem Weg gehen konnte.

Komischerweise sprach niemand so wirklich über diese Choffi. Sie war immer dabei und es war unvermeidlich sie zu erwähnen, aber sie alle hielten sich so kurz wie möglich, erwähnten lediglich ihren Namen, gingen nie genauer auf sie ein. Ich wagte es nicht, sie darauf anzusprechen. Ich wusste nicht, was zwischen ihnen allen vorgefallen war und eigentlich ging es mich auch nichts an.

Gegen vier Uhr morgens wurden wir beschwipst von den Erzählungen und dem Alkohol aus der Bar geschmissen. Einer wunderschönen, aber etwas stämmigeren Frau mit schwarzem, krausem Haar gehörte die Bar. Ich bewunderte sie sehr dafür.

„So Marie, wo musst du jetzt hin?“, fragte Yuni und legte den Arm um meine Schulter. Wir kicherten. „Keine Ahnung… Falke hat mich hierhin geführt, ich habe überhaupt keine Ahnung, wo ich hier bin…“ Ich lachte. Vielleicht wäre er ja so gütig und würde mich zu einer Bahnhaltestelle bringen.

„Neeeeeeeee…“, machte Yuni langgezogen und ließ mich wieder los. „Ich meine, wo pennst du denn?“

„In einer Jugendherberge in der Stadt.“

„Ist die zufällig am Polarring?“ Ihre Stimme klang plötzlich etwas besorgt. Ich war verwirrt. Cat und Yuni tauschten kurze Blicke.

„Ja, ich glaub schon…“ Wieder sahen sich beide an. „Da kannst du nicht bleiben. Das ist kein guter Ort“, sagte Cat und sah mich mit sorgenvollem Blick an. Sie war so lieb und niedlich. Ich mochte sie sehr. „Ach das geht, ist ja nur für ein paar Nächte.“

„Nein, du kannst da wirklich nicht übernachten, du kannst froh sein, wenn deine Sachen noch da sind.“ Ich erschrak. „Außerdem gibt’s in dieser Gegend nur Atzen und Spinner! Da wird übelst mit Drogen gehandelt und wenn du deine Tür nicht richtig abschließt, dann…“ Sie sprach nicht weiter und ich konnte mir lebhaft vorstellen was dann passierte. „Naja du könntest bestimmt bei einem von uns pennen.“, schlug Cat vorsichtig vor. Plötzlich sahen sich alle gegenseitig an.

„Nein, nein! Bloß keine Umstände, das wäre mir unangenehm.“

„Also bei mir geht’s nicht. Mein Freund ist da und ich glaube nicht, dass sie sich das mitanhören will“, sagte Yuni gleich und kicherte. Sie ignorierten mich einfach. Ich wusste nicht recht, ob ich mich freuen sollte, dass sie mich so bedingungslos in ihre Gruppe aufnahmen.

„Ich wohne noch bei meinem Papa… der würde mich in Stücke reißen, wenn ich jemanden mitbringen würde…“, sagte Cat und sah dabei ziemlich griesgrämig drein. Sie sah mich entschuldigend an. „Tut mir leid!“ Ich schüttelte den Kopf. Sie sahen zu Socke.

„Ne, ich nehme keine Mädchen mit zu mir, aus Prinzip. Sorry!“ Er zwinkerte mir zu. „Ist nichts gegen dich! Außerdem wohn ich echt weit draußen, du würdest ewig wieder in die Stadt brauchen und ich nehme an.“ Ich nickte. Es tat etwas weh von ihm abgewiesen zu werden, aber ich verstand es.

„Also bei mir würde es zwar gehen, aber ich muss morgen und übermorgen arbeiten“, sagte Keks kleinlaut.

„Aber ich kenne jemanden, der mitten in der Stadt lebt und dessen Wohnung groß genug für Gäste ist“, sagte Yuni plötzlich und ihre Stimme nahm etwas Heimtückisches an. Sie hackte sich bei Falke unter und blickte ihn verführerisch an. Er seufzte.

„Von mir aus…“, sagte er und befreite sich aus ihrem Griff.

„Echt?“, platze es aus mir heraus. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Er zuckte mit den Schultern, als wäre es im egal. Ich freute mich trotzdem. Vielleicht konnte er mich ja doch ein bisschen leiden.

„Na gut, dann lasst uns mal verschwinden!“, gähnte Socke und trabte langsam los. Wir folgten ihm.

„Sehen wir uns eigentlich noch mal wieder?“, fragte ich in die Runde. „Bestimmt, wir könnten ja Nummern tauschen, dann schreib ich dich an“, sagte Yuni vergnügt. „Ja, das wär schön.“ Ich konnte immer noch nicht glauben, dass sie alle so offen und herzlich waren und mich einfach so aufnahmen. Ich war einfach nur unglaublich glücklich!

An der Bahnhaltestelle verabschiedeten wir uns von Cat und Keks, die in die andere Richtung mussten. Wir mussten 20 Minuten auf eine Bahn warten, unterhielten uns in dieser Zeit über die Gegenwart. Wie ich studierten Socke und Falke, Yuni war jedoch schon lange aus der Ausbildung heraus und arbeitete als Kindergärtnerin, jobbte nebenbei jedoch auch als Model. Ich war nicht erstaunt darüber.

Die Müdigkeit hatte uns alle schon fest im Griff, als die Bahn kam. Abgesehen von uns, war die Bahn leer.

„Wenn ich in dieser Stadt leben könnte…“, murmelte ich nachdenklich. Socke lächelte mich an. „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich dich aufgenommen hätte.“ Ich zog einen Schmollmund. „Wieso nicht?“ Er überlegte. „Weiß nicht, ich glaub du wärst besser als Maskottchen aufgehoben, als in einem Kampf.“

„Maskottchen?“

„Niedlich genug bist du ja!“, sagte er und lächelte breit. Ich wurde rot. Dieser Typ war einnehmend. Und anziehend. Da musste man ja aufpassen!

„Jetzt ärger sie doch nicht!“, lachte Yuni und legte wieder den Arm um meine Schulter. „Obwohl ich mir dich mit Häschen- oder Katzenohren durchaus vorstellen könnte.“

„Dann müssen wir Oktavia holen, die hätte ihr bestimmt ein süßes Kostüm genäht!“ Sie lachten herzhaft.

„Ist es denn so schwer?“, schmollte ich. Socke wurde wieder ernst. „Ja. Ich habe angefangen, da konnte ich kaum laufen. Aber das ist vielleicht auch etwas übertrieben. Falke war mit sieben dabei und Choffi und Cat als sie neun oder zehn waren. Man muss nicht unbedingt so früh anfangen, aber um wirklich gut zu sein, ist es beinahe unabdingbar. Und wenn du nicht gerade ein Naturtalent gewesen wärst… hätte ich mich nicht getraut dich auf die Großen loszulassen.“

„Die Großen?“

Socke lächelte gedankenverloren. „Die, die viel mehr Sterne als wir hatten, waren oft älter. Und damit leider auch größer, körperlich stärker…“

„Da zählte dann die Taktik!“, sagte ich selbstbewusst.

„Die und körperliches Geschick.“

„Wir wussten alle genau, wie wir uns zu bewegen hatten.“, warf Yuni ein. Jetzt sahen sie beide nachdenklich aus. Sie schwelgten in alten Erinnerungen.

„Ich hätte euch gerne mal kämpfen sehen“, sagte ich leise. Socke lächelte mir süß zu.

Als die Haltestelle angesagt wurde, verabschiedete sich auch Yuni. Sie umarmte mich fest und versprach mir zu schreiben. Ich winkte ihr. Jetzt war ich allein mit den zwei Jungs. Schweigen breitete sich aus. Falke wirke unbeteiligt und Socke starrte nachdenklich aus dem Fenster in die dunkle Nacht. Ich fragte mich, ob sie die alte Zeit vermissten. Doch nach den heutigen Erzählungen konnte ich mir die Frage eigentlich auch selbst beantworten.

Nach drei weiteren Bahnhaltestellen mussten wir raus. Wir verabschiedeten uns auf dem Gleis von Socke, der mit einer anderen Bahn noch weiterfahren musste. Es tat fast ein bisschen weh, gehen zu müssen. Socke war unglaublich. Auf eine bestimmte Art und Weise anziehend, ohne dass ich etwas von ihm wollte. Wenn, dann wollte ich sein Freund sein, wollte seine Aufmerksamkeit, den Kontakt, wollte dass er mich nett fand… Naja, das war alles etwas verrückt! Aber es war ja auch schon spät!

Socke umarmte mich kurz, was mich glücklich machte.

Dann waren Falke und ich allein. Ich atmete tief aus.

„Ist es wirklich okay?“, fragte ich ruhig, konnte die Sorge jedoch nicht aus meiner Stimme vertreiben. Es lag mir schon die ganze Zeit auf der Seele. Ich wollte ihn nicht nerven. Er nickte. Ich sah ihn eine Weile lang an, studierte sein ausdrucksloses Gesicht, hoffte auf irgendeine Regung, die verrieten, was er wirklich dachte. Ich wurde aus diesem Kerl nicht schlau.

Er blickte mich an. „Sonst hätte ich gar nicht erst zugestimmt“, antwortet er mir.

„Also machst du es nicht aus Mitleid, oder weil du überredet wurdest?“

„Mach dir keinen Kopf.“

Ich wusste immer noch nicht so recht, was ich von ihm denken sollte. Aber er schien im Grund seines Herzens sehr nett zu sein.

„Danke!“, sagte ich nach einer Weile und stieß ihn mit der Schulter an. Und ich war unfassbar glücklich, dass er mich aufnahm. „Ich versuch auch, dir nicht auf die Nerven zu gehen.“ Tatsächlich huschte ein amüsiertes Lächeln über seine Lippen, als ich das sagte. Ich freute mich darüber.

Wir fuhren mit dem Bus bis zur Herberge. Wir redeten nicht, zum einen weil ich zu müde für ernsthafte Gespräche war und zum anderen wusste ich nicht genau, ob er sich überhaupt unterhalten wollte.

Als wir gemeinsam auf den Eingang der Herberge zuliefen, standen wieder ein paar Jungen dort. Falke rückte näher an mich, als würde er mich vor ihnen beschützen wollen und beäugte sie skeptisch. Aber sie ließen uns in Ruhe. Ich führte ihn zu meinem Zimmer.

„Soll ich dir helfen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich gebe dir die Sachen raus, es ist nicht so viel.“ Ich schloss die Tür leise auf und machte das Licht an. Meine Mitbewohnerin stöhnte. „Licht aus…“ Ich nahm meinen Rucksack und meinen Koffer und gab ihn Falke. Zum Glück hatte ich nicht viel ausgepackt.

„Ich muss den Schlüssel morgen wieder zurückgeben“, sagte ich, als ich die leere Rezeption sah. Wir gingen wieder hinaus und fuhren mit dem Bus weiter.

„Ist es weit?“, fragte ich vorsichtig. „Fünf Haltestellen.“ Das war gut, denn ich war todmüde und kaum noch in der Lage, die Augen offen zu halten.

Der Bus war abgesehen von uns und einer alten Frau, die mit ihren vielen Tüten und ihrem Pelzmantel ein seltsames Bild abgab, völlig allein. Ich betrachtete Falke vorsichtig, der mir gegenüber saß und gedankenverloren aus dem Fenster starrte. Er hatte ein ausgesprochen schönes Gesicht, stellte ich fest, auch wenn der Ausdruck darauf distanziert und kühl wirkte. Seine Haut war hell und ohne jede Unreinheit mit einem kaum sichtbaren Bartansatz. Seine Augen waren beinahe leuchten grün. Ich wandte den Blick schnell ab und spürte wie sich die Röte über meine Wangen verteilte. Er stand auf und nickte mir zu. Wir waren wohl da.

Er führte mich durch Reihen von Wohnblöcken, die von erstaunlich viel Grün umgeben waren. Es wirkte fast so, als hätte die Natur ein wenig Überhand über diesen Ort gewonnen, ihn einfach überwuchert mit seiner Pracht. Ich war am Stadtrand aufgewachsen und ich liebte nichts so sehr, wie das Grün von Pflanzen.

Der Hauseingang zu dem er mich führte lag etwas abseits hinter den Wohnblöcken. Die plötzlich aufleuchtende Lampe am Hauseingang blendete uns, als wir uns näherten. Er holte einen Schlüssel hervor, schloss auf und hielt mir die Tür auf, sodass ich in einen hell gestrichenen, einladend wirkenden Flur treten konnte. Ich guckte verstohlen auf die Briefkästen, versuchte herauszufinden, welcher seiner war. Doch er führte mich in schnellen Schritten zum Fahrstuhl und wir fuhren in den fünften Stock.

Das Schweigen, das zwischen uns herrschte, war angenehm. Ich wollte ihn so vieles fragen und ihm danken, aber das hatte Zeit. Wir stiegen aus dem Fahrstuhl und er schloss die Tür auf, die dem Fahrstuhl gleich gegenüber war.

Es roch seltsam ungewohnt in seiner Wohnung, aber nicht schlecht. Er stellte meine Taschen in den Flur und zog sich die Schuhe aus. Ich tat es ihm nach.

„Ich hole das Bettzeug“, sagte Falke und ging in ein Zimmer am Ende des Flures. Ich schaute mich verstohlen um. Rechts von mir lag das Wohnzimmer, mit großen Fenstern, recht modern eingerichtet. In der Ecke stand ein kleiner Schreibtisch mit einem Computer drauf. Auf der linken Seite war die Küche, sie war recht klein und schmal, aber durchaus ausreichend, eine kleine Küchenzeile auf der einen, ein großes Regal auf der anderen.

Er kam mit Kissen, Decke und Bezügen wieder und nickte mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer. Ich ging in den Raum, der Teppich unter meinen Füßen fühlte sich weich und gemütlich an.

Falke legte das Bettzeug auf einem Sessel ab und kratze sich am Kopf. Er wirkte verlegen. „Ich hoffe das Sofa ist in Ordnung für dich. Ich habe kein Gästebett“, erklärte er. Ich lächelte ihn an. „Das ist mehr als in Ordnung! Vielen Dank!“

Ich half ihm das Bett zu beziehen. Alles was er tat wirkte irgendwie elegant. Er riss nicht am Sofa um es auszuziehen, er zog es scheinbar ohne große Mühe raus. Er legte das Lacken übers Sofa und strich es mit schnellen und geschickten Bewegungen glatt.

Auch ohne es zu wissen, hätte man ihr als ein Bandenmitglied erkennen können.

„Brauchst du noch was?“, fragte er nachdem er mit allem fertig war.

„Ich müsste nur noch mal ins Bad.“ Er bedeutete mir zu folgen und führte mich in den Flur zurück. „Das Bad ist hier!“, sagte er und zeigte in ein kleines, fast quadratisches Bad. „Alles klar. Ich hol nur schnell ein paar Sachen. Oder willst du zuerst ins Bad?“ Er schüttelte den Kopf.

Ich holte schnell meine Zahnbürste und ein Handtuch und verschwand dann im Bad.

Ein typisches Männerbad. Keine Deko, keine kleinen Fläschchen oder Kerzen auf der Anrichte, nicht mal eine Haarbüste im Spiegelschrank, dafür jedoch jede Menge Verbandszeug, Pflaster und Schmerzmittel. Ein Rasierapparat lag zusammen mit einer elektrischen Zahnbürste auf einem kleinen Schrank. Die Handtücher waren alle weiß und unbedruckt. Er hatte wohl keine Freundin, schoss es mir durch den Kopf.

Ich wusch mir das Gesicht und putze die Zähne. Ich wollte nur schnell ins Bett. Bis morgen könnte ich wohl noch ohne Dusche aushalten. Als ich wieder aus dem Bad kam, stand Falke bereits vor der Tür, mit nichts weiter als Boxershorts am Leib. Ich konnte nicht verhindern, dass ich rot anlief. Ohne mich zu beachten, ging er an mir vorbei und schloss die Tür hinter sich zu.

Der hatte nicht gerade viel Schamgefühl, schoss es mir durch den Kopf. Aber dafür hatte er einen verdammt gut gebauten Körper. Ich versuchte das Bild aus meinem Kopf zu verscheuchen und ging ins Wohnzimmer. Nachdem ich mir meinen Pyjama übergezogen hatte, suchte ich in meinen Taschen noch nach meinem Handy, um meinen Eltern noch eine Nachricht zu schicken. Als ich die Nachricht verschickt hatte, bemerkte ich, dass Falke im Flur stand und mich beobachtete.

„Was ist los?“, fragte ich verwirrt. Er wirkte nachdenklich.

„Wenn du willst, kannst du auch bei mir im Bett schlafen!“, sagte er plötzlich.

Ich glaubte aus allen Wolken zu fallen. Sekundenlang starrte ich ihn nur an, wusste nicht, ob ich mich verhört habe und meine Fantasie Streiche mit mir spielte oder ob er das ernst meinte.

Als ich nichts sagte, zuckte er mit den Schultern, murmelte etwas wie „…dann eben nicht…“ und drehte sich um. „Warte!“, rief ich hastig und rannte in den Flur. Er stand vor seinem Schlafzimmer und blickte mich an. „Tut mir leid, das war nur etwas… verwirrend… wenn ein Junge so was normalerweise ein Mädchen fragt, dann… dann hat er normalerweise was anderes… im Sinn“, stotterte ich hilflos vor mich hin. Ich lachte um meine Nervosität zu überspielen, spürte aber, dass mein Kopf hochrot war.

„So meinte ich das nicht!“, sagte er schlicht. Ich lachte verlegen. „Ja ich weiß, ich war nur verwirrt.“ Er blickte mich an, schien darauf zu warten, dass ich noch etwas sagte. „Ähm… naja… ich… das ist wirklich nett, aber ich mach dir schon genug Mühe und das wäre mir irgendwie unangenehm. Das Sofa ist schon okay.“

„Gut“, sagte er und nickte mir zu.

„Gute Nacht!“, wünschte ich ihm.

„Nacht“, ertönte es noch aus seinem Zimmer.

Ich hatte immer noch schreckliches Herzrasen. Hatte ich mich peinlich benommen? Aber das war schon eine seltsame Frage. Er hatte es sicher nur gut gemeint, aber ich konnte doch nicht einfach bei einem fremden Jungen im selben Bett schlafen. Vielleicht hatte er ja noch nie Frauenbesuch oder zumindest keinen Frauenbesuch, der nicht mit ihm ins Bett ging.

Ich schüttelte den Kopf. Solche Gedanken hatten hier nichts zu suchen!! Sein Liebesleben ging mich nichts an! Ich kannte ja noch nicht mal seinen realen Namen.

Ich schaltete das Licht aus und ließ mich aufs Bett fallen. Mein Herz hatte sich noch immer nicht beruhigt und dazu kam, dass er vor meinem inneren Auge ständig halb nackt erschien.

Dieser Typ war wirklich verwirrend. Einerseits wirkte er total distanziert und kühl, andererseits war er zuvorkommend und führsorglich.

Noch nie hatte ich so Jemanden getroffen.

Eine etwas andere Stadtrundfahrt

Irgendwie muss ich dann doch inmitten meiner verwirrenden Gedanken eingeschlafen sein, denn das nächste was ich spürte, war eine warme Hand, die meine Schulter berührte.

„Marie?“, sagte jemand sanft zu mir. Ich öffnete verschlafen die Augen und blickte in ein hübsches, aber erst dreinblickendes Gesicht.

„Wie spät ist es denn…“, murmelte ich. Ich fühlte mich völlig erschlagen. „Neun.“ Er zog die Rollos hoch und ließ gleißendes helles Sonnenlicht ins Wohnzimmer. Ich blinzelte. „Neun? Dann hab ich ja gerade mal nicht mal vier Stunden geschlafen!“, empörte ich mich und zog mir die Decke wieder über den Kopf.

„Ich dachte, dass du dir bestimmt die Stadt ansehen willst“, hörte ich ihn unter meiner Decke dumpf sagen. Ich guckte unter meiner Decke wieder vor. Er stellte eine Tasse Kaffee auf den kleinen Stubentisch. „Stadt sehen?“, fragte ich verwirrt.

„Du bist doch nicht nur wegen der Banden-Sache hier, oder?“, erklärte er. Ich setzte mich auf und trank ein paar Schlucke Kaffee. „Naja… nein, ich wollte mir auch ein bisschen die Stadt ansehen.“

Er sah mich wieder erwartungsvoll an. Ich stellte den Kaffee ab und überlegte einen Moment. Dann begriff ich.

„Heißt das, du willst mir die Stadt zeigen?“, fragte ich ihn freudestrahlend. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er schien sich über mich zu amüsieren. Ich wurde etwas rot. Das war wohl etwas zu enthusiastisch. „Wenn du magst“, sagte er schließlich.

„Ich würde mich wirklich sehr freuen!“, sagte ich ehrlich. „Aber nur… wenn es dir keine Umstände macht!!“ Er schüttelte den Kopf. „Musst du nicht zur Uni oder so?“ Er schüttelte wieder den Kopf.

Der Kaffee machte mich langsam wach. Eine Stadtführung! Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, dass er mir so viel erzählen würde, aber dafür irrte ich nicht hilflos in einer riesigen Stadt umher.

„Frühstück?“, fragte er mich. „Gerne!“, antwortete ich schnell. „Brötchen?“ Ich nickte hastig. „Dann bin ich mal kurz weg.“ Ich lachte. Oh je! Jetzt hatte ich ihm wieder Umstände gemacht.

„Kann ich vielleicht vorher noch schnell duschen?“

„Hm.“, machte er. Ich beobachtete wie er sich eine dünne Jacke überzog und sich seinen Schlüssel von der Anrichte im Flur nahm. Er nickte mir noch einmal kurz zu bevor er ging.

Als ich die Tür zufielen hörte, klaubte ich mir meine Sachen zusammen ging schnell ins Bad.

Die Dusche tat gut, das Wasser war warm, ganz anders als die Dusche in meiner Studentenwohnung, das irgendwie immer eher lauwarm war.

Als ich mich  gerade abtrocknete, hörte ich die Tür ins Schloss fallen. Der Bäcker musste ja gleich um die Ecke sein. Ich beeilte mich. Als ich aus dem Bad kam, roch es herrlich verführerisch nach Brötchen und Eierback, nach Kaffee und süßem Honig. Er hatte den Tisch im Wohnzimmer mit allem möglichen gedeckt. Wurst und Käse, Schokolade, Honig und Marmeladen, Obst, Müesli, Milch, Orangensaft. Es sah aus wie das Frühstück in guten Hotels.

Ich ging in die Küche. Er stand vor dem Herd mit einer lächerlich rosa Schürze. Ich unterdrückte ein Lachen. „Ein Geschenk“, erklärte er, ohne mich anzusehen. „Darum ziehst du sie an?“, lachte ich. „Nein, sie ist nützlich…“ Ich räusperte mich um mein Lachen zu unterdrücken und schaute ihm über die Schulter. Er machte gerade Rührei. „Das sieht gut aus!! Kochst du öfter?“

„Geht so.“

Er nahm die Pfanne und bedeutete mir, mich an den Tisch zu setzen.

Nach dem umfangreichen, aber extrem leckeren Frühstück, machten wir uns fertig. Ich war so satt und vollgefressen, dass ich mich kaum noch bewegen konnte. Ich suchte mir etwas Bequemes aus meinen Taschen heraus. Eine enge braune Hose und einen farbigen Pullover. Ich hatte aufs Thermometer gesehen. Es waren knapp 10°C und das mitten im Winter! Allzu dick sollte ich mich also nicht anziehen. Zum Glück hatte ich noch eine dünne Jacke dabei.

Als ich Falke im Flur kramen hörte, kam ich zu ihm. „Also! Wohin führst du mich zuerst?“ Er zog sich seine Jacke über. „In die Garage.“ Ich lachte. „Klingt ja echt spannend! Welche Sehenswürdigkeit von Solana wohl in deiner Garage ist…“, rätselte ich. Er schüttelte den Kopf und schubste mich zur Tür.

Wir fuhren mit dem Fahrstuhl bis ganz nach unten in die Garage. Er führte mich durch eine riesige, nach Benzin und Diesel riechende Halle, zu der zu beiden Seiten Parknischen für die Anwohner waren. In die hinterste Ecke blieb er stehen, schloss ein Tor auf und öffnete die Türen weit.

Dahinter versteckte sich ein fast leerer Raum, in deren Mitte ein Motorrad stand. Er wollte doch nicht etwa…?

„Fahren wir… mit dem Ding da?“, fragte ich etwas verunsichert. Er nickte. „In der Stadt kommt man so am besten voran.“

„Ich bin noch nie Motorrad gefahren…“, gestand ich und konnte den Hauch von Panik nicht aus meiner Stimme vertreiben. Er drehte sich herum und kramte in einem Regal herum. Als er zurückkam, hatte er einen Helm in der Hand und stülpte ihn mir ohne ein Wort über.

Das Ding war schwer und das Polster drückte.

„Erstmal ausprobieren!“, sagte er und lächelte mich dabei an. Ich war fasziniert von seinem schönen Lächeln.

„Passt er? Er darf nicht zu locker sein“, sagte er und wackelte am Helm. Ich nickte. „Sitzt eng.“ Er hielt mich an den Schultern und sah an mir herab. Ich sah ebenfalls an mir herunter. „So kannst du nicht bleiben.“ Ich war verwirrt. „Was heißt das?“, fragte ich verwirrt. Er drehte sich wieder um. „So ist das zu gefährlich.“

„Oh… ach so…“ Und ich dachte schon… Er holte eine Motoradhose und -jacke aus dem Regal und ließ sie mich anziehen. Die beiden Sachen waren unglaublich dick. Sie musste wohl extra fürs Motorradfahren sein. Ich kam mir vor wie ein Michelin Männchen. Dann schob er sein Motorrad heraus, schloss das Tor wieder zu und setzte sich seinen Helm auf. Er erklärte mir, wo ich mich hinsetzten musste und wo ich mich festhalten konnte. Dann setzte er auf und bedeutet mir, es ihm gleichzutun. Ich schluckte und setzte mich hinter ihm. Mein Herz schlug vor Panik wie verrückt. Ich hielt mich an ihm fest, indem ich meine Hände in seine Kleidung krallte.

„Keine Angst!“, sagte er zu mir, bevor er den Motor startete. Als das Motorrad einen Ruck nach vorne machte, umklammerte ich seinen Oberkörper und kniff die Augen zu. Er fuhr aus der Garage und hielt noch einmal kurz, bevor er auf die Straße fuhr.

Zu Anfang hatte ich so viel Angst, dass ich mich einfach nur fest an ihn klammerte und kaum etwas von meiner Umgebung mitbekam. Nach einer Weile verlor ich jedoch meine Furcht und ließ etwas lockerer. Es war gar kein Druck zu spüren. Ich konnte mich sogar relativ frei bewegen.

Ich beobachtete die vorbeiziehenden Gebäude. Falke wohnte in einer relativ ruhigen Wohngegend, mit vielen kleinen Geschäften und engen Straßen, großen Wohnblöcken und ab und an mal ein Stückchen Grün dazwischen.

Als er auf eine Art Stadtautobahn fuhr, konnte ich schon von weitem den Fernsehturm sehen. Es war ein futuristisch wirkendes Gebäude auf langen Stelzen mit mehreren ringförmigen Aussichtspunkten an der Spitze. Er fuhr nach kürzester Zeit wieder von der Autobahn herunter und schlängelte sich an einigen Autos vorbei auf eine große offene Fläche. Irgendein großer Fluss floss hier vorbei und ein riesiges gläsernes Gebäude prangte vor uns auf. Es war der Hauptbahnhof, verrieten mir die Großbuchstaben auf dem Gebäude.

Mein stiller Fahrer fuhr direkt in die Innenstadt und ich konnte einen kurzen Blick auf einige Statuen und Denkmäler werfen. Nach etwa 10 Minuten parkte er sein Motorrad irgendwo mitten in der Stadt, in einer kleinen Straße voller kleiner Geschäfte.

Ich fragte mich, warum er gerade hier hielt. Es gab sicher bessere Orte um mit einer Sightseeingtour anzufangen.

Er bedeute mir, ihm zu folgen. Er führte mich in den nächstgelegen Laden. Es war eine kleine Boutique mit einfach geschmückten Schaufenstern. Eine kleine Klingel ertönte, als wir den Laden betraten und eine Frau drehte sich nach uns um.

„Falke!“, rief sie, als sie meinen Begleiter erkannte. Ihr Stil war irgendwie besonders. Sie hatte rosa gefärbte Haare und ein sportliches türkisfarbenes Kleid an. Um den Hals hatte sie Kopfhörer hängen.

„Hey!“, sagte Falke und hob zur Begrüßung kurz die Hand. Das Mädchen sah an Falke vorbei und lächelte mir zu. „Und du hast ein Mädchen dabei. Was für ein Anblick.“ Falke schien genervt, doch sie grinste schelmisch. Sie kam auf mich zu. „Ich bin Oktavia“, begrüßte sie mich und reichte mir ihre Hand. Von ihr hatte ich gestern schon gehört. „Ich bin Marie.“ Sie grinste. „Du und Falke. Seid ihr…?“, fragte sie neugierig. Doch ich schüttelte hastig den Kopf. „Nein, nein! Er hat mich bei sich aufgenommen für eine kurze Zeit.“ Oktavia schien enttäuscht. „Naja!“, seufzte sie und drehte sich wieder zu Falke herum. „Und was wollt ihr hier?“, fragte sie. „Ich wollte Marie die Stadt zeigen.“ Sie nickte. „Und ich wollte die Motorrad-Sachen bei dir lassen.“

„Ja! Das sieht dir ähnlich!!“, erwiderte sie kopfschüttelnd. Sie nahm Falke und mir den Helm ab. „Marie! Sieh dich ruhig um. Die Kleidung hier könnte dir gefallen!!“

Ja! Das hatte ich auch schon so im Gefühl. Die Kleidung hier war außergewöhnlich. Nachdem ich die schweren Motoradsachen ausgezogen hatte und Oktavia sie hinter dem Tresen verstaut hatte, stöberte ich durch die Shirts. Ich nahm eins heraus, dass einen süßen Kragen mit Schleife zierte, auf den viele kleine Katzen gedruckt waren. Der Preis ließ mich etwas schlucken, doch für eine Boutique war es ganz ok. Zumindest anschauen war erlaubt.

Ich schlenderte mit klopfenden Herzen weiter. Dieser Laden war wirklich etwas Besonderes. Es gab hier eine bunte Mischung aus sportlichen, weiblichen und eleganten Kleidungstücken. Sie waren auffällig und trafen sicherlich auch nicht jedermanns Geschmack, doch mich faszinierten sie. Hinter der nächsten Ecke entdeckte ich dann ein Traumstück. Das Kleid, das dort hing, war genau nach meinen Vorstellungen. Es war dunkelgrün, eng geschnitten und mit langen Ärmeln. Der obere Teil hatte ein aufgesticktes Muster, in denen sich wieder Katzen erkennen ließen. Unterhalb der Brust war das Kleid einfarbig, hatte unten jedoch am Saum eine Spitze mit demselben Stickmuster wie oben. Es war perfekt. Elegant und sportlich zugleich.

„Das würde dir bestimmt stehen.“, sagte jemand hinter mir. Ich drehte mich herum und sah in Oktavias grinsendes Gesicht. „Magst du es mal anziehen?“ Ich drehte mich wieder zu dem Kleid herum. „Schon. Aber ich glaub nicht, dass ich es mir leisten kann…“ Sie lachte. „Anprobieren kann man trotzdem.“ Ich lächelte glücklich. „Ja. Wenn ich darf.“ Sie nickte und ich verschwand kurz in der Umkleide. Schon in dem kleinen engen Raum mit den Spiegeln konnte ich sehen, wie toll das Kleid war.

„Komm! Zeig dich“, forderte Oktavia. Ich schaute hinter dem Vorhang hervor. Falke stand mit verschränkten Armen neben ihr. Das war jetzt etwas peinlich.

Doch ich wagte mich trotzdem heraus. „Wow! Wahnsinn.“, schwärmte Oktavia, als sie mich sah. Natürlich wollte sie die Sachen gerne verkaufen, aber trotzdem fühlte ich mich geschmeichelt. Sie ging um mich herum. „Das passt wie angegossen.“ Sie zupfte am Kleid. „Ist es bequem?“ Ich nickte. „Wahnsinnig bequem.“ Obwohl es eng geschnitten war, fühlte man den Stoff kaum. „Wie eine zweite Haut. Das Kleid ist so toll! Ich habe noch nie so etwas Schönes gesehen, das gleichzeitig so gemütlich war. Sowas findet man in normalen Läden bestimmt nicht.“ Oktavia wurde rot. „Ach, das ist zu viel der Schmeichelei.“ Sie lächelte glücklich. Ich war etwas verwirrt über ihre Reaktion.

„Oktavia hat das Kleid entworfen und geschneidert“, erklärte Falke mir.

„Du hast das entworfen? Das ist ja der Hammer! Du bist total begabt. Ich glaub, ich würde nur noch deine Sachen kaufen, wenn ich hier wohnen würde.“

„Hast du das gehört, Falke. Ich mag sie. Wann wollte ihr heiraten?“ Sie klammerte sich glückselig an Falke, der sich jedoch genervt wieder von ihr befreite. „Zeig ihr einfach den hinteren Bereich.“, erwiderte er genervt.

Ich lachte. Ob die beiden wohl mal ein Paar gewesen waren, schoss es mir durch den Kopf. Sie waren so vertraut. Es wurmte mich ein wenig. Oktavia war so cool und hübsch.

„Pass auf. Ich mach dir ein Angebot!“, sagte sie und kam auf mich zu. „Ich gebe dir 30% Rabatt auf das Kleid. Du musst es unbedingt kaufen. Das steht dir total!!“ Ich war überrascht. „Wirklich? 30%?“ Sie nickte. „Oh!!! Danke.“ Ich umarmte sie. „Ja, dann nehme ich es.“ Sie jubelte. „Hast du gehört, Falke. Sie nimmt es!!“ Er verdrehte die Augen.

Oktavia huschte zu Kasse, während ich mich im Spiegel noch einmal betrachtet. Ich sah zu Falke. „Und was meinst du?“, fragte ich ihn. „Hm“, machte er und betrachtete mich genauer. „Zum Kämpfen ist es ungeeignet.“ Ich lachte. „Das stimmt. Ich zieh mich schnell wieder um.“ Nachdem ich das Kleid bezahlt hatte, beugte sich Oktavia über den Tresen und lächelte geheimnisvoll.

„Okay. Ich zeig dir jetzt unser kleines Geschäftsgeheimnis“, flüsterte sie. „Komm mal mit.“ Sie führte mich durch den Laden und ließ mich hinter einem unscheinbaren Vorhang treten. Hier war ein kurzer Flur, an dessen Ende eine verschlossene Tür war. „Hier kommen nur die eingeweihten rein. Es gibt ein Passwort. Man sagt einfach: „Ich bin hier, wegen der nachtschwarzen Socken“. Oder eine abgewandelte Form davon. Hauptsache das Wort nachtschwarz ist dabei. Dann führ ich die Leute hierher.“ Sie ging voraus und öffnete die nächste Tür. Ich trat in den nächsten Raum und war erstaunt.

Alles was hier in den Regalen lag und auf den Ständern hing, war schwarz. Jacken, Shirts, Hosen, Tücher und allerlei andere Sachen. Alles war pechschwarz. „Hier gibt es spezielle Gang-Kleidung. Die sind etwas widerstandsfähiger, als normale Kleidung und passen sich gut der Dunkelheit an. Auch die Schuhe sind besonders, sehr leicht, mit groben Profil zum Klettern. Meistens sind meine Kunden Männer und die sind weniger modebewusst, aber ich entwerfe auch schwarze Kleidung, die ziemlich stylisch ist.“ Sie lachte und wanderte im Raum umher. „Siehst du, die hab ich damals für die Schatten entworfen. Mittlerweile gehen sie weg wie warme Semmeln, weil jeder eine Schatten-Jacke haben will.“ Die Jacke war schlicht, aber irgendwie auch cool. „Das Beste ist die Kapuze.“

„Wie cool!!“ Da waren Katzenohren dran. Ich nahm mir die Jacke und drehte sie in meinen Händen. Da waren so viele Kleinigkeiten, wie die Handstulpen an den Enden der Ärmel, der hohe Kragen, die Katzenohren an der Kapuze, bei denen es schien, als wären sie nach hinten gestellt. Auf dem Rücken war eine Katze. Es war jedoch nicht das Symbol der Schatten.

„Die offizielle Jacke mit den Schattenzeichen dürfen natürlich nur Mitglieder der Schatten haben“, beantwortet Oktavia meine unausgesprochene Frage.

„Und du hast das echt alles gemacht?“, fragte ich fassungslos.

„Naja. Als ich noch bei den Schatten war, habe ich das alles eher nebenbei und eher amateurhaft gemacht, aber mittlerweile bin ich Profi und kann ich damit richtig Geld verdienen.“ Sie grinste glücklich. Ich war sprachlos.

„Wahnsinn. Du bist ‘ne Wucht.“, kam es dann aus mir. Mein Gegenüber wurde rot und lächelte breit. „Findest du?“ Sie kicherte. Ich hängte die Jacke zurück und sah mich weiter im Raum um. An einer Pinnwand hingen einige Zeichnungen. Es waren größtenteils Kritzeleien mit Bleistift, einige Schnittmuster und Entwurfe, aber auch seltsame Symbole, meistens Katzen. Oktavia schien Katzen echt zu lieben.

„Oh! Da ist ja auch das Symbol der Schatten.“ Ich zeigte mit dem Finger darauf. „Oh ja. Das hab ich auch entworfen.“ Ich lachte. „Das hätte ich mir jetzt fast denken können. Wahnsinn. Du bist total kreativ.“ Ich hatte dagegen keine derartigen Talente. Oktavia lachte verlegen. „Es macht mir einfach Spaß. Ich bin nicht so gut im Zeichnen, aber so Symbole und Zeichen habe ich schon damals in der Schule überall hin gekritzelt.“

„Wie bist du dann auf diese Gang-Sache gekommen?“, fragte ich neugierig. Sie war so lustig und lieb. Ich konnte mir sie gar nicht kämpfend vorstellen. „Ich und mein Freund, wir wurden von klein auf von meinem Großvater trainiert.“ Ich spitzte die Ohren. „Dein Freund?“ Sie wandte sich glücklich unter dem Wort. „Wir sind schon seit der Grundschule ein Paar.“, sagte sie stolz. „So lange schon?!“ Falke seufzte laut hinter mir.

„Ja. Aber natürlich haben wir die versauten Dinge erst später gemacht.“ Sie lachte.

„Okay. Das reicht jetzt. Lass uns gehen, Marie“, forderte Falke genervt, packte mich an den Schultern und schob mich aus dem Raum. Oktavia folgte uns und schloss den Vorhang hinter uns wieder ordentlich.

„Na gut. Wir sehen uns ja nachher noch mal“, verabschiedete sie uns. „Bis dann! Viel Spaß.“

Ich winkte ihr. „Bis später. Und danke für alles!“ Sie zwinkerte mir zu.

„Oktavia ist der Wahnsinn. Sie hat sogar ihren eigenen Laden“, schwärmte ich. „Also geht jeder hierher, wenn er diese Kleidung haben will?“ Er schüttelte den Kopf. „Es gibt andere Läden.“

„Wirklich? Verkaufen die auch solche Sachen?“ Mein Begleiter nickte. „Mehr noch.“ Sogar noch mehr?

„Was gibt es denn da noch?“

„Hm. Verschiedenes. Kleidung, Schuhe, Masken, Waffen und sowas.“

„Und das sind alles so Läden wie Oktavias? Die das im Hinterzimmer verkaufen?“ Er nickte. Es erstaunte mich, dass um diese ganze Sache so ein großes Geheimnis gemacht wird.

„Und wohin gehen wir jetzt?“, fragte ich Falke. „Souvenirladen.“ Ich war überrascht. „Echt? Das klingt aber gewöhnlich“ Er lächelte. „Oh. Ich verstehe. Kein gewöhnlicher.“ Er nickte. Ich lachte und stieß ihn an. „Bei euch gibt es wohl nichts Gewöhnliches.“

„Nein.“

Wir gingen ein paar Straßen weiter. Das Wetter war herrlich, die Sonne schien und wärmte uns. Die Bäume hier hatten schon ihre ersten Blätter. Ich hatte plötzlich Lust auf ein Eis.

„Komm mit!“, forderte ich und packte Falke am Arm. Ich zog ihn zur nächsten Eisdiele. „Zwei Eis, bitte“, bat ich den Verkäufer hinter der Auswahltheke. Ich lächelte Falke an. „Ich geb‘ dir ein Eis aus. Was magst du?“ Ich schien irritiert. „Als Dankeschön, dass ich bei dir unterkommen darf.“ Er überlegte. „Schoko.“

„Okay. Ein Eis mit einer Kugel Schokolade und ein Eis mit Waldmeister!“, orderte ich. Falke konnte ein Lachen kaum noch unterdrücken. „Was?“

„Sind wir da nicht zu alt für?“, fragte er hinter vorgehaltener Hand. Ich wurde etwas rot. „Für Eis ist man ja wohl nie zu alt.“, murmelte ich.

Mit den zwei Eistüten in der Hand, fühlte es ich fast so an, als würde es Sommer werden. Als wir das Eis aufgegessen, betraten wir den nächsten Laden. Es sah wie ein ganz normaler Souvenirladen aus. Es gab Postkarten, Figuren des Fernsehturms, Taschen und Klamottenmit dem Namen der Stadt und allerlei Schnickschnack. Falke ging mit mir zum Tresen.

„Ich würde gerne ein paar besondere Stecker sehen“, sagte er. Der Mann lächelte. „Geht klar.“ Er ging kurz nach hinten und kam dann mit einem kleinen Ständer wieder, der mit Buttons und Steckern voll hing. Ich sah Falke irritiert an. „Haben Sie noch das Schatten-Symbol als Stecker?“, fragte er. Dann begriff ich. Das waren Symbole von den Gangs.

Neugierig beäugte ich den Ständer, während der Mann nach dem Symbol der Schatten suchte. Die Zeichen waren wahnsinnig cool. Löwenköpfe, Dämonen, Skelettschädel, Drachen, Wölfe, selbst Blumengebilde, Schmetterlinge und Einhörner waren darauf zu sehen. Jedes Symbol war einzigartig.

„Hier. Ist mein letztes.“ Er reichte mir eins. Da war es. Das war wirklich die Katze mit dem aufgerissenen Mund. „Ich kaufe es!“

Glücklich und mit einem Sonnenanhänger, dem Zeichen von Solana für meine Mutter in der Tasche, hüpfte ich aus dem Laden. Falke hatte mir erklärt, dass auf dem Ständer auch die Symbole des Hofstaates und der schwarzen Polizei, einer speziellen Polizei für die Gangs, gehangen hatten.

„Das ist so viel besser, als jede Klassenfahrt, die ich je gemacht habe“, freute ich mich. Das besondere an Solana war, dass es überall laut und voll war. Egal wo man war, selbst in den kleinen Nebenstraßen, man hatte nie das Gefühl, allein zu sein. Wir schlenderten über einen großen Platz, den ein paar blühende Bäume zierten. Ein Menschentraube hatte sich dort gebildet, von der aus laute Musik tönte.

„Lass uns dahin gehen!!“, forderte ich und winkte Falke mir zu folgen. Er seufzte, ging mir aber hinterher. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit waren ein paar Streetdancer. Und was sie dort ablieferten war unglaublich gut. Die drei Männer waren geschickt und schnell, ihre Tanzbewegungen waren unglaublich präzise. Ich war gefesselt von ihrem Tanz. Als die Musik aufhörte, klatschten die Leute begeistert, ich stimmte mit ein. Einer der Tänzer nahm sein Cappy ab und einige Zuschauer warfen etwas Geld hinein. Einer der Tänzer, er war der Größte von allen, grüßte in unsere Richtung. Ich war verwirrt, bemerkte aber aus den Augenwinkeln, dass Falke zurücknickte. „Wer ist das?“, fragte ich leise. „Das ist Sunny. Er war auch mal ein Mitglied.“ Ich betrachtete ihn genauer. Von den drei Tänzern war er am auffälligsten. Er hatte ein schönes, sonniges Gesicht mit Sommersprossen und lockige, blonde Haare. Wenn er lachte, wusste man genau, warum er diesen Namen hatte.

„Warum gehst du nicht zu ihm?“ Es verwirrte mich, dass sie sich so unauffällig gegrüßt hatte.

„Ich kenn die Leute nicht, mit denen er unterwegs ist. Ich will ihn nicht verraten.“

Ah! Das machte Sinn. Wenn er mit Freunden unterwegs war, die von seinen Gang-Aktivitäten nichts wussten, dann tat man wohl lieber so, als würde man sich nicht kennen.

„Man erzählt es seinen besten Freunden also nicht? Wenn man in einer Gang ist?“, forschte ich nach, während wir weiter über den Platz liefen. Falke schüttelte den Kopf, dann überlegte er jedoch kurz. „Vielleicht machen es manche. Aber das macht Probleme. Je weniger also davon wissen, desto besser.“

„Was für Probleme?“

Er schien wieder zu überlegen. „In der Schule. Manche wurden suspendiert, weil die Schule nichts damit zu tun haben wollte. Manche wurden auf Arbeit gefeuert oder haben eine Ausbildung oder Job nicht bekommen“, erklärte er.

„Wieso das denn? So schlimm ist das doch auch wieder nicht. Das ist doch sowas wie ein Hobby, oder?“ Er schüttelte wieder den Kopf. „Unter den normalen Leuten sind wir wie Kriminelle.“

„Dabei ist es nachgewiesen, dass in den Vierteln mit Gangs die Kriminalität um über 50% zurückgeht.“, sagte jemand hinter mir. Erschrocken drehte ich mich herum. Der Tänzer, Sunny, stand hinter mir und lächelte mich breit an. Ich trat einen Schritt zurück, trotzdem musste ich meinen Hals ganz schön strecken. Er war bestimmt zwei Köpfe größer als ich.

„Na Falke. Hast du etwa ein Date?“, fragte er hämisch und boxte seinen Gegenüber. Falke schien genervt. „Habt ihr euch alle verschworen, oder so?“, murrte er. Sunny lachte. „Etwa nicht?“

„Ich… ich bin Maria. Ich bin im Moment sein Gast“, stammelte ich. Ich war etwas überwältigt von so einem großen Mann. „Alles klar! Hi, Maria!!“ Er zog mich an sich und umarmte mich kurz. Dann strahlte er mich an. „Aber eine hübsche Begleitung hast du“, lachte er und sah wieder zu Falke. Ich wurde etwas rot.

„Also… also du warst auch mal ein Mitglied der Schatten?“, fragte ich und senkte dabei die Stimme. „Ja“, antwortete er ebenfalls flüsternd, schien mich dabei aber auf den Arm zu nehmen. Er lachte laut, als ich noch roter wurde. „Du bist ja ‘ne Maus.“ Er wandte sich zu Falke. „Hör mal. Kannst du deine Schicht mit mir tauschen. Ich habe Dienstag früh spontan ein Bewerbungsgespräch.“ Falke nickte. „Super.“ Sunny wirkte erleichtert. „Wann hast du das nächste Mal?“

„Freitag“, antwortete er.

„Nächste Woche aber, oder?“ Er nickte und Sunny verschränkte die Arme. „Das müsste klar gehen. Du Montag, ich Freitag.“ Ich war verwirrt. „Was für eine Schicht?“, platzte es aus mir heraus. Hastig machte ich die Hand vor den Mund. „Sorry. Ich sollte nicht so neugierig sein.“ Sunny lachte wieder. „Ach Quatsch. Falke und ich arbeiten als Unbeteiligte.“ Ich blinzelte beide verwirrt an. „Als was?“ Nun schien Sunny etwas verblüfft. „Sie weiß doch über diese Gang-Sache Bescheid, oder?“, kundschaftete er hastig bei Falke nach. Falke seufzte. „Sie ist noch neu. Unabhängige sind sowas wie Schiedsrichter“, erklärte er für mich.

„Genau. Sie passen auf, dass nicht geschummelt wird und geben an den Hofstaat weiter, wer gewonnen hat.“

„Und ihr macht sowas?“ Nun war ich etwas baff.

„Naja. Weiß du, seit es die Schatten nicht mehr gibt, suchen wir alle einen Weg um noch mit dem Mondviertel und mit dieser ganzen Gang-Sache in Berührung zu bleiben. Einige von uns sind bei der schwarzen Polizei. Sie machen dann Patrouille oder überwachen bestimmte Orte oder Personen. Yuni ist glaub ich bei den Geistern.“ Ich sah wieder hilfesuchend zu Falke.

„Sie sorgen dafür, dass die normalen Leute nicht ausversehen in ein Battle laufen.“

„Jup. Das kommt bei so alten Industriegebieten im Mondviertel eigentlich nicht vor, aber bei Parcours-Läufen, weil die die Gebiete so weitläufig sind, oder wenn‘s am Hafen ist oder an anderen Orten, wo Leute herumlaufen könnten, dann schicken die die Geister. Die vertreiben die Leute dann. Ich weiß nicht genau wie. Die vergraulen die Leute durch ihre geisterhafte Erscheinung oder durch Schreien. Musst mal Yuni fragen.“

Ich sah wieder zu Falke, der mit einem Nicken zustimmte. Wie komplex dieses ganze System doch war.

„Na gut. Ich muss wieder“, sagte Sunny und winkte kurz zum Abschied. Falke führte mich weiter über den Platz, zu einer Kirche.

„Also macht ihr alle etwas nebenher?“, fragte ich, während wir in die Kirche gingen. Kühle und staubige Luft kam mir entgegen. Falke nickte. „Cat ist bei der schwarzen Polizei. Yuni ist bei den Geistern. Keks ist in einer anderen Gang, er geht noch zur Schule.“

„Und Socke?“ Wir gingen durch die hölzernen Bankreihen und näherten uns dem Altar. Falke zuckte mit den Schultern. „Er mischt irgendwo in der Politik mit. Cat sagt immer, dass er Straßengott werden will. Ich glaub, das ich aber ein Scherz.“

„Straßengott. Das habe ich schon mal gelesen“, rätselte ich. „Er ist der König aller Könige“, flüsterte Falke. Seine Stimme war tief und der Blick auf den Altar gerichtet, der sich vor uns befand. Mir lief es kalt den Rücken herunter, als er das sagte.

„Der König der Könige…“, wiederholte ich ehrfürchtig. „Er ist wie ein Richter, ein Kanzler und ein Kaiser zugleich. Er entscheidet über die Privilegien der Gangs und der Gebiete. Er wirtschaftet und sorgt dafür, dass von der Stadt Gelder an den Hofstaat weitergeleitet werden. Und sorgt für die Akzeptanz beim Bürgermeister und der Stadt.“

„Ich dachte, das wäre alles geheim?“, fragte ich verblüfft. Falke und ich wanderten an den Rand und gingen eine Treppe hinab. Ich war so fasziniert von seinen Worten, dass ich von dieser schönen Kirche kaum etwas mitbekam.

„Ich glaube, das Gang-System ist fest in der Stadtpolitik verankert. Die Gangs gibt es schon seit etwa 150 Jahren. Zu behaupten, dass sich Stadt und Hofstaat nicht gegenseitig beeinflussen wäre wohl gelogen.“ Wir blieben vor einem Grab stehen. Eine Touristengruppe hatte sich ebenfalls um uns herum versammelt. Die Führerin deutete auf das Grab.

„Hier befinden wir uns vor dem Grab von Lucas dem Sonnengott. Er lebte vor über 500 Jahren und hat maßgeblich zur Gründung und Entwicklung dieser Stadt beigetragen. Der Name Solana leitet sich unter anderem vom den lateinischen Wort Sol für Sonne ab. Anders als angenommen stammt der Name der Stadt also nicht von der Strahlenartigen Form der Stadt ab, welche sich erst in den letzten 100 Jahren so herausgebildet hat, sondern von dem Sonnengott.“ Ein unruhiges Gemurmel ging durch die Reihe der Leute. Auch mir war das neu. „Seine Nachkommen haben diese Stadt in den Reichtum und Glanz geführt den wir heute kennen.“ Sie zeigte auf eine Reihe von Gemälden, die an den Wänden gingen. „Einige von ihnen sind dort noch zu sehen.“

„Jetzt fragen Sie sich vielleicht, warum dieser Mann und seine Nachkommen in dieser Kirche sind. Tatsächlich gab es zu seinen Zeiten in dieser Region eine andere Religion, den Nonamtismus. Er brachte den Leuten den christlichen Glauben nahe. Das war nicht nur für die Kirche, auch für die Wirtschaft hier von großem Vorteil.“ Die Führerin entfernte sich von uns und brachte die Gruppe in einen anderen Raum. „Interessant“, sagte ich. Falke tippte mir auf die Schulter und zeigte mir eins der Bilder, auf die die Touristenführerin schon verwiesen hatte. Der Mann, auf den er zeigte, wirkte erhaben. Sein Blick war streng und zielstrebig. „Das hier ist Vincent der Dritte.“ Er war der letzte in der Reihe. „Er war einer der Berühmtesten, die zu dieser Zeit eine Gang gegründet hatten. Sein Name war dort Jehova.“ Wieder war es, als ob ein Flüstern in begleiten würde. Seine Stimme hallte von den Wänden wieder. Vielleicht lag es daran, dass wir in einer Kirche waren, doch mir jagte jedes von Falkes Worten einen wohligen Schauer über den Rücken.

„Zu seiner Zeit gab es kaum Regeln und Einschränkungen. Seine Gang und ein paar andere Anführer haben damals den Hofstaat gegründet. Er selbst war der erste Straßengott.“

„Also einer der Nachkommen von Lucas dem Sonnengott.“ Falke nickte. Beim Hinausgehen betrachtete ich die Kirche genauer. Sie war wahrlich ein Kunstwerk. Hohe, schlanke Säulen ragten zu einer verzierten Decke, die Engel abbildete. Die Fenster, teilweise mit bunten Darstellungen, fluteten die Kirche mit warmen Licht und ließen den goldenen Altar leuchten.

„Was für eine Kirche ist das?“, fragte ich, als ich wieder heraus war. „Die Sonnenkirche.“ Ich lachte. Das hätte ich mir auch denken können.

Wir gingen auf eine vielbefahrene Straße zu. Falke sah auf die Uhr. „Yuni müsste gleich hier sein.“

„Yuni kommt her?“ Mein Gegenüber nickte. Ich freute mich. Wir warteten nicht lange auf sie. Yuni kam mit einem hinreißenden gelb-orangen Kleid, über das sie eine Jacke gezogen hatte. „Na ihr beiden!!“, begrüßte sie uns und umarmte mich und Falke kurz. „Ich habe gehört, ihr macht jetzt eine Stadtrundfahrt mit dem Bus?“, fragte sie und hackte sich bei mir unter. „Echt?“ Ich schaute Falke an, der mit zunickte. Das klang fantastisch.

Wir gingen an eine Bushaltestelle. „Ich habe das auch noch nie gemacht“, sagte Yuni verlegen. „Obwohl ich hier schon so lange wohne.“

„Dann lohnt es sich doch umso mehr.“

„Stimmt. Seid ihr gestern gut nach Hause gekommen? Du bist doch hoffentlich nicht in dieser Jugendherberge geblieben, oder?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich durfte bei Falke schlafen.“

„Ah! Er ist ein Gentleman, oder?“ Dem konnte ich nicht wiedersprechen. Wir grinsten ihn an, doch er verdrehte nur die Augen.

Der Rundtourenbus, der dann vor unsere Füße einrollte, war knallgelb und ein Doppeldecker. Ich bezahlte mein Ticket und lief sofort auf das obere Deck. Zum Glück waren noch ein paar Plätze frei. Yuni lachte über mich. „Ich saß noch nie in einem Doppeldecker“, erklärte ich. „Schon ok. Oben ist es sowieso besser zum Gucken.“ Neben einem Ticket hatte ich auch einen Tourplan bekommen. „Wo sind wir jetzt?“ Falke setzte sich neben mich und beugte sich zu mir, um auf die Karte zu gucken. Ich spürte, dass ich nervös wurde, wenn er mir so nahe war.

„Da!“, sagte er und zeigte mir die Stelle.

„Stimmt. Bei der Sonnenkirche.“

Der Hofstaat

Die Fahrt war wahnsinnig gut gemacht. Jeder Sitz hatte Kopfhö-rer, mit denen man genau verstehen konnte, was der Tourführer zu den Objekten erzählte. Neben historischen Bauwerten, wie dem Schloss und dem dazugehörigen Park, einer alten Festung und Sta-tuen, wurden auch moderne Objekte gezeigt, wie der Fernsehturm und einige moderne Hochhäuser. Während der Fahrt lehnte Falke an mir. Das machte mich ganz nervös, ich konnte nichts dagegen tun. An einigen Orten beugte sich Falke leicht über mich und zeigte mir Stellen, an den es zum Beispiel die besten Chinanudeln in der Stadt gab, wo es einen Laden für Gang-Sachen gab oder wo sie mal trainiert hatten. Aber auch an seiner Universität fuhren wir vorbei. Jedes Mal wenn er etwas sagte, sah ich ihn fasziniert an und lächel-te dann verlegen, wenn er geendet hatte und ich meinen Blick ein-fach nicht von ihm wenden konnte. Doch meistens lächelte er zu-rück, was mein Herz höher schlagen ließ. Ich wusste, dass er kein großer Redner war und auch, dass er selten lächelte, sodass ich jede dieser Gesten als etwas Besonderes ansah.

Und dann kam ich mir etwas blöd vor. Ich wusste, dass ich mir Hoffnungen machte.

Yuni redete beinahe ununterbrochen, nebenbei zeigte sie mir ih-re alte Schule, die man vom Bus aus sehen konnte. Das alte, von Efeu bewachsene Gemäuer wirkte richtig romantisch. „Die nächste müssten wir unbedingt mal aussteigen“, sagte Yuni und stand freu-dig auf. Falke schien verwundert. „Was kommt denn jetzt?“, fragte ich.

„Die Burgarkaden! Das muss man von drinnen angeguckt ha-ben!!“ Falke seufzte genervt doch stand auf. „Arkaden? Ist das nicht was zum Einkaufen?“ Yuni zwinkerte mir zu. „Na klar!!“ Dann lachte sie. „Na ok. Das Besondere ist, dass es im Stil einer alte Burg gebaut wurde. Von innen ist es wirklich sehenswert.“ Wir gingen nach un-ten. „Naja. Zumindest der vordere Teil.“ Wir stiegen aus befanden uns auf einem großen Platz, der mit blühenden Bäumen und kleinen Blumenrabatten geschmückt war. Vor uns ragte, leicht erhöht, ein steinernes Gebäude auf. Es war wirklich so, wie man sich eine Burg vorstellte, mit Türmen und Zinnen und von einer Mauer umring, an dessen Fuß sich etliche Ziersträucher befanden. Das Burgtor schein sogar eine Art Fallgatter zu besitzen. Riesige Menge an Leuten strömten durch das Tor.

„Ein Teil der Burg wird sogar als Museum genutzt“, erklärte Yuni, während wir uns dem Gebäude näherten. Wir gingen ein paar steinerde Stufen hinauf zum Burgtor. Von Nahem wirkte alles noch viel beeindruckender. Durch den Haupteingang kamen wir in eine Art Innenhof. Hier säumten sich am Rand, eingelassen in die Burg kleine Geschäfte, vor allem Cafés, die gut besucht waren. Es wirkte urig, aber auch ungemein gemütlich. In der Mitte des Hofes gab es einen Springbrunnen und ein paar Sitzgelegenheiten, die bei diesem sonnigen Wetter ausgiebig genutzt wurden. „Hier gehe ich öfter einen Kaffee trinken“, erklärte Yuni und zeigte auf eines der Cafés. Wir gingen durch einen zweiten Eingang, tiefer in die Burg hinein. Der Menschenstrom hier war gewaltig. Ich hielt mich an Falkes Shirt fest, während Yuni nach meiner Hand griff. Der Gang war nicht breit, doch schön anzusehen. Der steinerne Gang war von Säulen durchzogen und über uns ragte in wenig Abstand ein fein verziertes Gewölbe. Viele kleine Fenster an den Seiten sorgten für ein wenig Licht.

„Hier ist der Eingang zum Museum“, sagte Falke und drehte sich zu mir herum. Der Gang endete in einem großen Wegkreuz. Die meisten Menschen gingen weiter geradeaus, wo es zu den Einkaufs-läden ging. Ab dort konnte man auch wieder das typischen Design einer Einkaufspassage erkennen. Weniger besucht war das Muse-um, obwohl es einen einladenden Eindruck machte. „Es ist schön hier.“ Yuni nickte. „Es ist schon etwas Besonderes, oder?“ Ich nickte heftig. „Wollen wir wieder zurück? Oder willst du mit mir shoppen gehen?“ Wir lachten. Doch Falke schüttelte energisch den Kopf und schob mich wieder zurück. Als wir wieder im Burghof angekommen waren, setzten wir uns kurz an den Springbrunnen.

„Das ist bestimmt ganz schön anstrengend, wenn man hier ein-kauft, oder?“, fragte ich an Yuni gewandt. Sie zuckte mit den Schul-tern. „Wenn es um Klamotten geht, kenn ich keine Erschöpfung.“ Ich lachte. „Echt nicht? Du bist ja taff.“ Sie winkte ab. „Naja. Ich geh zwar auch gerne einkaufen, aber da ich ab und an modele, muss ich immer auf dem neusten Stand bleiben. Und beim Modeln ist man auch oft stundenlang auf den Beinen. Daher bin ich das gewohnt.“

„Wahnsinn!! Du modelst? Machst du das hauptberuflich?“, er-kundete ich mich. Yuni war wirklich eine Schönheit. Mit ihren lan-gen, hellblonden Haaren und dem feinen Gesicht mit der Porzellan-haut, wunderte es mich nicht, dass sie modelte.

„Nein, nein!“, wiedersprach sie schnell. „Schöne wäre das. Ei-gentlich bin ich Kindergärtnerin. Allerdings nicht Vollzeit. Habe eine Halbzeitstelle und halt mich mit den Model-Jobs über Wasser.“ Sie lachte. „Naja. Und das bisschen, was ich bei den Geistern verdiene“, fügte sie noch leise hinzu. „Da kann man was verdienen?“ Sie seufz-te. „Ist nur ein kleines bisschen, aber schon nett, dafür, dass man mitten in der Nacht Aufpasser spielen muss.“

„Das ist wirklich nicht schlecht. Und was-“

„Hey! Ist das nicht Chaos?“, unterbrach Falke uns. Der Mann, der auf uns zukam, hatte strubbelige rote Haare und Sommersprossen im Gesicht. Er grinste frech, als er näher kam. „Was für ein Zufall. Was macht ihr denn hier?“ Er musste etwa in unserem Alter sein. Er begrüßte Falke mit einem Handschlag und salutierte dann vor Yuni, die daraufhin in Lachen ausbrach. Als er mich bemerkte, reichte er mir gleich die Hand. „Ich bin Chaos. Der Name ist Programm.“ Ich reichte ihm die Hand. „Bist du Falkes Schwester, oder so?“, fragte er, während er meine Hand kräftig schüttelte. Yuni lachte wieder. „Chaos, du Honk!! Du bist bestimmt der erste der das fragt.“ Falke schüttelte den Kopf. „Du hattest doch ‘ne Schwester, oder?“

„Ja, die ist aber 5 Jahre jünger“, antwortet Falke. Chaos wurde rot. „Ach stimmt ja.“ Dann lachte er. „Sorry. Wollte dich nicht jün-ger machen.“ Er hatte meine Hand noch immer nicht losgelassen. Ich konnte nicht anders, als ebenfalls zu lachen.

„Ich bin Marie. Ich bin gerade zu Gast bei Falke. Er hat mich auf-genommen.“

„Marie kommt aus Tessella. Das ist echt ‘ne geile Geschichte, Chaos. Setz dich.“ Es setzte sich und Yuni erzählte ihm meine Ge-schichte vom dem Zeichen, von Choffie und dem Kennenlernen in der Bar. Natürlich musste ich ihm auch das Foto zeigen.

„Ach man! Ich vermisse Choffie voll“, seufzte er und lehnte sich zurück. Dann sah er sich um. „Socke ist aber nicht hier, oder?“ Yuni schüttelte den Kopf. „Oh gut. Der hätte das besser nicht hören dür-fen.“ Er sah zu mir. „Weißt du, vor Socke solltest du sie lieber nicht erwähnen.“ Ich nickte. Dann lachte er. „Das war schon früher so. Wenn du zu oft ihren Name erwähnt hast, stand er plötzlich hinter dir und hat dich mit bösen Blicken fixiert. Das war vielleicht gruse-lig.“

„Wieso das?“

Er zuckte mit den Schultern. „So war Socke schon immer. Er war der Hammer, der beste Anführer, den man sich vorstellen kann, extrem intelligent und stark. Aber Choffie war sein wunder Punkt.“ Ich war überrascht. Ich hatte mir schon gedacht, dass etwas zwi-schen Choffie und den anderen vorgefallen sein musste. Aber Socke und sie mussten sich nah gestanden haben. Für ihn musste es be-sonders schlimm sein.

Es machte mich neugierig. Ich wollte erfahren, was passiert war, doch bevor ich fragen konnte, bemerkten wir ein Mädchen neben Falke. Sie tippte ihm auf die Schulter. „Na du. Was machst du hier?“, begrüßte das Mädchen ihn. Sie war sehr dünn, mit lockigen dunkelblonden Haare und einem schmalen, freundlichen Gesicht.

„Ebby. Das ist ja verrückt“, begrüßte Yuni sie. Das Mädchen lä-chelte zu Yuni. „Yuni und Chaos, richtig?“, sagte sie. Als die beiden nickten, reichte sie ihnen die Hand. „Und du bist?“, fragte sie an mich gewandt. „Ich bin Marie.“ Sie reichte auch mir die Hand. „Ich bin Ebby. Eine alte Schulkameradin von…“ Sie stockte und sah zu Falke. „Falko?“, riet sie. „Falke“, verbesserte Chaos sie. „Ach ja.“ Sie lachte. „An die Gangnamen hab ich mich nie gewöhnt.“

„Ist ja echt witzig. Dass wir uns alle hier treffen, ist schon ein ko-mischer Zufall“, lachte Yuni. Ebby stimmte ihr zu. „Gibt manchmal schon komische Zufälle.“

„Bist du auch ein Mitglied gewesen?“, fragte ich sie. Doch sie schüttelte lachend den Kopf. „Das wär ja noch schöner!! Nein, nein. Ich weiß einfach nur Bescheid.“

„Also hast du es ihr gesagt?“, fragte ich Falke. Ich hatte geglaubt, dass sie es niemanden verraten würden.

„Er?“ Ebby lachte noch lauter. „Der Typ hätte nie was gesagt. Ich meine, er redet ja sowie so kaum, wie soll er da was ausplappern?“ Sie grinste schelmisch. „Nein. Ich habe es selber herausgefunden. Jaja! Ich bin halt pfiffig!!“, lobte sie sich selbst und lachte wieder. Dann beugte sie sich zu mit. „Ich mach nur Spaß. Nimm mich nicht so ernst.“ Ich lächelte. Sie hatte wirklich einen seltsamen Humor.

„Ebby ist wirklich ein Schatz. Da sie hier in der Stadt wohnt und total coole Eltern hat, konnten wir ab und an mal bei ihr übernach-ten und von ihr aus zu den Battles starten. Das hat viel Zeit ge-spart“, erklärte Yuni. „Ist Ebby dein echter Name?“, fragte ich. Das war nun wirklich kein gewöhnlicher Name. Sie nickte. „Ich wurde nach dem ersten Hund benannt, den meine Eltern hatten.“ Ich stutzte. „Echt?“ Sie grinste. „Kein Witz.“

Yuni beugte sich zu mir. „Glaub ihr nicht zu viel. Sie legt es drauf an, dich zu verarschen.“ Ebby steckte kurz die Zunge raus und sah unschuldig nach oben. „Ich doch nicht.“ Yuni und ich kicherten.

„Was machst du eigentlich hier?“, fragte Chaos.

„Ich war gerade mit… wie hieß sie? Ach ja! Ich war gerade mit Cat unterwegs. Ich war noch kurz was aus dem Buchladen abholen. Ihr habt sie knapp verpasst.“

„Schade“, sagte Yuni.

Ich weiß nicht, wie lange wir an dem Springbrunnen saßen und ich Ebby zugehört hatte, die von den Malen erzählte, als ein paar der Schatten bei ihr übernachtet hatten. Sie war sogar bei einigen Kämpfen dabei gewesen. Sie selbst bezeichnete sich aber als unter-durchschnittlich sportlich, sodass sie kein Interesse hatte, den Schatten beizutreten. Natürlich musste ich auch ihr meine kleine Geschichte erzählen. Sie war begeistert von Choffies Aktion und wollte, dass ich ihr das Foto schickte.

Interessanterweise musste sie die echten Namen von Cat, Falke und Choffie kennen, da sie bei ihnen öfter nach den Gangnamen nachfragte. Leider verplapperte sie sich nie, sodass ich den echten Namen von Falke nicht erfuhr.

Als ich auf die Uhr sah, stellte ich erschrocken fest, dass es fast drei Uhr war. So langsam meldete sich auch der Hunger. Yuni sah ebenfalls auf die Uhr. „Wollen wir langsam weiter?“, fragte sie an mich und Falke gewandt.

„Was macht ihr denn schönes?“, erkundigte Ebby sich.

„Wir machen diese Bustour, damit Marie mal was von der Stadt sieht.“

„Klingt lustig.“ Wir standen auf. Ebby sah Chaos an. „Und was machst du?“ Er druckste. „Ich dachte… vielleicht trinken wir einen Kaffee zusammen?“ Ich konnte ein Lachen nur mit Mühe unterdrü-cken. Wie süß. Ebby stemmte die Hände in die Hüpfte und betrach-tete ihn kritisch. „Mit so einem Chaoten wie dir??“ Er zuckte etwas zusammen. Doch sie lachte und schlug ihn auf die Schulter. „Ich mach doch nur Spaß. Klar! Lass uns gehen!!", sagte sie und zwinker-te ihm zu. Chaos Gesicht erhellte sich, dann wurde er rot vor Freude und tänzelte ihr hinterher.

„Macht’s gut Leute!!“, verabschiedete er sich. Ebby winkte eben-falls zum Abschied. „Bis bald!!“, sagte sie.

„Ebby ist etwas gewöhnungsbedürftig“, entschuldigte Yuni sich bei mir. Ich schüttelte den Kopf. „Ich fand es witzig. Jeder von euch hat einen eigenen Charakter. Das ist wirklich interessant.“

„Stimmt“, pflichtete Yuni mir bei. „Der nächste Bus kommt übri-gens in zehn Minuten.“ Ich hielt mir den Magen, der wieder zu grummeln begonnen hatte.

„Könnten wir vorher noch was essen? Ich hab echt Hunger…“ Yuni gluckste. „Klar.“

„Es gibt eine gute Pizzeria hier in der Nähe“, mischte Falke sich ein, der plötzlich neben mir lief.

„Eine Pizza auf die Hand. Das wäre schön“, sagte ich und strei-chelte über meinen Bauch. Auch wenn es meinem Fettpölsterchen nicht gut tun würde.

Wir liefen ein paar Straßen weiter. Ein großes Warenhaus, das es auch in Tessella gab, ragte mehrere Stockwerke hoch vor uns auf. Alles in dieser Stadt schien etwas größer und extravaganter.

Der Italiener war klein, aber die Pizza sah gut aus. Ich nahm eine Pizza Salami und Falke eine mit Schinken, Pilzen und extra viel Käse. Yuni verzichtete und holte sich lieber ein belegtes Brötchen vom Bäcker nebenan. Wahrscheinlich passte sie etwas besser auf ihre Linie auf als ich.

Wir hatten unsere Pizza aufgegessen, als wir wieder in den Bus stiegen. Ich setzte mich wieder nach oben und Falke ohne zu zögern neben mich. Ich freute mich.

Yuni zog einen Schmollmund als sie sich vor uns setzte und sich zu uns umdrehte. „Immer sitzt du neben Marie. Ich will auch mal“, meckerte sie. Falke verschränkte die Arme. „Pech“, erwiderte er. Yuni verschränkte ebenfalls die Arme. „Voll gemein. Der beschlag-nahmt dich.“ Ich wurde rot. Tat er das? Ich konnte das glückliche Grinsen kaum noch verbergen.

Dieses Mal konnte ich mich kaum konzentrieren auf das, was der Tourführer erzählte. Meine Gedanken überschlugen sich. Falke war die ganze Zeit so lieb zu mir. Oder bildete ich mir das ein? Aber was wenn nicht? Vielleicht war es aber auch nur Gastfreundschaft und ich machte mir zu viel Hoffnung? Eigentlich war es sowieso unklug mir Hoffnungen zu machen. Immerhin war ich nur ein paar wenige Tage da. Aber andererseits… sollte man nicht immer im Moment leben?

Wir waren fast herum mit unserer Tour-Runde, als Falke auf-stand. „Die nächste steigen wie aus“, sagte er. Jetzt kam er mir wie-der kalt vor. Ich schüttelte mich innerlich. Ich sollte echt mit diesen Gedankenkarussell aufhören!

Ich hörte noch, wie der Führer etwas von dem Regierungsgebäu-de erzählte, bevor wir ausstiegen. Wir standen nun vor etwas, das… nun ja, herrschaftlich aussah. Es war ein riesiger Gebäudekomplex mit vielen mehrstöckigen Gebäude, jedes von ihnen wirklich schön anzusehen. Yuni und Falke führten mich um ein Gebäude herum. „Das hier ist der Regierungssitz und der Stadtrat und einige Ministe-rien sind hier auch untergebracht.“ Auf dem Parkplatz standen Au-tos von teuren Marken. Die Plätze zwischen den Gebäuden waren begrünt und mit einigen Statuen versehen.

Wir kamen an einem Seiteneingang an. Hier standen zwei uni-formierte Wachposten. Sie sahen kräftig gebaut aus und regten keine Miene. Yuni kramte in ihrer Tasche und holen einen Ausweis hervor. Den zeigte sie einem der Männer. Auch Falke zeigte einen Ausweis. Yuni legte den Arm um meine Schulter. „Sie gehört zu mir“, sagte sie und zwinkerte dem Wachmann zu. Er nickte und wir gingen hinein.

„Wo sind wir hier?“, fragte ich verwirrt. Das hier war doch kein normaler Teil der Regierungsgebäude. Wir liefen durch einen einfa-chen Gang mit hoch liegenden Fenstern.

„Das hier, meine Liebe, ist der Hofstaat“, antwortete Yuni als wir in einer große Halle ankamen. Sie streckte die Arme theatralisch aus. Ich konnte nur mit offenen Mund in den Raum starren. So et-was hatte ich nicht erwartet. Das war die prunkvollste Halle, die ich je gesehen hatte. Verzierte Holzvertäfelungen an den Wänden, Säu-len aus Marmor mit golden schimmernden Dekor, Banner mit dem Zeichen des Hofstaates, die die hohen Wände schmückten und eine herrlich bemalte Decke, von der ein riesiger Kronleuchter hing, schmückten den riesigen Raum vor mir.

Ich drehte mich zu Falke herum.

„Wa…“, brachte ich nur heraus. Er lächelte.

„Das haut einen um, oder?“, erwiderte Yuni. Ich nickte heftig.

„Wie? Wie geht das denn? Sieht es hier überall so aus??“, fragte ich entsetzt. Ich kam mir etwas fehl am Platz vor. Das war hier alles etwas zu viel des Guten.

„Nein. Nur der Hofstaat ist so… prunkvoll. Ich drücke es mal so aus.“ Yuni verdrehte die Augen. Außer uns drei, waren noch ein paar andere Leute hier. Es war sogar ausgesprochen voll hier.

„Wie… Wie können sie sich das leisten?“, musste ich wissen. Sie zuckte mit den Schultern.

„Ursprünglich sollte das eine Oper werden. Speziell für die Regierungsbeamten. Doch letztendlich wurde sie kaum genutzt.“, erklärte Falke. Ich nickte. Das würde zumindest dieses erschlagend luxuriöse Erscheinungsbild erklären.

„Trotzdem hat der Hofstaat nicht zu wenig Geld“, fügte Yuni hin-zu.

„Kann man hier den Straßengott sehen?“, erkundigte ich mich. Mein Gegenüber kicherte. „Den Straßengott?? Den sieht kaum je-mand. Wenn man ihn mal sieht, zum Beispiel auf Festen, dann mas-kiert er sich. Er ist wie ein Mysterium. Nur die Könige der Viertel kennen sein wahres Gesicht. Naja, und einige andere Mitglieder des Hofstaates.“

„Angeblich schützt er sich so vor Anschlägen“, fügte Falke an. Wir schlenderten durch die Halle. „Und was macht ihr hier dann so?“

Yuni zeigte auf eine große Tafel. Es standen einige Namen und Nummern daran. „Hier sieht man wie viele Sterne die einzelnen Gangs haben. Aber nur von denen, die zuletzt aufgestiegen sind. Es wird jeden Tag aktualisiert. So hält man sich auf den neusten Stand. Ganz links ist der offizielle Gangname, dann das Stadtviertel, dann die Anzahl der Sterne.“

Ich starrte auf die Tafel. Auf dem obersten Platz stand eine Gang mit dem Namen ‚Die Unbesiegbaren‘. Sie hatten 5 Sterne errungen. „Sind 5 Sterne viel?“, fragte ich.

„Es geht so. Als Königsgang mussten wir über 20 Sterne errin-gen.“

Auf der Tafel war zwar auch hier oder da mal eine Zahl über 10, doch kaum einer kam an die 20 heran. Mit fiel auf, das außer dem Mondviertel noch weitere Namen zu erkennen waren. Da gab es den Sternenbezirk, das Ostviertel, den Sonnenring und die Nebel-straßen.

„Das Mondviertel ist wohl nicht das einzige Viertel mit Gangs, oder?“

„Nein. Es gibt noch ein paar mehr. Auch hier kann man König seines Viertels werden, also zum Beispiel König des Sternenbezirks. Jeder König hat dann wieder bestimmte Privilegien. Je mehr Gangs ein Viertel hat, desto mehr Privilegien. Und weil das Mondviertel die meisten Gangs hat, ist König des Mondviertels zu werden eben am attraktivsten. Dafür gibt es die härtesten Gegner dort.“ Yuni lachte. „Obwohl. Wir haben mal gegen eine Gang vom Sternenbe-zirk gekämpft. Die waren auch nicht ohne.“

Die verschiedenen Gangnamen waren wirklich interessant. Von ‚Die Kochlöffel‘ über ‚Moonlight‘ bis hin zu ‚Buddyz‘ gab es hier wirklich jeden erdenklichen Namen. Ich löste meinen Blick von der Tafel.

„Und was kann man hier sonst noch machen?“, fragte ich, wäh-rend ich mich weiter im Raum umsah.

„Naja. Man kann hier auch seine Gang anmelden“, erklärte Yuni.

„Wie anmelden?“

„Neu gegründete Gangs müssen angemeldet sein um an Battles teilnehmen zu können“, sagte Falke, während er auf die Tafel starr-te. „Ohne Anmeldung gilt man bei uns nicht als Gang. Du bekommst keine Sterne und hast auch keinerlei Rechte.“ Ich nickte. „Außer-dem gibt es Bedingungen. Als Gang gilt man erst ab 10 Mitgliedern und diese müssen alle über 14 Jahre sein.“ Das leuchtete ein.

„Naja. Und man kann hier ein Battle anmelden“, sagte Yuni wie-der. „Also wenn man vor hat gegen eine andere zu kämpfen und beide Gangs einverstanden sind, dann kommen die Anführer hier-her und melden den Kampf an. Dann muss auch immer ein Unab-hängiger dabei sein.“ Sie zeigte auf eine Art Rezeption. „Siehst du die Zwei da?“ Ich nickte. „Die beiden melden zum Beispiel gerade ein Battle an.“ Zwei in schwarz gekleidete Jungs standen da, beide bestimmt ein paar Jahre jünger als ich. Sie schrieben beide etwas auf einen Zettel.

„Man legt dort auch den Ort fest, an dem gekämpft werden soll und welche Mittel benutzt werden dürfen. Auch welche Art des Kampfes.“

„Welche Arten gibt es denn?“, fragte ich nach.

„Es gibt normale Battles und Spezial-Battles, die meist Sonder-bedingungen haben. Da wird dann zum Beispiel die Anzahl der Kämpfer limitiert oder der Kampf soll an besonderen Orten stattfin-den oder es wird mit Waffen gekämpft oder mit anderen Hilfsmit-teln. Dann gibt es noch Battle-Games. Das sind beispielsweise Par-cours-Läufe, Flaggen-Erobern und Hide-and-Seek.“ Yuni sah mich nachdenklich an. „Ich denke mal, die Namen erklären sich von selbst, oder?“ Ich nickte.

„Wenn man sein Battle anmeldet, kann man auch Preise für den Gewinner oder Strafen für den Verlierer festlegen.“

„Man muss doch ganz schön viel beachten…“, seufzte ich. Meine hübsche Begleiterin lächelte. „Naja. Eigentlich macht das alles nur der Leader, also der Anführer. Da ist höchstens noch mal der Vize gefragt. Als normales Gangmitglied bekommt man davon nicht viel mit.“ Sie zog ein ernstes Gesicht. „Ich bewundere Socke schon. Der musste immer alles im Blick haben.“ Sie sah zu Falke und schlug ihm dann leicht auf die Schulter. „Als Vize hattest du aber sicher auch nicht schlecht zu tun, oder?“ Falke zuckte mit den Schultern.

„Oh? Du warst Vize?“, fragte ich ihn. Er nickte.

„Ja. Und Choffie der Vize des Vize.“ Sie lachte. „Darauf hat sie immer bestanden.“ Ich entdeckte einen Gang.

„Und wo geht es hierhin?“

„Hier kommt man zur Zentrale der schwarzen Polizei. Wenn man ein Vergehen berichten will, sein eigenes oder meist eher die von anderen Gangs, dann kommt man hierher. Die nehmen das dann auf. Also die verwalten hier nur, die schwarzen Polizisten sind nicht hier, die sitzen bei der normalen Polizei.“ Ich sah sie überrascht an. „Bei den normalen Polizisten?“

Yuni nickte. „Ja. Eigentlich haben beiden zunächst dieselbe Aus-bildung. Die schwarze Polizei gilt dann aber später als eine Art Son-derkommando. Angeblich-“ Sie beugte sich zu mir heran. „denken die normalen Polizisten, dass die vom Sonderkommando extra dafür eingeteilt sind, die Gangs von ihrem kriminellen Verhalten abzuhal-ten. In Wahrheit kämpfen sie aber für die Gangs.“ Yuni lachte laut los. „Das heißt, die wissen nicht mal voneinander.“

„Wie können die denn für die Gangs arbeiten? Fällt das nicht auf?“, fragte ich.

„Also die schwarze Polizei ist für dafür da, die Einhaltung der Nachtschrift, also unserer Regeln, zu überprüfen und bei Verstoß dürfen sie natürlich auch gegen die Gangs handeln. Aber in den meisten Fällen hauen sie Gangmitglieder wieder raus und beschüt-zen sie.“

„Das tun sie im Hintergrund“, fügte Falke hinzu. Yuni nickte.

„Tagsüber und für die Öffentlichkeit sieht das aber anders aus. Dann steht da in der Zeitung, dass sie eine Gang geschnappt haben, die in irgendwelche kriminellen Machenschaften verwickelt waren. Das sind dann aber meist Gangs, die gar nichts mit dem Hofstaat zu tun haben. Ehemalige Mitglieder oder einfach Verbrecherbanden. Sowas gibt es auch. Darum kümmern sie sich natürlich auch.“

„Wow…“ Das war ganz schön kompliziert.

Yuni seufzte. „Das blöde ist nur, dass in der Öffentlichkeit natür-lich das Bild entsteht, dass alle Gangs kriminell wären. Das schadet unseren Ruf extrem und die Politiker sehen sich dann gezwungen etwas dagegen zu tun, weil die Leute das so wollen. Und das obwohl die von der Stadt selber wissen, dass es alles ganz anders ist, als es aussieht.“

„Bemüht sich denn keiner, das Missverständnis aufzuklären?“

„Nein… nicht wirklich. Aber ich weiß nicht, ob das überhaupt was bringen würde. Schon früher wurden die Gangs immer eher skep-tisch betrachtet. So wirklich glücklich war die normale Bevölkerung nie über uns. Von außen sieht es wahrscheinlich aus, wie eine Horde dummer Jugendlicher, die sich in sinnlosen Kämpfen gegenseitig die Rüben einschlagen.“ Yuni lachte traurig.

„Andersherum kamen an meine Schule oft Leute, die darüber aufklären wollten, wie gefährlich die Gangs waren“, sagte Falke.

„Stimmt.“ Sie nickte zustimmend. „Auch an meiner Schule waren sie damals. Haben gruselige Bilder von Knochenbrüchen und angeb-liche Todesstatistiken mitgebracht.“ Sie schüttelte sich. „Alles sehr suspekt. Und es hat bestimmt einige abgehalten damit anzufangen.“

„Also verbreiten sie auch noch mit Absicht ein falsches Bild…“

„Naja. So ganz falsch war es ja nicht. Sie haben schon darüber aufgeklärt, worum es bei den Kämpfen geht und dass es gefährlich ist, ist auch nicht gelogen. Sie haben halt ein sehr negatives Bild erzeugt. Dass es nämlich zum Beispiel feste Regeln bei den Kämpfen gibt, davon wurde nie etwas erzählt. Erst wenn du Jemanden aus einer Gang kanntest, der dir ein bisschen genauere Details erzählt hat, hat man verstanden, was die Leute überhaupt dahin zieht.“

„Hm…“ Ich sah zu Falke. „Wie war das denn bei dir? Wie hast du die Wahrheit erfahren?“ Er überlegte kurz. „Ich weiß nicht genau. Ich war noch ziemlich klein, als Socke mich in seine Gang aufnahm. Ich wusste eigentlich gar nichts über das Banden-System. Hab es durch Socke so nach und nach kennengelernt.“

„Und woher kannte Socke es?“

„Ich glaube bei ihm war die ganze Familie irgendwann mal in ei-ner Gang“, erklärte Yuni, Falke nickte zustimmend. Das musste ja auch cool sein. Wenn man von Anfang an mit diesem Wissen auf-wuchs.

„Und du Yuni?“ Sie sah wieder zur Tafel. „Hm“, machte sie, schien aus irgendeinem Grund zu zögern.

„Mein erster Freund war in einer Gang. Anfangs hat er ein Ge-heimnis draus gemacht, aber ich hab’s dann doch schnell rausge-funden. Danach hat er mich zu Battles mitgenommen und mir das Kämpfen beigebracht. Und irgendwann war ich dann selbst in seiner Gang.“ Sie sah mich dabei nicht an und strich sich über den Arm. Irgendwas sagte mir, dass sie keine guten Erinnerungen daran hat-te.

„Das waren aber nicht die Schatten, oder?“, fragte ich vorsichtig nach. Sie schüttelte den Kopf, seufzte dann und drehte sich wieder zu mir um. „War ‘ne blöde Geschichte. Ich war noch ziemlich jung und total verknallt. Ich hab alles mit mir machen lassen und er hat mich total ausgenutzt. Das wurde mir erst bewusst, als seine Gang und die Schatten gegeneinander kämpften. Das Battle ging unent-schieden aus und irgendwie wurde es dann hässlich. Mein Ex wollte aus irgendeinem Grund Socke demütigen und hat sich Choffie zur Brust genommen. Socke war ziemlich sauer.“ Sie lachte. „Als ich so gesehen habe, wie wichtig ihm Choffie war, da hab ich bemerkt, dass an der Beziehung von mir und meinem Ex gar nichts normal war. Ich bin dann ausgestiegen.“ Sie strich sich wieder über den Arm, lächelte aber. „Und Socke hat mich dann bei den Schatten aufgenommen!“ Sie klatsche in die Hände. „So! Jetzt aber genug davon! Lass uns gehen.“ Sie hackte sich bei mir unter. Ich lächelte glücklich. Dass Yuni mir so etwas privates erzählte, bewies, dass sie mir vertraute. Dass sie mich mochte.

„Wohin gehen wir jetzt?“

„Ich zeig dir noch das Haus der Geister!!“, strahlte Yuni.

„Die haben ein extra Gebäude?“, wunderte ich mich. Sie nickte glücklich und sah dann zu Falke. Der schien wenig begeistert.

Wir gingen durch einen anderen Flur, an dessen Wände Fotos hingen. Sie zeigten scheinbar Gangmitglieder.

„Die Fotos zeigen die Königgangs“, erklärte Yuni. Wir blieben vor einem Foto stehen. „Siehst du. Da sind wir!!“ Das Foto zeigte eine Gruppe von schwarz gekleideten Leuten, alle hatten die Kapuze mit den Katzenohren auf und grinsten glücklich in die Kamera. Obwohl das Bild nachts aufgenommen wurde, sorgten Strahler für genug Licht, dass man alle Mitglieder erkennen konnte. Ich betrachtete alle Mitglieder, zeigte dann auf Yuni. „Da bist du!“ Sie lächelte. Ich erkannte auch Falke, Socke, Cat, Oktavia, Chaos, Sunny und Keks. Aber es waren auch viele Mitglieder, die ich nicht kannte. Socke stand in der Mitte des Bildes, mit einer silbernen Krone auf dem Kopf, die ihm komischerweise stand.

„Das war der Tag an dem wir das Battle gewonnen haben, mit dem Socke zum König des Mondviertels wurde. Man kann sogar erkennen, wie kaputt wir waren. „Siehst du den da?“ Sie zeigte auf einen Jungen mit schwarzen Haaren, der etwas grimmig drein guck-te. Ich nickte. „Er ist im Kampf K.o. gegangen und hat sich extrem geärgert. Hat kaum ein Lächeln hervorgebracht. Und Chaos sieht man auch an, wie fertig er nach dem Kampf war.“ Das stimmte. Chaos wirkte, als würde er jedem Moment aus den Latschen kippen. Wir gingen weiter. Beim Ausgang mussten meine beiden Begleiter wieder ihre Ausweise vorzeigen. Wir gingen auf einen Innenhof. Yuni zeigt auf ein Gebäude am anderen Ende des Hofes. „Da ist es. Ist aber von Hinten. Von Vorne sieht es noch schöner aus.“ Das stimmte. Es wirkte wie eine große Sommerresidenz, mit einem gro-ßen grünen Garten drum herum, vielen kleinen mit Blumen ge-schmückten Balkonen und großen Fenstern.

„Es ist vielleicht auch etwas zu pompös, aber ich mag es.“ Sie lief etwas schneller und wir versuchten ihr mit ihr Schritt zu halten. Vor dem Gebäude standen wieder zwei Wachposten, doch sie erkannten Yuni sofort. Doch bevor wir das Gebäude betraten, drehte sich meine blonde Freundin fies grinsend zu Falke herum und sagte:

„Tja. Du darfst hier nicht rein!!“

Er verdrehte die Augen. „Ich geh außen rum und warte vorne auf euch“, sagte er matt und ging einfach. Yuni grinste und hackte sich wieder bei mir unter.

„Warum darf er hier nicht rein?“, fragte ich verwirrt.

„Weil hier keine Jungs reindürfen. Die Geister sind nämlich alles Mädchen.“ Ich war überrascht. „Nur Mädchen?“ Sie nickte. „Das hat Tradition.“

Wir gingen durch ein paar Gänge und Yuni zeigte mir einen Ver-sammlungsraum und einen Trainingsraum. Alles hier wirkte ziemlich edel, aber nicht so übertrieben wie im Hofstaat. Yuni schien glücklich.

„Endlich hab ich dich auch mal für mich!“, freute sie sich.

Im Flur kam uns eine Frau entgegen. Sie war hoch gewachsen und wunderschön. Ihre rotbraunen Haaren fielen in perfekten Kor-kenzieherlocken über ihre Schulter und mit der dunklen Bluse und der engen Hose, in den hohen Absätzen sah sie einfach unglaublich damenhaft aus.

Meine Begleiterin blieb plötzlich stehen, als sie die Frau bemerk-te.

„Hey. Was ist los?“ Yuni verbeugte sich etwas.

„Ah. Yuni. Was machst du hier? Du hast doch gar keinen Dienst?“, fragte die Frau mit sanfter Stimme. Ihre Augen waren hellgrün, fast gelb und musterten mich und Yuni genau.

„Ich wollte meiner Freundin nur das Hauptquartier zeigen“, ant-wortete ihr Gegenüber schnell. Yuni klang ungewöhnlich unterwür-fig. Sie warf mir einen strengen Blick zu. Ich verneigte mich eben-falls vor ihr.

„Das ist nett. Aber bleibt bitte in der unteren Etage, ja?“, erwi-derte die Frau und ging dann weiter.

„Das mach ich.“ Yuni atmete tief aus und richtete sich dann wie-der auf. „Wer war das?“, flüsterte ich. Yuni ging mit mir ein Stück weiter ehe sie antwortete.

„Das war die Priesterin.“

„Priesterin?“

„Es gibt den Straßengott und das Pendant dazu ist die Priesterin. Sie befehligt über die Geister und ist für die Geheimhaltung der Gangs verantwortlich. Besonders bei großen Events ist das sehr wichtig. Früher war sie die Frau, Freundin oder Geliebte des Stra-ßengottes. Heute ist das etwas anders.“

„Hat sie viel Macht?“ Yuni nickte heftig. „Sie ist in der Politik hoch angesehen. Und das muss sie auch. Durch ihre Kontakte kann sie viel für die Gangs erreichen.“

„Ist das denn öffentlich bekannt, dass sie die Priesterin ist?“

„Um Himmels Willen. Nein!! Das wäre eine Katastrophe!“ Yuni schüttelte sich. „Komm! Lass uns weitergehen. Leider kann ich dir die oberen Bereiche nicht zeigen, aber hier unten gibt es auch viel zu sehen.“

Wir schlenderten noch ein wenig durchs Haus und ich versuchte mir jeden Raum genau einzuprägen. So etwas würde ich bestimmt nie wieder sehen. Wir kamen zuletzt in der Eingangshalle des Ge-bäudes an. Hier war eine kleine Rezeption, an der eine ältere Frau saß.

„Und hier geht es hoch zu den Umkleideräumen und den Du-schen und dem Aufenthaltsraum und sowas“, erklärte Yuni und zeigte die Treppe hinauf. „Schade, dass ich dir das nicht zeigen darf.“

„Macht doch nichts. Ist auch schon spannend genug.“ Ich ver-suchte durch die gläserne Eingangstür Falke auszumachen.

„Na gut. Dann lass uns wieder gehen. Dein Schatzi wartet schließlich draußen auf dich“, sagte Yuni und grinste frech. Ich wur-de rot. „Schatzi?“ Sie lachte über meine Reaktion. „Man kann es dir von der Nasenspitze ablesen. Du magst Falke total gern.“ Ich wurde noch roter. „Nein. Nein Quatsch. Also… ich weiß nicht… ich mag ihn schon, aber nicht so.“ Sie lachte laut. „Klar doch…“

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.

„Na komm!“ Sie wollte gehen.

„Ich meine, ich kenne ihn doch kaum.“ Yuni drehte sich wieder herum. „Man muss doch nicht jedes Detail des anderen kennen um sich zu verlieben. Warum wehrst du dich so? Sei doch einfach ver-liebt. Deine Gefühle gehören schließlich nur dir.“ Ich seufzte.

„Verliebt wäre aber zu krass. Ich würde es eher… romantisches Interesse nennen.“ Yuni lächelte süß. „Nenn es wie du willst.“

Ich hatte nicht das Gefühl, besonders überzeugend gewesen zu sein. Wir gingen nach draußen, wo uns ein frischer Wind entgegen-kam. Falke stand am Eingang und sah auf sein Handy. Als er uns bemerkte, steckte er es wieder ein.

„Da sind wir wieder“, sagte Yuni und grinste ihn an.

„Ihr seid spät“, bemerkte er.



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