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No Princess

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen. Bilder folgen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Nach einem halben Jahr Pause melde ich mich zurück mit einem neuen Kapitel. Ich hoffe, ihr habt immer noch Lust, das ganze Gesülze zu lesen und euch von mir in ein Abenteuer entführen zu lassen.
- Yin. Komplett anzeigen

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Die Herren des Schülerrats

Es gehen Gerüchte um. Gerüchte, dass sie wirklich lebt. Dass sie an diese Schule kommt. Niemand wollte es glauben, denn sie war wahrhaftig keine Prinzessin.
 

Oft musste Anna schon die Schule wechseln, weil ihr Ruf ihr voraus eilte – seit sie 12 war, sagte man ihr nach, dass sie eine herzlose Schlägerbraut sei. Ein Mädchen mit herausstechenden, kristallblauen Augen und dem Charisma einer Gottesanbeterin, die ihre männlichen Gefährten verschlingt. Eine Frau, die durch ihre Schönheit fast alles erreichen konnte, und den Rest durch Gewalt löste. Viele hatten sie schon herausgefordert, aber niemandem ist es gelungen, sie zu besiegen. Mit 13 verschwand sie.
 

„Aaah.“ Ein tiefes, enttäuschtes Seufzen eilte durch den großen Raum, in dem sich nun mehrere Kandidaten versammelt hatten. Der Raum hätte gut beleuchtet sein können, doch waren dicke, rote Samtvorhänge vor den großen Fenstern vorgezogen worden. Ein großer Tisch zog die Aufmerksamkeit auf die Mitte des Raums. Er war aus glattem, dunkelbraunem, poliertem Holz. Auch die Sessel, die ihn umringten, schienen edel zu sein – sie waren aus demselben Holz wie der Tisch und die Sitzflächen waren mit rotem Leder überzogen. Der Boden glänzte in Marmor. In drei Metern Höhe beherbergte die Decke eine große Lampe aus feinem Glas. Die Wände neben den drei großen Fenstern gegenüber der Tür waren voll gestellt mit Regalen, die bis zum Rand mit Büchern gefüllt waren. Kein einziges schien wirklich Staub anzusetzen. Drei Meter vom Tisch entfernt befand sich eine immer noch geschlossene, zweiflüglige Eichentür, die Einlass zum Raum des Schülerrats gewährte.

Es hätte ein Ort mit einer entspannten Atmosphäre sein können, doch die sechs jungen Herren konnten sich nicht ausstehen. Ein Junge mit hellblondem Haar und großen, blauen Augen starrte zur Tür. Er war relativ klein, im Gegensatz zu seinen Kumpanen, aber war dennoch größer als jedes Mädchen in seiner Klasse. Seine Statur schien eher fragil zu sein, dennoch konnte jeder schnell ahnen, dass er nicht schmächtig war.

„Es wäre schön, wenn wir die Zeit in Ruhe verbringen könnten und du uns nicht mit deiner Stimme nerven würdest, Toki.“ sagte eine andere Stimme, um einiges tiefer, und um einiges härter. Jeder, der diese Stimme gehört hätte, hätte sofort eine Gänsehaut bekommen. Sie kam von Ren, einem außergewöhnlich großen jungen Mann für seine 17 Jahre. Er überragte Toki mit anderthalb Kopflängen. Sein etwas längeres Haar fiel im ins Gesicht. Es war so schwarz, als wäre es ein lebendiger Schatten. Smaragdgrüne Augen blitzten hinter ihnen hervor, während er sein Gesicht auf seinen Händen abstützte.

„Sie müsste gleich da sein. Niemand hat die Einladung des Schülerrats je ausgeschlagen.“ Einer der Jungen erhob sich von seinem Platz. Der rote Haarschopf blitzte kurz durch einen Sonnenstrahl, der es durch den Vorhängen ins Zimmer geschafft hatte, auf, und erlosch sogleich wieder.

„Du weißt doch gar nicht, wie sie ist, Akira. Jeder sagt, sie ist eine Kämpferin und dass sie wegen der letzten Schlägerei für ein Jahr suspendiert wurde“ sagte die tiefe Stimme Rens erneut. Akira blickte zu Ren, der nun ebenfalls aufgestanden war. Ren fuhr fort: „Sie soll zwölf 15-Jährige alleine besiegt haben. Da war sie 12. Angeblich wurden die Jungs sogar so stark verletzt, dass einige mit gebrochenen Knochen ins Krankenhaus gebracht wurden.“

„Haha, das macht mir Angst.“ lachte Toki.

„Ich habe keine Lust zu warten.“ Mirai knirschte mit den Zähnen. „Wer denkt sie, wer sie ist? Wir haben sie schon heute morgen ausrufen lassen.“ Er trappelte ungeduldig mit den Füßen auf dem Boden herum. Jeder, der Mirai ansah, wusste, dass er trainierte. Seine Haut war gebräunt von der täglichen Sonne, die er beim Sport abbekam. Er hatte braune Augen und dunkelblonde, fast goldene Haare, die wild in die Höhe ragten - eine Augenweide für jedes Mädchen.

„Wen meint ihr, wird sie nehmen?“ eine leise, sanfte Stimme, dessen Herkunft ein fast kränklich aussehender, blasser Junge war. Seine Augen schimmerten schwarz. Er hatte violette Haare, weshalb er schnell zum Gespräch der Menge wurde, egal wo er hin ging.

„Jeder weiß, dass die Mädchen von heutzutage zuerst aufs Aussehen achten, Kai. Und jeder, der dich ansieht, denkt, du stirbst bald.“ sagte Toki mit einem hasserfülltem Lächeln. Kai schmunzelte, was seinem, im Vergleich zu den anderen Anwesenden, eher schmächtigen Erscheinungsbild eine gewisse Absurdität verlieh.

„Ich glaub', ich hatte schon mehr Mädchen als du in dieser Schule.“ Und egal, wie angenehm Kais Stimme war, man spürte, dass auch er diesen Hass gegenüber seinem Konkurrenten teilte. Toki wurde unter seinen blonden Haaren puterrot.

„Was ist falsch daran, wenn ich mich für meine Prinzessin aufspare?“ Nun musste Kai kichern und es war diese Art von Kichern, die einem das Verlangen gab, aufzuspringen und eine Schlägerei anzuzetteln.

„Wie willst du deine Prinzessin befriedigen, wenn du nicht mal Erfahrung hast?“ Toki wollte gerade etwas erwidern, als die Debatte mit einem Faustschlag auf dem Tisch unterbrochen wurde. Die Faust gehörte Liam. Er sagte nichts, er schaute nur genervt zu den beiden Pubertierenden und schnalzte mit der Zunge. Er hatte fast die selbe Größe wie Ren. Seine Haare waren in einem kleinen Zopf nach hinten gebunden. Bis auf seine Größe hatte Liam nur ein weiteres herausstehendes Merkmal – seine Augen waren waldgrün. Er erhob nicht einmal seine Stimme, doch das Gespräch kam sofort zum Erliegen.

Draußen tobte eine Klasse im Sportunterricht. Ihre Stimmen drangen durch das Fenster, schienen aber im Raum immer leiser zu werden. Die Wanduhr tickte. Es war halb eins. Gleich war Mittagspause und niemand hatte Lust, die Zeit noch länger im stickigen Raum zu verbringen. Toki wippte auf seinem Stuhl ungeduldig vor und zurück. Mirai versank noch tiefer in dem seinen. Ren, Akira und Liam schienen jedoch gefasst und lehnten sich zurück.

Plötzlich ein Klopfen. Jedermanns Augen fielen zur Tür. Niemand sagte etwas. Erneutes Klopfen.

„Entschuldigung...“ sagte eine zögerliche Stimme, und die Tür öffnete sich einen Spalt. Ein Paar schüchterne Augen suchten den Raum ab.

„Ähm… Anna ist da.“ Alle standen auf ihren Beinen. Sie war da. Die Schlägerbraut. Die Außenseiterin. Die, von der noch niemand wusste. Auf den Fotos war sie noch jung, wahrscheinlich um die 8. Auf ihnen konnte man hellblaue Augen erkennen, braune Haare, die wild und verknotet aussahen, als wäre sie gerade vom Spielen gekommen. Auf jedem Foto trug sie ein breites Grinsen. Hatte sie sich verändert? War sie genauso geblieben wie auf den Fotos? Die Tür ging nun auf, das Mädchen, wahrscheinlich die Sekretärin vom Schülerrat, trat zur Seite. Und plötzlich war sie da. Ein breites Grinsen auf einem breiten Gesicht. Sie war klein, pummelig, ihre rosarote Haut erinnerte an ein Schwein.

„Guuuuuten Tag“ sagte eine penetrante Stimme, zu penetrant um sie in den Raum zu lassen und doch war sie da. Toki fiel fast vom Stuhl, als er aufstand. Ungläubig starrte er zur Tür.

„Anna…?“ seine Stimme war so klein und leise, als würde er schrumpfen.

„Jap, die bin ich.“ sagte das dicke Mädchen, wahrscheinlich um die 14, und hob beide Hände um ihr Gesicht mit Peace-Zeichen zu umranken.

„Anna Kurosawa, zu euren Diensten.“ Das Grinsen wurde so breit, es versank fast in ihren schulterlangen, braunen Haaren. Mit einem genervten Seufzen stand Mirai auf. Er schien gehen zu wollen. Trotz der spärlichen Beleuchtung warf sein großer Körper einen Schatten über das Mädchen. Er beugte sich zu ihr runter. Sein Blick wanderte vom Gesicht zu den kleinen, dicken Beinen, die aus dem karierten Rock hervorragten, wieder zurück zu ihrem Gesicht, das nun weniger entspannt sein zu schien.

„Was gibt’s…?“ die penetrante Stimme schien nun eher eingeschüchtert zu sein. Der Rest des Schülerrates hatte sich ebenfalls Richtung Tür begeben und ging Richtung des Mädchens. Miirai schloss die Tür. Der Raum wurde kalt. Kalter Schweiß sammelte sich im Nacken der Fremden.

„Braune Haare…“ murmelte Kai. Seine Hand machte Anstalten, ihr Haar zu berühren, doch zog er sie rasch, anscheinend angeekelt, zurück.

„Ich glaub's nicht...“ Toki starrte das Mädchen an, er war zwar nur 1,70m groß, aber sie war klein. Zu klein. Vielleicht 1,50m? 1,60m?

„Wie soll die irgendjemanden besiegen?“ ein Grinsen machte sich auf Mirais Gesicht bemerkbar. Es war nicht charmant. Es war angsteinflößend. Das Mädchen trat zurück.

„Zieht sie aus.“ sagte Ren mit seiner tiefen Stimme und nicht dem Anflug von Scham. Er klang eher rational, Interesse hörte man kaum heraus.

„Moment...“ plötzlich wirkte sie unsicher.

„Hör' auf zu widersprechen. Das ziemt sich nicht.“ mahnte sie Ren. Liams Hand fuhr um, griff nach dem Handgelenk der Kleinen. Ein erstickter, verzweifelter Schrei breitete sich im Raum aus, erlag der Dunkelheit aber wieder.

„Dreht sie um“. Das Gesicht des Mädchens wurde an die Eichentür gepresst, während sie spürte, wie jemand am Kragen des Hemdes zog.

„Nein...“ Man hörte ein Klicken, die Tür flog auf. Licht flutete in den Raum. Bevor Mirai reagieren konnte, flog ihm die Tür gegen die Schulter. Das Mädchen befreite sich aus Liams Griff. Man hörte, wie der Kragen riss. Und so schnell, wie ihre kleinen Stummelbeinchen sie tragen konnten, flüchtete sie.

„Ich glaub es nicht...“ Toki schien immer noch fassungslos zu sein. Kai fing erneut an zu lachen, diesmal geprägt von Belustigung, nicht Hass.

„Was war das denn?" sagte er und bremste sein Lachen mit seiner blassen Hand.

„Was ist los mit euch?“ warf Akira plötzlich ein. „Wollt ihr sie entkommen lassen?“. Er hastete zur Tür.

Die Königin und ihre Prinzen

„Wie war's?“

Sie war angekommen. Vögel zwitscherten. Die Klasse, die Sport hatte, machte sich auf den Weg zur Umkleide. Es war ein ruhiges, schattiges Plätzchen hinter der Schule beim Gartenhaus, wo sich alle niedergelassen hatten. Immer noch nach Luft ringend hob das dicke Mädchen ihre Hand, um zu bedeuten, dass sie eine Pause brauchte. Sie war entkommen.

„Das erste Mal, dass du so schnell gerannt bist?“ eine klare, helle Stimme richtete sich an sie.

„Sorry.“ Man konnte das Schmunzeln deutlich hören. Die Dicke kam zu Luft und fing endlich an zu sprechen, anscheinend hatte sie wieder die Nerven, penetrant und gemein zu klingen:

„Anna, wieso sagst du mir, dass ich sowas tun soll? Ist das dein Ernst?“. Sie richtete sich an die Person, die sie angesprochen hatte. Ein schlankes, blondes Mädchen, mit hellblauen Augen. Sie war groß. Sie war eine Schönheit. Und sie war die wirkliche Anna.

„Wieso? Warum sollte ich an meinem 1. Tag zum Schülerrat gehen? Ich hab' keine Lust, schon wieder rauszufliegen. Außerdem wolltest du doch in unsere Truppe aufgenommen werden, oder? Sieh es als eine Art 'Mutprobe'.“ Anna klang genervt – verständlich, wenn die nervige Stimme einer nervigen Person anfing, nervige Anschuldigungen zu machen.

Anna erhob sich aus dem weichen, saftigen Gras, das hier hinten wuchs. Die „Truppe“ bestand zur Zeit aus mehr Jungs als Mädchen. Einige Kommentare flogen durch die Luft.

„Sei nicht so grimmig, Kiki.“ erneut lächelte sie. Es war das Lächeln eines Engels.

„GRIMMIG?“ Die Stimme, die man als 'penetrant' kannte, erhob sich nun zu einem 'komplett nervtötend'. „Die wollten mich ausziehen! Ganz ehrlich, was machst du dir eigentlich für Feinde, Anna?! Ich wusste nicht, dass ich mich auf sowas einlassen muss, um zu euch zu gehören! Ihr seid doch komplett bescheuert!“ Tränen liefen über die Wangen der kleinen, dicken Kiki. Anna legte ihre Hände auf die runden, weichen Schultern der Anwärterin und blickte ihr tief in die Augen.

„Ausziehen…?" wiederholte sie leise fragend. Kikis verschwommene Augen blickten direkt in Annas. Von Tränen erfüllt nickte sie langsam. Annas Hand ließ langsam von Kiki los und wanderte zu ihrem Kopf. Sie tätschelte Kiki leicht.

„Tut mir Leid… Ich wusste nicht, dass es so weit kommt.“ Sie schien es wirklich zu bedauern. „Anscheinend haben sie dir nicht ganz abgekauft, dass du dich als mich ausgibst." sie lachte kurz. „Aber Kiki...“ ihre Stimme wurde wieder leiser, deutlicher, gefährlicher. „Hast du mich gerade 'bescheuert' genannt…?“.

Es schien, als würde der Hintergrund ausgeblendet. Die Sonne hörte auf zu scheinen. Die Vögel hörten auf zu zwitschern. Man hörte kein Kichern mehr, keine Kommentare. Alles wurde still und wartete auf Kikis Antwort. Kikis pinkes, von Leben erfülltes Gesicht wurde plötzlich weiß wie der Mond und von Kratern der Angst übersät. Sie wagte sich nicht etwas zu sagen.

„Wie heiße ich…?“, Annas Stimme wurde immer leiser und immer eindringlicher. Angst? Kiki hatte im Raum des Schülerrats Angst gehabt. Aber hier, im Hinterhof der Schule, mit Fluchtwegen, mit Zeugen, mit Klassenräumen gefüllt mit Schülern in der Nähe, die sofort jeden Schrei gehört hätten, hier war es purer Terror.

„A-Anna...“ Die Stimme war so leise und zerbrechlich, dass es einem fast das Herz brach.

„Wie bitte…?“ Anna sprach so leise, dass es dem Zischen einer Schlange glich.

„Meine… Meine Königin… Anna." Schweiß und Tränen vermischten sich in Kikis Gesicht. Annas Finger, die sich in Kikis Haaren vergruben hatten, wurden lockerer, sanfter, und glitten von ihrem Kopf hinunter.

„Ja.“ Man hörte das Lächeln. Kiki, die aus Angst auf den Boden gestarrt hatte, wagte sich nun wieder nach oben zu schauen. Anna lächelte. Es war ein warmes Lächeln und dennoch wusste die Anwärterin nun, dass mit Anna nicht gut Kirschen essen war.

Anna ließ schließlich ganz von Kiki ab. Die Gefolgsleute, die im Schatten eines großen Ahornbaumes saßen, standen nun auf, einer nach dem anderen. Es waren um die sechs.

„Scheint, als wärst du nicht schnell genug gerannt. Am besten gehst du jetzt.“ Kiki starrte Anna an, doch deren Augen waren nicht auf das Pummelchen gerichtet. Sie sahen an ihr vorbei. Kiki spürte es. In ihrem Nacken sträubten sich die Haare. Warum wurde ihr so kalt, obwohl es später April war? Langsam, bedächtig, angsterfüllt drehte sich Kiki um. Da standen sie.

„Du bist also nicht Anna, hm?“, eine tiefe, hasserfüllte Stimme versetzte Kiki zurück in den Raum des Schülerrats. Die sechs jungen Männer standen nur einen halben Meter hinter ihr. Wann waren sie ihr so nahe gekommen? Mirais Hand legte sich langsam auf Kikis Schulter.

„Willst du vielleicht erklären, was passiert ist?“ Er klang nicht nett. Und er war nicht nett.

„Geh jetzt, Kiki.“ sagte Anna erneut, diesmal mit sehr viel mehr Autorität in ihrer Stimme. Wie ein Reh, das von Scheinwerfern erfasst wurde, starrte Kiki Mirai an. Er drückte ihr wortlos den abgerissenen Kragen in die Hand. Es schien kein Licht in diesen braunen Augen. Wortlos wandte sich Kiki ab und verschwand.
 

„Nun denn, womit kann ich helfen, Herren vom Schülerrat?“ Anna lächelte.

„Wir haben dich ausrufen lassen, Anna.“ sagte Ren kalt, nun, da Kiki weg war. Flüstern erhob sich. Ab und zu Kichern. Kai sah zu den anderen, die sich am Ahornbaum getummelt hatten.

„Geht, das ist privat.“ Aber sie machten keine Anstalten zu gehen.

„Schon okay, Leute. Ich glaub, ich weiß worum es hier geht.“ sagte Anna seufzend und entspannte die Atmosphäre etwas. Murmelnd begannen die anderen zu gehen, nur einer blieb zurück.

„Bist du dir sicher, Anna?“ Ein großer Junge, vielleicht um die 17, stellte sich zu ihr und blickte sie angespannt an. Er hatte schwarze Haare, nicht so schwarze wie Ren, eher mitternachtsblau und hellblaue Augen. Er schien einen leichten Sonnenbrand auf der Nase zu haben.

„Ja.“ erwiderte Anna vertrauensvoll. „Geh ruhig, Adam.“ Er schien unzufrieden zu sein.

„'kay.“ gab er monoton nach.

Der Schülerrat wartete, bis alle weg waren, bis auf die eine.
 

Toki starrte Anna mit großen Augen an. Mirais Gesicht entspannte sich und zeigte ein Lächeln, das schwer zu deuten war. Liam schwieg, aber auch seine Augen waren unabwegt auf Anna gerichtet.

„Du bist also die echte Anna?“ Kais sanfte Stimme schmiegte sich fast an Annas Gesicht. Er war ihr so nahe gekommen, dass sie seinen Atem auf der Haut spürte. Er war angenehm kühl. Toki starrte sie weiterhin an. Ren drückte Kai leicht beiseite, um selbst einen guten Blick auf Anna kriegen zu können. Toki fing an, um Anna herum zu laufen. Auch Akira schien etwas hibbelig zu sein, ließ jedoch einen gewissen Abstand zu ihr.

„Ja.“ Ein Lächeln. Die Stimme, die so klar war, wie die Luft am frühen Morgen nach einem Regen. Doch Anna drehte sich um und lief zum Baum.

„Wenn's um die Sache von heute Morgen geht… Sie haben angefangen.“ Sie bückte sich, um ihren liegengelassenen Baseballschläger aufzuheben. Langsam drehte sie ihn in ihren weichen Händen, um den Dreck abzuwischen.

„Es geht nicht um heute Morgen.“ erwiderte Ren knapp. Falls es je einen Anflug eines Lächelns gegeben hatte, war er nun wieder weg.

„Sondern…?“

Wieso? Wieso nur glaubte niemand der Anwesenden, dass Anna keine Ahnung hatte? Toki schluckte. Liam, der an der Wand gelehnt hatte, näherte sich jetzt dem Mädchen. Auch wenn sie groß war, er war deutlich größer. Auch Ren ging nun einen weiteren Schritt auf die gefürchtete Anna zu. Angespannte Stille. Die Anspannung, die den Raum des Schülerrats vielleicht aufgrund der Fenster nicht verlassen konnte, war nun hier, im Freien, so dick, so spürbar, dass sie einem den Atem nahm. Und doch ließ sich Anna nicht einschüchtern. Niemand wollte es sagen. Doch Toki, der bisher nur vor sich hin starren konnte, ging näher auf sie zu.

„Wir...“ fing er an, doch machte Halt. Annas Augen wanderten zu ihm. Sie schienen auf der selben Höhe zu sein. Wieso verschlug es ihm die Sprache? Er war bei weitem der redseligste des Schülerrates. Wieso konnte er also nicht aussprechen, was der Grund für ihr Erscheinen war?

Stille. Langsam kam das Zwitschern der Vögel wieder zurück. Eine Glocke ertönte. Sie schien so weit weg zu sein… Anna lehnte den Baseballschläger an die Wand.

„Mittagspause ist vorbei.“ Man hörte, wie sie lächelte. Ohne auch nur einem Anflug von Angst oder Scham begann sie, zu gehen. Doch sie kam nicht weit – sie wurde festgehalten. Wie aus Reflex hatte Akira den schmalen Arm des Mädchen gepackt und zog sie zurück. Als wären mit einem Schlag aller wieder bei der Sache, schienen die jungen Männer ihre Gedanken wieder auf den eigentlichen Grund ihrer Anwesenheit zu richten. Doch anstatt Anna nur festzuhalten, führte Akira sie noch tiefer in den Hinterhof, fernab von jeglichen Blicken der Schüler in den Klassenräumen, zum Gartenhäuschen. Alle folgten ihm. Sie bildeten eine Mauer aus Körpern und ließen Anna nicht mehr gehen.

„Was soll das?“ Sie lachte ein bisschen. Nein, sie war überhaupt nicht wie Kiki, die beim kleinsten Anflug von Gewalt schon fast anfing, zu weinen. Akira starrte sie an. Mirai Lächeln wurde zu einem Grinsen.

„Ooh, das ist gut.“ grinste Kai leise. Auch er grinste nun, sogar Toki konnte sich ein aufgeregtes Lächeln nicht verkneifen. Kai ging ebenfalls auf Anna zu und hielt ihren anderen Arm, zwar nicht so grob wie Akira, aber mit einer genau so gleichen Autorität.

„Ich will auch...“ flüsterte der Junge mit den violetten Haaren. Doch Annas Lächeln verblasste nicht.

„Wieso sind ihre Haare blond…?“ fragte Toki bedächtig und ging um Anna herum. Ihre Haare waren in einem langen Pferdeschwanz gebunden, nur ihr Pony und ein paar Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Langsam drehte Anna ihren Kopf nach hinten und sagte: „Ich hab sie mir gefärbt.“

„Lasst sie los.“ brummte Ren nun und Anna wurde aus den Griffen befreit. Die Herren gingen ein paar Schritte zurück. ´

„Tut mir Leid für ihr Benehmen.“ knirschte Ren genervt, aber gefasst. „Kommen wir nun zur Sache. Du weißt es vielleicht nicht, weil du seit langem nicht mehr in der Schule warst, aber wir sind die Vertreter der Schülergesellschaft. Ich bin Ren, das ist Akira, Toki, Kai, Liam und Mirai.“, mit Handgesten stellte er diejenigen vor, von denen er sprach.

„Ich weiß das schon.“ sagte Anna knapp, aber freundlich. „Wie kann ich helfen?“.

Ohne von dieser Freundlichkeit eingeschüchtert zu werden, fuhr Ren fort. „Ich weiß nicht, ob du von deinem Vater schon benachrichtigt wurdest, aber er hat uns gebeten hierher zu kommen und uns vorzustellen.“ Das Lächeln brach. Annas Freundlichkeit wich ihr aus dem Gesicht.

„Oh?“. Eine eiserne Kälte lag nun in der Stimme des Mädchens. „Und wieso das?“ Die jungen Männer reihten sich nebeneinander auf und verbeugten sich leicht.

„Du wirst einen von uns heiraten.“

Backgroundcheck

Anna wartete am Schultor. Auf wen wartete sie?

„Sie ist auf jeden Fall nicht so, wie auf den Bildern...“ murmelte Toki leise und schaute zum Tor. Der Schülerrat stand in einem schattigen Korridor. Der Unterricht war vorbei. Die Sonne sank langsam gen Horizont.

„Stimmt.“ sagte Akira grübelnd, auch wenn er Toki nicht gerne zustimmte.

„Sie ist hübsch.“ fuhr Toki fort. Doch auf diese Äußerung bekam er nur ein Schweigen.

Nachdem die Männer ihr von der anstehenden Hochzeit erzählt hatten, war an diesem Mittag erneut, aber nur für ein paar Sekunden, Stille eingetreten.

„Ist das so?“ Anna hatte ihr Lächeln wiedergefunden, sie klang erfreut. „Viel Glück.“ Und damit war sie gegangen.

Menschen in Schuluniformen liefen gebeutelt durchs Tor. Die meisten starrten Anna im Vorbeigehen an, Jungen wie Mädchen, und machten einen Bogen um sie. Einige blieben stehen, wollten etwas sagen, doch gingen weiter. Viele ignorierten sie auch einfach nur. Der Junge von vorhin, Adam, lief nun auf sie zu. Die Herren des Schülerrats konnten nicht hören, was sie in der kurzen Unterhaltung sagten.

„Ist das ihr Freund…?“ Toki klang ein bisschen genervt, als er das sagte und Anna und Adam beim Weggehen beobachtete. Seine Finger liefen an der Glasscheibe hinunter.

„Und wenn schon.“ kommentierte Akira nun mit einem Seufzen. Auch Liam wandte jetzt den Blick vom Tor ab und setzte sich auf eine Bank, die neben dem Fenster stand.

„Auch wenn sie cool tut, ich wette, in Wirklichkeit ist sie eine kleine, zerbrechliche Prinzessin.“ säuselte Kai nun und strich mit seinen schmalen, langen Fingern über das Glas des Fensters. „Sie war so weich...“

„Du bist pervers.“ fauchte Mirai angeekelt und schloss die Augen. „Wieso hat sie überhaupt das Schweinchen vorgeschickt? Sie hat null Respekt vor Autorität.“ Er streckte die Beine aus und versank in seinem Sitz.

„Weißt du...“ sagte Kai, eher zu sich, als zu irgendjemand anderem. „Wir könnten sie einfach mal heut' Nacht besuchen. Ein bisschen erschrecken. Zu ihrem Fenster reinklettern und sie festhalten und sie knebeln. Dann hat sie Angst und weint wie ein kleines Mädchen.“ Seine Augen weiteten sich und je mehr er sprach, desto mehr schien auch das Schwarz in seinen Augen tiefer und tiefer im fahlen Weiß seiner Haut zu versinken. Kurz trat Stille ein. Stille, als würde man über den Vorschlag nachdenken. „Wie gesagt, pervers.“
 

Es gingen Gerüchte um. Am nächsten Tag noch mehr, als zuvor. Sie war wieder zurück. Und diesmal hatte sie sich mit dem Schülerrat angelegt.

Als Anna zur Schule kam, war der Radius, in dem die Schüler einen Bogen um sie machten, noch um einige Zentimeter gewachsen. Sie war es gewohnt. Adam war heute schon früher da, weil er zum Training musste. Anna hatte keine AG, sie fand es schön, so früh wie möglich aus der Schule zu verschwinden. Es waren schon genug wandelnde Probleme unterwegs, sie musste sich der Öffentlichkeit nicht noch mehr preisgeben. Tatsächlich schien die 15-Jährige Ärger quasi anzuziehen. Es verging kaum eine Woche ohne Zwischenfall. Der schlimmste von allen lag wohl 3 Jahre zurück, als eine Gruppe von Jugendlicher sich auf dem Spielplatz breit machte…

'Denk' nicht daran.' ermahnte sie sich selbst. Obwohl sie wie ein Stein geschlafen hatte, war Anna dennoch müde. Ihr sonst fröhlicher, belebter Teint war heute ein bisschen blasser als sonst. Tatsächlich hatte sie gestern Abend noch einen Anruf erhalten. Ihr Vater, der sich seit Jahren weder gemeldet hat, noch hat blicken lassen, fand es wohl an der Zeit, die Beziehung mit seiner Tochter wieder aufzufrischen.

„Es stimmt. Einer von ihnen wird dein Mann werden.“ meinte er nur knapp zur Vorstellung des Schülerrats. Ansonsten blieben seine Aussagen vage.

„Nimm es nicht so ernst.“ hatte Annas Mutter dann gelacht, nachdem die Blondine den Hörer aufgelegt hatte. Ihre Mutter war wie eine Göttin für Anna. Man sah, dass ihre Falten geprägt von Sorgen waren, und dennoch lächelte sie ihre Kinder stets an. Ihr Haar, das meistens in einen Knoten gebunden war, um die Hausarbeit zu erleichtern, wurde allmählich über die Jahre grau. Ihre Haut wurde schlaffer. Sie wurde dünner. Und trotzdem gab es für Anna keine hübschere Frau auf der Welt, als sie.

„Mama… Was fandest du nur so gut an Papa, dass du mit ihm Kinder zeugen konntest?“ seufzte Anna an diesem Abend genervt und leicht angeekelt, aber ihre Mutter lachte nur.

„Wie kannst du sowas sagen? Alleine, dass ich so ein wunderschönes, kluges Mädchen, wie dich gezeugt habe, ist doch schon Grund genug.“ sie drückte ihre Tochter liebevoll. Die Rippen, die sich Anna an diesem Abend unter der Kleidung in ihre Brust bohrten, taten schon fast weh, so stark war die Umarmung. Ihre Mutter hatte wirklich viel abgenommen…

„Anna.“ Eine Stimme rief sie zurück in die Gegenwart. Sie drehte sich um, um die Quelle zu finden. Toki stand da. Die Schuluniform stand ihm gut, auch wenn die karierte Hose etwas zu lang war, weshalb sie an den Fußen umgeschlagen worden war.

„Du bist…?“

„Toki. Von gestern. Schülerrat.“ Er hielt sich knapp, aber ein Blick in sein Gesicht verriet Anna, dass er nicht kurz angebunden war, sondern nur leicht schüchtern, und vielleicht… aufgeregt? Anna lächelte. Das war ein bisschen süß. Normalerweise wurde sie nicht einfach so angesprochen, vor allem nicht auf dem Weg zur Schule.

„Hi, Toki.“ begrüßte sie ihn.

„Wegen gestern… Tut mir Leid, dass die anderen so grob zu dir waren.“ sein Lächeln verbog sich in ein unangenehmes, beschämtes Grinsen. Er blickte zu Boden. Tat es ihm wirklich Leid?

„Bin's gewöhnt.“ Anna ging weiter zum Hauptgebäude. Der Campus war groß – Die Schule hatte ein Hauptgebäude, zwei Nebengebäude, eine Sporthalle und einen Wintergarten. Der Wintergarten war hauptsächlich für Biologie und die Garten AG zu nutzen, ansonsten hatte kein Schüler außerhalb der Unterrichtszeit Zutritt, nur der Schülerrat. Toki lief ein bisschen schneller, um Anna einzuholen. Tatsächlich war er nur zwei Zentimeter größer als Anna und das lag vielleicht auch nur an seinem fluffigen, blondem Haar. Während er aufholte, grüßten ihn ein paar Mädchen.

„Weißt du...“ fing er an, als er endlich neben Anna her lief, „Ich hatte mich gefreut, dich kennen zu lernen.“. Anna lachte kurz.

„Ist das schon der Abschied?“

„Nein...“ auch Toki lachte. „Aber als gestern - Kiki hieß sie? - bei uns auftauchte, war ich etwas geschockt. Sie hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem süßen Mädchen auf den Fotos.“. Anna blieb stehen. Fotos? Was für Fotos? Sie drehte sich zu Toki um, der ebenfalls verdattert stehen blieb. Ihr Blick bohrte sich fragend in seine Brust.

„Oh, uns wurden Fotos zugeschickt, als du vielleicht um die acht Jahre alt warst.“ Sie sagte nichts. Toki starrte sie an. Ihre Augen verrieten ihm, dass ihre Gedanken nur so hin und her rasten, aber er konnte nicht mit Sicherheit sagen, was es war, worüber sie so intensiv nachdachte.

„Oh? Versuchst du etwa, dir einen Vorteil zu erschleichen?“ Toki blickte über die Schulter. Kai stand hinter ihnen, auch wenn er einige Sekunden zuvor noch nicht in Blickweite gewesen war. Kais Hand legte sich unter Annas blonden Zopf, führten ihre Haare an sein Gesicht und ließen sie durch seine blassen, langen Finger gleiten. „Vanille...“ seufzte er leise und lächelte.

„Guten Morgen.“ erwiderte Anna stumpf. Sie ließ sich nicht davon beeindrucken.

„Hallo Kai...“ quiekte ein anderes Mädchen schüchtern und wurde rot, als er ihr zuwinkte.

„Kai… Fass sie nicht einfach so an.“ grummelte Toki genervt.

„Wieso? Du hast ihre Haare gestern auch angefasst.“

Toki wurde leicht rot. „Aber nicht mit so einer perversen Absicht wie du.“ entgegnete er angewidert.

„Aha? Ich dachte du wolltest dich für deine Prinzessin aufsparen? Ich wette, dir wurde ganz warm, als du sie berührt hast...“ kicherte Kai.

„Was sagst du da?“ Toki klang aufgebracht. Anna blieb erneut stehen und drehte sich den beiden zu.

„Ich bin keine Prinzessin.“
 

Es war mittlerweile elf Uhr. Anna war nicht in ihrer Klasse aufgetaucht, nicht einmal zur ersten Stunde. Toki wusste das, er hatte nach ihr gefragt. Sie war nicht da. Seufzend und bedrückt ging er zum Raum des Schülerrats. So lange hatte er gewartet… So lange … In zwei Tagen hatte er sie schon zweimal gesehen. Er war glücklich, dass das Schweinchen sich nicht als Anna entpuppt hatte, sondern als ein Ablenkungsmanöver. Endlich konnte er ihr nahe sein. Aber wieso fühlte er sich jetzt trotzdem noch so weit von ihr entfernt?

Er öffnete die großen Eichentüren. Nur Ren war da. „Wo sind die anderen?“ Ren schwieg. Er schrieb irgendetwas auf. Wortlos sank Toki in einen der Stühle und zog sich einige der Papiere ran.

„Weiß nicht.“ sagte Ren knapp, als er den Absatz beendet hatte. Toki konnte sich noch nie gut mit den anderen unterhalten. Tatsächlich waren sie fast genau so distanziert wie Anna. Wahrscheinlich war Toki auch der einzige, der sich in seiner Klasse wirklich gut eingelebt hatte. Viele seiner Klassenkameraden hatten ihn auf seine Haar- und Augenfarbe angesprochen. Verständlich, da das herkömmliche Braun in beiden Kategorien viel häufiger war. Nur wenige fielen hier in der Schule durch ihre Äußerlichkeiten auf. Dadurch wurde auch Toki zum Aufmerksamkeitsziel.

Erneut öffneten sich die Türen und Akira kam rein. Er war verschwitzt.

„Sport?“ fragte Toki bei seinem Anblick. Akira ließ sich in einen der Stühle fallen und zog eine Wasserflasche aus der Tasche. Nachdem er große, kräftige Schlucke davon getrunken hatte, rang er nach Luft und quetschte ein „Ja“ heraus. Ren schrieb weiter.

„Gleich ist Pause.“ murmelte Toki nachdenklich.

„Halt die Klappe.“ schnauzte Akira.
 

Wieder ging die Tür auf, der Rest versammelte des Schülerrates versammelte sich im Raum. Die Türen wurden abgeschlossen.

Erst jetzt legte Ren seinen Füller weg und blickte vom Papier auf. Akira zog die Vorhänge zu und erneut legte sich der Raum in angenehme Dunkelheit.

„Dann lasst uns besprechen, worauf wir uns einlassen.“ begann Ren ernst und seine Stimme war wieder so tief und bedrohlich, dass niemand das Wort ergreifen wollte. Er zog eine Akte aus einem der Regale und rief einen Personenbogen auf. „Anna Kurasawa. 15. Geboren am 5.Mai 2000. Ging bis 2012 hier in der Stadt zur Schule, wurde dann suspendiert wegen einer Schlägerei. Die Anzahl der Verwundeten betrug 8 Personen. Sie war nicht verletzt. Anscheinend hat sie allein gehandelt. Lebt mit ihrer Mutter. Eltern sind geschieden und leben getrennt. Noten sind eher über dem Durchschnitt. Hat den Ruf einer Schlägerbraut. Zur Zeit keinen festen Freund.“ Die Herkunft der Quellen war fraglich.

„Was ist mit dem Typen von gestern?“ knurrte Mirai genervt. „Adam oder wie er hieß...“. Ren blätterte durch die Akte. Viele der Mitglieder von Annas Truppe waren dort aufgeführt. Aber nicht Adam.

„Keine Angaben.“Akira seufzte genervt.

„Müssen wir uns Sorgen machen?“ fragte Toki unsicher.

„Warum sollten wir? Er ist nur irgendein Typ, den sie kennt.“ erwiederte Kai. „Viel wichtiger ist die Frage, ob sie noch Jungfrau ist.“ fügte er mit einem schamlosen Lächeln hinzu. Ren blickte erneut auf Annas Bogen.

„Bisher hatte sie wohl noch keine Beziehung und nach dem Vorfall vor drei Jahren hat sich wohl auch keiner in ihre Nähe getraut.“

Toki sah ihn entgeistert an: „Du willst mir doch wohl nicht sagen, dass bisher niemand versucht hat, mit ihr auszugehen?“ Rens Blick wandte sich zum ersten Mal vom Papier ab und ruhte nachdenklich auf Toki.

„Viele haben es versucht.“ erwiderte er dann leise, diesmal war seine Stimme nicht so tief und eindringlich. „Aber jedes Mal haben sie die selbe Antwort bekommen. 'Ist mir egal'.“

Akira lachte. „Was ist sie? Die Eiskönigin? Es gab bisher wirklich keinen, der ihr irgendwie gefallen hat?" fassungslos und mit einem weiterem Lachen lehnte er zurück. Ren legte die Akte zur Seite.

„Scheint so.“ Schweigen breitete sich aus.

„Es ist gut, dass sie noch Jungfrau ist...“ sagte einer von ihnen. Alle stimmten zu.

„Es ist April… Das heißt, sie hat in ein paar Wochen Geburtstag, oder? Dann wissen wir es mit Sicherheit...“ Erneutes Schweigen.

„Ich find sie gut.“ murmelte Akira.

„Ja.“ stimmte ihm Kai zu. „Es wird Spaß machen, sie zu beschmutzen.“

Toki blickte nachdenklich und besorgt zur Seite. „Sie muss uns ihr Herz schenken, nicht wahr...“ murmelte er vor sich hin. Ren schloss die Augen.

„Sie scheint nicht besonders angetan zu sein von uns.“

„Oder von irgendwem.“ fügte Mirai hinzu. „Irgendwie ist es aufregend.“.

„Glaub bloß nicht, dass ein Macho wie du eine Chance bei ihr hast.“ grinste Kai hämisch und zuckte mit den Schultern. „Ihr habt doch wirklich alle keine Ahnung, wie man Mädchen dazu bringt, sich in einen zu verlieben.“
 

„Oh bitte.“ erwiderte Mirai. „Sie ist ein pubertäres Mädchen, dass noch nie einen Freund hatte. Wenn man ihr oft genug sagt, dass man sie liebt, wird sie wie Wachs in den Händen.“

„Glaubst du das wirklich?“ Liam, ein Mann von wenig Worten, schaute Mirai fragend an. Dieser konnte nichts entgegnen. Nein, so einfach würde es nicht werden.

„Warum sind wir gestern nicht einfach zu ihr nach Hause gegangen? Ich wollte sie im Nachthemd sehen...“ Kai klang ein bisschen genervt.

Akira seufzte. „Wir haben noch Zeit.“ Kai wirkte noch mehr genervt.

„Ich will nicht mehr warten.“
 

„Anna, da ist Kiki.“. Es war Mittagspause. Die Gang war wieder im Hinterhof versammelt. Adam deutete auf den Schulhof und man sah eine sichtlich beunruhigte und nervöse Kiki durch die Menschenmenge wandern.

„Hat sie sich noch mal bei einem von uns gemeldet seit gestern?“ Die meisten schüttelten den Kopf. Heute waren mehr Leute als üblich beim Treffpunkt. Die meisten waren besorgt, dass der Schülerrat hier unangemeldet aufgetaucht war.

„Ich kann's nicht glauben, dass sie sich an unsere Queen ranmachen.“ sagte Yuki genervt. Yuki war seit dem Vorfall vor drei Jahren nicht von Annas Seite gewichen, außer wenn die Klassenräume es verboten hatten. „Die strotzten nur so vor Arroganz.“ Er klang angewidert. Anna verschlang ihr Putenbrustsandwich.

„Was wollten die eigentlich von dir?“ fragte Mika, eins der wenigen Mädchen, dass Anna als Freundin bezeichnen konnte.

„Ging um die Schlägerei gestern morgen.“ log Anna im Gegenzug.

„Bitte? Was kannst du denn dafür, dass dich irgendwelche Typen auf'm Weg zur Schule anbaggern? Sie sollten wissen, mit wem sie sich anlegen können und mit wem nicht.“ Man merkte deutlich, dass auch Mika genervt war, „Ohne Mist, wäre Adam nicht da gewesen...“ doch Adam unterbrach sie.

„Aber ich war da. Alles gut.“

Anna lachte. „Ist süß, dass ihr euch so für mich sorgt. Aber das braucht ihr nicht. Ich komm auch alleine klar.“.
 

„Sag sowas nicht, Anna...“ Mika klang traurig, krabbelte über das Gras zu Anna und umarmte sie.

„Wir wissen alle, was du für uns getan hast.“ Dankbar tätschelte Anna Mikas Rücken und aß den letzten Bissen ihres Brotes, dann stand sie auf.

„Muss los.“ erklärte sie knapp und packte sich ihre Tasche.

„Was? Wohin?“ Auch Adam war aufgesprungen.

„Geschäftlich.“

Eye to Eye

Die Mittagspause neigte sich dem Ende zu. Langsam liefen alle Leute in ihre Klassen zurück. Das Wetter lud zum Draußensein ein, weshalb viele nur langsam und genervt zurück in die Klassen gingen. Doch der Schülerrat diskutierte weiter das Thema Anna. Oft wurde das Gespräch mit Schweigen unterbrochen. Es war ein nachdenkliches, fast sehnsüchtiges und gedankenverlorenes Gespräch - und Schweigen - gewesen. Nun wurde es aber durch ein bekanntes, zaghaftes Klopfen gestört.

„Ähm...“ die Stimme der Sekretärin drang zögerlich durch den Türspalt. „Anna Kurosawa ist hier… Schon wieder.“ fügte sie verwirrt hinzu. Die Tür flog auf und mit einem erschrockenen, kurzen Schrei entfernte sich die Sekretärin wieder. Anna stand im Raum.

„Was für 'ne Luft...“ seufzte sie genervt, schmiss die Tür ins Schloss und lief federnden Schrittes an Kai, Mirai und Ren vorbei zu den Fenstern. Sie zog einen der Vorhänge zurück und stellte die Fenster auf Kipp. Sonnenlicht und frische Aprilluft fluteten den Raum. Nach einem tiefen Atemzug drehte sie sich um und blickte einen nach den anderen an. Alle schienen verwundert zu sein, doch sie sah ganz genau, dass sich gerade viele Fragen aufbäumten, die sofort wieder fallen gelassen wurden. Anna zog sich den Stuhl am Kopf des Tisches vor, setzte sich hin und überschlug ihre sanften, langen Beine. Ihre Hände faltete sie unter dem Kinn zusammen.

„Soo...“ sagte sie leise und ihre Stimme flog mit der frischen Luft durch den Raum. „Ihr seid also alle meine Verlobten?“ fragte sie kichernd. Ren ergriff als erstes das Wort.

„Könnte man so sagen.“ antwortete er knapp und schloss die Augen.

„Und ich darf mir einen aussuchen, ja?“ fügte sie hinzu und die Belustigung in ihrer Stimme stieg von Wort zu Wort an. Erneutes Schweigen.

„Könnte man so sagen.“ wiederholte Ren.

„Gut.“. Anna hob das Kinn von ihren Händen und lehnte sich zurück. Sie schien kurz nachzudenken. Dann stand sie auf und ging zum Fenster, das nun Lichtflecken auf den feinen Marmorboden warf. „Einer nach dem anderen kommt bitte hier her und stellt sich mir vor.“ Die Herren schienen nicht begeistert zu sein. Mirai seufzte erneut genervt.

„Ernsthaft?“ knirschte er leise.

„Ja, ernsthaft. Nicht so schüchtern.“

Der erste der vom Platz aufsprang war Toki. Langsam erhoben sich auch die anderen. Toki ging sofort auf Anna zu und blieb gut einen Meter vor ihr stehen.

„Mein Name ist Toki. Bin 15 Jahre alt, komme nicht von hier und ...“ Doch bevor er weiter reden konnte wurde er durch einen plötzlichen Ruck unterbrochen. Anna hatte ihre Hand um seine Krawatte gelegt und zog ihn an sich ran. Sie waren sich so nah, dass er fast ihre Nasenspitze mit seiner berührte. Ihre klaren, hellblauen Augen starrten in seine. Die Haut um seine Wangen und Nase verfärbte sich komplett rot.

„Und…?“ flüsterte Anna leise. Es waren nur wenige Zentimeter zu ihren Lippen. Er könnte sie küssen. Ihr Atem roch nach Pfefferminz. Kaute sie einen Kaugummi? Warum sahen ihre Lippen so weich aus? Sie glänzten ein bisschen. Es war kein Lipgloss. Vielleicht Labello? Kai hatte Recht. Annas Haare rochen nach Vanille.

Abrupt ließ sie ihn los. Toki taumelte durch den plötzlichen Schwungwechsel nach hinten.

„Nächster.“ Der Raum war komplett mit Schweigen gefüllt. Alle starrten sie fassungslos an. Akira ging an Toki vorbei und drückte ihn schmerzhaft nach hinten. Er stellte sich direkt vor Anna, diesmal berührten sich die Nasenspitzen sogar. Sein rotes Haar flatterte leicht im Windzug vom Fenster.

„Mein Name ist Akira. Ich bin 16.“ Er musste sich herunter beugen, um Anna in die Augen sehen zu können. „Und ich hab kein Bock auf Spielchen.“ fügte er leicht grinsend hinzu, während er eine Hand auf Annas Schulter legte. Sie starrte ihn für zwei Sekunden an, entgegnete dann aber:

„Tatsächlich.“ Es war keine Frage. Es war eine pure Festellung. Sie legte ihre Hand in seinen Nacken. Er spürte, dass sie weich und angenehm kühl war. Der Schweiß vom Sport war schon getrocknet. Dennoch wurde Akira warm und kalt zugleich. Es war ein unwohles Gefühl und gleichzeitig wurde er schwach. „Es sieht mir so aus, als würdest du mich jetzt schon küssen wollen.“ hauchte sie ihm zu. Ihre Worte prickelten wie Brause auf seinen Wangen. Er drückte sie von sich weg. So wie sein Vorgänger wurde auch Akira rot. Wieso hatte er es nicht einfach getan? Anna kicherte.

„Nächster.“

Für einen kurzen Moment füllte Schatten den Raum. Anscheinend war die Sonne mit Wolken verhangen worden, denn das Licht im Raum fing an zu sterben. Ren war aufgestanden. Mit ruhigem Schritt ging er zu Anna. Er beugte sich nicht zu ihr hinunter, tatsächlich schien der große Mann es zu genießen, von oben auf sie herab zu blicken, jedoch zeigte er kein Lächeln. Er schwieg.

„Ja?“ fragte sie leise und lehnte sich auf dem kleinen Sims zurück an die Fensterscheibe. Für drei Sekunden schwieg Ren weiterhin, seufzte dann und schloss die Augen.

„Ren. 17 Jahre alt. Werde bald das Unternehmen meines Vaters übernehmen.“ Als Ren die Augen wieder öffnete, sah er eine überraschende Reaktion. Annas Lächeln war fort. Sie starrte ihn mit großen, blauen Augen an, die nun, im Schatten, nicht mehr so klar zu sein schienen, wie sonst. Und Ren mochte das. So sah sie gut aus. War sie schockiert? Aber wieso? Weil er bald reich sein würde? Weil er sich nicht zu ihr herunter beugen wollte? Hatte ihre Arroganz ihr das Hirn vernebelt? Wieso würde er, in seiner Position und mit seinem Lebenslauf, sich zu ihr hinab beugen?

„Oh…?“ ihre Stimme war ein Flüstern. Nur wenig Lebendigkeit schwang mit ihr mit. Sie stand auf und fing an, auf den Sims zu klettern, während ihr Rock leicht flatterte. Kai versuchte einen Blick zu erhaschen, doch Rens große Gestalt versperrte ihm die Sicht. Flink wie ein Äffchen stand Anna auf dem Sims und legte ihre Hände auf Ren, zog ihn an sich ran und legte ihre Stirn an seine. Ihre Augen waren groß. Je länger er in sie hinein starrte, desto mehr merkte er, wie die Freundlichkeit aus ihrem Gesicht wich. Wollte sie ihn einschüchtern? Ihr Griff war nicht stark, er hätte sich mit Leichtigkeit von ihr losreißen können. Aber er wollte nicht klein bei geben. Andererseits wollte er auch nicht, dass sie ihn so behandelt. Ihre Stimme riss ihn aus Gedanken. Es war nur ein Flüstern, niemand hätte es hören können. Ihre Augen waren ihm so nah, dass er ihre Lippenbewegungen nicht einmal erkennen konnte. „Das Unternehmen deines Vaters also...“ hörte er. Die Worten bissen sich den Weg in seinen Hörgang. „Du bist ziemlich weit weg von deiner Familie.“

Sie ließ ihn los und Ren spürte, dass sie ihn unmerklich von sich wegdrückte. Ihr Po fand den Weg auf den Sims wieder. Ihr Blick ruhte immer noch in Rens smaragdfarbenen Augen, ehe sie an ihn vorbei schaute und Kai zu sich rief.

„Nächster.“

Wie auf Kommando drängte sich Kai an Ren vorbei, der wort- und emotionslos zurück trat. Kai legte seine Hände um Annas Nacken. Annas Miene blieb steinhart, auch wenn sie nicht mehr lächelte.

„Mein Name ist Kai, ich bin 17 Jahre alt. Ich weiß, wie man Frauen glücklich macht. Wenn du willst, verlassen wir diese langweilige Gesellschaft und ich zeig dir, in wie viele Himmel ich dich bringen kann.“ Er wollte nicht warten. Diese Lippen, die im fahlen Licht der wiederkehrenden Sonne perlten, sahen so lecker aus. Er wollte sie kosten. Er wollte sie beißen. Er wollte spüren, wie dieses weiche Fleisch unter seinen Zähnen nach gab. Doch was er spürte waren nicht Annas Lippen. Es waren ihre Fingerkuppen, die ihm sanft Einhalt geboten.

„Du würdest es wirklich tun, oder?“ lachte sie leise, schien jedoch nicht verärgert zu sein. Was? Was tun? Ihr den Himmel zeigen oder sie küssen? Nein. Kein Mädchen würde so eine schmalzige Anmachen glauben. Jeder mit klarem Verstand und ein bisschen Rückgrat würde die Sache mit einem Lachen abtun. Dann küssen? War es so offensichtlich gewesen?

„Nächster.“ Es war wie ein Weckruf. Er wollte sie nicht loslassen. Wieso waren ihre Hände an seinen Schultern? Wo kam dieser leichte Druck her, der ihm bedeutete, er solle gehen? Warum waren ihre Hände so weich und warm? Die Stellen, wo sie ihn berührte, wurden heiß. Seine Lippen hatten immer noch die Erinnerung an ihre Fingerkuppen. Doch die nächste Berührung, die folgte, schien jegliches Verlangen Kais zu töten. Liams Hand hatte sich um Kais Oberarm gewickelt und schickte ihn an, endlich von Anna abzulassen.

„Wa-“ Kais Stimme zitterte. Was? Wieso? Nein! Er wollte sie nicht loslassen. Doch bevor er sich in seiner Lage zurecht finden konnte, stand er wieder bei Toki und Ren.

Und was folgte, trieb jedem der Anwesenden die Farbe aus dem Gesicht, bis auf Anna. Liam, verschwiegen, stolz und unabhängig von jedermanns Meinung, legte ein Knie zu Boden. Dieser große, junge Mann war, so wie er da kniete, unterhalb Annas Kinn. Wortlos sah sie ihn, dessen Augen gen Boden gerichtet waren, an. Dann blickte er auf. Es schien eine Ewigkeit zu sein, doch in dieser einen Sekunde, wo sich ihre Blicke trafen, versanken die beiden in einer Welt, die keinen Zutritt für Außenstehende gebot. Liams waldgrüne Augen funkelten wie Baumkronen im Sonnenschein. Doch die Sekunde verging.

„Liam.“ sagte er knapp, stand auf und trat zurück. Niemand konnte glauben, was gerade passiert war. Annas Lächeln kehrte in ihr Gesicht zurück. Sie schaute Liam einige weitere Sekunden lang an, dann stieß sie sich mit ihren Händen von ihrer ungewöhnlichen Sitzgelegenheit ab.

„Super.“ sie klang fröhlich und lief an der Männertruppe vorbei zur Tür. „Wir sehen uns dann.“ Die Tür fiel ins Schloss. Zurück blieb Verwirrung.

„Was zum...“ fing Akira an und ließ sich erschöpft zurück in seinen Stuhl fallen. Er brauchte Wasser.

„Das war intensiv.“ Mirai klang gequält, auch er hatte sich wieder hingesetzt. Kai war komplett in Schweigen versunken. Toki tat es ihm gleich.

„Liam...“ Ren war der erste, der nach einigen Minuten der Stille das Wort erhob. „Was…?“

Man konnte meinen, dass Liam und Ren sich näher stünden, als die anderen Mitglieder des Rates. Immerhin waren sie seit einem Jahr in der selben Klasse. Auch wenn Liam meistens schwieg, schienen die beiden am besten kompatibel zu sein, was 'Freundlichkeit' anging. Liam, dessen Blick bisher auf seine Knöchel geruht hatte, schaute Ren direkt in die Augen.

„Augen.“ seine Stimme war leise. Es war ein Gefühl, als würde der Wind kurz durch die Baumkronen pusten, um die Vögel von einem Mittagsschlaf wecken zu wollen. Alle starrten ihn an. „Sie wollte unsere Augen sehen.“

Adams Erinnerungen

Die Energie hatte seinen Körper verlassen. Kai ging nach Liams Aussage zurück zur Klasse. Er wollte ihn nicht mehr sehen. Er hat ihm die Zeit genommen. Er hat ihm das Beisammensein mit Anna genommen. In dem Moment hat er sie nicht loslassen wollen. Im Nachhinein… Im Nachhinein war es vielleicht besser so. Man konnte es nicht unterschätzen. Man konnte Anna nicht unterschätzen. „Vielleicht ist sie eine Hexe oder so… Medusa.“ dachte er, als er die Klasse betrat. Mädchen fingen an zu kichern. Kais Lächeln erschien wie ein Werbespot auf seinem Gesicht. Kurz, fröhlich, vorbei als er an seinem Platz stand. Vor ihm drehte sich ein Junge um.

„Hey.“ Kai hatte sich nur wenig mit dem männlichen Anteil seiner Klasse abgegeben.

„Yo.“ sagte er gedankenversunken und kramte in seiner Tasche nach etwas. Aber was wollte er überhaupt? Seine Hand gefror. Moment. Beim näheren Hingucken sah er, wie blaue Augen unter einem schwarzen Haarschopf auf ihn gerichtet waren.

„Du bist doch der von gestern...“ erkannte Kai. Kühle lag in seiner Stimme. Was wollte Adam hier?

„Wollt' ich auch gerade sagen. Was wollt ihr von Anna?“ Adam wollte anscheinend nicht lange fackeln. Kai begann zu grinsen.

„Eifersüchtig?“ kicherte er schamlos. Doch Adam schien nicht eifersüchtig zu sein. Er schien auch nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Was war bloß mit dieser lahmen Reaktion? Adam fing an zu lächeln. „Was machst du überhaupt hier?“ fragte Kai, nun sichtlich genervt davon, dass ein Typ überhaupt mit ihm sprach.

„Lernen. Ich sitze seit Anfang des Schuljahres hier, du Idiot.“ entgegnete Adam nun gelassen. Sein Grinsen gab Kai das Gefühl, als würde er sich über ihn lustig machen. Adam stand nun auf und machte Anstalten zu gehen. In der Tür drehte er sich noch einmal um und ging zurück zu Kai. Er legte seine Hand auf Kais Schulter. Dort, wo vorher noch Annas Berührung eingebrannt zu sein schien, brannte nun purer Hass. „Übrigens… Ich bin nicht eifersüchtig. Meine Liebe zu Anna ist unvergleichbar.“ Und es war diese Aussage, diese Bemerkung, mit einem Lächeln gesprochen, die Kai fast zum Würgen zwang. Hass tobte in seiner Magengrube und wollte raus. Er wollte raus, Adam ins Gesicht springen und ihm die Augapfel raus reißen. Er wollte dieses Grinsen zerfetzen. Er wollte es nicht mehr sehen.

Doch alles, was Kai tat, war dazustehen und zuzusehen, wie Adam die Klasse verließ. Unterricht begann. Für Adam schien es ein Meeting im Hinterhof zu geben.
 

Adam war an sich ein fröhlicher, offenherziger Junge. Aber nur für die, die ihn kannten. Er war nicht besonders interessiert an schulischen Leistungen, doch schaffte bei jeder Klausur ca. 70% der richtigen Antworten zu erhalten, ohne jemals zu lernen. Schule war nebensächlich. Er trainierte viel, half vielen Sport-AGs aus und war zur Zeit temporäres Mitglied im Fußball-Club, in dem auch Akira als festes Mitglied spielte. Bald stünde ein Spiel gegen die Nachbarschule an, weshalb er oft zum Training gebeten wurde. Doch nicht jetzt. Die Aprilsonne stand im Zenit und warf heißes Licht auf den Schulhof. Geschützt im Schatten der Bäume eilte er zum Hinterhof, zurück zum bekannten und geliebten Gartenschuppen. Nur Yuki war da.

„Hey.“ sagte er und vertiefte sich wieder in einen Manga. Anna war nicht da. Seufzend ließ sich Adam auf die Decke nieder, die Mika zum Mittagessen ausgebreitet hatte. „Wo ist Anna?“

„Die Queen?“ entgegnete Yuki ohne aufzublicken. „Nicht wieder aufgetaucht.“. Seine Antwort war knapp. Es nervte Adam, nicht zu wissen, wo Anna war. Die Sekunden verstrichen. Sie wurden zu Minuten. Sie wurden begleitet von einer Melodie aus Vogelgezwitscher. Ab und an hörte man den Schulchor.

Ehe er sich versah, war Adam schon in ein Nickerchen verfallen. Es war halb drei, als er die Augen wieder öffnete. Es war nicht mehr so grell, wie zu Mittag. Er packte seine Tasche. Er stupste Yuki gegen die Schulter, der ebenfalls eingedöst war. „Ich hau ab, wir sehen uns morgen.“ Yuki rieb sich den Schlaf aus den Augen.

„Warte, ich komm mit.“

Wahrscheinlich wäre Yuki sehr beliebt gewesen. Er hatte eine gute Figur, er war muskulös. Vom Schwimmunterricht her wusste Adam, dass er auch ein Tattoo auf der Schulter hatte. Yukis rotbraune Haare waren nie wirklich gelegt. Man sah die Anläufe, wie er versucht hatte, das Haar mit Gel zu bändigen. Außerdem hatte er mandelförmige, grünbraune Augen. Das Problem war, dass Yuki eher antisozial war. Anstatt mit Leuten zu sprechen, vertiefte er sich in Serien und Comics. Zum Nachteil wurde es dann auch, als er vor einigen Jahren der Gang beitrat. Von dort an hat kaum ein Mädchen außerhalb der üblichen Truppe ihn angesprochen.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf schlenderten die zwei Jugendlichen durchs Schultor. Es war immer noch Unterricht, aber wie gesagt: Schule war nebensächlich. An der dritten Kreuzung trennten sich die Wege beider Freunde.

„Bis dann.“ Yuki klang nicht besonders aufgeregt.

Als Adam Zuhause ankam, war Stille. Anscheinend war seine Mutter gerade fürs Abendessen einkaufen. Normalerweise quatschte sie sich noch mit den Nachbarn fest, aber gesehen hatte er sie nicht. Das, was Adam als „Zuhause“ betrachtete, war ein schönes, geräumiges Einfamilienhaus. Und da sie nur zu dritt hier wohnten, war noch mehr Platz. Liebevoll hatte seine Mutter das Wohnzimmer mit Zimmerpflanzen ausgestattet. Es stand nur ein kleiner Kaffeetisch da, welcher umringt von Sofas und Sesseln war. Gleich nebenan war die Küche, wo meist zusammen zu Abend gegessen wurde. Mit seinen Zehen streifte sich Adam die Schuhe aus.

„Bin Zuhause...“ gähnte er. Keine Antwort. Er seufzte. Die Tasche fast über den Boden schleifend trabte er die Treppen hoch. Gleich gegenüber der Treppe war sein Zimmer. Es war direkt über der Garage, wo ein Auto und ein Motorrad stand. Das Auto wurde allerdings seit ein paar Monaten schon nicht mehr benutzt. Liebevoll klopfte Adam an die Zimmertür neben seiner. Keine Antwort. Er öffnete die Tür ohne einen Mucks von sich zu geben. „Anna…?“

Anna lag in ihrem Bett. Der Nachttisch wurde beleuchtet von der Nachmittagssonne, die durchs durch das doppelflüglige Fenster ins Zimmer fiel. Ein Buch lag noch aufgeklappt neben dem schlafenden Körper. Anscheinend war es beim Umdrehen vom Bauch gerutscht. Behutsam nahm der Junge das Buch in die Hand, musterte es kurz, legte ein Lesezeichen in die mögliche Seite und ließ es seinen Platz auf dem Nachttisch finden. Bücher über Dämonen, Vampire und Teufel. Adam seufzte.

Anna lag auf der Seite. Diese Sicht verriet ihm, wie immer, was für ein schmales, fragiles Mädchen sie eigentlich war. Ihr Rücken, der ihm entgegen gerichtet war, wurde durch ein altes T-Shirt verdeckt. Die Decke lag nur halb auf ihr. Adam ging in die Hocke und starrte den Rücken an. Die Decke versperrte gerade mal die Sicht auf ihren Po. Vorsichtig, ohne sie wecken zu wollen, hob er das T-Shirt seiner Schwester an und ließ seinen Blick über ihr Rückrat gleiten. Es war deutlich zu erkennen: Kurz über dem Steißbein war ein schwarzer Fleck. Beim näheren Hinsehen erinnerte es an eine Raute. Von ihr aus bahnten sich feine, schwarze Linien den Rücken hoch. Sie gingen nicht besonders weit und endeten meist in abstrakten Formen. Fast sah das Tattoo aus wie der Schatten einer Blume. Nur konnte niemand genau sagen, was für eine Pflanze das eigentlich darstellen sollte. Adam ließ das T-Shirt, was nur an seiner Fingerkuppe hing, wieder fallen, und blickte zu Annas Digitaluhr. 6. April. Normalerweise würde sich Adam langsam Gedanken machen, was er Anna zum Geburtstag schenken sollte. Doch war der ganzen Familie klar, dass dieser Geburtstag nicht wie die bisherigen verlaufen würde. Aus der Sicht eines Menschen war Annas Hintergrundgeschichte wahrscheinlich mehr als lächerlich und unglaubwürdig. Aber was sollte man tun? Anna war nun mal kein Mensch.

Es war vor ein paar Jahren, als man ihr erzählte, was es mit dem Tattoo auf sich hatte. Sie war zu dem Zeitpunkt gerade acht Jahre alt geworden. Damals war sie noch bekannt als fröhliches, offenherziges Mädchen mit Zahnlücken. Ihre Haare waren so zerzaust vom Wind und Bäumeklettern, dass ihre Klassenkameraden sie gerne als Affen bezeichneten. Das hatte sie zu diesem Zeitpunkt nie gestört, sie fand es sogar ganz lustig. Aber es war an dem Abend zu ihrem achten Geburtstag, dass ein Mann in Anzug im Wohnzimmer ihres Hauses auf die Kinder wartete. Ihre Mutter hatte ihm Tee serviert, doch die Tasse war bereits kalt und immer noch unangetastet, als Anna und Adam sich zu ihm setzten. Schon damals wusste Adam, worauf das Gespräch hinaus lief.

„Es ist an der Zeit, dass du erfährst, wer du bist, Anna.“ begann der Mann, ohne sich vorzustellen. Ihre Mutter schwieg. „Man erzählt sich, dass alle paar Jahrhunderte ein Kind geboren werden würde, dass die Macht der Dunkelheit in sich trägt. Diese Dunkelheit verleiht jedem, der sie besitzt, unvorhersehbare Kräfte. Meistens wurden die, die sie erhielten, zu Königen gekrönt.“ Adam erinnerte sich genau. Annas sonst so strahlend blaue Augen waren gebannt auf die Lippen des Fremden gerichtet, in der Hoffnung, bloß kein Wort verpassen zu würden. „Aber Menschen haben solche Kräfte nicht.“ Schweigen. Adam beobachtete Annas Reaktion. Doch es gab keine. Als hätte sie es schon immer gewusst.

„Ich glaube, ich muss nicht noch deutlicher werden, was deine Menschlichkeit angeht. Vielleicht spürst du diese Kraft bis jetzt noch nicht, aber sie wird mit jedem Geburtstag stärker. Du weißt, dass du ein Muttermal auf dem Rücken hast?“ Anna nickte. Auch Adam kannte es. Zu diesem Zeitpunkt war es noch ein Punkt gewesen, der nicht viel größer war als seine Fingerkuppe.

„Es wird größer werden. Jedes Mal, wenn ein Jahr vergeht, wird es wachsen. Und so werden auch deine Kräfte wachsen. In spätestens acht Jahren wirst du genau spüren, was mit deinem Körper passiert. Und dann wird es an der Zeit sein, dass du dir einen Prinzen suchst. Einer, den du lieben und vertrauen kannst. Und er wird dich zu einer Königin machen.“ Der Mann hatte kühle, emotionslose Augen. Seine Haare waren strikt nach hinten gekämmt und liefen aalglatt in seinen Nackenansatz über. Er beobachtete Anna. Adam beobachtete Anna. Ihre Mutter schwieg. Anna schwieg und starrte den Mann an. Ihr Blick verlor sich langsam und schien durch ihn hindurch zu wandern.

„Nun gut. Um den Rest kümmern Sie sich bitte, Frau Kurosawa.“ Es vergingen nur wenige Sekunden, bis der Mann aus der Haustür verschwand.

Annas Mutter setzte sich zu ihr und legte ihre Hände auf die Annas. „Hast du verstanden, worum es ging?“ fragte sie ruhig und liebevoll. Anna nickte wie hypnotisiert. Als wäre jegliche Lebensfreude aus ihr gewichen.

Adam erinnerte sich ganz genau an seine Gedanken von damals: „Warum sagst du nichts? Warum hinterfragst du nichts? Warum bist du jetzt so?“ Es waren die Gedanken eines Neunjährigen.

„Hör gut zu, mein süßer Engel. Bis du diesen Prinzen gefunden hast, darfst du dich nicht hingeben. Keine Küsschen, keine Umarmungen, nur noch mit Mama, okay?“ sie drückte ihre Tochter fest an sich. Damals war ihr Busen noch üppiger und sie hatte mehr Fleisch auf den Knochen. Anna nickte. Doch wieso sagte sie nichts? „Okay. Das ist mein gutes Mädchen.“ sie kniff Anna liebevoll in die Wange. „Nächste Woche gehen wir Onkel und Tante besuchen, okay? Wir werden da ein bisschen bleiben. Und Onkel und Tante werden dir mehr erzählen, ja?“

Anna schien langsam wieder ihre Worte wiederzufinden. „Onkel und Tante?“. Die Mutter nickte. Anna sah aus, als würde sie stark über etwas nachdenken. „Ich werde mal eine Königin sein?“ fragte sie dann aufgeregt und ihre Mutter fing an zu lachen.

„Ja, genau.“

Als Anna 11 Jahre alt wurde, machten sich die ersten starken Veränderungen bemerkbar. Plötzlich wuchs sie in die Höhe, als gäbe es kein Halten mehr. Ihre Gesichtszüge wurden femininer. Ihre Haare länger und voller. Die ersten Jungen machten sich an sie ran. Von Anfang an wusste Adam, dass sie eine Schönheit werden würde. Es war ihr vorherbestimmt. Adam hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Annas Rücken zu kontrollieren, um den „Verlauf der Sache“, wie er es gerne nannte, im Auge zu behalten. An einem Tag erschrak er so sehr, dass er fast schrie. Das Mal hatte feine Linien gen Schulterblätter gebildet, auch wenn sie noch lange nicht heran kamen. Sie reichten nicht einmal bis zum BH, den Anna neuerdings trug. Auf die Frage hin, ob sie einen Jungen geküsst hätte, wurde sie rot, was mittlerweile selten der Fall war. Sie war beschämt. Anna war zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre alt und es war der erste Tag ihrer ersten Periode gewesen.

Nur wenige Tage später gab es eine Schlägerei. Jungen, die auf dem Spielplatz anfingen, Annas Klassenkameraden zu bestehlen und zu schlagen, wollten sich nun Anna vorknüpfen. Adam war auch dort gewesen. Viele Erinnerungen hatte er an den Kampf nicht, nur dass er und Anna am Ende mit blauen Flecken übersät, aber als Sieger, übrig waren. Adam war irgendwie an eine lose Metallstange geraten, die er danach immer noch in seinen Händen hielt. Aber er war ruhig. Es war klar, wofür er da war. Er sollte Anna beschützen. Und er würde nicht vor irgendwelchen Kindern Halt machen. Doch hatte er sich keinen Meter bewegt. Sie hatte es alleine getan. Als er Anna ansah, konnte man ihr pures Entsetzen auf einen Schlag erkennen. Sie hatte eine blutige Nase. Ihre Hände zitterten. Sie war nicht cool. Purer Horror war in ihrem Gesicht geschrieben, als sie zu Boden sank und sich übergab. Sie hatte gekämpft und sie hatte gewonnen. Aber irgendwas war nicht normal. So etwas war nicht normal für ein 12-jähriges Mädchen. Man hörte Wimmern. Man hörte, wie Verletzte unter Tränen nach ihren Eltern riefen. Nur wenige Sekunden, nachdem Annas Magen sich beruhigt hatte, kamen die jungen Mika und Yuki angerannt, im Schlepptau mit ihren Eltern. Die Frauen schrien entsetzt auf, einer der Vater zerrte Anna von den Kindern weg, der andere packte Adam am Arm. Es war diese Situation, die Anna 2 Monate Suspendierung bescherten. Dann folgte fast ein Jahr, in dem sie ihre Zeit wieder bei Onkel und Tante hatte verbringen müssen. Ein Jahr, in dem Adam sie nicht sehen würde. Erst seit ein paar Monaten hatte Adam Anna wieder. Diesmal würde er bei ihr bleiben.

Diese Erinnerungen bissen sich wie Hunde in seine Gedärme. Jedes Mal, wenn Adam zu diesem Zeitpunkt zurück dachte, wirkte alles noch genau so lebendig, wie als es passiert war. Er starrte Annas Rücken weiterhin an. Seit sie acht war, war aus dem kleinen Punkt auf Annas Rücken ein merkwürdiges Gebilde von Formen und Linien geworden. Es zeigte, dass ihre Macht wuchs. Bald würde sie eine Königin sein. Eine dunkle Königin, die bestimmt, wer genau Macht über diese Welt haben und wer dem Untergang geweiht werden würde. Das Mädchen, das einst voller Freude und Hoffnung steckte, wurde gedrillt, um ihre Rolle im Schicksal der Welt zu erfüllen. Und auch, wenn es Adams Aufgabe war, sie auf dieser Reise zu begleiten, spürte er jedes Mal ein kleines Stechen im Herz, wenn er daran dachte, dass er seinen kleinen Affen nie wieder sehen würde. Dieser kleine Affe war gestorben.

Adam stand auf, zog die Decke bis über Annas Schultern und ging in sein Zimmer.

Puppenspieler

Der Schülerrat ist allgemein beliebt an der Schule. Jeder der Mitglieder hatte einzigartige Merkmale an sich und für die Mädchen gab es noch ein dickes Extra: Alle waren heiße Kerle. Sobald einer von ihnen den Raum betrat, füllten sich die Herzen der Mädchen mit Sehnsucht und Verlangen. Es war abnormal. Sie waren vom ersten Jahr an, als sie plötzlich und unangemeldet zusammen in der Schule aufgetaucht waren, beliebt gewesen. Es dauerte nicht lange bis sie die Räume des Schülerrates ihr Eigen nannten.

Ren, der Präsident der Schülervertretung, glänzte nicht nur mit seinem erwachsenen Auftreten, sondern auch mit seinen perfekten Noten und der überdurchschnittlich ausführlichen Buchhaltung, für die er sich freiwillig gemeldet hatte. Auch wenn er kalt wirkte, fühlten sich die Schüler unter seiner Führung sicher. Zwar vermied er es, Kontakt mit Schülern außerhalb seines Aufgabenbereiches zu pflegen, aber jeder verehrte ihn – still und heimlich, um ihm nicht auf die Nerven zu gehen.

Direkt im Anschluss an die Beliebtheitsskala kam Liam. Er kam wohl nicht von hier. Wo war das nochmal… Schweden? Man wusste es nicht mehr genau. Wahrscheinlich lag das auch daran, dass Liam nie etwas über sich erzählte. Tatsächlich redete er so gut wie nie. Selbst, wenn Lehrer ihn aufforderten, eine Frage zu beantworten, enthielt er sich jeglicher Sprache. Irgendwann schien es ihn so genervt zu haben, dass er immer weniger zum Unterricht kam. Und dennoch schaffte er es, seine Noten nahezu perfekt zu halten. Er schien immer in Gedanken versunken zu sein. Seine Augen wanderten oft zum Fenster, wo er irgendwas beobachtete. Jedes Mädchen, das seinem Blick zum Schulhof folgte, konnte aber nichts besonderes sehen. Irgendwann stand es fest: er war ein verträumter, stiller Mann, viel erwachsener und unantastbarer, als sonst irgendein Mann in seinem Jahrgang. Selbst Ren war ein bisschen sozialer.

Man sah Liam und Ren oft mit Mirai umher wandern. Mirai war cool und gelassen. Allerdings hasste er die Groupies. In den ersten paar Wochen, als er in die Schule kam, hatte er draußen mit den AGs trainiert, bis der Platz irgendwann so voller Mädchen war, dass er es sein ließ. „Ihr nervt.“ oder „Verschwindet endlich!“ waren die typischen Antworten. Er war eine Nuss mit harter Schale, aber weichem Kern – das war allen Mädchen von Anfang an klar. Jedes Mal, wenn sie daran dachten, wie er sie mit seinen starken Armen und breitem Rücken beschützen würde, bekamen die Mädchen weiche Knie.

Im Gegensatz zu Mirai machte sich Akira allerdings nichts aus den Groupies. Er machte weiterhin leidenschaftlich Sport und war vor allem oft beim Fußballspielen anzutreffen. Die Jubelrufe ignorierte er jedes Mal gekonnt, wenn es zum Torschuss kam, aber alles in allem schien er wirklich Spaß zu haben, wenn es um Sport ging. Seine ungewöhnliche Haarfarbe, ein stechendes Rot, gab jedem Zuschauer sofort einen Anhaltspunkt, wo er war. Doch am schönsten war es, wenn er vor Freude grinste, wenn sie gewonnen hatten. Denn da sah man genau, wie die goldgelben Augen funkelten. Die Kombination der Haar- und Augenfarbe war unschlagbar, aber es waren vor allem diese Momente, in denen er voller Emotionen steckte, die den Mädchen Grund zum Lieben gaben. Enttäuscht waren sie nur, wenn man Akira außerhalb des Sports antraf – er wirkte genervt, gelangweilt und unausgelastet. Man konnte kein richtiges Gespräch mit ihm anfangen.

Falls man mit jemandem aus dem Schülerrat sprechen wollte, waren es wohl Toki und Kai, mit denen man am besten klar kam. Toki schien unschuldig und lustig. Er hatte zwar oft eine große Klappe, aber das diente stets nur der Unterhaltung der gesamten Klasse. Vom ersten Tag des Transfers an war Toki der beliebteste Junge der Klasse gewesen. Und das beste war: Er war überhaupt nicht scheu. Man umarmte sich zum Abschied, sprach beim Mittagessen gemeinsam an den ungewöhnlichsten Orten (einmal sogar im Wintergarten) und sah sich nachmittags oder abends beim Ausgehen und Shoppen.

Auch Kai war einer der Lieblinge, die gerne für jedes Gespräch zur Verfügung stand. Allerdings begleitete jedes Gespräch ein kleiner Funke von Gefahr – er war ein Verführer. Einfach mit Mädchen. Viele waren schon mit ihm verschwunden, um zu Schwänzen, aber niemand nahm es ihm übel. Trotz des anfänglichen Meidens Kais von der Klasse aufgrund seiner Haarfarbe, war er nun leicht umgänglich. Niemand wusste genau, wann sich das geändert hatte; es war einfach so. Nicht nur innerhalb der Klasse war er beliebt. Das Gerücht, dass er jedes Mädchen lieben würde, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Doch er hatte nie eine Freundin.
 

„Ist das so?“ seufzte Anna und lehnte sich an die kühle Betonwand. Sie schloss die Augen und ließ die letzten Informationen in ihr Hirn schwappen. Mika sah sie konzentriert an.

„Das ist jedenfalls das, was man über sie sagt, ja.“ Sie hatte Anna gerade alles berichtet, was sie in den letzten Tagen über den Schülerrat gesammelt hatte. Die Gründe für die jeweiligen Transfers der Jungen waren immer noch Rätsel, die gelüftet werden mussten.

Es waren nun fast schon anderthalb Wochen vergangen, seit sich die Herren bei Anna vorgestellt hatten. Sie hatte jeglichen Kontakt mit ihnen gemieden. Es war Montagmorgen, die Luft heute war kühl und es sah nach Regen aus. Anna versank in ihrem karierten Blazer und lockerte ihre Krawatte. Mika seufzte.

„Wieso interessierst du dich eigentlich für die? Sie sind mega arrogant. Außerdem hast du dich bisher nie für Jungs interessiert.“ Sie blickte nachdenklich gen Himmel, während Annas Blick auf Mikas Schuhe gerichtet waren. Eine Ameise versuchte, ihren Weg zum Bau über den Schuh zu finden. Schweigen machte sich breit. Die Mädchen waren alleine. Der Schulhof war so gut wie leer, niemand hatte wirklich Lust, sich bei diesem Wetter draußen aufzuhalten.

„Man muss seine Feinde kennen, Mika.“ sagte Anna dann endlich gelassen. Sie hatte ihre Beine angewinkelt und ihre Arme über ihnen verschränkt, um ihren Kopf auf den Knien abzulegen. Mika guckte kurz zu ihr, seufzte dann und reichte ihr die Papiere mit Stichpunkten über den Schülerrat. „Hab's dir ausgedruckt. Ich geh mir 'nen Kaffee holen, wir sehen uns später.“

„Okay.“

Die Vögel zwitscherten nicht. Seit Tagen hatte Anna das Gefühl, keinen Schlaf zu kriegen. Es waren nicht Alpträume, die sie plagten. Einen festen Schlaf zu haben war eines der vielen Talente der zukünftigen Königin. Dennoch wurde es immer schwieriger, jeden Morgen aufzustehen und zur Schule zu kommen. Anna schloss müde die Augen und ließ die leichte Brise über ihren blonden Haarschopf gleiten. Ihr Pferdeschwanz wurde leicht vom Wind mitgetragen. Plötzlich: Schritte.

Anna war zu müde, um den Kopf zu heben.

„Ich hoffe, du hast mir einen mitgebracht, sonst schlaf ich gleich ein...“ murmelte Anna leise.

„Was mitgebracht?“ Es war eine junge, männliche Stimme, merkwürdig unbekannt. Anna hob den Kopf nun doch.

Toki stand da mit seiner Tasche. Es war halb elf, Zeit für Unterricht, und trotzdem stand er da im Hinterhof bei Anna. „Geht's dir nicht gut?“ man hörte unterschwellige Sorge in seiner Stimme. Das Mädchen seufzte.

„Mir geht’s gut.“ Sie sagte das, damit er gehen würde. Sie wollte sich im Moment nicht mit ihrer Verlobung auseinander setzen. Doch für Toki war es eine Einladung, nach zu fragen. Er ging die paar Meter, die ihn von Anna trennten, und hockte sich vor ihr ins Gras. Seine blauen Augen schimmerten. Sie waren ungewöhnlich groß und mit langen Wimpern geprägt. Nicht besonders männlich, aber irgendwie süß.

„Was?“ Anna konnte nicht anders, als genervt zu klingen. Das Wetter bereitete ihr Kopfschmerzen.

„Du siehst blass aus.“. Toki legte eine warme Hand auf Annas Stirn. „Und du bist ganz kalt. Ich glaub, du wirst krank.“. Seit wann ließ sich eine Königin von einem Fremden anfassen? Mit diesem Gedanken im Kopf drückte Anna die Hand des besorgten Jungen weg und machte Anstalten, aufzustehen. „Danke, mir geht’s gut.“. Tokis Gesicht verzog sich mit Sorgen. Er schien nachzudenken. Wäre sie nicht aufgestanden, hätte sie vielleicht hören können, was sich da in seinem Kopf abspielt.

„Kannst wohl nicht richtig schlafen, hm?“ sagte er mit einem Anflug von einem Lächeln. Es schaffte aber nur halb in seine Mundwinkel und gab Toki eher ein schiefes Grinsen, als sonst was.

„Ich schlafe wie ein Stein.“ entgegnete Anna schroff und griff ihre Tasche.

„Ich hab' 'ne Idee.“ erwiderte Toki und folgte Anna aus dem Hinterhof raus. „Wie wär's, wenn du mal früh schlafen gehst, um drei Uhr aufwachst und was trinkst? Am besten stellst du dir eine Wasserflasche neben's Bett.“. Was war das denn für ein Vorschlag?

„Was ich brauche ist wahrscheinlich MEHR Schlaf, nicht weniger. Ich stell' mir doch keinen Wecker um mitten in der Nacht aufzustehen.“ Nun lachte Toki endlich. Er schien nicht mehr besonders besorgt oder nervös zu sein.

„Da hast du wahrscheinlich recht, dumm von mir. Sorry.“ Er ging in den Seitenflügel des Hauptgebäudes, winkte nochmal kurz, und war weg. Wahrscheinlich trafen die Informationen über Toki zu, dachte sich Anna. Er gab bei weitem das klarste Gefühl, bei ihm willkommen zu sein.

Doch Anna war müde. Sie ging auf die Krankenstation, ließ Zuhause anrufen und wurde nach Hause geschickt. Ohne Umschweife zog sie sich in ihrem Raum aus und fiel ins Bett.

Gegen Nachmittag wachte sie auf. Man roch Reis und Eintopf. Annas Magen verdrehte sich vor Hunger. Ihre Mutter hatte wohl eine leicht verdauliche Suppe gemacht und Reis als Grundlage dazu gelegt, damit Anna etwas im Magen hatte. Adam war beim Fußball. Mittlerweile regnete es und Annas Mutter war immer noch nicht Zuhause. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits halb vier war. Das Mädchen bewaffnete sich in der einen Hand mit einer Suppenschüssel und in der anderen Hand mit einer Wasserflasche. Vielleicht wurde sie wirklich etwas krank.

In ihrem Zimmer angekommen, schmiss sie die Wasserflasche ins Bett und setzte sich an ihren Schreibtisch, um die heiße Suppe zu essen. Eines ihrer Bücher lag neben ihr. Warum nicht neben dem Essen lesen?

Es war ein dickes Buch mit vergilbten Seiten, versteckt in einem schwarzen Cover. Es trug den Namen „Dämonologie und Esoterik“. Nicht besonders Annas Lieblingslektüre, aber seit sie vor ein paar Jahren bei Onkel und Tante gewesen war, schickten sie ihr alle paar Monate neue Bücher. Dämonen, Teufel, Vampire, Götter und Halbgötter… mittlerweile hatte sie wahrscheinlich schon fast alles darüber gelesen. Sogar Hexenzirkel oder Beschwörungsformeln waren seit langem keine Fremdsprache mehr für die 15-Jährige.

„Und das heutige Thema iiiiist….“ sagte sie in einem gelangweilten Ton und ahmte einen Talkshow-Moderator nach, während sie Seiten durch ihre Finger gleiten ließ. „Feuerteufel.“

Die genaue Herkunft oder Entstehung von Feuerteufeln ist unbekannt. Man sagt ihnen nach, sie seien Geister verurteilter Pyromanen, doch Mythen ranken sich schon seit mehreren Jahrhunderten um sie. Feuerteufel leben alleine. Man sagt, wenn man im Winter Glühwürmchen sieht, ist das ein Anzeichen dafür, dass einer von ihnen neue Opfer sucht und versucht, sie mit diesem Licht zu locken. Andere Legenden erklären, dass Seelen, die für tausend Jahre in der Hölle brennen, böse werden und zu solchen Feuerdämonen werden. Aha.
 

„Also nichts halbes und nichts ganzes...“ seufze Anna und ließ das Buch auf den Schreibtisch fallen. Die Suppe war leer. Wer würde denn so eine schwach belegte Legende glauben? Natürlich gab es immer wieder Geschichten über Vampire oder Dämonen, aber das ist heutzutage eher ein urbaner Mythos und meist leider auch die Grundlage jeder kitschigen Teenie-Show. Wenn man so darüber nach dachte, würden die meisten bösen Kreaturen doch wohl eher Angst und Schrecken verbreiten, als um die Liebe einer Sterblichen zu kämpfen, oder? Wie lächerlich. Und doch…

Anna ging wieder zurück ins Bett. Das Licht war aus und sie starrte an die Decke. Und doch war sie in dieser Situation. Diese Männer, die ihr Herz erobern wollten, waren keine Menschen. Selbst Anna war keiner. Doch sie waren nicht so, wie Anna. Sie waren nie menschlich gewesen, hatten nie eine Kindheit gehabt und die Wörter „Freunde“ oder „Liebe“ waren ihnen fremd. Selbst, wenn zum Beispiel Feuerteufel mal verlorene Menschenseelen aus der Hölle waren, haben sie mit dem Dämonensein wahrscheinlich jegliche menschliche Natur abgelegt, oder? Anna seufzte. Warum konnte sie keinen Menschen lieben? In den letzten paar Jahren hatten sich die Anfragen bezüglich ihrer Person gehäuft. Viele Jungen haben schon gefragt, ob sie Lust hätte, sich mal zu treffen. Manchmal bekam sie Liebesbriefe. In seltenen Fällen erklärten ihr sogar völlig Fremde ihre Liebe. Und in solchen Momenten dachte sie sich immer: Das soll es sein? Das soll Liebe sein? Ich fühle mich aber nicht anders. Kein Herzrasen, meine Brust zieht sich nicht schmerzhaft zusammen, ich bekomme keine weichen Knie, geschweige denn, dass ich rot werde. Nein. Sie konnte keinen Menschen lieben, nur ihre Familie, und das wahrscheinlich auch nur, weil ihre Mutter so behutsam mit ihr umging. Anna war sich auch ziemlich sicher: nur weil sie 'nicht menschlich' war, hieß das noch lange nicht, dass ihre Mutter und Adam keine Menschen waren. Das stand eigentlich so gut wie fest: Für sie war ihre Familie so menschlich, wie es nur ging.

Langsam fingen Annas Gedanken an, sich im Kreis zu drehen. Erschöpft schloss die Blondine die Augen und ließ die Gedanken vom Regen wegwaschen, bis sie wieder schlief. Einmal meinte sie, die Tür wäre aufgegangen und ließ ein Lichtstrahl vom Flur rein. Adam? Die Tür wurde wieder geschlossen. Nur wenig später, so schien es, öffnete Anna die Augen. Ihr Blick suchte automatisch ihre Uhr, die auf dem Nachttisch ruhte. Es war drei Uhr morgens. Ein Geräusch riss ihren Blick von der Uhr los, obwohl sie sich gerade mit dem Gedanken angefreundet hatte, weiter zu schlafen. Das Fenster stand offen. Es regnete nicht mehr, dennoch waren Tropfen auf der Fensterbank. Ein kleiner Halbmond gab Licht ins Zimmer: Der Schreibtisch, die Kommode, der Schrank, das Bett, das Regal. Nichts außergewöhnliches. Erschöpft stand Anna auf, um das Fenster zu schließen. Keine Schatten, die ihr Angst machten, keine Geräusche, die Unwohlsein in ihr auslösten, keine Blicke, die sich in ihren Nacken brannten. Nichts. Und als sie am nächsten Morgen aufwachte, war sie das erste Mal seit anderthalb Wochen wieder komplett ausgeruht.
 

„Kai, du siehst noch blasser aus, als sonst. Geht's dir gut?“ eines der Mädchen aus der Klasse fing den Jungen am Schultor ab. Er sah sie nachdenklich an. Schlafen war in letzter Zeit nicht wirklich drin für ihn. Seit Tagen musste er an das Gefühl von Annas Fingerspitzen auf seinen Lippen denken. Es war so ein liebliches Prickeln gewesen, sodass er jedes Mal, wenn er das Gefühl zurück in die Erinnerung rief, angenehme Gänsehaut bekam. Er lächelte. Das Mädchen schien überrascht. Er lehnte sich zu ihr, um seine süßen Worte in ihr Ohr zu hauchen. Sie wurde rot und nickte.

„Bis später.“Ihre Stimme war klein und beschämt.

Es war wie immer, oder? Niemand konnte nein zu ihm sagen. Fast niemand. Wieso träumte er nur von ihr? Anfänglich waren es nur die Erinnerungen an diesen Nachmittag. Dann wurde es mehr. Ren, Mirai, Liam, Toki und Akira verschwanden immer mehr aus diesem Tag. Plötzlich waren es nur noch sie und er gewesen. Sie war so leicht, dass er überrascht war, als sie auf seinem Schoß saß. Als ihre Haut seine Kleidung berührte, fühlte es sich an, als würde die Uniform verbrennen. Ihre Hände suchten seine Haut. Ihre Fingerkuppen, die er nur einmal schmecken konnten, fuhren erneut über seine Lippen und gaben ihm das Verlangen, sie küssen zu wollen. Seine Zunge streckte sich den schmalen, langen Fingern entgegen. Er schloss die Augen, wollte den leicht salzigen Geschmack der zarten Haut wertschätzen. Er hörte sie kichern und seinen Namen sagen. Es waren die süßen Seufzer, die er normalerweise anderen zuflüsterte, und plötzlich zu ihren wurden. Ihre Worte prasselten wie sanfter Regen auf seine Ohrmuschel, seinen Hals, seine Wangen. 'Komm noch ein bisschen näher.' dachte er sich in diesen Momenten immer, 'noch ein bisschen näher, damit ich diesem Mund solche Wörter verbieten kann.' Und dann würde er sie küssen. Unzählige Male. Und auch wenn ihr Körper leicht wie eine Feder wäre, so würde er sie nicht von seinem Schoß reißen können. Denn er mochte dieses leichte Gewicht. Es fühlte sich an, als würde es ihn an diesen Traum fesseln. Ein Traum, in dem ihre kleinen Hände seinen Rücken streichelten und warme Spuren der Zuneigung hinterließen. Wo ihre Zunge so weich war, dass ihm die Lippen bebten nach jedem Kuss, der sich löste. Wo er den Vanilleduft ihrer Haare einatmen konnte, so lange er wollte. Wo ihre Augen nur ihn anschauten. Es war dieses Verlangen, was nie gestillt werden könnte, und was es gleichzeitig so unwirklich schwer machte, sich im Schach zu halten.

Kai stand am Schultor. Geschlagene drei Minuten verbrachte er damit, sich an seinen letzten Traum zu erinnern. Seit wann ließ er sich von Mädchen kontrollieren? Sie waren seine Marionetten. Er würde diesen Traum nicht akzeptieren. Es ist das Verlangen, etwas haben zu wollen, was man nicht haben kann – sobald er es haben würde, würde Anna ihm wahrscheinlich zu langweilig werden. Und das war mehr Genugtuung als jeder Kuss. Der Ausdruck in ihren Augen, die im Moment noch so lebendig sind, im Vergleich zu ihrem Blick, wenn ihr komplett das Herz zerstört werden würde. Der Blick, wo ihr jede Hoffnung auf Liebe und Zukunft geraubt werden würde. Das ist der Moment, den Kai anstrebt. Denn nichts tut ihm besser, als verliebte Mädchen leiden zu sehen.

Seine Füße trugen ihn ins Schulgebäude. Seine Klasse war im 2. Stock, viele der Klassenmitglieder waren schon da. Es hatte gestern noch geregnet, doch hatte es gegen Mitternacht aufgehört. Trotzdem lungerte das Gefühl von Unwetter noch in der Luft, weshalb sich es wohl einige lieber im Bett gemütlich gemacht hatten, als zur Schule zu kommen. Doch Kai hasste dieses Wetter nicht.

Er ging zu seinem Platz und setzte sich hin. Vor ihm war der verhasste, schwarze Wuschelkopf, den er mittlerweile eindeutig Adam zuordnen konnte. Seit dem Gespräch letzter Woche hatte dieser Mensch ihn keines Blickes mehr gewürdigt. Was war seine Beziehung mit Anna? Hatten die beiden was am Laufen? Sein Blick ruhte auf den vermeintlichen Konkurrenten. Dann setzte Kai sich.

Die Minuten liefen an ihm vorbei. Sie fühlten sich an, wie zäher Kaugummi, den man nicht von der Schuhsole abkratzen konnte. Erste Stunde vorbei. Zweite. Er konnte es nicht mehr ertragen.

„Ayumi.“ sagte er laut in der Pause und winkte das Mädchen von heute morgen an sich ran. Sie war süß. Sie hatte voluminöses, braunes Haar, das einen leichten Rotstich hatte. Kastanienbraune Augen funkelten ihn erwartungsvoll an, als sie zu ihm rüber hastete.

„Ja?“ erwiderte sie liebevoll.

„Adam.“ sagte eine andere Stimme. Eine klare, helle Stimme. Sie hallte wie eine Trillerpfeife in Kais Ohr wieder. Er drehte sich um. Im Türrahmen stand ein großes, blondes Mädchen. Ihre Haare wurden in einen Dutt geknotet, während einige Strähnen wild umher zottelten.

„Aaah, Anna!“ Adams Antwort war voller Freude. Voller Glück. Kai hasste ihn in diesem Moment so sehr, wie sonst keinen.

„Wir haben ein Problem...“ Anna ging auf Adam zu. Was für ein Problem? Hatte sie heraus gefunden, wer die Leute vom Schülerrat wirklich waren? Gab es eine Schlägerei? Was? Ein zaghaftes Ziepen an seinem Kragen brachte Kai dazu, seinen Blick von Anna abzuwenden. Ayumi stand vor ihm, gerötete Wangen. Sie schien außer Atem zu sein. Waren alle Vorsätze, die Kai sich heute morgen gemacht hatte, alleine durch Annas Stimme zu Staub zerfallen?

„Ich… Ich hab den Text für Geschichte schon gelesen. Wir könnten schwänzen, wenn du willst.“ sagte das kleine Mädchen beschämt. Er blickte sie an. Sie war fast so groß, wie Anna. Nicht so lange, blonde Haare vielleicht. Ihre Gesichter sahen sich null ähnlich. Kai lehnte an seinem Tisch, blickte zu ihr hinunter. Der Größenunterschied erinnerte ihn an seine Vorstellung vor anderthalb Wochen. Ayumi schaute beschämt zur Seite.

„Warum starrst du so?...“ fragte sie nervös. Zwei Knöpfe ihrer Bluse waren geöffnet. Eine kleine Kette baumelte an ihrem Hals hinab und ließ den Anhänger in ihren Ausschnitt sinken. Wie kommt es, dass sie in so einer Situation so klein und zerbrechlich aussah, während Anna ihm das Gefühl gegeben hatte, zu unterliegen? Wie kommt es, dass er, der relativ groß war und sich vor Ayumi wie ein Riese fühlte, sich in Gedanken immer wieder in einer Situation wieder findet, wo Anna größer ist, als er?

„Ja, lass uns gehen.“ Kai grinste. Nein, er machte sich unnötig Gedanken. Die Träume verwirrten ihn. Er griff das Mädchen am Unterarm und ging Richtung Tür. Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr.

„Ja, sie scheint Ärger zu haben.“.

„Nicht wirklich unser Problem, oder? So, wie sie sich das letzte Mal aufgeführt hat, braucht sie nicht glauben, dass wir ihr so einfach helfen kommen.“

„Adam, bist du blöd? Natürlich...“ Anna wollte ihren Satz beenden, aber sie bemerkte, dass Kai vor ihr stehen geblieben war. Schon wieder. Schon wieder diese Situation. Er war einen Kopf größer als sie, doch ihre Augen schienen auf der selben Höhe zu sein. Er schwieg. Zorn bebte in ihm. Anna sah an seiner Hand vorbei und erblickte Ayumi, die nun selbst in ihren Schritten erstarrte.

„Hey, ist das nicht…?“ fing die Brünette an, doch Kai gebot ihr mit einem festen Druck auf ihrem Arm, die Klappe zu halten. Anna lächelte.

„Hi.“ Ihre Stimme war charmant und man merkte, sie hielt sich nicht mit Freundlichkeit zurück. „Oh, stehe ich im Weg?“ fuhr sie fort. Ayumi versteckte sich hinter Kais Rücken und schien immer kleiner zu werden. Automatisch streckte er sich, um die Sicht von oben deutlich zu machen.

„Ja.“ seine Stimme, die sonst sanft und verführerisch klang, wurde kalt. Sein Blick, der sonst Mädchen zum Naschen einlud, wurde finster.

„Ah. Ich könnte zur Seite gehen, oder?“ lachte Anna und ging einen Schritt zur Seite, was sie sofort wieder rückgängig machte. „Andererseits...“ fuhr sie fort und spielte mit eine Strähne ihres Ponnies, „Warum sollte eine Königin anderen Platz machen?“.

Jedes Gespräch in der Klasse starb. Keiner schaute wirklich zur Tür, aber wenn Ohren sich drehen könnten, hätten es gerade viele getan. Niemand wollte Kais Reaktion verpassen, vor allem nachdem jeder das Gerücht gehört hatte, dass die Queen und der Schülerrat im Krieg waren. Was sollte Kai antworten?

Er ließ Ayumi los, legte seine Hand auf Annas Schulter und drückte sie schroff zur Seite. Sie prallte gegen den Türrahmen. „Ich sehe hier keine Königin.“ hisste er zwischen seinen Zähnen hervor, packte sich das braunhaarige Mädchen und verschwand im Flur. Adam war drauf und dran, Kai hinterher zu jagen, doch Anna hielt ihn davon ab: „Wir haben andere Probleme.“
 

Endloser Zorn. Es ist lange her, seit er so ein Herzrasen hatte. Kai lief hastigen Schrittes Richtung Treppenhaus. Er kannte ein leeres Klassenzimmer, das gerade als Lagerraum benutzt wurde. „Hey...Warte…!“ Ayumis Meinung war ihm egal. Er wollte sie gerade nur noch besitzen. Im Klassenzimmer angekommen, schmiss Kai die Tür hinter sich ins Schloss. Er setzte das Mädchen auf einen der Tische und sich selbst gegenüber. Nach drei tiefen Atemzügen fuhr er sich mit der Hand durchs violette Haar, schloss die Augen und seufzte tief.

„Was?“ fragte Ayumi genervt, als wüsste sie, was in ihm vorginge. „Sag mir nicht, du findest sie hübsch.“ Was denn, was denn? Eifersucht? Ernsthaft? Hat dieses dumme, kleine Mädchen die Situation nicht ganz begriffen? Kai schaute zwischen seinen Fingerspalten zu ihr hin, während er langsam die Hand sinken ließ. Dann lächelte er.

„Diesen Rambo hübsch finden?“ Er kicherte. Er klang wieder sanft und weich, der perfekte Verführer. Dann fuhr er mit seiner Hand durch ihr offenes, braunes Haar. Es war schulterlang. Vielleicht ein bisschen zu lang. Beim Sex hat man überall die Haare der Frauen, wenn sie die ganze Zeit durch die Gegend fliegen. Irgendwie fühlte es sich auch ein bisschen schmutzig an. Rostbraun ist auch keine besonders hübsche Farbe. Hätte sie vielleicht nicht zentimeterdick Make-Up auftragen können? Sein Zeigefinger fuhr über ihre Wange. Es war, als würde man Creme verstreichen. Die Hand zog Linien über ihren Hals, dann über ihre weiße Bluse. Sie trug einen rosafarbenen BH. Hoffentlich merkte sie nicht, dass er sich die Finger daran abwischte, während er die Knöpfe der Bluse öffnete. Er hatte keine Lust auf Stress. Ihre Hände suchten sein Gesicht. Warum waren die Finger so rau? Sie glitten über seine Wange, gingen unter sein Kinn und zogen es an sich heran. Ihre Lippen trugen Spuren von Lippenstift und sahen trocken aus. Er küsste sie und schmeckte Rauch. Nicht die erste, die so schmeckte. Ayumi setzte sich auf seinen Schoß. Was machte Kai sich eigentlich für Illusionen? Gerade saßen fast 60kg Frau auf ihm und es fühlte sich schwer an. Anna war größer, sie würde bestimmt sogar noch schwerer sein. Ayumi leckte über Kais Hals. Ihre Augen waren geschlossen. Anna würde sich auch nicht besser anfühlen, sagte der Junge sich. Sie hat zu lange Haare. Weiß nicht mal, wie man sich schminkt und hübsch macht. Kais Hand legte sich auf Ayumis Kopf und zogen ihn zur Seite, um ihren Hals zu entblößen. Die Kette war im weg, er riss sie ab. Nach kurzen, lieblosen Küssen, folgte seine Zunge, die fast unsichtbare Spuren über die Halsschlagader zog, bevor er rein biss.

Immer wieder Kiki

Von Anfang an unbeliebt zu sein, war nicht leicht für Kitani Kimiko. Sie wechselte im selben Jahr an die Nordsternschule, wie der Schülerrat, aber niemand schenkte ihr je wirklich Beachtung. Nicht mal ihr Spitzname – Kiki – schien sonderlich populär mit ihrer Klasse zu sein. In ihrer Klasse ging sie in der Ignoranz aller unter. Waren Transferschüler nicht aufregend? Hatte niemand Fragen? Nein. Niemand. Weil sechs heiße Kerle gerade mal drei Tage vor ihr ihr Debut in dieser Schule hatten. Kiki konnte es nicht leugnen: Sie waren Eyecandy. So nannte sie den Schülerrat damals gerne. Doch nur im Zusammenhang mit Gerüchten, die sie hier und da aufschnappte und weiter erzählte. Es dauerte nicht lange, bis die Mädchen aus ihrer Klasse dem Einhalt geboten wollten. Erst waren es Sätze, wie „Du bist echt fies. Du kennst die Jungs doch gar nicht, wieso erzählst du sowas?“ bis es schließlich zu Kommentaren wurden, wie diese: „Nur weil das kleine Schwein niemals so jemanden abkriegen würde, muss sie doch nicht so laut rumplärren. Uns ist allen klar, dass du alleine stirbst, also stirb bitte leise.“

Mobbing ist kein Fremdwort für Kiki. Das war eigentlich sogar der Grund dafür, dass sie die Schulen gewechselt hat. Es dauerte nicht lange, bis man ihr Streiche spielte. Ihr Mittagessen landete im Schulhof. Irgendjemand hatte es einfach aus dem Fenster geworfen, zusammen mit ihrer Tasche. Kiki schwieg darüber, doch sie musste an dem Tag erneut weinen. Während sie die Sachen ihrer Tasche im Hof zusammen suchte, wischte sie sich immer wieder mit ihren Händen die Tränen aus den Augen. Das Fenster in der Klasse war offen, sie durfte nicht laut losheulen. In diesem Moment sah sie, wie einige Leute hinter dem Gebäude verschwanden. Ohne viel nachzudenken folgte sie ihnen einfach. Warum auch zu einem Ort zurückkehren, wo man konsequent gehasst wird? Das war der Tag, an dem Kiki Anna kennen lernte. Es war vor einem Monat. Kiki wurde freundlich aufgenommen. Erstaunlich dafür, dass sie eigentlich niemand leiden konnte, und dass man von Anna sagte, sie sei ein gemeingefährlicher Mörder. Sie konnte nie genau sagen, ob es aus Jux und Tollerei oder aus Boshaftigkeit geschah, aber an einem Tag stellte Anna sie auf die Probe.

„Du willst offiziell dazu gehören? Pass auf. Du gehst zum Schülerrat, stellst dich als mich vor, und findest raus, was die wollen. Ich habe keine Lust mich mit solchen Snobs abzugeben.“ Es gab keine Widerrede. Denn zum ersten Mal bot man Kiki einen Platz zum Bleiben an. Doch an diesem Nachmittag fand sie heraus, wie angsteinflößend dieser Platz, der ihrer hätte sein können, eigentlich war.

Sie hatte sich eine Woche lang nicht in die Schule getraut, aus Angst, der Schülerrat könnte ihr übel nehmen, dass sie sich als wen anders ausgab. Anschließend mied sie jeden Kontakt mit Leuten aus der „Gang“, wie sie sich nannten. Tch. Was für Angeber. Aber da sie sich lange nicht gemeldet hatte, hatte sie auch bei ihnen wieder Angst, sie könnten es ihr böse nehmen. Doch nichts. Weder von der einen, noch der anderen Partei. Und plötzlich fand sich Kiki alleine wieder. An dem Ort, wo sie Anna damals getroffen hatte, nun umringt von Feinden.

Mädchen aus ihrer Klasse hatten sie eingekesselt. „Na dann, Kiki. Erzähl mal. Die Jungs aus dem Schülerrat wollten dich also vergewaltigen, ja?“ Egal was sie sagen würde, niemand würde ihr glauben, oder?

„Ja, ich sag es doch. Die sind alle mega kaputt in der Birne...“ knirschte sie leise. Die Angst trieb ihr die Tränen ins Gesicht. Ein Kloß verhinderte, dass sie richtig atmen konnte. In flachen Zügen schnappte sie nach Luft.

„Oh mein Gott, halt endlich die Fresse!“ ein Tritt in die Magengrube, mehr brauchte es nicht um Kiki dazu zu bringen, den Kloß auszuspucken und anzufangen, tiefe Schluchzer von sich zu lassen.

„Ich lüge nicht, wirklich!“ Kiki war verzweifelt. Was war das für eine verkehrte Welt, in der man dafür bestraft wurde, die Wahrheit zu sagen?

„Mirai hat mir sogar den Kragen vom Hemd abgerissen…!“ fügte sie hinzu, als wäre es ein eindeutiger Beweis.

„OH BITTE! Ausgerechnet Mirai? Der Adonis unter ihnen? Der Mädchen nicht eines Blickes würdigt? Was will er mit einem Schwein wie DIR!“ Erneute Tritte, erneute Schluchzer.

„Wenn ihr mir nicht glaubt… Fragt doch die Queen!“ das war das letzte, was die Mädchen hören wollten.

„Dieser Bitch glauben wir kein Wort.“ Wie lange ist es her, dass Kiki solche Schmerzen gefühlt hatte? Sie kauerte sich zusammen und beschützte ihren weichen Oberkörper mit den Armen. Es war eine automatische Reaktion auf Gewalt. Ihr Gesicht lag in dem Gras, wo sie vor ein paar Tagen noch mit den anderen Mittag gegessen hatte.

„Ey.“ Die Tritte hörten auf. Kiki musste nicht den Kopf heben, um zu sehen, wer es war.

„Ihr glaubt also, ihr könnt einen meiner Leute auch noch in MEINEM Hinterhof verprügeln?“ Die Worte rasten an den kleinen Ohren Kikis vorbei. Anna war gekommen. Sie hatte Adam im Schlepptau.

„Oh, wenn es nicht unsere Prinzessin Anna ist.“ Die Mädchen ließen von Kiki ab. Anna lächelte und sprach mit den Mädchen. Es waren keine freundlichen Worte, doch Kikis Schluchzen verhinderte es, dass sie Anna hören konnte. Adam hielt Kiki fest, half ihr beim Aufstehen und begann, sie weg zu bringen. Und plötzlich hörte man ein Schellen. Eine Hand war so schnell auf Annas Wange nieder geprasselt, dass es wirklich klatschte. Aber Adam blieb nicht stehen: Er brachte Kiki Richtung Nebeneingang des Hauptgebäudes.

„Du musst Anna helfen...“ schluchzte diese, immer und immer wieder, ohne zu merken, dass sie bereits auf dem Weg zur Schulschwester war. Adam setzte sie in eins der gemachten Krankenbetten und holte die Lehrerin. Immer wieder hörte man unter Tränen „Du musst ihr helfen.“ Warum kümmerte sich die rechte Hand Annas um sie und nicht um die Königin selbst? Adam setzte sich neben Kiki aufs Bett. Er drückte sie an sich und streichelte ihr beruhigend über den Arm.

„Ist schon gut. Anna geht es gut. Ist bei dir alles okay?“.
 

Kai starrte aus dem Fenster. Er suchte sie. Ayumi döste auf den Tischen. Es war wohl ein bisschen zu hart für sie gewesen. Plötzlich sah er, wie Adam mit einem fremden Mädchen wegging. Es war nicht Anna. Moment… War das die von neulich? Wo kamen sie her? Hinter dem Gebäude?

Ehe er es genau wusste, stand er schon auf den Füßen und eilte die Treppen hinunter. Es gab einen Seitenausgang, der nach ein paar Metern zum alten Gartenschuppen führte, wo der Hausmeister seine Werkzeuge für den Haupthof aufbewahrte. Es war nur ein sehr kleiner Hinterhof, der meiste Platz wurde durch einen großen Ahornbaum gestohlen, der inmitten einer Graswucherung wuchs. Aber wenn sie da war…

Kais Herz raste. Er konnte nicht glauben, was er da sah. Weinende Mädchen. Irgendwo kam Blut her. Anna wischte sich gerade mit dem Ärmel ihres Blazers die eigene, Blut spuckende Nase ab. Sie hatte den Baseballschläger in der Hand. Auch an ihm klebte Blut. Sie atmete schwer. Ihr Zopf, der sowieso schon ein paar Strähnen fallen gelassen hatte, war nun komplett zerzaust. Sie sah aus wie ein gerupftes Huhn. Ihre Knie bluteten. Ihre Wange war puterrot gefärbt.

„Ahhh...“ Sie seufzte. Ihre sonst so feminine Stimme klang um einiges schroffer als üblich. Kai starrte sie an. Wie konnte sie, in einer Masse von blutenden, weinenden Mädchen, die überseht waren mit blauen Flecken und Kratzen, die sie ebenfalls trug, immer noch so wunderschön aussehen?

„Ah.“ Sie hatte ihn bemerkt. „Was los?“ Sie ließ den Baseballschläger sinken. Mit einem stumpfen Geräusch berührte er die Graslandschaft. Kai schluckte seine Verblüffung hinunter und versuchte, gefasst zu wirken.

„Was ist hier passiert?“ Er versuchte, locker zu klingen, fast als würde es ihn überhaupt nicht interessieren, warum sie so aussah.

„Oh.“ Sie hob den Schläger wieder an und drehte ihn in ihrer freien Hand. Die Fingerspitzen, die einst auf Kais Lippen lagen, rieben gerade den Dreck, gemischt mit Blut, vom kalten Metall. „Ich glaube nicht, dass dich das irgendetwas angeht, oder?“ Sie lächelte. Während des Lächelns lief Blut aus ihrer Nase. Hastig wischte sie es weg. Kais Gedanken rasten.

„Es geht mich etwas an. Ich sitze im Schülerrat, wir beschützen die Schüler.“ Anna schnalzte hämisch mit der Zunge.

„Ach wirklich? Gehört zum Beschützen auch das Vögeln?“ Sie schaute ihm direkt in die Augen. Sie war überheblich.

„Was ich in meiner Freizeit tue, ist privat. Das hier… ist eine Schulangelegenheit.“ Schritte waren zu hören. Es dauerte nur einige Sekunden, bevor Ren, Akira und Toki auftauchten. Toki japste beim Anblick der Mädchen, während Ren sofort zu ihnen eilte, um ihnen aufzuhelfen. Kurz danach kam Liam und half Ren.

„Sind ja fast alle da...“ murmelte Anna seufzend. Ihr Lächeln verschwand.

„Anna, was hast du gemacht?“ Toki klang besorgt. Er sah ihren Körper an und wusste, dass er schmerzen musste. Anna lehnte den Baseballschläger an den Baum und faltete die Hände vor dem Schoß. Mirai kam. Auch er schien etwas fassungslos über die Szenerie hier zu sein, doch nicht unbedingt bestürzt. Tatsächlich musste er kurz prusten und lachen.

„Was? Du kannst es also doch?“ wisperte er unter einem unterdrückten Lachen. Annas Miene verharrte für einige Sekunden, während sie sich ihr Handgelenk rieb, schloss dann aber erschöpft die Augen.

„Das wird Konsequenzen haben.“ sagte Ren steif und legte einen Arm um eine Mitschülerin. „Nach dem Unterricht kommst du zu uns. Keine Widerrede. Ansonsten informieren wir deine Mutter über deine nächste Suspendierung.“ Ohne ein Wort der Zustimmung oder Widerrede verließ Anna den Ort, während die zwei Riesen die Mädchen zum Krankenflügel brachten. Toki lief Anna hinterher. Nur Akira, Mirai und Kai blieben an Ort und Stelle.

„Woah, guck dir das Loch in der Wand an.“ Akira deutete aufgeregt auf die Mauer, an der Anna oft lehnte. Anscheinend hatte irgendjemand mit immenser Kraft gegen den Beton geschlagen, denn der Putz bröckelte ab. Mirai inspizierte den Baseballschläger. „Es kleben noch einige Haare dran...“ angewidert rümpfte er die Nase und ließ den Metallschläger fallen. „Kai, hast du was gesehen?“

„Ne, war schon vorbei, als ich hier auftauchte.“

„Man hat die Angst meilenweit gerochen...“ murmelte Akira mit einem amüsierten Blick in seinen Augen. Kai fuhr sich mit seinen langen, blassen Finger über die Stirn, dann durch die Haare, und zog die eisenlastige Luft durch die Nase, bevor er tief seufzte.

„Schätze, wir haben ein Druckmittel gefunden.“ Er lächelte. Es war genau die Chance, die er erhofft hatte, zu erhalten. Das war die Möglichkeit, sie unterzuordnen. Unter dem Schülerrat. Unter ihm. „Jup.“ auch Akira grinste. Mirai war schon gar nicht mehr zu bremsen.

„Sie ist wohl doch ganz schön temperamentvoll, huh?“ lachte er und begab sich auf den Weg zurück zum Schülerratsraum, gefolgt von Akira und Kai.
 

Als die Mädchen, begleitet von Rem und Liam, im Krankenflügel auftauchten, schrie Kiki auf. Adam stand sofort auf seinen Füßen, als würde die Ansicht von den beiden Jungen ihn alarmieren.

„Wo ist Anna?“ Liam blickte Adam kurz an, brachte dann ein Mädchen zur Schwester. Ren schien nicht erpicht darauf, zu antworten, konnte dann aber doch noch hervor quetschen:

„Sie ist irgendwo hin, keine Ahnung.“ ehe er Liam folgte. Der Anblick der Mädchen schockierte Kiki. 'Anna geht es gut'. Adams Worte hallten in ihrem Kopf wieder wie ein Mantra. Kein Scheiß. Wie konnte diese zierliche, junge Dame es mit 4 gleichaltrigen aufnehmen?

„Sorry, Kiki, ich muss los.“ Adam ging, doch bevor er komplett aus der Tür verschwunden war, rief Kiki ihm noch hinterher:

„Adam!“ Sie sauste zu ihm hin, immer noch Tränen überströmt. „Sag Anna… Danke...“.

Es war mitten im Unterricht. Anna hatte keine Chance, im Klassenzimmer aufzutauchen. Blut würde den Lehrer eventuell verdächtig machen. Also ging sie in den Mädchenwaschraum. Sie griff sich ihr Taschentuch, ließ Wasser darüber laufen, wrang es aus und wischte sich damit über das Gesicht. Ihr war warm. Sie lockerte die Krawatte, die ohnehin schon schlaff an ihrem Kragen hing, und öffnete ein paar Blusenknöpfe. Dreck und Hämatome waren auf ihrem Brustkorb zu sehen. Auch über diese Stellen wischte sie. Im Spiegel bemerkte sie, dass ihre Frisur sie zur Vogelscheuche machten. Genervt öffnete sie den Zopf, schüttelte ihre Haare durch und kämmte sie mit den Fingern nach hinten, um ihn zu erneuern. Dann widmete Anna sich ihren blutenden Knien. Es klopfte, obwohl es nicht abgeschlossen war. Adam kam in den Waschraum rein, musterte von Kopf bis Fuß, und seufzte enttäuscht.

„Kannst du mir meine Sportsachen aus der Klasse bringen?“ fragte Anna unbeteiligt und Adam ging wieder.
 

Es war Abend. Die Flure waren leer, genau so wie die Klassenräume. Viele der Lehrer waren schon nach Hause gegangen. Der Hausmeister machte seine letzte Tour. Anna stand vor der großen, zweiflügligen Eichentür. Die Sekretärin war heute nicht da. Kein zögerliches Anklopfen also, oder? Das Mädchen öffnete die Tür und ließ sich selbst ein. Dort saßen sie. Die Herren des Schülerrates. Anna drehte sich bei ihrem Anblick der Magen um. Akira und Mirai hatten ein dickes, fettes Grinsen im Gesicht. Toki sah besorgt aus. Liam schien zu schlafen. Ren und Kai zeigten keinerlei Emotionen, als sich Anna zwischen ihnen fallen ließ. Es war der Platz am Kopf der Tafel, den sie sich ausgewählt hatte. „Anna. Du weißt, Schlägereien sind verboten.“ seufzte Ren in einem genervten Tonfall.

„Ja.“

„Du weißt, wenn du nochmal suspendiert wirst, musst du in den Jugendarrest.“

„Ja.“

„Du weißt, dass wir das nicht zulassen können, oder?“

Anna verstummte. Sie schaute Ren an.

„Unsere Verlobte sollte eine weiße Weste haben, wenn wir sie heiraten.“ Er blätterte in ein paar Aktenpapieren und seufzte erneut. „Du musst bestraft werden.“ Anna zuckte zusammen. Sie musste bestraft werden? Ehrlich? Sie wollte lachen.

Kai beugte sich vor. „Wir können es verheimlichen. Die Sache mit den Eltern der Opfer könnten wir auch klären. Aber nicht ohne Gegenleistung.“

'Jetzt kommt's.' dachte sich die Blondine genervt, hörte jedoch weiterhin zu. Toki sah ein bisschen schuldig aus. Kais Hand berührte Annas. Nur der kleine Finger, aber es war eine Berührung, die heiße Wutstürme in ihr entfachten.

„Ich gebe meinen Körper nicht her.“ sagte sie angewidert und nahm die Hand zurück.

„Wissen wir.“ Kai schmunzelte belustigt.

Akira ergriff das Wort: „Ab sofort darfst du nicht mehr gewalttätig werden.“

„Es ist eine Schande.“ kommentierte Mirai belustigt, zuckte mit den Schultern und lehnte sich nach hinten an die Lehne. „Ich war begeistert zu sehen, dass dein Ruf nicht nur heiße Luft ist.“
 

Am liebsten hätte Anna 'Vielen Dank' entgegnet, aber das war vielleicht nicht die beste Art zu zeigen, dass sie kooperieren würde.

„War das alles?“ fragte sie verbissen und schaute wieder zu Ren.

„Nein.“ entgegnete er. Natürlich nicht. „Ab sofort wirst du jeden Samstag und Sonntag mit einem von uns verbringen. Sieh es als Date an. Wir wollen dich kennen lernen und dein Vater ist erpicht darauf, dass du einen von uns zum Ehemann nimmst, ob's dir gefällt oder nicht.“ ein Anflug von Gehässigkeit schwang in Rens Stimme mit, als er das sagte.

„Hmph.“ eriwderte Anna schroff. Wenn das alles war, würde das kein Problem darstellen. „Hab' eh nichts vor.“.

„Gut.“ sagte Ren, „Dann such dir aus, wenn du dieses Wochenende sehen willst.“ Seine Augen funkelten wie grüne Edelsteine bei dieser Aussage. Natürlich. Die Wahl der ersten würde immerhin verdeutlichen, zu wem sich Anna am ehesten bekennen würde. „Die erste Wahl“ halt. Anna musterte die Herrschaften. Toki war süß und relativ unschuldig, er würde keine Probleme machen. Akira kannte sie nicht besonders gut. Mirai schien eher ein Konfrontationstyp zu sein, der auf Action steht. Kai ist ein Lustmolch, könnte man aber in Zaum kriegen. Ren ist ziemlich arrogant. Liam wäre bestimmt ganz angenehm.

„Na dann… Ren am Samstag, Mirai am Sonntag.“ sagte Anna und bemühte sich, die Sache so beiläufig wie möglich ab zu tun. Hoffentlich brach Toki nicht gleich in Tränen aus, sein Gesicht verriet die Enttäuschung, nicht gewählt worden zu sein.

„Dann ist das ja geklärt.“ lächelte Kai.

„Irgendwelche Vorlieben, was du gerne machen würdest?“ fragte Ren nun ebenfalls lächelnd. Sah man da Triumph auf seinen Lippen?

„Nicht wirklich.“

„Okay.“ Mirai grinste.

„Ich hol dich am Samstag dann gegen 12 von Zuhause ab.“ Ren stand auf und legte die Akten zurück ins Regalfach. „Zieh dich bitte etwas hübscher an, als sonst. Ich will nicht mit einem Bauerntrampel durch die Gegend laufen.“

„Okay.“ Und damit war die Sache geklärt. In drei Tagen hatten sie ein Date.
 

Als Anna nach Hause kam, berichtete sie Adam von der Bestrafung. Er schien nicht sonderlich überrascht.

„War klar, dass sie die Geschichte für sowas ausnutzen würden.“ er klang genervt.

„Hat sich Kiki nochmal gemeldet?“ fragte Anna und begann, im Schrank nach Schlafwäsche zu kramen.

„Ja. Sie ist sicher Zuhause angekommen, aber weint noch ziemlich viel. Sie hat sich Sorgen um dich gemacht.“ Anna lächelte. Auch wenn niemand es wirklich glaubte, aber hinter all den kleinen Lügen, um sich wichtig zu machen, war Kiki ein ziemlich ehrliches und treues Mädchen.

„Alles gut.“ Anna entblößte ihren Oberkörper. Adam hatte sich in ihren Schreibtischstuhl fallen lassen und begann in dem Buch vom gestrigen Abend zu blättern.

„Du stehst echt auf dieses Dämonenzeug, oder?“ Sein Blick schweifte über den Buchrand zu Annas Oberkörper. Sie stand im BH da. Es waren keinerlei blaue Flecken oder Kratzer zu sehen.

„Geht. Onkel und Tante wollen, dass ich sie lese. Was soll ich da noch schon sagen?“ Sie warf die Sweatjacke auf den Boden und kramte in ihrem Sportbeutel nach der blutigen Uniform, die ziemlich schnell daneben lag. Anna zog sich ein Shirt über.

„Ich find's erstaunlich, wie schnell sich dein Körper erholt.“ Adam schaute wieder zum Buch, als Anna ihm den Rücken zudrehte und ihr Tattoo entblößte. Es war deswegen.

„Hm.“ Anna klang nicht besonders begeistert, noch interessiert.

„Schätze in deiner Situation nichts neues mehr.“

„Ja.“.

Anna griff nach einem sauberen Handtuch und packte sich die schmutzige Wäsche, ehe sie Richtung Tür ging.

„Ich geh ins Bad, ich rieche nach Blut. Am Samstag musst du mir mit meinen Haaren helfen.“

„Hä?“ Adam sprang auf. „Wieso macht das nicht Mama?“

Der Drachengott

Kiki tauchte in den nächsten beiden Tagen nicht in der Schule auf. Sie schrieb Anna eine Kurznachricht um ihr zu sagen, dass sie sich von den Verletzungen erholen will und sich freut, alle am Montag wiederzusehen. Das war okay. Anscheinend wollte Kiki doch zu ihnen gehören und Anna war zufrieden, sich für sie eingesetzt zu haben. Auch wenn sie jetzt mit den Konsequenzen leben musste.

Toki wich ihr in diesen zwei Tagen nicht von der Seite. Er war oft im Hinterhof zu sehen, wo er sich, zur Überraschung aller, am besten mit Yuki verstand. Sie redeten über Mangas und Games, die sie beide zockten, doch Anna entging nicht, dass er sich immer wieder einen Blick auf sie stahl. Seufzend streckte sie die Beine lang und lehnte ihren Hinterkopf an die Wand. Am liebsten wollte sie fragen: „Was sind Ren und Mirai für Personen? Was macht sie aus? Was interessiert sie?“ Aber ihr Stolz hielt sie davon ab. Sie wollte nicht interessiert klingen. Das Problem war, dass sie aber in einiger Zeit interessiert sein müsste, wenn sie einen von ihnen heiraten sollte. Sie lauschte der Unterhaltung und betrachtete, wie Adam, Toki und Yuki zusammen lachten. Toki war ein guter Junge. Anna konnte sich nicht vorstellen, dass irgendetwas Böses in ihm lauerte. Nach einigen Sekunden des vor-sich-hin-Starrens erhob sich die Schönheit, griff ihre Tasche, schmiss sie sich über die Schulter und begab sich zum Ausgang des Hinterhofs.

„Halt, Anna!“ rief Toki plötzlich überrascht und sprang auf, um sie zur Seite zu ziehen. „Hast du's ausprobiert?“ fragte er neugierig. Anna war perplex.

„Was?“ fragte sie, völlig aus dem Konzept gerissen.

„Nachts aufzustehen und Wasser zu trinken, mein ich.“

Oh. „Naja, war eher durch Zufall, aber ich hab's getan, ja. Wieso?“

„Hat's geholfen?“ Anna blickte Toki einige Sekunden lang musternd an. Würde sie ihm ein bisschen näher stehen, würde sie es wissen. Aber nicht vor den anderen.

„Ja. Schätze schon.“ Toki grinste selbstzufrieden.

„Okay, dann viel Spaß am Wochenende. Bis Montag!“ sagte er glücklich zum Abschied und setzte sich wieder neben Yuki.

„Jup...“

Als Anna nach Hause kam, hatte ihre Mutter schon ein Kleid an den Kleiderschrank ihrer Tochter gehangen. „Wo kommt das denn her?“ fragte Anna genervt, denn so ein süßes Outfit war halt wirklich leider nicht ihr Stil.

„Hab ich heute gekauft.“ erwiderte ihre Mutter zufrieden und ihre Wangen füllten sich mit einem erwartungsvollem Rosa. „Immerhin hast du morgen dein erstes Date. Ich hoffe, er ist so charmant und gutaussehend, wie ich's all die Jahre geträumt habe.“ Anna überlegte kurz. Rens arrogantes Gesicht spiegelte sich in ihrem Kopf wieder und sie schüttelte enttäuscht den Kopf.

„Wahrscheinlich eher nicht.“

Am nächsten Tag war alles vorbereitet. Anna wurde gezwungen, das rote und knappe, luftige Kleid zu tragen. Ihre Haare wurden hochgesteckt und die langen, blonden Haare fielen schimmernd zur Seite. Sogar Make-Up wurde ihr aufgetragen. „Du bist so schön, ich will dich fast gar nicht gehen lassen.“ ihre Mutter brach fast in Tränen aus.

„Reiß dich bitte zusammen, Mama.“ knirschte Adam. Es war Punkt 12 Uhr, als die Türklingel läutete. „Pünktlich auf die Minute, sehr löblich.“.

„Bitte bild' dir nicht zu sehr was auf ihn ein, Mama.“ Ihre größte Sorge war, dass ihre Mutter angesichts der Heiratswilligen enttäuscht werden würde. „Also gut, bis dann.“ Adam brachte Anna zur Tür: „Schreib mir, wenn du nach Hause kommst oder irgendetwas passiert.“

„Okay.“

Ren hatte sich wohl ein bisschen im Vorgarten umgesehen, denn direkt vor der Haustür stand er nicht. Adam schloss schnell die Tür hinter sich und das Klicken des Schlosses verriet Ren wohl, dass die Tür mal offen stand.

„Oh.“ sagte er und seine Hand führte unweigerlich in seinen Nacken, den er kurz kratzte. Er trug ein langärmliges Shirt mit V-Ausschnitt, welches tief dunkelgrün gehalten war. Seine Jeans waren wohl eher 0-08-15. Aber das war Anna egal. „Ich wusste nicht, dass du gleich so hoch spielst. Dann hätte ich mir was anderes angezogen.“ Ren grinste kurz. Arroganz?

„Meine Mutter war das. Egal, wo gehen wir hin?“

„Ah.“ sagte Ren, als hätte er es für einen kurzen Moment vergessen. „Ja, wir gehen ins SeaLife.“

Was? Die beiden schlenderten die Straße hinunter. Irgendwie passte das Image des arroganten, distanzierten Rens nicht ganz, wenn man ihn in Straßenklamotten sah.

„SeaLife, huh… Wie kommt's ? Hab dich jetzt wirklich nicht für 'nen Delphinstreichler gehalten, so, wie du in der Schule immer rumläufst...“, murmelte sie vor sich hin. Es machte sie nervös, wenn er nicht das normale Arschloch war.

„Hmm… Verstehe.“ erwiderte er knapp. „Schätze, wenn ich meine Uniform anziehe, komme ich irgendwie in meinen 'Business-Mode'.“. Anna blieb stehen und schaute ihn verdattert an. War das ein Scherz? „Das war ein Scherz.“ sagte Ren schroff, anscheinend leicht verärgert über die Tatsache, dass Anna nicht lachte. Doch genau dieses Gesicht brachte sie zum Kichern.

Das SeaLife war gut. Es gab einen Tunnel, gebildet aus Wassercontainern, in denen Meerestiere, wie Haie und Rochen, herum schwammen. Es war kühl und dunkel, ein angenehmes Gefühl für den späten April, in dem die Temperaturen rapide stiegen. „Scheint, als würde es dir gefallen.“. Anna lächelte.

„Ist ganz okay.“ gab sie cool zurück. „Schade, dass du nicht so gelassen in der Schule bist. Ich hab dich wirklich für das größte Arschloch gehalten.“ meinte sie beiläufig und beobachtete ein paar Schildkröten, die die leichte Wellenmechanik des Beckens genossen.

„Ist das so...“ Rens Worte klangen distanziert, als würde er vorgehen. Anna blickte auf und da spürte sie es schon. Eine Hand auf ihrer Schulter. Ren war wirklich groß. Ihm schien es keine Schwierigkeiten zu bereiten, sie mit einem Arm komplett zu umgreifen. Er schaute sie an. Wartete er auf eine Reaktion? Sollte es ihr unangenehm sein? Mit zwei kurzen Patschern auf die Schulter ließ er sie wieder los.

„Lass uns ein Eis holen oder so.“. Gesagt, getan.

Die beiden aßen ihr Eis in einer der großen Halle. Die Decke war ein riesiges Aquarium und gedankenversunken starrte Anna die Fische und Meerestiere an, die über ihrem Kopf hinweg schwammen. „Interessierst du dich für's Meer?“ fragte Ren leise. Er war nahe; so nahe, dass seine Stimme kleine Gänsehauterdbeben in ihrem Nacken auslöste.

„Wenn du sie hier so siehst, hast du das Gefühl, als würdest du in ihrer Welt versinken...“ gab Anna leise als Antwort zu und biss vom Eis ab, um ihre Wangen zu kühlen. Plötzlich hob Ren einen Finger: „Das ist ein Pterois miles. Ein indischer Feuerfisch. Dort schwimmt ein Blaupunktrochengeschwader. Da vorne schwimmt...“.Und es ging weiter. Ren schien jeden Namen jedes Lebewesens hier zu kennen. Irgendwann wanderte Annas Blick von den Fischen, zu Rens Hand, die immer noch durch die Gegend deutete, bis hin zu Rens klaren, grünen Augen. Sie rutschte näher an ihn heran. Hier war es okay, oder? „Erschreck dich nicht.“ hauchte sie leise, griff mit ihrer Hand nach seinem Kinn und zog es ihr entgegen. Ihre Stirn berührte seine. Ren sah nicht erschrocken aus.

Bilder aus Blau und Grün fluteten in Annas Gedanken. Ein Meer, größer, als jedes das sie bisher gesehen hatte. Ren tauchte ab und zu auf. Er war umgeben von Leuten. Plötzlich – Beton. Ren im Anzug. Andere Leute, die Sonnenbrillen trugen, als wären sie aus einem schlechten Mafiafilm entsprungen. Kalter Schauer lief Anna den Rücken hinunter, als sie seine Hand in ihrem Nacken spürte. „Wenn du jemanden küssen willst, solltest du ihn nicht so lange warten lassen.“ Rens grüne Augen blitzten auf, seine Iren zogen sich für eine Millisekunde zusammen und gaben ihm etwas übermenschliches. Da wusste sie es. Dieses stechende Grün, das nur für einen Augenblick mit in seinen Augen schimmerte… Sie ließ ihn los, doch verminderte nur ein bisschen die Distanz zwischen ihnen.

„Was bist du?“ fragte sie leise und Ren ließ sie urplötzlich los. JETZT sah er erschrocken aus. Er gab keinen Laut von sich, er starrte sie nur an. Seine Hand auf ihrer Schulter hielt sie in genug Abstand, sodass er jeder Zeit aufspringen und gehen konnte. „Wenn ich dich heiraten soll, solltest du es mir sagen, oder?“ ihre Stimme war monoton. Sie konnte ihn nicht einordnen. All die Lektüre, all die Nächte und Nachmittage, die sie mit Lesen und Recherchieren verbracht hatte, für die Katz. Sekunden vergingen. Menschen liefen an ihnen vorbei, doch deren Gespräche wurden unterdrückt und kamen nur als Dunst bei den beiden Jugendlichen an.

„Wieviel weißt du eigentlich, Anna?“ fragte Ren dann. Er klang, als hätte er einen Frosch verschluckt. Er war aufgestanden. Annas Augen folgten ihm und erhielten ihren Glanz zurück. Sie lächelte wieder. Das erste Mal, dass sie heute wieder ein falsches, oberflächliches Lächeln zeigen musste.

„Was glaubst du?“ sie faltete ihre Hände über die Knie zusammen und lehnte sich leicht zurück, um sich umzuschauen. „Ich glaube allerdings nicht, dass das ein guter Ort ist, um das zu besprechen.“ Ren starrte sie ungläubig an. Was hatte sie vor? Wusste sie, dass sie kein Mensch war? Wusste sie, dass ER kein Mensch war?

„Okay.“ sagte er knapp. Jetzt war er ungeduldig. Er griff nach Annas Hand und mit einem Ruck stand sie auf beiden Füßen. „Lass uns gehen.“

Er führte sie über Straßen und Wege bis in einen Park hinein. Anna kannte ihn. Nachts tümmelte sich hier das Gesindel. „Setz dich.“ Ren ließ sich auf das Gras nahe eines kleines Bächleins nieder. Sie tat, wie ihr geheißen wurde. Der junge Mann schwieg einige Sekunden, starrte auf das Wasser, das fröhlich in einem Bach vor sich hin plätscherte,und fuhr sich dann mit seinen langen Fingern durch die schwarzen Haare. „Mein Vater hat einen Konzern. Ich glaube, es ist jetzt circa 10 Jahre her, dass wir hierher gekommen sind.“ Er war ruhig. „Wir wurden mehr oder weniger von Zuhause vertrieben und haben es geschafft, uns hier ein neues Leben aufzubauen. Aber jedes Mal, wenn ich an Zuhause denke...“ Er brach ab und ballte seine Faust zusammen. Anna hörte Gras reißen. Dann verfiel er wieder in ein Schweigen. Anna sah immer noch die Bilder vom Meer vor ihr aufblitzen und starrte zum Wasser. Sie machte ihre Beine lang und stemmte die Hände in den Boden, um die Sonne ihre Brust wärmen zu lassen. Ihr langes Haar glitt über die Grashalme.

„Und was hat das mit dem Meer zu tun?“ Ren wandte den Blick vom Bach ab und sah Anna an. Sein Blick verriet ihn: „Was? Wieso? Woher…?“ sagte er. Doch Ren selbst schwieg. Anna griff nach einer der blonden Strähnen, drehte sie in ihren Fingern und spielte damit.

„Was denkst du von Drachen?“ fragte Ren plötzlich.

„Sie sind cool.“ lächelte Anna. Auch Ren musste lächeln. Ein Hauch von Rosa legte sich auf seine Wangen.

„Ist das so?“ grinste er zufrieden. „Was würdest du tun, wenn ich dir sagen würde, dass ich einer wäre?“

Drachen. Übermächtige Kreaturen mit unermesslichen Kräften. Jedes Land hat seine eigenen Mythen und Geschichten über diese Wesen, alle haben ein anderes Erscheinungsbild. Sie hatte die Geschichten nie für voll genommen, weil sie zu vage, zu unpräzise waren. Aber das waren die meisten Geschichten, die sie las. Anna starrte ihre Haarsträhne an, doch diese war von überhaupt keinem Interesse mehr. Was haben Drachen mit dem Meer zu tun? Anna überlegte und blätterte in Gedanken die Bücher durch. Vom Zen-Bhuddismus beeinflusst, gab es in Japan und China früher, in der Heian-Zeit, den Glauben, dass die Drachen im Wasser hausten. Ihr König, der Drachenkönig, lebte in einem Drachenpalast. Es gibt viele kleine Geschichten über ihm, zum Beispiel, dass er Juwelen liebte und einer Kaiserin welche davon schenkte. Auch, dass ihm ein Auge gestohlen wurde, um das Leben eines Kranken zu verlängern, und er seitdem halb blind wäre. Aber das waren nur Geschichten, oder? Ihr Blick wanderte zu ihm hin, als sie seine Finger auf ihren Schuhen spürte. Er zog sie langsam und vorsichtig aus, legte sie zur Seite und begann, Annas Füße zu streicheln. Seine Hände waren warm.

„Bist wohl nicht so gewohnt, in solchen Schuhen zu laufen.“ bemerkte er leise und streichelte behutsam über die weichen Füße. Es war mehr als angenehm. „Bist du ein Drache?“, brachte Anna nach einigen Sekunden hervor. Rens Hände hielten kurz inne, er traute sich nicht, die Blondine anzuschauen, streichelte dann aber weiter.

„Wie viel weißt du eigentlich, Anna?“, wiederholte er seine Frage und starrte ins Wasser. „Über die Verlobung … Über uns, über dich.“ fügte er hinzu. Anna musterte den Jungen. War es an der Zeit? Sollte sie ihm verraten, dass sie so gut wie ALLES über die Situation wusste? Anna wandte ihren Blick ebenfalls dem Wasser zu. Sie rutschte etwas näher zu Ren und legte ihre Beine über seinen Schoß. Stille trat ein, begleitet vom Plätschern des Bächleins, dem Gezwitscher der Vögel und fernen Verkehrsgeräusche.

„Ich schätze, ich sollte dir ein Geheimnis verraten, wenn du mir deins verrätst. Es gehört sich so...“ lächelte sie. Ihre Stimme war ein Flüstern, doch klingelte so klar in Rens Ohren, dass er Gänsehaut bekam. Wollte sie ihm verraten, wie viel sie wusste? War ihr bewusst, welche Macht sie in sich trug? War sie sich ihrer Position bewusst? Seine Hände kamen zum Stillstand. Er spürte ihren Blick auf sich. Doch er sagte nichts.

„Ich kann Gedanken lesen.“ hauchte sie leise. Was? Sein Kopf neigte sich in ihre Richtung. Sie schaute ihm direkt in die Augen, Ren zuckte leicht zusammen. Für eine Sekunde kam er sich vor, als wäre er ein kleiner Junge, der direkt von seiner Mutter durchschaut wurde, wenn er was kaputt gemacht hatte. Doch plötzlich begann Anna zu kichern.

„Das war nur ein Spaß, du hättest deinen Blick sehen müssen.“ lachte sie und hielt sich die Hände vor dem Mund, um das Lachen zu ersticken. Nach einem beherztem Seufzen wischte sie sich eine Träne aus den Augenwinkeln und lehnte sich wieder zurück, diesmal betrachtete sie den Himmel. Die Nachmittagssonne wärmte ihren Oberkörper, bis sie langsam hinter den Baumkronen verschwand. Ren behielt sich weiterhin das Recht vor, ihre Füße zu streicheln.

„Du hast zarte Haut.“ bemerkte er einmal kurz und Anna verspürte das selbe Gefühl, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte: Distanz.

„Wieso möchtest du mich überhaupt heiraten, Ren? In deiner Position könntest du jedes heiratswütige Mädchen haben, das du wolltest. Sogar reiche, falls es um finanzielle Unterstützung der Firma geht.“ Ren streichelte gedankenverloren weiter.

„Wieso sollte ein Drachenkönig eine herkömmliche Menschenfrau heiraten, wenn er eine Königin haben könnte?“ gab er mit einem verspielten Lächeln zurück und damit war das Thema abgehakt. Sie wusste es. Er wusste es. Aber keiner der beiden sprach die Wahrheit aus, wodurch es zu einem stillen Geheimnis wurde.

Gegen späten Nachmittag stand Anna schon wieder auf ihrer Türschwelle. „War's so schlimm?“ Ren lehnte gegen das Tor zum Garten und es war komisch, aber er lächelte. Man sah keinerlei Arroganz.

„Nicht wirklich.“ musste Anna zugeben. Sie spürte immer noch die Berührung seiner Hände auf ihren Füßen und musterte ihn. Sie hatten fast den ganzen Tag zusammen verbracht. „Bei dir?“ fragte sie vorsichtig nach. Anfänglich hatte sie eigentlich das Gefühl gehabt, dass er sie nicht leiden konnte. Doch das hatte sich heute geändert.

„Oh Gott, es war ätzend.“ Ehrlich? Sie schaute ihn verwirrt an, drauf und dran etwas zu entgegnen, bis er zu lachen anfing. „Du verstehst meinen Humor anscheinend noch nicht. Wir sehen uns Montag, viel Spaß morgen. Am besten, du ziehst dir Sneaker oder so an.“ Damit ging er. Und ließ somit eine komplett verwirrte Anna zurück.

Der Affenkönig

Am nächsten Morgen zwitscherten fröhlich die Vögel. Es war bestes Wetter. Natürlich war die klare Luft so früh am Morgen doch etwas kalt, deshalb ist es wahrscheinlich verständlich, dass Anna genervt und frierend um acht Uhr morgens im Schlaf-Outfit (das wie gewohnt aus Shirt und Leggins bestand) vor der Haustür stand. Mirai war da und er brachte die Sonne mit. Aber Anna wollte die Sonne im Moment nicht sehen. „Hast du 'ne Ahnung wie spät es ist?“ fragte die verschlafene Schönheit entnervt und versuchte, die Augen richtig zu öffnen. Mirai grinste. Er war bereits komplett für den Tag angezogen – Sweatshirt, Jeans, Sneaker und eine große Umhängetasche mit einem Firmenlogo.

„Wir haben viel vor. Vielleicht ist das unser einziges Date, da muss ich doch die ganze Zeit nutzen, oder?“ Annas Mutter tauchte hinter ihr auf.

„Oh, ist das Mirai?“ Mit einem noch genervteren Gesichtsausdruck öffnete Anna die Tür vollwegs und erlaubte Mirai einen Blick auf die verschlafene Frau Kurosawa.

„Mirai… meine Mutter. Mama, Mirai.“ Anna hielt sich kurz. Sie mochte vielleicht eine Frohnatur sein, aber nicht um diese Uhrzeit. „Komm rein, ich geh duschen.“

Mirai betrat Annas Haus. Es roch noch nach Abendessen und das Wohnzimmer lud zum Sitzen ein. „Mirai, willst du einen Kaffee trinken?“ fragte Annas Mutter, begann aber schon nach dem Kaffee zu kramen.

„Nein danke, O-Saft ist gut, falls ihr den da habt.“ Leicht besorgt verließ Anna das Wohnzimmer, holte sich Wäsche aus ihrem Schrank, ging ins Bad und schwang sich unter die Dusche. Das warme Prasseln beruhigte sie wieder und weckte sie irgendwie auf. Es dauerte circa 20 Minuten, als eine Wärme ausstrahlende Anna mit nassem Haar aus dem Bad kam. Sie hatte zwar den Großteil ihrer Wäsche raus gesucht, hatte allerdings kein Top mit genommen, weshalb sie gekleidet in Jeans und Unterhemd zurück in ihr Zimmer ging, wo sie erwartete, allein zu sein. Aber wie schon von den letzten Tagen gewohnt, wurden ihre Erwartungen nicht erfüllt. Mirai saß auf ihrem (nicht gemachten) Bett und blätterte in einem der (nicht weg gelegten) Dämonenbücher. „Stehst du auf so 'nen Kram?“ fragte er gelangweilt und schmiss das Buch zur Seite.

„Geht.“ murmelte sie und ging zum Schrank, um nach einem Top zu kramen. Es war zu ihrem Verhängnis.

Das Unterhemd, das sie trug, war ein schwarzes, enganliegendes Gewebe aus Synthetic, das einen großen Teil ihres Rückens nicht bedeckte. Bevor Anna eines ihrer Tops überwerfen konnte, spürte sie Finger auf ihrem Rückrat, kurz überhalb des Unterhemds, was vielleicht bis zur Brusthöhe reichte, am BH-Verschluss. Sie spürte, wie die warmen, rauen Hände die Linien ihres Tattoos nach zeichneten. Es war ein unbekanntes, kribbliges Gefühl, unmöglich zu deuten.

„Bist du fertig?“ fragte sie nach ein paar Sekunden, die ihr wie eine peinliche Ewigkeit vorkamen. „Oh.“ Mirai war wie hypnotisiert gewesen. Er nahm die Hand zurück und verstaute sie in seine Hosentasche. „Wusste nicht, dass du ein Tattoo hast.“ meinte er ahnungslos und bemühte sich, uninteressiert zu wirken.

„Wusste nicht, dass dich das was angeht.“ Irgendwie hatte Anna heute keine Geduld. Vielleicht lag es daran, dass sie zu wenig geschlafen hatte? Ihre Füße hatten noch bis in die Nacht hinein gekribbelt, aber als sie aufgewacht war, taten sie nicht weh.

„Ach, sei nicht so zickig. Guck.“ Anna zog sich eines ihrer Flattertops über und drehte sich genervt zu Mirai um. Dieser hatte sein Sweatshirt und das darunter versteckte Shirt ausgezogen. Man sah nur einen gebräunten, muskulösen Sixpack, direkt unter gut durchtrainierten Brustmuskeln, umrankt von zwei großen, starken Armen. Anna zog mit einem zischenden Geräusch Luft ein, da sie ihr Entsetzen nicht einmal mehr in Worte fassen konnte. Doch Mirai drehte sich um und da wusste Anna, was er meinte. Ein großes Tattoo, das bis zu seinen Schultern ging, bedeckte fast den ganzen Rücken. Es war eine große Sonne, gebildet aus Tribals (glaubte sie), Linien die mal dick oder dünn wurden, sich ineinander verschlungen und verloren. Hier und da ähnelten die Linien Tieren. Tatsächlich war Anna ein bisschen baff. „Du hast auch eins?“, fragte sie, ungewollt neugierig und ging auf seinen Rücken zu, um die Linien anzufassen. Seine Haut war warm und man spürte sofort die Muskeln unter ihr. Mirai blickte über die Schulter nach hinten. Fasziniert beobachtete er Anna dabei, wie sie sein Tattoo musterte und berührte. Sie wirkte ziemlich klein und zierlich, wenn sie so hinter ihm stand.

„Bist du fertig?“ quengelte Mirai übermäßig dramatisiert und Anna zog sofort die Hand zurück. Sie hatte das getan, was sie vorhin noch verurteilt hatte. Doch Mirai lachte. „Alles gut, ich verarsch' dich nur.“ grinste er und schlug Anna freundschaftlich auf die Schulter. „Aber wenn ich's mir so recht überlege, hab ich einen Vorschlag. Hast du irgendetwas rückenfreies?“ Anna fuhr herum und starrte ihn an.

„Ich werde sicherlich nicht meinen Rücken in der Stadt entblößen, also denk' gar nicht erst dran!“ Mirais Miene verzog sich in ein genervtes Gesicht. „Wieso machst du dir ein Tattoo und versteckst es dann? Ergibt wenig Sinn für mich. Außerdem ist es mein Date, also bestimme ich die Regeln.“, fügte er, jetzt wieder grinsend, hinzu, doch dieses Mal war es ein Grinsen der Dominanz.

Anna hatte etwas dagegen. Sie gab ungern ihren Rücken preis. Schon beim Schulschwimmen vor zwei Jahren war das Tattoo leicht über den Badeanzugrand gewachsen. Jetzt wäre es noch offensichtlicher… Als hätte Mirai Annas Sorgen geahnt, legte er ihr die Hand auf den Kopf. „Komm schon, zier dich nicht. Wenn was passiert, pass' ich auf dich auf. Wir gehen eh nicht in die Stadt.“ Und das war das.

Ihr Rücken fühlte sich kalt an, als sie in einem Top, das man unter dem Nacken zusammenbinden konnte, ihr Haus verließ. Der Rücken war wirklich komplett entblößt und das Tattoo schimmerte ungewöhnlich schwarz im Sonnenlicht, als würde es ihn verschlingen wollen. Mit einem Seufzen zog Anna eine Jeans-Jacke an und setzte ihren Rucksack auf. „Wohin gehen wir denn?“ fragte sie. Der Rucksack war schwer durch das ganze Essen, das ihre Mutter ihr eingepackt hatte.

„Bahnhof.“ Mirai klang gedankenversunken und bahnte sich den Weg durch die Straßen. Je weiter sie gingen, desto mehr Menschen waren unterwegs, und je mehr Menschen ihnen entgegen kamen, desto genervter wirkte Mirai. Am Bahnhof angekommen zog er zwei Tickets, ohne Anna jemals das Ziel ihrer Reise zu verraten. Es dauerte nicht lange, bis die beiden in einem Zug saßen, der fast leer war. „Mirai...“ seufzte Anna und zog ihren Rucksack vom Rücken, um eine Flasche auszupacken. „Sag schon, wo fahren wir hin?“

Mirai, nun sichtlich entspannter, lehnte sich zurück und streckte die Beine lang. Sie berührten die Tasche des Passagiers vor ihm, der genervt aussah, jedoch nichts sagte. „Wir fahren zu mir nach Hause. Dauert circa zwei Stunden. Hoffe du hast was zu lesen oder so dabei.“

„Was?“ gab Anna genervt zurück. Natürlich hatte sie nichts zu lesen dabei! Die Flasche, die sie gerade aus dem Rucksack ziehen wollte, glitt zurück in die Tasche. „Ich dachte du wohnst in der Stadt?“ fragte sie dann, immer noch sichtlich schlecht gelaunt, doch Mirai pfiff eine kleine Melodie vor sich hin.

„Oh, ja. Ist mein zweiter Wohnsitz. Eigentlich komm' ich aus den Bergen.“. Er hatte die Arme über den Sitz gelegt. Einer seine Hände berührte ihr Haar, das Anna wie immer in einen Zopf gebunden hatte. „Ich find's schöner, wenn deine Haare offen sind.“ murmelte er vor sich hin und zwirbelte an einer Strähne ihres blonden Haares. „Kann ich was trinken?“ er griff nach Annas Flasche und führte sie zum Mund. Es war schwarzer Eistee. Anscheinend gefiel ihm der Geschmack.

„Wie war denn dein Date gestern?“ Mirai versuchte auf eine merkwürdig forsche Art und Weise das Gespräch zu öffnen. Anna fühlte sich plötzlich in die Vergangenheit zurück versetzt. Die Erinnerungen an gestern schwappten in ihr durch, wie die Lichtfetzen durch das Fenster.

„Gut. Wir waren im SeaLife.“ Mirai blickte durchs Fenster und lachte kurz hämisch.

„Natürlich wart ihr das...“ sagte er, als wäre es ein offensichtlicher Fakt gewesen. „Hattest du wenigstens Spaß?“ Anna nickte. Es war kurz still, Mirai drehte ihr das Gesicht zu – anscheinend hatte er ihr Nicken nicht gesehen. „Hm?“ fragte er nochmal nach fragend und Anna sagte etwas überrascht: „Ja! Ja… war ganz gut. Er kannte viele Fische.“ Mirai lachte kurz auf. Wusste er über Ren Bescheid?

„Sag mal, du hast doch 'ne Gang, oder? Wie sind die Leute so?“ Und damit fing er an, Anna auszufragen. Sie erzählte von Mika und Yuki, die sie seit jungen Jahren kannte, berichtete von Kiki und dem Vorfall mit den Mädchen aus ihrer Klasse und dass sie schon immer wusste, dass Kiki gemobbt wurde, weswegen sie das Mädchen überhaupt erst angeboten hatte, bei ihnen einzusteigen.

„Du beschützt also gerne kleine Schweinchen?“ bemerkte Mirai dabei grinsend, doch Anna schüttelte den Kopf.

„Ich beschütze gerne Wehrlose.“

„Oh.“ gab der Blondschopf leicht überrascht zu, „Das ist sehr ehrenvoll.“ Er schaute kurz aus dem Fenster, fing dann wieder an leise zu pfeifen und verfiel in Verschwiegenheit. Er schien kein Interesse an Anna zu zeigen. Doch dann ergriff er wieder das Wort: „Ich glaube, deine Leute brauchen dich zu sehr. Was machen sie, wenn du nicht da bist? Ich wette, keiner von ihnen kann überhaupt kämpfen. Wenn sich also irgendjemand mit ihnen anlegt, sind sie schutzlos.“ er klang leicht genervt, als würde Schwäche einen Würgreiz bei ihm auslösen.

„Deshalb bin ich ja meistens bei ihnen.“ gab Anna ziemlich rational zurück, aber nicht mehr so genervt wie heute morgen. „Und in Situationen wie diesen, wo ich auf ein Date entführt werde, haben sie ja noch Adam.“

„Hey.“ Mirai hatte sich ihr zugewandt und führte seine Hände über ihre Haare, bis er sich seine Lieblingssträhne raus gezogen hatte und sie im Sonnenlicht drehte. „Wer ist eigentlich Adam?“

„Hm?“ Anna klang überrascht. War er etwa an Adam interessiert? Sie grübelte kurz. Könnte sie ihm tiefer in die Augen schauen, könnte sie seine Gedanken lesen. Doch auf so eine Frage konnte man vielleicht antworten. Vielleicht auch ein bisschen frech werden.

„Ich kenne Adam schon mein ganzes Leben lang. Ich glaube, er war der erste, den ich jemals richtig geliebt habe.“ Sie beobachtete seine Reaktion. Er ließ ihre Strähne fallen und wandte seinen Blick wieder gen Fenster.

„Achso...“ sagte er desinteressiert. Und Anna machte sich aus irgendeinem Grund Sorgen.

Die Zeit verging angenehm schnell. Es war ruhig, das Rattern der Zugräder auf den Gleisen verfiel in einen entspannten Rhythmus und die Szenerie änderte sich langsam von Stadt in Land.

„Wir sind gleich da.“ Mirai stand irgendwann auf und zog sich sein Sweatshirt wieder über, dass er in der Hitze der Sonne ausgezogen hatte. Auch Anna stand auf, um ihre Sachen zusammen zu packen, doch ehe sie sich den Rucksack aufsatteln konnte, griff Mirai danach. „Ist okay, ich trag das.“ sagte er mit einem Lächeln und schulterte Annas Rucksack. Dann führte er sie zu den Türen.

Der Bahnhof war komplett leer. Tatsächlich war es nur irgendeine Plattform irgendwo im Nirgendwo – es gab nicht einmal eine Straße, die wo hin führte, nur einen kleinen Trampelpfad nach oben in den Wald, auf den der Junge schnurstracks zu ging. Anna war verblüfft von der Natur – sie wuchs wild und ungestüm über alles, was sich ihr in den Weg stellte. Die Sträucher am Rand des Pfades waren brusthoch, manchmal streichelten Anna die Blätter im Vorbeigehen. Schmetterlinge blitzten im Sonnenlicht durch die dichten Baumkronen auf. Es war erstaunlich: Obwohl der Frühling erst vor kurzem begonnen hatte, schien er hier schon Jahre vorzuherrschen. Der Weg wurde langsam aber sicher immer unebener und die Kiesel, die auf ihm lagen, zu faustgroßen Steinen. Die beiden schienen sich immer mehr von der Zivilisation zu entfernen. Es wurde langsam Mittag und die Sonne brannte heiß im Nacken des Mädchens, langsam fing sie an zu schwitzen. Auch Mirai wurde warm; er zog sich sein Sweatshirt wieder aus und band die Ärmel um seine Hüfte. Dann griff er nach Annas Hand. Sie war stark, warm, leicht verschwitzt. Anna wäre es in einer anderen Situation wahrscheinlich unangenehm gewesen, einfach so die Hand eines Jungens zu halten, doch in diesem Moment gab es ihr ein Gefühl der Sicherheit und Bodenständigkeit.

Nach weiteren 20 Minuten des Kletterns waren die beiden auf einer Plattform angekommen, die umringt von hohen Ahornbäumen war und schützenden Schatten in der Mittagssonne bot. Anna keuchte vor Anstrengung und ließ sich auf eine der kühlen Steinbanken fallen. Mirai lachte bei dem Anblick, setzte sich neben sie und reichte ihr die Flasche mit Eistee. Gierig trank Anna davon. Wahrscheinlich etwas zu gierig, denn beim Absetzen spritzte etwas von dem süßen Getränk an ihr Kinn und lief ihr die Kehle hinunter.

„Du trinkst wie ein Schwein.“ lachte Mirai neckisch, beugte sich vor und leckte ihr den Tropfen vom Hals.

„Was...“ Der Grund dafür, dass sie plötzlich so rot im Gesicht war, war bestimmt die Aufregung. Ihr Hals wurde plötzlich trocken.

„Guck nicht so erschrocken.“ Mirai wischte sich mit einem Finger über die Lippen. „So schmeckt es besser.“.

Bevor sie allerdings etwas erwidern konnte, hörte sie ein Rascheln in den Bäumen. Dann neben sich. Völlig aus dem Konzept entrissen drehte sie sich um, um zu sehen, was es war. Nichts. Auch Mirai starrte in den Wald. Seine Augen suchten etwas. Dann stand er auf. „Wir sollten weiter gehen, es ist nicht mehr weit.“ Er griff nach der Flasche und verstaute sie diesmal in seiner Umhängetasche, ehe er nach Annas Hand griff. Widerwillig ließ sie es zu und stand auf, um ihm zu folgen.

Der Rest des Weges stellte sich als einfacher heraus: Es waren sich um den Berg nach oben hin windende Treppenstufen aus blankem Stein, als wären sie direkt in den Fels gehauen worden. Mirai ließ Annas Hand nicht los. Langsam lichteten sich die Bäume und das Mädchen sah, wie hoch sie schon gestiegen waren: Man sah die Gleise, auf denen sie vor bestimmt ein, zwei Stunden entlang gefahren waren. Ansonsten sah man nur Felder mit angebautem Reis. Ein großer Vogel glitt in der Ferne über sie, auf der Suche nach Beute.

„Komm schon.“ Aufregung lag in Mirais Stimme. Es dauerte weitere zehn Minuten, ehe sie, davon Anna keuchend, oben angekommen waren. Ein riesiges Haus bäumte sich vor den beiden auf und erinnerte irgendwie an einen Tempel. Große Marmorsäulen umringten das Gebäude und den Hof, der sich seitlich daran erstreckte. Das Grundstück war umringt von Steinmauern, wahrscheinlich der selbe Stein, aus dem auch die Stufen bestanden. „Lass uns reingehen.“ Mirai zog den Rucksack von den Schultern.

„Warte, hier wohnst du?“ Anna klang geschockt. Es war totenstill, es schien keine Menschenseele hier zu sein.

„Jau.“ gab Mirai gelassen zurück, erklomm die letzten Stufen zum Haus und zog sich die Schuhe auf dem Holzboden auf. „Komm schon!“ Die Türen öffneten sich.

Es war leer. Die kühlen Steinmauern ließen nur durch vereinzelte, mit Spinnenweben verhangene Fenster, Licht in die kahlen Flure. Der Dielenboden gab mit einem knarzendem Ton unter Annas Gewicht nach, während sie Mirai durch das Haus führte. Sie kamen an ein paar Schiebetüren aus Papier vorbei, hinter denen sich Anna noch verborgene Räume befanden. Alles in allem war es ein riesiges Haus, vielleicht sogar ein Palast, aber komplett leer und runter gekommen.

Die beiden waren am Ende des langen Flures angekommen und Mirai bog links in einen Raum ab, aus dem man Geräusche hören konnte.

„Yo.“ sagte er gelassen und verwickelte sich in ein Gespräch über den Verlauf des Abends. Da Anna nur schwer einen Blick auf seinen Gesprächspartner werfen konnte, wandte sie den Blick ab und ging rechts herum in den Innenhof. Dort befand sich ein riesiger Baum: er trug rosafarbene Blüten, deren Blätter langsam auf einen Teich flatterten und dort in aller Ruhe auf dem Wasser glitten. Es war ein Bild der Idylle, das Anna wohl für mehrere Minuten in den Bann gezogen hatte, denn plötzlich fühlte sie Mirais warme Hand auf ihrer Schulter und sie drehte sich um.

„Ich möchte dir was zeigen. Kannst du noch laufen?“ Er grinste schon wieder, als würde er Anna unterschätzen.

„Alles gut. Wohin geht’s?“ fragte sie cool nach, auch wenn ihre Füße noch heiß vom Bergsteigen waren.

„Noch ein bisschen in den Wald. Ich hab' uns was zu trinken geklärt, aber wir kommen wahrscheinlich nicht vor abends zurück. Am besten gehst du noch mal auf die Toilette.“ Er lachte kurz bei der Bemerkung. Annas Blick fiel auf ihr Handy. Neben der Anzeige, dass sie keinen Anfang hatte, verriet ihr die Uhrzeit, dass es gerade mal halb eins war.

Nachdem Anna Mirais Rat befolgt hatte machten sich beide wieder Richtung Ausgang auf. Den Rucksack brauchte die Blondine wohl nicht, meinte Mirai, es wäre nur unnötiger Ballast. Er selbst hatte mehrere Flaschen Wasser in seiner Umhängetasche, auch wenn Anna nicht ganz klar war, woher. Das Haus sah so aus, als hätte seit Jahren keiner mehr dort gewohnt, geschweige denn eingekauft.

Die beiden folgten dem kleinen Weg, den sie hoch gekommen waren, einige Minuten, bogen dann aber in eine andere Richtung ab. Die Bäume, die sich zum Berg hin immer weiter gelichtet hatten, wuchsen hier umso dichter und machten das Vorankommen schwer. Automatisch griff Anna beim Stolpern nach Mirais Sweatshirt, das er sich wieder angezogen hatte, wobei der Junge schmunzeln musste und seine Hand ausstreckte. Ohne zu fragen griff er nach Annas Hand und fing an, sie durch die Windungen der Bäume zu führen.

„Hast du jemals vom Affenkönig gehört?“ fragte Mirai nach einigen Minuten, als der Weg wieder etwas ebener wurde.

„Du meinst … wie DBZ?“ Anna klang unsicher, doch Mirai lachte.

„Naja, nicht ganz.“ gab er zu. „Der Affenkönig ist mittlerweile eine Figur aus chinesischen Volkssagen. Man sagt sich, dass der Wind ein steinernes Ei mit den Düften der Erde befruchtete, und aus diesem Ei wuchs ein Affe mit der Kraft der Sonne. Sun Wukong nennen ihn die Chinesen. Wukong hatte sehr viele Kräfte, unter anderem konnte er sich wohl in 42 verschiedene Kreaturen verwandeln und war sehr klug. Klug genug, um seine Kräfte dazu zu nutzen, sich eine Armee aufzubauen und den Himmel stürzen zu wollen. Ich glaube, die da oben waren so überrascht, dass sie Buddha riefen. Und dieser hat Wukong dann mit allen Elementen an einen Felsen gebunden. Ich glaub', es war so um die 500 Jahre später, dass er erst befreit wurde.“ Man hörte Rascheln in den Büschen. Irgendjemand folgte den beiden. Anna begann, sich unwohl zu fühlen. Sie konnte die Geschichte Mirais gerade nicht hinter fragen, denn Bilder von Super Saiyajins, gemischt mit Geräuschen ihres Verfolgers, flogen ihr durch den Kopf.

„Jedenfalls wurde Wukong dann von einem Mönchen befreit und ging mit ihm auf Reisen. Dieser Mönch hieß Xuanzang. Aber er war nur ein Mensch, Wukong war unsterblich. Xuanzang starb.“ Mirai blieb kurz stehen und schaute durch die Bäume. Er schien nachzudenken. „Was glaubst du, hat Wukong dann gemacht?“ fragte er das Mädchen plötzlich. Der Griff um ihre Hand wurde lockerer, legte sich unter ihre. Mirai hatte sich umgedreht und schaute Anna in die Augen. Seine zweite Hand legte sich auf ihre und plötzlich merkte sie, wie zärtlich sie sein konnten. Wie vom Augenblick verzaubert starrte sie Mirai einfach nur entgegen. Sie wusste nicht, was Wukong dann getan hätte. Als hätte Mirai das geahnt, begann er zu lächeln. Es war ein wehleidiges, schiefes Lächeln, als täte ihm etwas Leid. Rascheln. Fußgetrappel. Anna hatte sich geirrt. Es war nicht ein Verfolger, es waren mehrere. Nun konnte man es deutlich hören – sie wurden umzingelt. Nein, sie waren von Anfang an umzingelt worden. Ein Kreischen kam aus einer naheliegenden Baumkrone. Sie war zu dicht, um zu erkennen, wer es verursacht hatte. Mirais Hand streichelte erneut beruhigend über Annas.

„Ich kam zurück zu meinem Berg und baute mir erneut eine Armee auf.“

Kreischen. Aus allen Baumgipfeln, Büschen, und Felswänden. Überall waren Affen. Es mussten um die hundert gewesen sein und es war ein ohrenbetäubender Lärm. Sie klatschten mit ihren Händen auf den Boden oder die Felsen, trommelten mit ihren Fäusten auf ihrer Brust herum. Und obwohl sie vielleicht nur einen halben Meter groß waren, kreischten sie mit allem, was die Lunge hergab. Es war wie ein Kriegsschrei, um dem Kommandanten zu bedeuten, dass sie zum Sterben bereit waren. Und das war einer der wenigen Momente, in denen Anna tatsächlich Angst verspürte. Mirai spürte, wie Annas Hand zu zittern begann. Das vom Klettern gerötete Gesicht wurde kreideweiß. Sie starrte die Affen an, als würden sie das Mädchen jeden Moment anfallen und zerfleischen wollen.

Vorsichtig zog Mirai sie an ihrer Hand zu sich, legte seinen Arm um ihren schmalen Körper und streichelte über ihren Kopf. Erneut merkte sie, wie groß und muskulös er eigentlich war, denn diese halbe Umarmung reichte schon, um sie komplett einzufangen.

„Keine Angst.“ hauchte er in ihr Ohr und die Affenschreie stoppten. „Du bist nicht hier, um ein Opfer zu werden. Wenn dann bist du hier, um ihre Königin zu werden.“

Anna spürte, wie ihr Puls raste. Ihre Halsschlagader pulsierte, was es ihr schwer machte, Luft zu holen. Stocksteif drückte sie ihren Rücken an Mirais Brust. Ja, sie sollte eine Königin werden. Es fiel ihr wieder ein. Sie war kein normales, süßes und braves Mädchen. Sie war eine Königin, schon jetzt. Sie holte tief Luft, hob ihren Brustkorb an und schloss kurz die Augen, bevor sie wieder ausatmete und den Körperkontakt zu Mirai löste. Dennoch hielt sie seine Hand fest, anscheinend doch noch etwas unsicher in Anbetracht der Situation. Doch Mirai legte ihren Arm um ihren Bauch, um sie wieder an sich zu ziehen.

„Wieso gehst du? War doch schön so.“ lachte er kurz.

„Lass mich los.“ erwiderte Anna nun giftig und wurde knallrot im Gesicht. Lachend ließ er sie los und verstaute seine Hände in den Hosentaschen.

„Kannst ja doch ganz süß sein.“ Währenddessen hatten sich die Affen, große und kleine, aus den Verstecken gewagt. Große Knopfaugen starrten Anna anbetungswürdig an.

„Sie sind ein bisschen nervös. Ich hatte ihnen zwar gesagt, dass ich dich hierher bringe, aber geglaubt haben die Biester es nicht.“ Mirai rollte mit seinem Fuß einen Stein hin und her. Doch die wichtigste Frage, die Anna im Moment hatte, war:

„Du verwandelst dich doch nicht in einen blonden Alien, wenn du wütend bist, oder wirst zu einem riesigen Gorilla, der bei Vollmond Städte zerstört?“

Mirais Lachen erfüllte den ganzen Wald. Auch die Affen kreischten kurz belustigt auf.

„Nein, nein. Sowas mach ich nicht. Außerdem bin ich doch schon blond!“ Der Junge wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Okay.“ antwortete Anna, merkwürdig beruhigt, und beugte sich zu einem jungen Affen hinunter, um ihm zögerlich über den Kopf zu streicheln. Er genoss es anscheinend. „Nun dann, wieso bin ich genau hier?“ Mirai dachte kurz über die Antwort nach und legte gedankenversunken seine Hand ans Kinn. „Naja. Jetzt, wo du weißt, woher ich komme und wieso ich wieder hier bin, müssten wir zum eigentlichen Problem kommen. Das hier ist eine Hochburg für Affen, ich bin ihr König. Das ist ja klar.“ Fügte er etwas arrogant hinzu, fuhr aber fort: „In letzter Zeit – wohl eher Jahre – haben wir ein paar Problemkinder hier. Sie dringen in unser Territorium ein. Sie zerstören die Nester und haben auch schon ein paar von uns getötet. Nur die Jungen töten sie nicht sofort. Die fressen sie.“ Mirais Stimme wurde immer genervter, bis sie schließlich in einem wütenden Knurren endeten. Anna schaute von Mirai zu dem Affen, den sie gestreichelt hatte und der gerade mit seinen winzigen Händen ihre Finger begutachtete.

„Von welcher Art Problemkinder reden wir hier?“ fragte sie besorgt. Wenn sie Affen fressen würden, konnten es wohl keine zahmen Katzen sein.

„Wölfe.“ Mirai war plötzlich umringt von Affen, die ihm Früchte und Blätter reichten. Ein paar segnete er ab, ein paar schmiss er Richtung Abhang. Anna schluckte. „Sie sind hierher gekommen, seitdem man den Wald für neue Häuser und Wohnungen rodet. Ich dachte zuerst, dass Menschen das Problem sein würden, aber es stellt sich heraus, dass wir noch andere Feinde haben.“ Mirai drehte eine Frucht in seinen Händen herum und dachte nach. „Naja, wir haben noch was zu tun. Wir sind ja nicht nur zum Reden hier.“ Er drückte Anna die Frucht in die eine Hand und nahm ihre andere wieder an sich. „Tatsächlich haben wir einen von ihnen gefangen. Obwohl er der Anführer ist, war es echt einfach.“ Der Junge lachte kurz höhnisch auf und begann, Anna noch tiefer in den Wald zu führen.

„Wie hast du ihn denn gefangen?“ fragte das Mädchen nun. Es tat ihr nicht Leid, dass ein solches Monster gefangen wurde, nachdem es die ganzen jungen, süßen Äffchen gefressen hatte.

„Was glaubst du denn? Ich bin schließlich Wukong.“

Es dauerte eine Weile, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Die Affen folgten ihnen alle. Hier und da spielten ein paar Jungen herum, zogen Anna an der Jacke oder an den Hosenbeinen. Einer wollte an ihren Schnürsenkeln herum knoten, wurde aber mit einem Zischen Mirais davon abgehalten. Anna fand die Tierchen wirklich süß, also dauerte es nicht lange, bis sich ein Zwillingspärchen der Affen auf jeweils einer Schulter Annas nieder ließen. Anna selbst hatte nichts dagegen, allerdings fügte das einiges an Gewicht zum Tragen hinzu. Plötzlich machte Mirai halt.

„Du musst deine Jacke ausziehen.“ sagte er nun schroff. Anna, die die Jacke während der ganzen Zeit, seit sie das Haus verlassen hatten, aus Angst wegen der Mücken anbehalten hatte, schaute ihn nun verblüfft an, folgte dennoch seiner Aufforderung. Die Äffchen sprangen von ihren Schultern. Als sie die Jacke gerade um ihre Hüfte binden wollte, hielt Mirai sie davon ab, indem er die Jacke an sich nahm. Wortlos führte er sie noch einige Meter durch den Wald. Die Vögel zwitscherten hier nicht. Tatsächlich waren die einzigen Geräusche, die das Mädchen vernahm, das Knacken der Äste, über die die Truppe lief.

Als sie ankamen, stockte Anna der Atem. Es war eine kleine Lichtung, die fast komplett durch einen großen Käfig aus Holzstämmen gefüllt war. In diesem Käfig sah man einen riesigen Wolf. Sein silbernes Fell glänzte in der Sonne. Er hatte kristallblaue Augen, die Anna fast als ihre eigenen verwechselte. Der Wolf, der anscheinend gelangweilt an einem der Stämme seine Klauen wetzte, schaute langsam auf. Als er Mirai sah, fing er an zu knurren.

Das Problemkind

„Na wie geht’s, Gevatter Wolf?“ Mirai ließ Annas Hand los und lief schnurstracks zum Käfig. Anscheinend belustigte ihn die Ansicht und anscheinend war der Riesenwolf das schon gewohnt. Gelangweilt schnaubte er aus, sodass er ein paar Staubschwaden vom Boden löste. „Immer noch der alte Griesgram, hm?“ Der Wolf schaute den Affenkönig nun genervt an. Seine Schnauze hätte mit Leichtigkeit um Mirais Kopf gepasst, doch anscheinend machte er keine Anstalten, zu kämpfen. Er wandte den Blick ab und richtete ihn nun auf Anna. „Oh, das? Das ist meine Freundin.“ grinste Mirai nun. „Komm her.“

Anna folgte Mirais Aufforderung erneut ohne zu Hinterfragen, bis sie einige, wenige Meter vor dem Käfig stehen blieb. Der Wolf war gigantisch. Mirai war schon groß gewesen, doch alleine im Sitzen war der Wolf zwei Köpfe größer als er.

„Ist sie nicht hübsch?“ lachte Mirai nun und legte seine Hand wieder um ihren Rücken auf ihre Schulter. „Vielleicht heirate ich sie bald.“ fügte er neckisch hinzu. Der Wolf machte ein Geräusch, als würde er husten und begann dann hämisch zu hecheln. „Du glaubst wohl nicht, dass ich mal eine Braut haben werde?“ fragte Mirai nun giftig und griff mit seiner freien Hand nach den Barthaaren des Wolfes. Das „Lächeln“ des Wolfes verschwand und er begann erneut zu knurren, nur diesmal um einiges gefährlicher. Anna spürte, wie sich ihr ganzer Körper anspannte.

„Aber ich bin nicht nur hier, um anzugeben...“ Mirai ließ den Wolf los und Anna spürte, wie auch sein Griff ihr gegenüber lockerer wurde. Er drehte das Mädchen behutsam um, sodass sie mit dem Rücken zum Wolf stand. Dann zog er Top etwas runter, um ihren Rücken komplett zu entblößen. Anna spürte den heißen Atem des Wolfes auf ihrem Rücken. Sie bekam Gänsehaut. Plötzlich hörte man, wie ein ohrenbetäubendes Bellen die Stille unterbrach. Der Wolf war, so gut es in dem für ihn zu kleinen Käfig ging, auf alle vier Pfoten gesprungen und bellte wie verrückt Annas Rücken an. Anna wäre fast vor Schreck weggesprungen, doch Mirais Arm hatte sich gegen ihren Bauch gedrückt und hielt sie davon ab. Er begann zu lachen. Es war ein wildes, verrücktes und triumphierendes Lachen, das fast das Bellen des Wolfes übertönte. Anna wurde heiß und kalt zugleich. Das Bellen des Wolfes erstarb, man hörte nur noch das wilde Lachen des Affenkönigs.

„Was willst du?“ Die Stimme des Wolfes war so tief, man könnte meinen, es wäre reiner Bass. Sie drang bis zu Annas Brustkorb vor, wo der Druck auf ihr lastete und es ihr schwer machte, zu atmen. Die Krallen des Wolfes bohrten sich vor Zorn in den Boden.

„Ich muss dir also nicht erst erklären, dass das unsere Königin ist, ja?“

„Natürlich nicht...“ erneut brummte die Bassstimme so tief, dass Anna fast mit bebte.

„Ich will, dass ihr verschwindet. Aus dem Wald und aus dieser Gegend. Und ich will euch nie wieder sehen.“ Mirais Stimme klang immer noch angriffslustig, doch nun lag ein Tonfall dabei, als würde er es todernst meinen. „Und natürlich wirst du sterben müssen.“

„Du hast schon meine Jungen getötet. Ich habe keinen Grund weiter zu leben, wenn ich nicht mal mein Rudel beschützen kann.“ Die Stimme des Wolfes klang resigniert, lebensmüde und fast sogar traurig. Genau die Gefühle, die Anna gerade nicht teilen konnte. Sie griff nach Mirais Arm, der sie festhielt, und stieß ihn beiseite.

„Was meint er mit 'Du hast schon meine Jungen getötet'? Ich dachte, er hat deine gefressen?“ Blanke Wut spiegelte sich in ihren Wörtern wieder und der muskulöse Arm, den sie festhielt, gab langsam unter ihren Fingernägeln nach. Mirai zog ihn aus ihrem Griff und zischte kurz auf. Ihre Nägel hinterließen rote Kratzer auf ihm.

Wütend keifte er zurück: „Natürlich mussten wir das machen, er hat ja auch unsere getötet! Sogar gefressen!“

Anna holte aus, doch bevor ihre Hand seine Wange traf, hatte sich seine schon um ihr Handgelenk gelegt. All die Muskeln waren nicht nur für Schau – es tat weh.

„Misch dich nicht ein.“ zischte er leise und mit einer barschen Bewegung schleuderte er Annas Hand wieder weg.

Doch Anna gab nicht nach. „Natürlich mische ich mich ein! Du willst mich als Druckmittel benutzen, um die Wölfe zu vertreiben. Okay! Dagegen hab' ich nichts. Aber wenn du mir erzählen willst, dass du die gleichen barbarischen Methoden benutzt und hilflose Jungen abschlachtest, kannst du nicht mit meiner Hilfe rechnen!“ fauchte sie und ihre Stimme wurde immer lauter. Die Affen, die bisher schweigsam in den Baumkronen saßen, fingen nun an, wie wild zu schreien. Die Luft war gefüllt mit Wut und Frustration.

„Du hast nicht das Recht, dich mir hier zu widersetzen!“ rief Mirai nun, noch lauter, und der Affenchor stimmte mit in sein Gebrüll ein. Anna starrte Mirai an. Ihre Brust bebte. Adrenalin rauschte durch ihr Blut. Ihr Rücken wurde heiß. Sie wandte sich den Affen zu.

„RUHE!“ Ihre Stimme hallte mit so einer Boshaftigkeit durch die Lichtung, dass alle Geräusche starben und es zur erneuten Ruhe kam. Das Fell des Wolfes hatte sich aufgestellt. Auch Mirai hatte jeden Muskel seines Körpers angespannt. Die Affen verstummten in Angst. Anna packte Mirai am Shirt und zog den Jungen an sich ran, bis ihre Nase auf seiner lag. Sie schaute ihm in die Augen. Sie musste wissen, was er vor hatte.

In diesem Moment konnte sich Mirai nicht wehren. Wie paralysiert ließ er sich zu ihr ziehen. Ihre Augen, die sonst der Farbe eines wolkenfreien Himmels erinnerten, wurden blass wie Eis. Er spürte die Hitze, die ihre Wangen ausstrahlten. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie sich ihre Brust unter dem leichten Top schnell hob und senkte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie ihn plötzlich los ließ und sich von ihm abwandte. Statt ihn noch eines Blickes zu würdigen, ging sie auf den Wolf zu. Die Stämme, die ihn gefangen hielten, waren noch breiter als sie selbst. Der große Kopf des Tieres, der sie vor Minuten noch eingeschüchtert hatte, war nun nur noch weniger Zentimeter von ihr entfernt. Sie legte ihre Hand auf seine Schnauze, die kurz weg zuckte, sich dann aber der Berührung hin gab. Auch ihm schaute sie für ein paar Sekunden in die Augen.

Dann seufzte das Mädchen. „Tut mir Leid, dass ich gebrüllt habe.“ meinte sie nach einigen Sekunden beschämten Schweigens. Mirai verstaute seine Hände wieder in die Hosentaschen. Er schien zu schmollen.

„Besser ist.“ meinte er grimmig.

„Ich will, dass du etwas für mich tust.“ fuhr Anna nun fort. „Ich möchte, dass du den Wolf frei lässt. Wir gehen zu seinem Rudel.“

„Das kann nicht dein Ernst sein!“ erneut fing Mirai an zu schreien, auch die Affen schienen mit der Aufforderung unzufrieden zu sein und begannen, frustriert aus ihren Verstecken zu kreischen. Anna erhob nicht erneut die Stimme, stattdessen funkelte sie Mirai mit einem Blick an, der kein „Nein“ zuließ.

„Oh mein Gott.“ flüsterte Mirai nun hasserfüllt und begann, die Tür des Käfigs zu öffnen. „Er rennt weg, sobald er frei ist. Oder noch besser: Er tötet uns alle.“ grummelte er. „Ich hoffe, du bist dir dessen bewusst!“ fauchte er Anna an. Doch diese stand einfach nur da und schaute zu, wie Mirai und ein paar größere Affen, die sich nun trauten, zu helfen, die Seile lösten.

Die Käfigtür öffnete sich und zum Erstaunen (fast) aller Anwesenden machte der Wolf keine Anstalten, irgendjemanden anzugreifen, geschweige denn zu fressen. Mirai sah verwirrt aus. Mit einem schwer einzuschätzenden Blick sah er zu, wie der Wolf aus dem Käfig trottete. Nun, da er frei war, war die Größe überwältigend. Sogar Anna, die anscheinend die Situation im Griff hatte, ging zögerlich einen halben Schritt zurück. Der Wolf musste bis um die drei Meter groß sein. Das Mädchen schaute kurz den Riesen an, ging dann aber zu Mirai und griff seine Hand.

Eine Sekunde lang hätte er diese am liebsten beiseite geschlagen und wäre gegangen, hätte er nicht gemerkt, dass die Hand immer noch zitterte. Widerwillig wickelten sich seine Hände um die kleine, Schweiß bedeckte Hand. Wie konnte sie so cool aussehen, wenn sie solche Angst hatte? Es trieb ihn in den Wahnsinn. Vor allem ihre nächsten Worte.

„Bring uns zu den anderen Käfigen.“ murmelte das Mädchen leise und erneut seufzte Mirai genervt. Warum machte er das? Warum gehorchte er ihr? Hier war ER der König. Schroff zog er an ihre Hand und ging weiter die Lichtung hinunter. Der Wolf folgte schweigend. Das Geräusch des Aufschlags seiner Pfoten hallte dumpf durch die Bäume hindurch. Sein Kopf verschwand hier und da hinter Blättern. Schweigend liefen die drei, gefolgt von den Affen natürlich, für eine halbe Stunde durch den Wald. Dieser erstreckte sich anscheinend sehr viel weiter, als Anna anfangs vermutet hatte. Immer mehr sah man am Rand des Pfades violette Blumen aus dem Boden sprießen. Der Wolf stieß ab und zu angeekelt Luft aus der Nase. Einmal trafen seine Nasentropfen Annas Rücken, der nun wieder mit ihr Jacke verhüllt war, hinterließ jedoch trotzdem ein ekelhaftes Gefühl.

„Wir sind da.“ Mirai ließ Annas Hand los. Er war immer noch genervt, doch das interessierte die Blondine gerade herzlich wenig.

Erneut eröffnete sich eine Lichtung vor ihr, in der ein Käfig stand. Dieser war kleiner und umringt von den selben, violetten Blumen, die sie auf dem Hinweg schon gesehen hatte. In diesem Käfig waren vier kleine Wolfsjungen. Beim Anblick der Welpen lief der große Wolf an den Menschen vorbei und schnüffelte am Käfig herum.

„Du hast mit den Blumen ihren Duft überdeckt...“ k0nurrte nun die tiefe Bassstimme wieder. Die Welpen reckten sich der großen Schnauze ihres Alphatiers entgegen und fingen an, zu heulen und zu wimmern. „Du hast sie nicht getötet...“

„Natürlich nicht.“ Mirai rümpfte beleidigt die Nase. Als Anna ihm in die Augen gesehen hatte, konnte sie genau dieses Bild sehen. Das Bild von den Welpen im Käfig, umringt von Blumen. Auch sie gesellte sich nun zu den Tieren.

„Silver.“ sagte sie nun auffordernd. Ihr Blick war auf die Welpen geheftet, doch der Alpha sah sie nun an. „Du wirst einen von ihnen mir geben.“

Nicht nur der Wolf, sondern auch Mirai, sah sie nun geschockt an.

„WAS?“ Mirai klang aufgebracht und machte große Schritte auf sie zu. Anna war wieder aufgestanden. Der Wolf, der anscheinend auf den Namen „Silver“ hörte, seufzte genervt.

„Ich habe sie gerade erst wieder. Warum sollte ich sie einem Menschen anvertrauen?“ fragte er verbissen.

„Einem Menschen?“ entgegnete Anna nun kühl. „Du denkst wohl, deine Freiheit hat keinen Preis.“

Der Wolf beugte sich zu dem kleinen Mädchen hinunter. Die große Schnauze, die bisher keine Zähne gezeigt hatte, entblößte nun messerscharfe, weiße Reiszähne, die die Größe von Schwertern hatten. Affen rannten auf die Lichtung und begannen zu schreien, während sie sich vor und um Anna aufbäumten. Vielleicht stimmten sie Annas Entscheidung nicht zu und vielleicht waren sie auch enttäuscht und frustriert über Anna, die den Wolf hat gehen lassen, aber der Hass gegenüber dem Alpha war immer noch größer und tiefsitzender. Auch Mirai hatte sich, widerwillig und frustriert, schützend neben die Blondine gestellt.

„Selbst mit diesen Affen hast du keine Chance, wenn du denkst, ich würde meine Jungen kampflos aufgeben.“ Der Wolf fletschte die Zähne. Einmal schnappen, dann wäre ihr süßer, kleiner Kopf weg gewesen.

Anna schaute ihn eine Weile lang unbeeindruckt an. „Du verstehst mich falsch. Ich nehme eines deiner Jungen als mein Mündel auf. Es wird so lange bei mir sein, wie die Verhandlungen dauern.“

„Was für Verhandlungen?“ sagte der Wolf nun noch aggressiver als vorher.

„Die Verhandlungen, die darüber entscheiden, ob ihr hier im Wald bleibt oder nicht.“

„Bitte?“ fragte Mirai nun schockiert und fuhr herum, um Anna an den Schultern zu packen.

„Mirai. Sie haben keinen Platz. Kein Zuhause. Du musst doch wissen, wie sich das anfühlt.“ Und Mirai wusste es auch. Aber er wollte es nicht zugeben.

„Das ist noch lange kein Grund, um sie dazu einzuladen, meine Freunde zu fressen.“

„Werden sie auch nicht, keine Sorge.“ Im Gegensatz zu Mirai, der nicht nur so aggressiv wie der Wolf klang, sondern auch noch leicht beängstigt, war Anna ruhig. Nicht gelassen, aber gefasst.

„Passt auf.“ Sie löste sich aus Mirais Griff, ging zum Käfig, schaute kurz die Welpen an, und deutete dann mit dem Finger auf den einzigen weißen Wolf darin. „Er kommt mit uns. Der Rest geht mit Silver zurück zum Rudel. Wir werden sehen, dass wir eine Einigung finden können, was eurer beide Territorien angeht.“

„Ich teile mein Königreich nicht mit Kötern.“ fauchte Mirai. Der Alpha knurrte.

„Wie gesagt, wir finden eine Einigung. Sobald wir etwas gefunden haben, schicke ich den Welpen zurück. Ich kann doch darauf vertrauen, dass du solange nicht angreifst, oder Silver?“ fragte das Mädchen nun charmant den Riesenwolf. Dieser schien kurz unzufrieden zu überlegen, bis er schließlich schnaubte.

„Sein Name ist Beast.“ Die sonst so laute, basshaltige Stimme wurde plötzlich zu einem sanften Murmeln. Anna betrachtete kurz den Welpen, musterte ihn und schmunzelte dann: „Ich glaube, ich nenne ihn Shiro.“

„Mach, was du willst, Königin.“ verhöhnte der Alpha Anna und begann, am Käfig herum zu nagen. Mirai setzte sich in Bewegung und begann, die Seile an diesem Käfig auch zu lösen.

Einer nach dem anderen verließen die Jungen das Holzgefängnis, drei von ihnen schmiegten sich an ihren Vater. Nur Shiro blieb im Käfig zurück. Silver begann zu knurren und bellte den Käfig an, als würde er wollen, dass sich 'Beast' in Bewegung setzte. Doch der Kleine blieb mucksmäuschen still im Käfig sitzen. Anna beugte sich runter und krabbelte in den Käfig. In dieser Sekunde hätte Mirai am liebsten die Tür wieder zu geschlagen, doch beobachtete er sie lieber vorher noch ein bisschen. Sie streckte ihre zarten Ärmchen dem Baby entgegen. Dieses schien nicht interessiert. Seine großen, blauen Augen waren auf Anna fixiert und zeigten keinerlei Angst, Wut oder andere, jegliche Emotion. Silver schnaubte genervt.

„Er schmollt. Er will nicht zu dir und den Affen.“

Anna begann zu lächeln. „Das macht ihn perfekt für uns.“ murmelte sie dem Welpen entgegen. Sie rutschte noch ein bisschen näher, legte ihre Hand unter seine Schnauze. Die Nase des jungen Wolfes zuckte kurz. Nach einer kleinen Pause leckte seine Zunge blitzschnell über ihre Finger.

„Na also.“ Anna klang zufrieden mit sich. Ohne große Umstände packte sie sich den Welpen und klemmte ihn unter ihren Arm, um aus dem Käfig raus zu kommen.

Sie spürte die Blicke aller Anwesenden auf sich. Die Affen schienen zögerlich und behutsam immer mehr Abstand zu ihr zu nehmen. Schmerzhaft nahm sie das in Kauf. Sie drückte Mirai den Welpen in die Hände und wandte sich an Silver. „Ich glaube, es wäre besser, wenn du auf meine Nachricht wartest. Ich muss erstmal alles mit ihm hier besprechen.“ Mit ihrer Hand deutete sie kurz in Mirais Richtung. Ohne ein weiteres Wort wandte sich der riesige Wolf ab, richtete sich auf und trottete los, gefolgt von den drei befreiten Jungen.

„Du kannst alleine laufen, oder?“ Anna richtete sich an Shiro, der nun tonlos in Mirais Armen ruhte, auch wenn dieser ihn wie eine scharfgemachte Bombe hielt. „Okay.“ sagte das Mädchen zufrieden, nahm Mirai den Welpen ab und stellte ihn auf den Boden.

„Du hast mir einiges zu erklären, junge Dame.“ Mirai schäumte vor Wut. Anna schluckte. Erst jetzt übermannte sie die Autorität des Affenkönigs wieder. Der Befehlshaber des Waldes. Sie setzte ein schräges Lächeln auf, es fiel ihr schwer, ihre gewohnte „Queen Attitude“ aufrecht zu erhalten.

„Hmm… Ja.“ gab sie leise zurück. „Ich erklär's dir, wenn wir alleine sind.“

„Kein Problem.“ sagte Mirai kühl, dennoch spürte sie seinen Zorn in seiner Stimme. Erneut bildeten sich Schweißperlen in ihrem Rücken.

Mit einem Rascheln, als würde eine Böe durch die Lichtung reißen, rannten die Affen in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Nur Anna, Mirai und ein nicht begeistert aussehender Wolfswelpe blieben zurück.

Auch Anna begann in die Richtung zu laufen, aus der sie gekommen waren.

„Ìch weiß, dass du das nicht wolltest.“ begann sie zurückhaltend. Ihr schlechtes Gewissen hielt sie davon ab, Mirai anzuschauen. Um mit Sicherheit nicht seinen Blick zu treffen, lief sie etwas vor. Shiro trottete hinter ihr her. „Aber du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe. Der Wolf, den du gefangen hast, heißt Silverback. Er war noch ein Welpe, als er aus Europa hierher verschifft wurde. Er sollte abgerichtet werden und als Wachhund gegen die Füchse auf Farmen eingesetzt werden. Aber seine Herren waren nicht zufrieden mit ihm, also wurde er ausgesetzt. Er wurde mit einem Seil im Wald festgebunden und verhungerte schließlich.“

„Interessiert mich nicht.“ Mirai klang immer noch genervt. Der Kommentar schmerzte Anna ein bisschen.

„Jedenfalls ist das schon ein paar hundert Jahre her. Damals war hier noch überall Krieg. Die Toten bäumten sich, die verlorenen Seelen konnten nicht weiter, bla bla bla. Lange Rede, kurzer Sinn: Silver hat das ganze Böse in sich aufgenommen und kam als Wolfsdämon zurück. Er lebte in den Wäldern sehr weit nördlich von hier, gründete sein Rudel und lebte ganz zufrieden. Bis die Menschen wieder kamen und anfingen, die Wälder abzuholzen und ihm schließlich den Lebensraum raubten.“

Stille trat ein. Der Boden gab knirschend unter den Schritten der beiden nach. Anna traute sich immer noch nicht, Mirai anzusehen. Sie hatte einfach so über sein Territorium bestimmt, natürlich war er sauer. In seiner Position war es wahrscheinlich Hochverrat. Doch dann hielt sie etwas an ihrem Gürtel fest und hinderte sie daran, weiter zu laufen.

„Das interessiert mich alles nicht.“ Mirais Stimme war gefährlich nahe. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken. Seine Hand glitt über ihren Rücken zu ihrer Hüfte. Mit einem leichten Druck bestimmte er ihr, sich umzudrehen. Als Anna das tat, hatten die großen Hände sich bereits auf ihre Hüfte gelegt. Sie waren sich so nahe, wie vorhin, als sie seine Gedanken gelesen hatte, doch diesmal war es anders. Ein gefährlich aufregendes Prickeln lag in der Luft und Anna spürte, wie ihre Lippen unter der Anspannung bebten. „Du hast nicht mal gefragt.“ hauchte Mirais Stimme und er klang nicht mehr wütend, nicht mal genervt, sondern, fast liebevoll. Merkwürdig liebevoll. Seine Hände wanderten von ihre Hüfte über ihren Po und drückten das Mädchen an seinen Körper. Anna schaffte es nicht, den Blickkontakt länger aufrecht zu erhalten, und blickte beschämt zur Seite. „Du hast dich nicht einmal entschuldigt.“ fuhr der Junge fort. Anna starrte Shiro an, der immer noch völlig unbeeindruckt da saß und ihren Blick erwiderte.

„Tut mir Leid.“ sagte das Mädchen nun zögerlich und war beschämt darüber, wie leise und mädchenhaft ihre Stimme aus ihren Lippen hervor gepresst wurde. Kais Hand wanderte zu ihrem Kinn und zog daran, um ihren Blick wieder auf sich zu richten.

„Ich verzeihe dir.“ sagte er und führte ihr Gesicht etwas an sich heran. Er war zu groß, er musste sich zu ihr beugen. „Aber deine Freiheit ist nicht umsonst.“ Ein leichtes Grinsen umspielte seine Lippen, als er Annas Worte missbrauchte. „Einen Kuss als Entschädigung, das wird’s tun.“ fügte er charmant hinzu und sah, wie sich Anna bei dem Gedanken quälte. Doch sie widersprach nicht. Als Anna sich auf die Zehenspitzen stellte, hatte sie Angst, ihre Füße würden nachgeben. Ihre Beine waren wie Wackelpudding. Sie hatte nie daran gedacht, irgendjemanden zu küssen. Als ihre Lippen Mirais Haut berührten, spürte sie, wie das Beben in ihnen abklang. Seine Haut war merkwürdig weich und warm. Als ihre Füße den Boden wieder fanden glühten ihre Wangen. „Das muss reichen.“ säuselte sie leise.

Runterkommen

Mirais Blick ruhte auf ihrem Gesicht. Sie schämte sich, das sah er sofort. Doch auch sah er, dass sie nicht geekelt von dem Gedanken war, ihn zu küssen. Auch wenn es im Moment nur ein Kuss auf die Wange und unter gezwungenen Umständen war. Und als ihre Lippen sich auf seine Haut gelegt hatten, hatte er gespürt, wie ihre Macht in ihn drang. Anna war sich dessen bestimmt nicht bewusst gewesen.

„Ja, für's erste.“ gab er als Antwort und lächelte, auch wenn er nicht zufrieden war. Ein Kuss auf die Wange war lange nicht genug. Er war schon übermächtig, doch dieser kurze Kontakt offenbarte ihm, wieviel Kraft in diesem kleinen Mädchen schlummerte. So klein, so jung und so unerfahren wie sie war.

Als die beiden den Weg weiter entlang liefen, schwiegen sie. Anna schämte sich immer noch, das wusste er. Immer wieder strauchelte sie über Äste, die morsch auf dem Boden herum lagen, oder Steine, die sich aus der Felswand gelöst hatten. Plötzlich blieb sie stehen, anscheinend unsicher über die Richtung, die sie einschlagen sollten. Mirai nahm nun doch Annas Hand und führte sie zurück zum Haus. Sie verbrachten den Marsch schweigend. Anna wehrte sich nicht gegen die sanfte Führung, sondern nahm sie still an.

Am Haus angekommen, erfrischte ein Windstoß Annas Gedanken. Sie zog sich erneut am Eingang die Schuhe aus, doch bevor sie diese gerade hinstellen konnte, öffneten sich die Türen und ein unerwarteter Anblick bot sich ihr: Diener, am Eingang säuberlich aufgereiht, begrüßten sie. Blütenblätter regneten aus ihren Händen. Alle von ihnen waren braun gebrannt und hatten braune oder blonde Haare, so wie Mirai. Bevor Anna ihrer Verwunderung Ausdruck verleihen konnte, führte Mirai sie wortlos an den Dienern vorbei. Er brachte sie in einen Raum, der ihr davor noch verborgen war: Er war mit Tatami Matten ausgelegt und bot Blick in den Innenhof. Der Blick auf den Pfirsichbaum beruhigte sie ein bisschen. Shiro lief sofort zur geöffneten Terrassentür und setzte sich hechelnd, mit Blick auf den Baum, hin.

„Wer sind die ganzen Menschen?“ fragte Anna verwirrt, als sie sich an einen kleinen Teetisch setzte.

„Das sind die Affen von vorhin.“ antwortete Mirai knapp. „Wenn ich wieder komme, machen sie alles für mich. Putzen, kochen, Rücken waschen. Anscheinend waren wir heute ein bisschen zu früh da.“ fügte er hinzu. Beim genaueren Hinsehen fiel Anna auch auf, dass das Haus plötzlich sauberer wirkte. Keine Spinnweben, kein Staub.

Es dauerte nicht lange, bis die Tür wieder aufgeschoben wurde. Diener kamen herein, trugen Speisen in beiden Händen und stellten sie auf den Tisch, der plötzlich viel zu klein für das ganze Essen wirkte. Mirai wurde eine Flasche mit hochprozentigem Alkohol hingestellt und auf die Frage hin, ob Anna auch was wollte, lehnte sie dankend ab.

„Du trinkst nicht? Ich dachte, so eine harte Braut wie du ist Alkohol gewöhnt.“ lachte Mirai kurz und auch Anna musste bei dem Gedanken lachen.

„Es passieren schlimme Dinge, wenn ich trinke.“ kommentierte sie kurz, nahm sich ihre Stäbchen und suchte sich ein Sushi Stück aus.

„Die da wären?“ Mirai schaute sie neugierig an und bediente sich an einer chinesischen Speise, die Anna nicht identifizieren konnte. „Wirst du aggressiv und verprügelst alle?“ Erneut lachte er.

„Nicht wirklich. Sagen wir mal so: Ich bin ziemlich trinkfest.“

„Interessant.“ Das Lächeln auf Mirais Lippen wurde herausfordernd, als wolle er das testen.

„Wie lange bleiben wir eigentlich noch hier?“ fragte Anna dann, um das Thema zu wechseln, und ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es später Nachmittag war.

„Hmm, wahrscheinlich wird es zu spät, um heute noch nach Hause zu fahren. Immerhin müssen wir noch den Berg runter und so.“

Anna verschluckte sich an einem Nigiri. „Bitte was?“

„Ja.“ Mirai wirkte nicht sonderlich besorgt, weder um die Schule, noch um die Reaktion von Annas Familie.

Anna seufzte genervt. „Ich muss meinen Bruder anrufen, wenn ich hier schlafe.“

„Mach das.“

Nach dem Essen und einem ziemlich angespannten Gespräch mit Adam setzte sich Anna neben Shiro auf die Terasse. Sie nippte an ihrem heißen, grünen Tee und starrte den Teich an. Die Sonne senkte sich langsam und Anna fühlte sich dick und schlapp vom Essen. Eigentlich eine gute Zeit, um ein Nickerchen zu halten. Auch ihre Füße schmerzten und sie hatte das Verlangen, die Socken auszuziehen und die Füße ins kalte Nass zu stecken.

Mirai war seit zehn Minuten verschwunden und ließ Anna in Ruhe ihr Essen verdauen. Erneut öffnete sich die Tür und eine Dienerin kam mit Handtüchern und Bademantel herein.

„Das Bad ist vorbereitet.“ Sie klang erstaunlich zickig.

„Danke…?“ fragte Anna zögerlich, nahm die Sachen entgegen und stand auf. Die Frau stand an der Tür, schwieg und schien darauf zu warten, dass die Fremde ihr folgte, was sie dann auch tat.

Durch Flure an Zimmer vorbei führte die Frau Anna tiefer und tiefer ins Haus. Anna blickte neugierig durch halboffene Türen. Das Haus war plötzlich erfüllt von Stimmen, Geräuschen und sogar Musik. Mit einem Räuspern machte sich die Frau aufmerksam und deutete zu zwei großen Schiebetüren. Wortlos entfernte sie sich wieder.

„Nett.“ murmelte Anna vor sich hin, öffnete die Türen und betrat eine Umkleide. Heißer Dampf stieg ihr entgegen, anscheinend von dem Raum gerade zu. Das Mädchen zog sich aus und legte ihre Kleidung fein säuberlich in einen dafür vorgesehenen Korb, ehe sie sich das Handtuch umwickelte und die nächste Tür zur Seite schob. Vor ihr war eine heiße Quelle. Der Dampf, der daraus kam, stieg in die mittlerweile kühle Luft und tanzte über der Wasseroberfläche. Um die Quelle herum war eine Linie aus Steinen gezogen und eine kleine Wiese gefüllt mit Gras und Blümchen zog sich bis zur Tür hin. Man sah den ersten Stern am Himmel.

Das Gefühl des Wasser war angenehm schmerzhaft beim ersten Eintauchen. Sofort entspannte sich Annas Körper. Sie hatte das Handtuch vor dem Reingehen fallen gelassen und badete nackt unter der unter gehenden Sonne. Zufrieden seufzte sie, legte ihren Hinterkopf am Rand ab und schloss die Augen.

„Hast du's auch hierher geschafft, ja?“ Mirais Stimme hallte durch den Garten. Erschrocken zuckte die Blondine zusammen und sah sich um. Die Stimme kam hinter einem Bambuszaun hervor – im Bad nebenan lag Mirai im Wasser und gönnte sich noch mehr Alkohol. Beruhigt lehnte sich Anna wieder zurück.

„Ja, eine sehr nette Bekannte von dir hat mich her gebracht.“ giftete sie zurück.

„Sie verstehen die Situation noch nicht ganz. Ich erklär's ihnen später.“

Anna fühlte sich in die schuldige Lage von vorhin zurück katapultiert. Sie seufzte. „Tut mir Leid.“ sagte sie erneut zögerlich.

Auch Mirai seufzte. „Kein Problem. Außerdem hast du dich ja schon entschuldigt.“ Man hörte ein Kichern aus seinem Satz. Anna wurde rot im Gesicht und es war weiß Gott nicht die Schuld des heißen Badewassers. Erst jetzt bemerkte sie, dass Blätter und Knospen im Wasser schwammen. Außergewöhnlich schnell senkte sich die Sonne hinter den Steinmauern. Eine kleine Kerze brannte in einer hölzernen Schale und trieb über das Wasser. Dann noch eine. Annas Blick wanderte zum Rand der heißen Quelle. Die Zwillinge saßen da und ließen Kräuter und Licht ins Wasser tauchen.

„Die zwei mögen dich trotzdem.“ hörte man Mirai sagen. Anna bewegte sich Richtung Affen und hielt ihre Hand hin.

„Tut mir Leid wegen vorhin...“ flüsterte sie leise, damit Mirai es nicht hörte, und streichelte einem der beiden über das plüschige Köpfchen. Anscheinend schienen sie die Entschuldigung anzunehmen – schon nach wenigen Sekunden tauchten beide ins Wasser ein und trieben auf dem Rücken durch die Quelle.

„Anna. Ich wollte dir noch was sagen. Wegen dem Kuss...“

„Kannst du jetzt mal aufhören?“ Annas Stimme klang merkwürdig hitzig, ihr Kopf begann noch heftiger zu glühen, als davor. Mirai lachte.

„Du brauchst dich nicht zu schämen. Es war cool. Allerdings hat es auch Konsequenzen, weißt du?“

Stille trat ein. Auch, wenn es Mirais Stimme war, die sie daran erinnerte, hörte sie die Stimme des Fremden in ihren Ohren, als sie noch 8 Jahre alt gewesen war. „Du darfst niemanden küssen.“

„Weißt du eigentlich, welche Kraft du in dir trägst?“ fragte Mirai dann zögerlich und Annas Herz schlug mit einem Mal so kräftig gegen ihre Brust, dass ihr schlecht wurde. Das Wasser schien kalt zu werden.

„Wenn du jemanden küsst, überträgst du einen Teil dieser Kraft. Ich weiß nicht, wie viel du über dich und deine Position weißt, aber...“

Bevor Mirai weiter reden konnte, ergriff Anna das Wort: „Mirai.“

Der Junge stoppte augenblicklich im Satz. Das Mädchen versuchte, ihre Worte zu finden.

„Ich weiß das.“ sagte sie schließlich, doch bekam keine Antwort. Dann fuhr sie fort: „Ich weiß eigentlich alles. Man erfährt alles ziemlich schnell, wenn man Gedanken lesen kann. Aber sag's niemandem, okay?“

Nach einigen Minuten fragte Mirai überrascht: „Du kannst Gedanken lesen? Also weißt du eigentlich alles, was ich denke, zu jeder Zeit an jedem Ort?“ Er klang merkwürdig erschrocken. Ein lautes Platschen verriet Anna, dass er sogar aufgesprungen war.

„Ich muss demjenigen dafür ziemlich direkt in die Augen schauen.“ erwiderte Anna dann, verwundert über seine Reaktion.

Alle Situationen, in denen das der Fall gewesen war, rauschten plötzlich durch Mirais Gedanken. Vor allem vorhin, beim Wolf. Deshalb wusste sie, dass er die Welpen nicht getötet hatte! Deshalb wusste sie, dass er sie noch versteckte! Aber was war mit danach? Als er einen Kuss von ihr wollte? Hatte er da ihr seine Gedanken verraten?

Anscheinend dachte auch Anna gerade an diese Situation. „Schätze, es funktioniert nicht, wenn ich nervös bin.“ gab sie hinnehmend und merkwürdig gleichgültig von sich. Mirai beruhigte sich schlagartig. Mehr Äffchen hatten sich bei Anna gesammelt, einer nach dem anderen warf Pfirsichblüten ins Wasser oder setzte sich selbst rein. Die Zwillinge hatten sich Waschlappen geschnappt und begannen, Anna den Rücken zu schrubben.

„Was passiert denn jetzt eigentlich, wenn du Alkohol trinkst?“ Mirai wechselte das Thema, aber für Anna war es eher im Stil von „Von einem Fettnäpfchen ins nächste“.

„Ich glaube, ich sollte dir nicht alle Geheimnisse von mir verraten.“ kicherte sie. Mirai grunzte nachgiebig.

„Und wer ist dieser Typ, der die ganze Zeit um dich umher schwirrt?“ Anna überlegte eine Weile. Wahrscheinlich einer von ihrer Gang?

„Meinst du Adam? Dunkle Haare, ziemlich groß, mit Kai in einer Klasse...“ sie zählte die Eigenschaften auf, die ihm vielleicht Anhaltspunkte geben könnten.

„Ja, der. Wer ist der Typ?“ Eifersucht? Anna war sich nicht ganz sicher. Aber sie würde es herausfinden.

„Hmm….“ grübelte sie gespielt nachdenklich. Sie brauchte nicht lange darüber nachdenken, wer ihr Bruder für sie war. „Man könnte sagen, dass ich ihn liebe.“ Sie konnte sich ein breites, hämisches Grinsen nicht verkneifen. Doch die Reaktion blieb aus. Schweigen erfüllte die Freiluft-Bäder.

„Ist das dein Ernst?“ fragte Mirai geschockt nach. Anna unterdrückte ihr Kichern. „Das wäre echt nicht gut...“ nun klang er eher besorgt.

„Mach dir keine Sorgen, er ist kein Rivale. Ich glaube nicht, dass er an mich interessiert ist.“ versuchte sie ihn zu beruhigen.

Aber er MACHTE sich Sorgen. Es geht nicht darum, wen sie letztendlich wählen würde, es ging darum, wem sie das HERZ schenkte. Ihr Herz. Und wenn sie aus politischen oder egoistischen Gründe eine Ehe eingehen würde, würde niemand ihre Macht bekommen, außer dem, den sie liebte. Und wo Mirai gerade bei dem Gedanken war: Wie kam es, dass er ihre Macht gespürt hatte, als sie seine Wange geküsst hatte? War sie in ihn verliebt? Wohl eher nicht. Die beiden hatten gerade mal einen Tag alleine zusammen verbracht. Das würde niemandem reichen, um sich zu verlieben, oder? Aber wenigstens schien sie ihm dann nicht ganz abgeneigt zu sein… oder?

„Ich geh' rein, meine Haut wird schon schrumplig. Wo soll ich eigentlich schlafen?“ Anna war aufgestanden und wickelte sich ihr Handtuch wieder um den Körper, das nun nach Blumen und Gras roch. Mirai sprang auf und tat es ihr gleich, das konnte sie am Platschen und Stolpern hören.

„Warte, ich zeig's dir.“ sagte er eilig und ging in die Männerumkleide.

Anna ging in die währenddessen Umkleide, die ihre Sachen beherbergte. Doch die schmutzigen Sachen von heute gefielen ihr nicht so gut, wie der warme, flauschige Bademantel, den ihr die Frau vorhin in die Hände gedrückt hatte. Also zog sie diesen an. Gerade rechtzeitig wohl, denn als sie den Knoten des Gürtels festzog, öffnete sich schon die Tür und ein leicht angetrunkener, noch vom Badewasser triefender Mirai stand im Türrahmen. Anscheinend war er etwas enttäuscht, sie nicht nackt zu erwischen. Und dafür musste Anna keine Gedanken lesen können.

„Ich bring euch hin.“ Der Affenkönig lachte kurz über seinen überstürzten Versuch, ihren Rücken nochmal zu sehen. Anna drehte sich verwundert um und sah, wie Shiro hinter ihr saß und in einem Meter Abstand die Äffchen einen Halbkreis um den Wolfsjungen bildeten.

Die beiden begaben sich zurück in den vorderen Teil des Hauses, gefolgt von einer Traube aus Tieren.

„Bitteschön.“ Mirai öffnete eine Zimmertür für sie. Hier stand ein Bett, auf dem schon ein Pyjama bereit lag. Er war merkwürdig schlicht gehalten. „Ich weck' dich morgen früh, damit wir den Zug kriegen, okay?“ Die beiden wünschten sich eine gute Nacht und Anna legte sich ins Bett.

Der Rest des 'Dates' lief relativ unspektakulär. Anna wurde gegen fünf geweckt. Shiro hatte sich in der Nacht neben sie gelegt und schien noch müder zu sein, als sie selbst. Der Weg zur Bahn war ziemlich amüsant. Mirai scherzte viel und begann dann, über das Leben im „Affenwald“ zu reden. Anscheinend zog er alle Äffchen mit auf und entweder blieben sie, um ihm zu dienen oder sie würden die Wälder weiter erforschen, um das Territorium zu erweitern. Er setzte sie am Bahnhof ab und wartete mit ihr auf den Zug. Zur Überraschung Annas umarmte er sie zum Abschied, murmelte „Wir sehen uns morgen in der Schule“ und küsste ihren Haarschopf. Dann schob er sie durch die Zugtür ins Abteil und schickte sie auf Heimreise.

Geburtstagspläne

Es war circa 9 Uhr, als Anna Zuhause im Wohnzimmer stand und sich zuerst von ihrer Mutter, dann von Adam, eine Standpauke hielten ließ. „Schön und gut, wenn du einen Typen findest, der dich liebt, aber du musst nicht gleich mit ihm schlafen!“ brüllte ihre Mutter noch aus der Küche, während sie Frühstück vorbereitete.

„Du hast doch nicht…?!“ zischte Adam sofort geschockt und starrte seine Schwester ernst und leicht bedrohlich an. Sie schüttelte schnell den Kopf.

„Und dass du dich dann auch erst abends meldest! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht!“

„Mama, es war nachmittags.“ erwiderte Anna kleinlaut.

„DAS IST MIR EGAL! Pack deine Sachen, zieh dich um und ab zur Schule!“

Gesagt, getan. Adam schnauzte sie auf dem Schulweg immer noch an, gab dann aber endlich Ruhe, als sie ihn genervt in die Schulter boxte. Dann wollte er wissen, was passiert war. Also erzählte sie ihm alles. Es gab nichts, was sie ihm verheimlichte, nicht einmal den Kuss.

„Du weißt, was passiert, wenn du jemanden küsst.“ erinnerte sie Adam besorgt und Anna hörte erneut Mirais Stimme, die sie ebenfalls ermahnte.

„Jaaa.“ gab die Blondine genervt zurück und blickte missmutig zu Boden. Shiro war ihr seit dem Morgen nicht von der Seite gewichen.

„Er ist echt süß. Allerdings kann er nicht mit in die Schule.“ Adam liebäugelte mit dem Welpen.

„Ich weiß, er kommt einfach mit zu uns in den Hinterhof.“ gab das Mädchen lässig zurück. Sie waren angekommen.

Die Allee, die zum Hauptgebäude führte, war wie ausgestorben. Der Unterricht hatte schon begonnen und die meisten Schüler, also die, die brav waren, ließen sich irgendeinen Stoff in die Köpfe hämmern. Die Geschwister schlugen sofort den Weg zum Hinterhof ein und trafen da auch schon Yuki an. Dieser war nicht überrascht, dass beide zu spät waren, er war es schon gewöhnt. Gelangweilt trommelte er mit den Daumen auf seiner PSP herum. Anna ließ sich ins Gras fallen und seufzte. Das frühe Aufstehen war komplett gegen ihren Schlafrhythmus, also musste sie wohl erst mal was an Schlaf aufholen. Adam setzte sich neben sie, sodass sie ihren Kopf auf seiner Schulter ablegen konnte, und Shiro fand wieder Platz auf ihrem Schoß. Neben dem Gezwitscher der Vögel, Adams und Yukis gelegentlichen Kommentaren und dem leisem Atmen des Wolfes schlief die Königin wieder ein.

Es war ein kalter Windhauch, der sie weckte. Yuki, Adam und Shiro waren weg. Kai stand über der verschlafenen Schönheit. Er stützte sich mit einem Arm über ihr ab, während seine andere Hand Platz in seiner Jackentasche gefunden hatte. Seine Augen stachen schwarz unter dem Schatten seines Gesichtes vor. Zuerst war Anna erschrocken, dann beruhigte sie sich wieder. Wenn er was hätte tun wollen, hätte er es getan, als sie geschlafen hatte.

„Was gibt’s?“ Das Mädchen gähnte und streckte sich kurz.

„Du riechst nach Hund.“ gab Kai angewidert zurück und gab Anna damit den perfekten Anlass, das Gespräch nicht weiter führen zu wollen. Doch den genervten Blick ignorierte der Siebzehnjährige und ließ sich neben ihr im Gras nieder.

„Wie waren deine Dates?“ wollte er wissen und spielte an einer Strähne seines violetten Haares herum.

„Gut.“ gab Anna lässig zurück. „Hat Spaß gemacht.“ fügte sie hinzu und dachte an das Aquarium und an die Äffchen.

„Hat's einer von ihnen in die engere Auswahl geschafft?“ wollte er als nächstes wissen. Ziemlich neugierig für so einen unhöflichen und anscheinend schlechtgelaunten Typen.

„Kann sein.“

Stille trat ein. Kai lehnte sich zurück und ließ die Augen wandern, ehe er sie schloss und tief einatmete. Beim näheren Hinblicken fiel Anna auf, dass er noch blasser als sonst war. Seine Ringe unter den Augen verrieten ihr, dass er die letzten Nächte anscheinend wenig geschlafen hatte.

„Alles okay?“ fragte sie mehr aus Höflichkeit, als aus Interesse. Kai antwortete zunächst nicht, seufzte dann aber und hielt die Augen geschlossen.

„Kann nicht schlafen.“ murmelte er. Anna sagte nichts. Zögerlich legte sie ihre Hand auf seine Schulter und tätschelte sie kurz. Kai kippte leicht zur Seite, legte seine Wange auf ihren Handrücken und seufzte erneut. Seine Wange war eiskalt.

„Du bist warm.“ murmelte er, als hätte er an das selbe gedacht, legte seine Hand auf ihre und wischte sie, ohne grob zu sein, von seiner Schulter. Dann legte er seinen Kopf auf ihre Schulter, so wie Anna es zuvor bei Adam getan hatte und schien zu schlafen.

Toll. Anscheinend ging es ihm echt nicht gut. Langsam sickerten seine Gedanken in ihren Kopf. Es waren Bilder von Dunkelheit. Man konnte nicht wirklich viel erkennen. Ab und zu schmeckte Anna Eisen auf ihrer Zunge. Sie atmete tief ein, schloss die Augen, und legte ihren Kopf auf seinen. Ihr Arm wanderte um den Jungen herum und vorsichtig streichelte sie die Wärme in seine Wange zurück. Es war schon okay, wenn er sich mal ausruhte. Sie war keine herzlose Königin, die ihre Untertanen leiden ließ, sagte sie zu sich selbst, und schlief selbst noch einmal ein.

Das nächste, was sie weckte, war ein leichtes Kratzen auf ihrer Wange. Es war Mittagspause. Ein kleiner, weißhaariger Junge hatte sich vor sie gesetzt und zeichnete ihren Wangenknochen mit dem Finger nach. Er hatte blaue Augen. Irgendwie erinnerte er sie an …

„Shiro?“ Anna klang zögerlich. Der Junge drehte ihr den Rücken zu, setzte sich auf ihren Schoß und lehnte sich bei ihr an. Es dauerte keine drei Sekunden, bis er die Augen schloss und weg döste. Erst jetzt bemerkte Anna, dass das Gewicht auf ihrer linken Schulter verschwunden war. Anscheinend war Kai bereits gegangen.

Schüler tobten auf dem Schulhof, während Anna dem Jungen den Kopf kraulte. Man hörte Johlen, Lachen und Kreischen, als wäre man in der Grundschule, doch die Geräusche klangen für Anna distanziert und erstickt. Nach einigen Minuten der Ruhe, in denen sich Anna gerade wunderte, warum der Tag so gechillt war, kam Adam mit Essen vorbei. Erst schien er so überrascht wie Anna zu sein, schnüffelte dann kurz, gab ein erkennendes „ah“ von sich und ließ sich neben Anna nieder.

„Wusste nicht, dass sich Shiro in Menschengestalt zeigen kann.“ sagte er verwundert und gab Anna ein Sandwich. Mango-Curry-Hühnchen. Eins ihrer Lieblinge.

„Wusste ich auch nicht.“ murmelte sie und biss in das Brot. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie großen Hunger sie hatte. „Aber reden tut er nicht.“

Der Junge öffnete plötzlich die Augen, nahm Anna das Sandwich aus der Hand, schnüffelte daran und begann dann, zu essen.

„Oh. Ganz vergessen, dass er Essen braucht.“ gab sie leicht schuldig zurück und griff nach ihrer Tasche. Zum Glück hatte ihre Mutter ihr noch was zum Essen eingepackt.

„Was hast du vor, deswegen zu tun?“ fragte Adam sie nun kauend. „Deswegen“ spielte wohl auf die Wolf-Affen-Situation im Wald an.

„Mirai wird kein Problem, ich kann ihn schon dazu bringen, die Wölfe dort leben zu lassen. Das größere Problem wird wohl Silverback sein – ich muss etwas finden, um ihn dazu zu bringen, keine Affen mehr zu jagen.“

Adam nickte. „Außerdem wissen wir auch nicht, ob es überhaupt andere Beute in diesem Wald gibt. Affen gehören nicht unbedingt zu den Lieblingsspeisen von Wölfen.“

Shiro leckte sich seine kleinen Finger ab und griff nach der Lunchbox, die Anna neben sich abgestellt hatte, um diese nach weiterem Essen abzusuchen. Er griff nach dem Hühnchen.

„Ein KFC vor Ort wäre vielleicht nicht schlecht.“ lachte Anna kurz und streichelte dem Kleinen wieder über den Kopf. Er hatte das Aussehen eines Vierjährigen.

„Dafür, dass er zunächst gar nicht bei dir sein wollte, ist er jetzt doch ziemlich anhänglich.“ murmelte Adam – leicht eifersüchtig – und verschlang den letzten Bissen seines Salamibrötchens.

Jetzt kamen Yuki und Mika um die Ecke und mit einem erstickten Kreischen beugte sich das Mädchen zum kleinen Gast.

„Oh, ist der süß! Ist das euer Bruder?“ flüsterte sie aufgeregt, als würde er sie in dieser Nähe nicht hören können.

„So 'ne Art Cousin.“ gab Adam eher beifällig als Kommentar und gab Yuki aus dem Sitzen heraus einen Handschlag, ehe Yuki am Baumstamm des Ahornbaumes runterrutschte und seine PSP wieder raus holte.

„Oh, achso. Übrigens Anna, Kiki ist wieder in der Schule, sie wollte nach dem Unterricht vorbei schauen.“ erzählte sie und es sah aus, als müsste sie sich zurückhalten, Shiro in die Wange zu kneifen.

„Ah, wie läuft's denn bei ihr in der Klasse?“ fragte die Blondine nach.

„Anscheinend alles gut, die Weiber gehen ihr jetzt aus dem Weg und sie wird ignoriert, aber sie sagte, es ist besser, als geschlagen zu werden.“

Anna lachte. „Kann ich mir vorstellen. Aber wenn sie jemanden zum Reden braucht, hat sie ja uns.“

Die Mädchen vertieften sich in ein Gespräch über das Wochenende. Während Mika von einem „heißen, mysteriösen Typen“ erzählte, überlegte Anna sich schon ein paar Lügen, um ihr Wochenende zu beschreiben. Adam war immer wieder überrascht, wie seine Schwester lügen konnte, ohne rot zu werden. Die Mittagspause neigte sich dem Ende zu. Wie erwartet kam Kiki nicht vorbei. Langsam standen alle bis auf Anna auf und bereiteten sich seelisch auf die nächste Klasse vor. Anna lehnte dankend ab. Sie kraulte die schneeweißen Haare ihres 'Cousins', der wieder eingeschlafen war. Gerade, als die anderen drei sich auf den Weg machen wollten, kam ein bekanntes Gesicht um die Ecke. Es war Toki. Mika schien Toki leiden zu können, sie grüßte ihn und lief an ihm vorbei. Die Jungs allerdings blieben argwöhnisch stehen.

„Was gibt’s?“ fragte Anna lächelnd. Auch sie mochte Toki.

„Kannst du zu uns kommen? Wir wollen ein bisschen was bereden.“ Er schien im Angesicht der Jungs, die beide älter und größer waren als er, leicht nervös zu sein.

Anna küsste den weißen Haarschopf, weckte den Wolfsjungen mit einem sanften Rütteln und stand auf, als dieser wach wurde. Er nahm ihre Hand. „Okay.“ antwortete sie und lächelte ihre kleine Begleitung an: „Du beschützt mich, oder?“

Die Flure der Schule waren leer. Man hörte Lehrer hinter verschlossenen Türen Monologe halten und fast konnte man auch das Desinteresse der Schüler hören. Die Schritte hallten auf dem Boden wieder und nach wenigen Minuten standen die drei vor der bekannten, doppelflügligen Tür.

Erneut ohne anzuklopfen öffnete Anna mit ihrer freien Hand die Tür. Als sie herein kam, stand Ren sofort von seinem Platz auf.

„Hi Anna.“ Das Lächeln vom Samstag blitzte kurz in seinem Gesicht auf. Ohne großartig suchen zu müssen sah Anna, dass Mirai nicht hier war.

„Hey.“ Auch Anna lächelte, denn seit Samstag hatte sie einen anderen Eindruck von Ren. Sie setzte sich auf einen der leeren Sessel und schaute durch den Raum. Kai saß in einer dunklen Ecke, sein Knie war angewinkelt, damit er seinen Arm darauf ruhen lassen konnte. Gedankenverloren starrte er aus dem Fenster, das heute merkwürdigerweise nur halb vom Vorhand verdeckt wurde. Liam saß am Tisch und las in einem Buch, Ren hatte wohl gerade ein paar Dokumente seiner Firma bearbeitet. Toki wollte sich gerade neben Anna hin setzen, da schubste ihn Shiro weg. Er legte seine Arme – so gut es mit den kurzen Ärmchen ging – um Annas Brust. Anna prustete kurz und lachte dann.

„Haben wir etwa noch mehr Konkurrenz?“ lächelte Ren verwundert. Er war sich wohl ziemlich sicher, dass ein Vierjähriger keine Konkurrenz sein konnte. Anna lachte erneut.

„Nein, nein. Ich passe auf ihn auf.“ erklärte sie. Liam rümpfte die Nase. Auch Kai schien nicht sonderlich angetan zu sein. Shiro löste sich von Anna und begann, durch den Raum zu wandern.

„Wie war das Date mit Mirai?“ fragte Ren nun, während seine Augen mit dem Jungen mit wanderten. Kais Blick wanderte ebenfalls, blieb aber an Anna hängen.

„Genau so gut wie das Date mit dir.“ konterte das Mädchen.

„Irgendetwas passiert?“ hakte er nach. „Ich meine es ist nichts neues, dass du Anhänger hast. Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie schon so jung anfangen.“

Beide lachten. Das Lachen starb allerdings schnell wieder, denn weder Kai noch Liam fanden die Situation besonders lustig. Anna machte sich Gedanken. Kai, der vorhin noch so verschmust war, schien plötzlich mehr Abstand zu ihr zu wahren, als je zuvor. Liam hielt immer schon Abstand, allerdings kam von ihm heute eine böse, abweisende Atmosphäre.

„Nicht viel.“ murmelte die Blondine langsam, während sie zusah, wie Shiro an Liam schnupperte. Dieser schien, untreu seines Charakters, genervt zu sein.

„Wir sind wandern gegangen, wie du schon vermutet hattest. Es wurde dann zu spät, um wieder zurück zu gehen, also haben wir in einer Gastherberge übernachtet. Als ich heute morgen zurück kam, stand mein Cousin schon Zuhause. Anscheinend ist er von Zuhause weggerannt und seitdem verfolgt er mich.“ reimte sie sich schnell zusammen, stand dann auf und zog 'ihren Cousin' von Liam weg. „Setz dich.“ fügte sie hinzu und deutete ihm den Platz neben sich an.

„Du hast mit einem Typen irgendwo in der Walachei übernachtet?“ zischte Kai nun und stand auf. Er ging zu Anna und beugte sich über sie, während er sich mit der Hand auf dem Eichentisch abstützte. „Du weißt schon, dass das ziemlich gefährlich ist? Ich hoffe, ihr habt nichts gemacht.“ Seine Stimme wurde zu einem Fauchen.

„Wir haben nichts gemacht!“ gab Anna genervt zurück. Warum unterstellte ihr jeder, dass sie so leicht zu haben sei? Kai musterte sie kurz, wandte sich dann ab und ging zum Fenster. Er murmelte gehässig irgendetwas vor sich hin.

„Ich glaube auch nicht, dass du gleich mit jedem schläfst, der dir gegenüber Avancen macht.“ gab Ren ruhig zu, fügte aber hinzu: „Aber ist wirklich GAR NICHTS passiert?“

Anna fielen sofort Situationen ein, die man nicht als 'gar nichts' abstempeln konnte: Sie kannte seinen Rücken, er ihren, sie hatte sich in interne Angelegenheiten Mirais Hoheitsgebiet eingemischt, einen fremden Jungen Schrägstrich Welpen eingetütet, seine Wange geküsst und war – mehr oder weniger – mit ihm baden. Alleine zwei dieser Situationen reichten schon, um das Mädchen nervös zu machen. Die Intensität der Erinnerung war nicht zu vergleichen damit, wenn sie an Rens zärtliche Berührungen an ihren Füßen dachte. Im Anschluss an diese Gedanken seufzte die Fünfzehnjährige.

„Nein.“ Sie log unverhohlen. Es hatte die anderen nicht zu interessieren, was sie in ihrer Freizeit tat. Es lag an ihnen, sie dazu zu bringen, jemanden besser leiden zu können, als Mirai. Auch, wenn das noch lange nicht Liebe war, was sie für ihn empfand.

Die Tür flog auf. „Sorry, bin zu spät.“ sagte eine aufgebrachte und raue Stimme. Anna schaute zur Tür und sofort fiel ihr der feuerrote Haarschopf auf. Stimmt ja, Akira hatte noch gefehlt. Er grinste Anna an und setzte sich auf den Platz neben ihr, der nicht von Schneeflocke besetzt war. Merkwürdigerweise schien der Wolf nichts dagegen zu haben.

„Was geht, Queen?“ fragte der Junge lässig. Er war verschwitzt, aber strahlte eine seltsame Lebensfreude aus.

„Ich werde verhört.“ scherzte die junge Dame, ohne dem widersprechenden Toki Beachtung zu schenken. Im Hintergrund ging sein Kommentar „Wir machen uns nur Sorgen“ unter.

„Ach was?“ fragte Akira interessiert nach. Sein Blick fiel auf den Jungen neben Anna. Seine Augen leuchteten fast golden. Shiro stand auf und ging zu Akira rüber. Dieser wuschelte seinen weißen Haarschopf durch, als wäre er ein Hund (was er auch quasi war).

„Ja, ja.“ gab Anna genervt zu. „Sie haben Angst, dass Mirai mir zu nahe gekommen ist.“

„Ach ja, ihr hattet ja euer Date! Wie war's denn?“ Akira klang aufgeregt.

„Sehr gut, er hat mir viel von der Natur gezeigt und mir mal wieder richtig Beine gemacht. War ein gutes Workout.“ Es war merkwürdig, wie einfach man mit Akira reden konnte.

„Echt? Wo wart ihr denn?“

„In den Bergen. Als wir oben waren, konnte man mega weit sehen!“ Auch Anna klang jetzt aufgeregt.

„Cool, ihr müsst mich das nächste Mal mitnehmen, ansonsten folge ich euch wahrscheinlich sowieso.“ Er lachte kurz auf. Es war ein helles, schönes Lachen, das zum Mitlachen einlud. Anna stimmte zufrieden zu. Wieso konnten die anderen nicht auch so sein?

„Halt die Fresse, Akira.“ fauchte Kai, ohne sich umzudrehen und Akira auch nur eines Blickes zu würdigen. Akira ignorierte seine Aussage ohne mit der Wimper zu zucken. Toki seufzte genervt und auch Ren schien am Ende seiner Geduld zu sein.

„Pass auf, Kai. Wenn du unbedingt schlechte Laune haben willst, hab' sie woanders. Aber ich will nicht, dass du so ein Verhalten an den Tag legst, während wir Gäste haben.“ Rens Stimme, die nicht an Tiefe verloren hatte, hallte wie ein Machtwort durch den Raum. Ohne einen weiteren Ton und ohne Anna auch nur eines Blickes zu würdigen ging Kai. Auch Liam stand auf, warf Shiro noch einen kurzen Blick zu und verschwand aus dem Zimmer.

„Was ist denn mit denen los?“ fragte Anna leicht genervt, als die beiden weg waren. Ren seufzte.

„Beachte sie gar nicht. Wir müssen klären, wen du als nächstes treffen willst. Außerdem steht noch etwas anderes an – Dein Geburtstag ist am Samstag, oder? Eigentlich ist das gerade unsere Priorität. Es wäre unfair allen Beteiligten gegenüber, wenn du nur einen von uns an deinem Geburtstag treffen würdest.“

Annas Herz sackte ihr plötzlich bis in die Kniekehlen. Sie hatte ihren Geburtstag total vergessen.

„Eigentlich feier' ich meinen Geburtstag immer mit meiner Familie.“ gab sie zu.

„Kommt dein Vater hierher?“ fragte Ren überrascht nach.

„Ne, der lässt sich nicht mehr blicken.“ murmelte Anna vor sich hin.

„Also nur deine Mutter und du, ja?“ fragte Akira nun lächelnd und es war schwer, das Lächeln nicht zu erwidern. Anna nickte und schaffte es, für Akira ein schiefes Grinsen hinzulegen. Bei dem Anblick musste er kurz lachen.

„Vielleicht kannst du ja tagsüber mit deiner Mutter feiern, aber wie wäre es, wenn wir alle abends essen gehen? Natürlich auf unsere Kosten.“

Toki sprang auf und schien seine schlechte Laune abgeschüttelt zu haben: „Und dann könnten wir noch irgendwo hin gehen und was machen!“ Sein Vorschlag war eigentlich gar keiner, doch Ren nickte.

„Klingt gut für mich.“ sagte Akira und tätschelte Shiros Kopf. „Kommst du auch mit?“ fragte er den Kleinen, welcher dann fragend Anna anblickte, dann aber den Kopf schüttelte. Er kratzte sich am Ohr.

„Das ist weit über deine Bettzeit, hm?“ sagte Anna lächelnd, zog den Knirps an sich heran und hiefte ihn sich auf den Schoß. Er bettete seinen Kopf auf Annas Brust.

„Dann holen wir dich gegen 18 Uhr ab, okay? Willst du noch jemanden mitbringen?“

Anna überlegte kurz, antwortete dann aber schnell: „Ja, ich denke ich bringe Adam mit. Er hat bisher jeden Geburtstag mit mir gefeiert.“

Jedes Lächeln wich aus den Gesichtern. Der erste, der sich wieder fing, war Akira. Er lachte kurz. „Cool, freu' mich schon darauf, ihn kennen zu lernen.“

Das Meeting war beendet und Anna führte Shiro an der Hand zurück zum Hinterhof. Akira begleitete die beiden. „Er ist süß.“ sagte er und schnappte sich die andere Hand des Wolfjungens. „Aber nicht ganz menschlich, oder?“ fragte er.

Anna musterte Akira, gab dann aber leise zu: „Wolf.“

„Dachte ich mir schon. Akira und Liam können Hunde nicht ausstehen, wahrscheinlich hatten sie deswegen schlechte Laune.“ erklärte der Rotschopf ihr.

„Oh. Wissen etwa alle, dass er ein Wolf ist?“ fragte sie naiv nach, woraufhin Akira wieder in ein herzhaftes Lachen ausbrach.

Nachdem er wieder zur Puste gekommen war, sagte er ihr: „Alle. Du weißt doch, was los ist, oder?“

Anna verkniff sich ein Nicken. Sie wollte, so gut es ging, ihre Karten verdeckt halten.

„Na also.“ Akira klang, als hätte er ihre Absichten trotzdem durchschaut und das machte ihr irgendwie Sorgen. Sie waren im Hinterhof angekommen und Akira ließ den Jungen los. Dieser eilte zu Annas Tasche und hob sie auf.

„Wie kommt's eigentlich, dass ihr euch so gut versteht?“ fragte Anna leicht überrascht. Der einzige, den Shiro sonst noch zutraulich begegnete, war Adam.

„Weiß nicht, ich mag Hunde einfach.“

„Wolf.“ korrigierte ihn Anna und schulterte ihre Tasche.

„Gehst du schon nach Hause?“ fragte Akira und konnte die Enttäuschung in seiner Stimme nicht verbergen. Anna nickte.

„Hör mal, ich wollte fragen, ob du am Donnerstag Zeit hast. Kein Date, falls du das denkst.“ fügte er schnell hinzu, als er Annas skeptischen Blick sah. „Aber ich hab da ein Fußballspiel. Natürlich ist es cool, wenn Leute für einen jubeln, aber es wäre cooler, wenn du dabei wärst. Ich bin nicht sonderlich gut mit Worten und so … Also guck' mir einfach zu, ja?“ Er hatte einen Gesichtsausdruck, der kein 'Nein' zuließ. Es war nicht angsteinflößend, nicht aggressiv, es war wirklich einfach leicht besorgt.

„Ich überleg's mir.“ antwortete Anna ihm widerwillig, doch diese Antwort schien ihm schon zu reichen.

„Cool. Toki wird auch da sein, also wird dir nicht langweilig werden.“

Das Wochenende kommt

Am nächsten Tag wachte Anna auf und entdeckte Shiro – in Menschengestalt – neben sich. Er schlief seelenruhig. Sein Haar war etwas länger geworden seit gestern. Anna zwirbelte eine seiner Strähnen in ihren Händen. „Shiro.“ säuselte sie leise, gab ihm einen Kuss auf die Wange und weckte ihn sanft. Anna entschuldigte den Kuss damit, dass Shiro Tier und kein Wesen war, das von ihren Kräften zehrte. Weit gefehlt, aber das wusste die Blondine zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Sie stand zusammen mit ihrem neuen Gefährten auf und während der Knirps Richtung Küche lief, machte sich Anna im Bad für die Schule fertig. Sie mochte es, wenn ihr Haar frisch gewaschen war und nach dem Shampoo roch, das ihre Mutter immer für sie kaufte. Es duftete nach Himbeeren und Vanille und gab dem Tag eine süße Note.

Als sie angezogen, gekämmt und leicht geschminkt war, ging sie ebenfalls runter und fand Adam und Shiro in der Küche vor. Sie kämpften um ein Toast.

„Morgen.“ schmunzelte Anna amüsiert und setzte sich Adam gegenüber. Ihre Mutter erwiderte den Gruß verschlafen und nippte verträumt an ihrem Kaffee. Auch sie fand den Gedanken schön, einen weiteren Sohn zu haben, das konnte Anna an ihrem verliebten Blick gegenüber dem Wolfsjungen sofort erkennen.

Nach dem Frühstück gingen die Geschwister schnurstracks zur Schule. Shiro schien um einiges lebendiger als sonst zu sein, auch wenn er immer noch nicht sprach.

„Ich frag' mich, ob er jemals sprechen wird.“ erwiderte Adam ihre Sorgen, die Anna schließlich aussprach. „Ich meine, er ist ein Wolf, das ist dir klar, ja?“

„Ja schon, aber … Er sieht aus wie ein Mensch.“ schlussfolgerte die Blondine und nahm den Kleinen an die Hand. Irgendwie schien er gewachsen zu sein. „Schätze, ich werd' Mirai heute mal ausfragen. Ich muss eh noch mit ihm wegen der Situation im Wald sprechen.“

Gesagt, getan. In einer der Pausen zwischen den Lektionen trat Anna erneut vor den Raum des Schülerrates. Ohne anzuklopfen trat sie ein und sah sich um. Nur Kai war da.

„Hey.“ sagte er leise, schaute Anna aber nicht an. Er starrte wieder aus dem Fenster und schien tief in Gedanken versunken zu sein.

„Hi. Ich wollte nicht stören, ich wollte nur wissen, ob Mirai heute da ist.“

„Ja, hab' ihn im Flur gesehen. Musst mal bei den Gängen der höheren Klassen nach schauen.“ antwortete Kai merkwürdig ruhig. Sie hätte gedacht, er hätte sie mehr darüber ausgefragt, was sie mit Mirai wollte. Sein Blick fiel zu der noch offenen Tür. Er musterte Shiro, der am Türrahmen stand und wartete.

„Hmm, okay. Ich probier' mal mein Glück. Dankeschön.“ Anna war es unangenehm, dass Kai dem Jungen Blicke zuwarf, aber ihr nicht. Irgendwie gab es ihr das Gefühl, dass der Wolf wichtiger war, als sie und so wie sie Kai einschätzte, konnte das nur etwas schlechtes sein. Anna griff nach der Hand des Kleinen und ging die Gänge hinunter. Mirai war mit Akira in einer Klasse und Akiras Klasse war zwei Räume weiter als die von Adam und Kai. Das wusste sie von Mika.

Anna hatte keine Probleme, den Weg zu finden. Viele der Schüler machten Platz, als sie Anna sahen, doch statt den ängstlichen Blicken, die sie normalerweise erntete, warfen sie dem kleinen weißen Haarschopf eher fragende hinterher. Es dauerte nicht lange, bis Anna murmelnde Kommentare wahrnahm. „Ignorier' sie einfach.“ flüsterte sie Shiro zu und zog ihn näher an sich. Sie wusste nicht, warum, aber sie entwickelte übermächtige Muttergefühle für den Kleinen. Und er merkte das.

Nach wenigen weiteren Metern hatten sie Akiras und Mirais Klasse erreicht. Man hörte das sofort. Die Stimmen der beiden hallten aus der Klassenzimmertür bis in den Flur. Anna warf einen neugierigen Blick in die viel zu gefüllte Klasse und entdeckte, dass die beiden Jungs gerade ein Armdrücken veranstalteten. Sie trat näher.

„Anna!“ Akira grinste und genau in diesem Moment schlug Mirai seine Hand auf den Tisch.

„HA!“ stieß der Blondhaarige triumphierend aus und grinste Anna an. „Was geht?“

Dann fiel sein Blick auf Shiro.

„Oh, du hast Shiro mitgebracht. Okay. Wollen wir irgendwo hin?“

Anna überlegte kurz. „Ja, wäre gut. Ich glaube, hier ist es ein bisschen zu voll, um uns zu besprechen.“

Das Gespräch in der Klasse erlag einem plötzlichen Flüstern. Affären? Schlägereien? Wenn man Anna und Mirai in einen Raum stecken würde, wer würde überleben?

Shiro schien es unbehaglich zu werden. Seine Hände hielten Annas Hüfte, als würde er ihren Körper als Schutzwall vor den Kommentaren benutzen.

„Alles gut, mein Schatz.“ seufzte Anna halb besorgt, halb verliebt und drückte den Kleinen noch fester an sich.

„Na dann los, hab' eh kein Bock auf Geschichte. Akira, schreib für mich mit, okay?“

„Warte, wohin geht ihr?“ Akira war aufgesprungen und sah aus, als wollte er unbedingt mit.

„Geht dich nichts an.“ gab Mirai schroff zurück und drehte Anna zur Tür. „Wir haben jetzt unser 2. Date.“ fügte er grinsend hinzu und verschwand mit Anna im Arm aus der Klasse.

„Ist das wirklich okay? Du brichst den Weibern das Herz.“ lachte Anna kurz, als sie außer Hörweite auf dem Weg zum Hinterhof waren.

„Ja, Menschenweiber interessieren mich sowieso nicht.“

„Oh, wie kommt's?“

„Guck' mich an. Ich bin wie ein Gott.“ lachte Mirai arrogant und folgte Anna zum Sammelplatz der Gang. Niemand war da.

„Komisch, normalerweise ist wenigstens EINER hier.“ murmelte Anna vor sich hin, setzte sich auf die Decke, die Mika am Morgen ausgebreitet hatte und zog Shiro auf ihren Schoß.

Im Gespräch darüber vertieft, welche Konditionen Mirai an Silver hatte, damit er im Wald bleiben konnte, schlief der Wolf wieder ein. Erwachsenengespräche interessierten ihn nicht sonderlich. Anna allerdings sah Probleme. Mirai wollte, dass die Wölfe keine Affen mehr töteten. Das war klar und Anna teilte seine Meinung. Allerdings sollten sie auch keine anderen Tiere reißen, was sich für Karnivoren als schwierig erweisen würde. Noch schwieriger war allerdings die Kondition, dass die Wölfe eine Art 'Miete' zahlen sollten. Das bedeutete, dass neben der verminderten Beutesuche auch noch ein Teil der Beute abgegeben werden sollte. Affen aßen zwar auch Fleisch, wenn sie mussten, doch griffen lieber auf Früchte oder ähnliches zurück. Doch Wölfe kannten sich mit so etwas nicht aus. Auf die Frage hin, ob es auch etwas anderes sein könnte, antwortete Mirai nur: Wertgegenstände. Sollten die Wölfe also Menschen beklauen? Das Gespräch begann sich im Kreis zu drehen. Langsam aber sicher brodelten alle beide und überwarfen sich mit ihren Argumenten, bis sie schließlich aufgaben.

„Du warst noch süßer, als du mich geküsst hast.“ schnauzte Mirai genervt und lehnte sich an den Ahornbaum, schloss die Augen und schnaufte.

„Du warst noch nie süß.“ gab Anna gehässig zurück und zog genervt eine Flasche aus ihrer Tasche.

„Ich glaub', das bringt heute nichts mehr. Wir reden morgen weiter.“ sagte sie nach einigen großen Schlücken Wasser und wischte sich mit dem Handrücken über die Mundwinkel.

„Bitte.“ schnauzte Mirai beleidigt und stand auf, um zu gehen. Er wuschelte dem kleinen Wolf über den Kopf.

„Übrigens solltest du ihn nicht zu sehr verhätscheln. Du weißt, dass er dich fressen könnte?“ sagte er und konnte die Aggression aus der Diskussion vorhin immer noch nicht verbergen.

„Oh, bitte. Guck dir doch mal an, wie klein und süß der ist. Er würde keiner Fliege was zu leide tun.“ Anna verdrehte die Augen. Es ist ja schön und gut, wenn Mirai sich Sorgen machte, aber über fürsorglich musste er nicht gleich werden.

Mirai schnalzte genervt mit der Zunge und machte sich vom Acker. Auf dem Weg zurück in die Klasse traf er Adam. Er warf ihm nur ein kurzes „Yo“ zu und lief genervt weiter.

„Was'n mit Mirai los?“ fragte Adam verwundert und setzte sich neben Anna, als er im Hinterhof angekommen war.

„Ignorier' ihn einfach.“ Auch Anna klang genervt.

Und sie war es auch noch am nächsten Tag. Mirai ließ sich auf keine der Punkte ein, die Anna sich über den gestrigen Tag ausgedacht hatte, um einen Konsens zwischen Wölfe und Affen zu finden. Auf die Frage hin, ob er es wenigstens versuchte, wurde Mirai noch wütender als zuvor.

„Wieso sollte ich IRGENDETWAS versuchen? DU hast uns in diese Scheiße geritten, es kann mir völlig egal sein, was mit den Viechern passiert, solange sie sich aus meinem Wald verpissen.“

Shiro sah ihn mit großen, blauen Kulleraugen an. Es war ein paar Tage her, seit er so emotionslos aussah, wie jetzt. Es fiel Anna wieder schwer, seinen Blick zu deuten.

„Du brauchst das nicht gleich vor ihm zu sagen… Und nicht so.“ meinte sie besorgt und zog den Jungen an ihre Brust, um ihm über den Rücken zu streicheln. Die beiden hatten sich wieder im Innenhof getroffen. Heute waren ziemlich viele aus Annas Gang da gewesen, allerdings hatte sie ihre Leute gebeten, ihr und Mirai etwas Freiraum zu geben. Mirai mochte die Gang immer noch nicht – jedem Einzelnen hatte er beim Gehen einen bösen Blick zu geworfen, ehe sich beide hingesetzt hatten.

„Wenn's nur um Shiro geht: Er kann bleiben. Er kann sogar bei mir im Palast wohnen.“ fauchte Mirai kurz, hockte sich vor Anna und streichelte dem Kleinen über die Haare. In diesem Moment merkte Anna, wie Shiros Hand sich in ihrem Rücken vergrub. Gestern kamen die kleinen Ärmchen nicht mal um ihre Hüfte.

„Hast du das Gefühl, er ist gewachsen?“ fragte sie, mehr sich, als Mirai.

„Keine Ahnung.“ gab dieser wortkarg zurück und ließ sich auf seinen Po fallen. Er musterte Anna, die gerade damit beschäftigt war, dem Wolf ein paar Worte zu entlocken.

„Ich würde allem zustimmen, wenn du bei mir wohnen würdest.“ sagte Mirai plötzlich ohne auch nur die Miene zu verziehen. Anna blickte auf. Sie war verwundert über seine Offenheit.

„Das geht nicht. Und das will ich auch nicht.“ antwortete sie wahrheitsgemäß.

„Wieso nicht? Du könntest jeden Tag bei Shiro sein.“

„Das kann ich jetzt auch.“

„Sobald wir eine Einigung gefunden haben, kommt Shiro zurück, oder nicht?“ Mirais Worte erinnerten sie an die traurige Wahrheit. In den fünf Tagen, die sie Shiro kannte, war er ihr schon unglaublich ans Herz gewachsen. Mirai bemerkte den bitteren Nachgeschmack seiner Worte und seufzte. „Wir haben ja noch etwas Zeit.“ Sein Blick wanderte über den Schulhof.

„Worüber denkst du nach?“ fragte ihn Anna nach einigen Sekunden der Stille.

„Darüber, wie die Wölfe bei uns bleiben können. Solange ich König bin, ist mir eigentlich egal, wer im Wald wohnt, weil ich eh stärker als jeder andere bin. Aber die Affen machen Radau, verständlicherweise. Viele haben ihre Jungen durch die Wolfattacken verloren, manche Jungen auch ihre einzige Familie. Und dass ich nicht da war, um sie zu beschützen, gibt ihnen Grund, an mir zu zweifeln. Wenn ich jetzt einfach klein bei gebe und jeder deiner Vorschläge zustimme, ohne wenigstens zu versuchen, das beste rauszuholen, verlassen sie mich. Und dann bin ich ein König von niemanden. Wer will das schon?“

Es war überraschend. Sie musste seine Gedanken nicht lesen, um zu wissen, dass er das wirklich dachte und gerade diese Offenheit überraschte die Blondine. Shiro war aufgestanden, lief zu Mirai und streckte seine immer noch kleine Hand aus, um den blonden Haarschopf zu streicheln. Der Junge sagte nichts, sein Blick war wie immer ein Rätsel und egal, wie lange Mirai ihn anstarrte, er zeigte keiner seiner Absichten. Deshalb blickte Mirai an den kleinen Körper vorbei zu Anna und sah sie fragend an.

„Ich mach' das manchmal bei ihm, wenn es ihm nicht gut geht...“ murmelte sie im Gegenzug, zuerst etwas eingenommen von der Situation, musste dann aber anfangen zu lachen. „Jetzt muss dich schon ein Baby trösten.“ neckte sie Mirai kichernd. Dieser verzog genervt das Gesicht und drückte Shiro zurück zu Anna.

„Mir geht’s gut, danke.“ schnauzte er kühl und klang noch schlimmer, als zuvor. Er versteckte sein beschämtes Gesicht hinter seiner Hand.

„Hör mal. Ich glaub', wir versteifen uns hier zu sehr auf etwas. Wir haben wirklich noch Zeit. Lass uns das ganze doch einfach ruhig angehen und uns ein bisschen ablenken. Morgen spielen Akira und Adam in 'nem Spiel und Akira hat mich gefragt, ob ich zugucken will. Wir können doch zusammen gehen? Bringt uns vielleicht auf andere Gedanken.“ schlug Anna dann optimistisch vor.

„Kein Scheiß.“ Akiras Stimme ertönte hinter der Mauer hervor, kurz danach tauchte sein Gesicht um die Ecke auf. Anscheinend hatte er sie belauscht.

„Das ist also los.“ sagte er seufzend und ließ sich neben Anna ins Gras fallen. Shiro lief zu ihm hinüber und setzte sich auf Akiras Schoß. Als wären die beiden ein eingespieltes Team streichelte Akira ihm sofort über den Kopf.

„Du hast also dein Königreich nicht mehr im Griff, hm?“ grinste der Rotschopf abfällig. „War eh nur eine Frage der Zeit.“

„Halt die Schnauze.“ fauchte Mirai sofort zurück. „Als ob du Ahnung vom Regieren hättest.“

„Stimmt. Ich muss mich damit nicht rumplagen – noch nicht.“

Anna horchte auf. „Was meinst du mit 'noch nicht' ?“ fragte sie neugierig nach.

„Ist ein Geheimnis.“ grinste Akira.

„Du kommst eh nicht dazu.“ kommentierte Mirai, nun ebenfalls gehässig grinsend.

Akira seufzte. „Wär' ich in deiner Situation, würde ich mir überlegen, wie ich meine Diener nutzen würde, anstatt nur auf'm faulen Arsch zu sitzen und einem Teenager hübsche Augen zu machen.“ sagte er abfällig und schüttelte dramatisch mit dem Kopf. Anna kicherte.

„Was? Ich… hab' ich nicht!“ fauchte Mirai nun und sprang auf die Füße, bereit zum Kampf.

„Ja, ja.“ Akira klang belustigt.

„Akira, wie kommt's eigentlich, dass Shiro dich so gut leiden kann?“ fragte Anna immer noch grinsend, aber wechselte das Thema, um die Situation etwas zu entschärfen.

„Ach, ich versteh' den Kleinen einfach. Bin's gewohnt. Vor allem bei den Kleinen.“

Mirai trat gegen den Ahornstamm und schnauzte ein „Bis Morgen“. Anscheinend wollte er nicht bleiben. Bevor er jedoch gehen konnte, sprang Anna auf und hielt ihn fest, um ihn nach seiner Handynummer zu fragen.

„Es ist besser, wenn wir in Kontakt bleiben. In der Schule zu sprechen reicht anscheinend nicht.“ begründete sie ihre Bitte. Doch egal, was sie gesagt hätte, das triumphierende Grinsen, das der Blonde Akira zuwarf, wäre geblieben.

Auch Akira stand auf, wobei Shiro ihm vom Schoß glitt, und ging zu Anna, um ihr das Handy aus der Hand zu nehmen. „Dann geb' ich dir auch gleich meine.“ flötete er, völlig unbeeindruckt von Mirais Versuchen, ihm das Handy wieder abzunehmen. Einmal 'Speichern' gedrückt, fertig.

„Freut mich, dass du morgen kommst. Kannst den Affen ruhig mitbringen.“ lachte Akira dann und deutete auf Mirai, der drauf und dran war, Akira zu erwürgen. Anna lachte kurz.

„Hätte nicht gedacht, dass ihr beide euch so gut versteht.“

„Tun wir nicht.“ Akira streckte neckisch die Zunge aus, dann packte Mirai ihn am Nacken und schleifte ihn zurück in ihre Klasse.

Die Tage verstrichen. Am Donnerstag war Anna, wie versprochen, bei Akiras und Adams Spiel. Auch Toki und Mirai waren gekommen. Toki hatte einiges an Gebäck und Törtchen mitgebracht, sowie eine Tube Honig, von dem er reichlich auf die süßen Gebäcke träufeln ließ. Bei dem Gedanken wurde Anna schlecht. Auf die Frage hin, wie er so viel Süßes essen konnte, grinste er sie mit honigverklebten Zähnen an.

Das Team der Jungs gewann das Spiel – 4:1. Ein ziemlich gutes Ergebnis. Und Akira hatte Recht behalten – auch wenn Anna schon aufgefallen war, wie lebensfroh Akira war, so war er beim Spielen wie ein strahlendes Leuchtfeuer unter den Spielern. Sofort konnte man ihn auf dem Feld ausmachen – nicht nur wegen den roten Haaren, sondern einfach nur wegen seiner Ausstrahlung. Auch wenn Anna versuchte, Adam im Auge zu behalten, fiel ihr Blick immer wieder auf das strahlende Gesicht des Rothaarigen.

Das Angebot, nach dem Spiel noch was trinken zu gehen, lehnte Anna dankend ab. „Trinkst du immer noch nicht?“ fragte Mirai enttäuscht, doch Anna verneinte.

„Ich hab' ziemliche Kopfschmerzen, wahrscheinlich zu viel Sonne. Sorry.“ erklärte sie kurz und packte ihre Tasche, um sich auf den Weg zu machen. Adam schloss sich seinen Teamkollegen an und Shiro war gar nicht erst mitgekommen, um das Spiel zu beobachten. Die fünf verabschiedeten sich voneinander. Anna blickte noch mal über die Schulter und sah, wie die Jungs quatschend in die selbe Richtung liefen.
 

Freitag. Ein Tag vor Annas Geburtstag. Und Anna fühlte sich wie ausgekotzt. Würde sie etwa zu ihrem 16. Geburtstag krank werden?

„Du siehst blass aus, Spätzchen.“ sagte ihre Mutter besorgt, eilte zu der Blondine und war drauf und dran, ihre Hand auf Annas Stirn zu legen, doch Anna beruhigte sie.

„Hab' nur wenig geschlafen, weil ich so aufgeregt war.“ Ein halbherziges Lächeln schaffte es auf das müde Gesicht.

„Gut. Auch wenn du morgen Abend weg gehst, hab' ich trotzdem schon den Tag über was mit dir vor. Es sind schon ein paar Geschenke angekommen und ich will heute eine Torte backen. Du magst doch immer noch Schwarzwälderkirschtorte, oder? Ich hab sogar einen Sekt gekauft.“

Anna sah ihre Mutter vorwurfsvoll an.

„Meinst du, eine Flasche reicht nicht?“ entgegnete ihre Mutter besorgt.
 

Der Tag in der Schule lief ruhig ab. Anna nahm zur Überraschung und Bedauern ihrer Klassenmitglieder nun öfter am Unterricht teil, unter anderem deswegen, weil sie einen Monat vor den Prüfungen standen. Auch wenn Anna nicht dumm war – wenn sie zu viel fehlte, könnte sie unmöglich alles noch aufholen.

Toki schaute ab und zu in ihrer Klasse vorbei, mit Yuki im Schlepptau. In den Pausen quatschten sie vor Annas Tisch über Spiele und Mangas. Anna verstand nicht einmal die Hälfte von dem Gesagten. Einmal schaute Adam vorbei, um zu gucken, ob die Gerüchte wahr waren und Anna tatsächlich am Unterricht teilnahm. Als er sah, dass es stimmte, lachte er laut los und ging ohne etwas zu sagen, aber immer noch gröhlend vor Belustigung, zurück in seine Klasse. Kiki holte die Blondine zur Mittagspause ab und zeigte ihr auf dem Weg zum Hinterhof die Stellen auf ihrem Körper, die vor kurzem noch mit Hämatomen gepflastert waren. Es war fast alles verheilt.

Als die beiden im Hinterhof ankamen, versteckte Mika schnell eine Zeitschrift hinter ihren Rücken und lachte auf. Yuki wandte sich ab.

„Was macht ihr?“ fragte Anna, die den Braten sofort gerochen hatte. Sie verbargen etwas.

„Nichts, ich hab' Yuki nur ein Bild von meinem neuen Freund gezeigt.“ lachte das Mädchen schrill und boxte Yuki, aus welchem Grund auch immer, in die Seite. Anna zog die Augenbrauen hoch. Eigentlich hatte sie immer schon das Gefühl gehabt, dass Yuki und Mika was am Laufen hatten.

„Und ich darf das Foto nicht sehen?“ fragte sie misstrauisch nach, doch Mika schüttelte den Kopf.

„Du bist die ganze Zeit von heißen Kerlen umgeben und ich hab' keine Lust, dass du meinen Süßen als hässlich beleidigst.“ Sie war merkwürdig gereizt. Wieso?

„Als ob mich das interessiert.“ seufzte Anna, nun leicht angefressen, und ließ sich auf ihren gewöhnten Platz an der Mauer nieder. Shiro war auch heute nicht hier bei ihr.

„Wie? Dich interessiert nicht mein Freund oder dich interessieren deine Kerle nicht?“

„Beides.“ gab Anna knapp zu, zog ein Mathebuch aus ihrer Tasche und begann darin zu blättern.

Der Tag zog sich hin wie halb getrockneter Kleber. Er war zäh und wollte nicht aufhören. Doch wie jeder Schultag hatte auch dieser ein Ende. Und am nächsten Tag wurde Anna 16.

Das Feiern der Katastrophe

Das erste, was Anna an diesem Morgen auffiel, waren die berstenden Kopfschmerzen, die ihren Schädel sprengen wollten. Sie drehte sich murrend um und Shiros Fell kitzelte ihre Nase. Seit einigen Tagen war er wieder in Hundeform und machte keine Anstalten, Anna noch mal sein menschliches Gesicht zu zeigen. Er hob kurz den Kopf, als er merkte, dass Anna wach war, und leckte ihr treu mit der nassen Zunge über die Wange. Dann legte er sein Kinn wieder auf seine Pfoten und schaute die Blondine besorgt aus seinen blauen Augen heraus an. Anna fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, um sich Shiros Sabber abzuwischen und spürte, dass sie warm war. Sie starrte ihn eine Weile lang an. Eigentlich hatte sie keine Lust, heute irgendetwas zu feiern, auch wenn sie jetzt 16 Jahre alt war. In Gedanken versunken schloss sie noch mal die Augen, dann öffnete sich die Tür.

„Happy Birthday to you...“ Adams und Frau Kurosawas Stimmen begannen das Geburtstagslied anzustimmen, doch verstummten schnell, als sie sahen, dass das Mädchen noch im Bett lag.

„Ich weck' sie, Mum.“ sagte Adam leise und ihre Mutter verließ das Zimmer wieder. Anna hörte, wie seine Schritte dem Bett immer näher kamen. Dann hockte er sich wohl hin, sie wusste es nicht genau, weil sie mit dem Rücken zur Tür lag. Seine Hand zog langsam die Bettdecke weg, fuhr unter ihr Schlafshirt und hob es an. Seine Finger waren kalt, als sie die Konturen ihres Rückens entlang fuhren.

„Macht's dir Spaß, deine Schwester beim Schlafen zu befummeln?“ brummte Anna schließlich und zog sich die Decke wieder über die Schulter. Ihr war kalt.

„Du bist also doch wach.“ entgegnete Adam nur stumpf und setzte sich neben Anna aufs Bett.

„Ist es gewachsen?“ fragte Anna dann leise nach.

„Natürlich. Wie jedes Jahr.“ antwortete ihr ihr Bruder. Anna seufzte, sagte aber nichts weiter dazu. Jedes Jahr würde ihr Tattoo größer werden, als würde es sie langsam verschlingen.

„Mir geht’s nicht gut. Wie sieht's draußen aus?“ Anna rappelte sich langsam auf und wischte sich den Schlaf aus den Augen.

„Grau. Nichts großartiges passiert bisher.“ Anna nickte beruhigt. „Komm, Mama hat Frühstück gemacht. Du kriegst auch Geschenke.“ grinste Adam jetzt und wuschelte seiner Schwester durchs Haar.

„Komme gleich.“ entgegnete Anna, schlug Adams Hand genervt weg und richtete sich ihr Haar wieder.

Ihre Mutter hatte den Tisch bereits gedeckt. Ein großer Blumenstrauß zierte ihn und bildete den Mittelpunkt unter dem ganzen Essen. Alles war da. Es war toll. Nach dem Frühstück ging es ans Geschenke Auspacken. Tante und Onkel hatten ihr – wie jedes Jahr – Bücher geschenkt. Diesmal war noch etwas anderes dabei: Eine Art Mineral, das Anna an Quarz erinnerte. Es war hellblau und stumpf. Nur selten glänzte es mal. Ihre Mutter hatte ihr ein Kleid geschenkt. Es war in Rot und Schwarz gehalten, warf lange Rüschen, kam mit passender Tasche und war, wie immer, nicht ganz nach Annas Geschmack. Doch alles, was ihre Mutter ihr schenkte, liebte sie dennoch. Von ihrem Vater hatte sie Geld bekommen und das nicht zu knapp, aber das interessierte Anna nicht. Für sie war er nur der Mann, der die Rechnungen bezahlte. Adam hatte ihr ein kleines Schmuckkästchen gereicht, was Anna verwunderte. Normalerweise bekam sie von Adam die nützlichen Sachen, zum Beispiel das Handy, was sie zu Weihnachten von ihm bekommen hatte (wo er das Geld her hatte, wusste niemand so genau).

„Was ist das?“ Anna musste kurz lachen bei dem Gedanken, dass er ihr tatsächlich Schmuck schenken würde. Doch er grinste nur und bedeutete ihr, das Kästchen aufzumachen. Wenige Sekunden später hielt das Mädchen eine feine Silberkette zwischen ihren Fingern. An ihr hing ein schwarzer, eiförmiger Opal. Beim näheren Hinsehen konnte man meinen, dass blaue Rauchschwaden ihn durchfluteten. Sofort hing Anna die Kette um den Hals. Shiro, der am Tischbein auf seinen Auftritt gewartet hatte, tappste zur Blondine und stellte seine Beine auf ihren Schoß, ehe er aus seinem Maul ein paar Löwenzahne fallen ließ. Anna lachte kurz, dann umarmte sie ihre Familienmitglieder einen nach dem anderen.

Der Tag wurde damit verbracht, einige der Bücher durch zu wälzen und später dann Kaffee und Kuchen zu essen. Gegen Nachmittag nötigte Annas Mutter sie, sich fertig zu machen. Sie musste sich duschen, die Haare mussten gemacht werden (was dann nach einigem Gemecker doch ihre Mutter übernahm), zog das neue Kleid an und packte ihre Tasche mit dem nötigen Kram. Die Kette baumelte immer noch um ihren Hals – es passte perfekt zu diesem Kleid (als hätten sich Adam und ihre Mutter abgesprochen). Danach legte ihre Mutter ihr Make-Up auf. Anna hatte nie wirklich oft Make-Up getragen, das einzige, was sie gerne machte, war ein bisschen Mascara aufzutragen, bevor sie zur Schule ging. Doch ihre Mutter wollte nichts hören.

Adam klopfte an die Tür und schaute, ob Anna fertig war. Es war bereits zehn vor sechs, bald würden die anderen ankommen. Adam trug einen Anzug, der ihn merkwürdig erwachsen aussehen ließ. Zur Überraschung aller Anwesenden hatte er sich sein Haar gemacht und konnte sogar die Krawatte richtig binden. Anna witzelte kurz, dass sie ja doch einen gutaussehenden Bruder hätte, als es an der Tür klingelte.

Als die Familie die Tür aufmachte, standen Ren und Liam davor. Beide trugen Anzüge: Während Rens komplett schwarz gehalten war, war Liams eher beige und braun. Sie sahen so unglaublich gut aus, dass Mikas Stimme in Annas Kopf wieder hallte: 'Du bist die ganze Zeit von heißen Kerlen umringt.' Ein Auto parkte vor dem Gartentor. Es war eine schwarze Limousine. Anna war nur froh, dass es keine Stretch-Limo war.

„Guten Tag, Frau Kurosawa.“ Ren war charmant wie eh und je und reichte der Dame einen Strauß Blumen. „Das ist eine kleine Entschädigung dafür, dass wir ihre Tochter heute Abend entführen.“

„Oh, das macht doch nichts.“ sagte Annas Mutter geschmeichelt und nahm die Blumen entgegen.

Adam und Anna liefen aus der Tür zur Limo und Anna entging es nicht, dass Liam und Ren ihm merkwürdige Blicke zuwarfen. Sie stiegen ins Auto. Ein unbekannter Fahrer saß am Steuer und sobald sich alle angeschnallt hatten, raste er los.

Das Auto machte vor einem großen Hotel in der Innenstadt Halt.

„Wir essen in dem Restaurant im obersten Stock.“ lächelte Ren. Natürlich hätte er sich jedes Restaurant in dieser Stadt aussuchen können; sein Vater zahlte ja alles. Der Fahrstuhl, der sie nach oben brachte, brauchte fast drei Minuten, bis die Türen sich wieder öffneten. Ein großer Saal eröffnete sich ihnen und an den Fenstern, die vom Boden bis zur Decke gingen und einen Überblick über die Stadt verschafften, stand ein langer Tisch. An diesem saßen bereits Toki, Kai und Akira. Toki trug ein Hemd mit Fliege. Es passte zu ihm, sich nicht ganz so aufzuhübschen, wie die anderen Kerle. Kai trug unter seiner schwarzen Anzugjacke ein violettes Hemd, an dem eine ebenfalls schwarze Krawatte hing. Akira, der zum 1. Mal, seit Anna ihn kannte, sein wildes, rotes Haar gebändigt hatte, trug ein weinrotes Hemd, bei dem die obersten Knöpfe geöffnet waren. Anscheinend hielt er es nicht nötig, sich Jacke und Krawatte anzulegen, doch er trug eine sehr hübsche, gestreifte Nadelhose. Nur Mirai war noch nicht da.

Sie begrüßten Anna alle, bevor diese zum Platz geführt wurde, der den Kopf der Tafel bildete, und sich hinsetzte. Dabei musste sie darauf achten, dass der bauschige Rock des Kleides nirgendswo hingen blieb. Unaufgefordert setzte sich Adam zu ihrer Rechten hin, zu ihrer Linken setzte sich Ren. Eine Kellnerin kam vorbei und begann, Gläser mit Sekt zu füllen, als Mirai aus dem Fahrstuhl trat und sich an den Tisch setzte. Auch er war nicht sonderlich formal angezogen. Zwar trug er ein dunkelblaues Jackett und die passende Hose, hatte aber anscheinend kein Hemd gefunden, weshalb er einfach ein weißes T-Shirt angezogen hatte. Akira machte sich etwas darüber lustig. Es war eine lebhafte Runde. Aber Anna fühlte sich ausgeschlossen.

Ihr Kopf puckerte unter Schmerzen. Sie spürte, wie sich Schweiß im Nacken sammelte. Ihr Mund war trocken. Sie griff nach dem Sekt, trank nach dem Anstoßen und den Glückwünschen daraus, doch der Sekt schien in ihrem Mund zu Staub zu zerfallen. Sie spürte Adams musternden Blick. In diesem Moment wünschte sie sich, er wäre nicht mitgekommen.

Der erste Gang wurde serviert. Die Gespräche flogen an Anna vorbei. Oft wurde sie etwas gefragt, antwortete darauf wie in Trance, erinnerte sich wenige Sekunden später aber schon gar nicht mehr an die Frage. Jedes Mal, wenn sie zum Sektglas griff, war es wieder voll, als wäre die Kellnerin ein Ninja und würde immer aus dem Schatten heraus nach füllen. Sie verfluchte die Kellnerin.

Der zweite Gang kam. Es war eine Suppe. Vielleicht würde das Annas Durst stillen. Sie griff nach dem Löffel und begann zu essen. Die Gespräche wurden lauter. Das Puckern in Annas Stirn wurde stärker.

Die Blondine wusste gar nicht mehr, dass sie die Suppe aufgegessen hatte, und verwundert schaute sie auf den Teller, der ein großes, saftiges Stück Fleisch und gebratenes Gemüse als Beilage trug.

Anna hob ihr Besteck zum Schneiden nicht an. Kraftlosigkeit und Unmut breitete sich in ihrer Brust aus. Sie hatte keinen Hunger mehr, sie hatte nur Durst. Sie griff nach dem vollem Glas Sekt. Hatte dieses Restaurant nichts anderes zu trinken? Adams Blick war wie Messerstiche. Nur nebenbei hörte sie seine Stimme, wie er etwas bei der Kellnerin bestellte. Kurz darauf stand ein Glas mit eiskaltem Wasser vor Anna. Jetzt hatte Adam wieder Berechtigung, bei ihnen zu sein. Das Wasser glitt wie ein eisiger Strom Annas Kehle hinab und erfüllte ihre Brust mit einem wohligem Schmerz. Sie spürte sofort, wie sich ihre Lungen und Rippenmuskeln unter der Kälte kurz zusammen zogen. Das Glas war sofort leer.

„Hast du zu viel getrunken? Deine Wangen sind ganz rot.“ lachte Toki kurz und zeigte auf die Blondine. Diese schaffte es, ein schiefes Lächeln zu zeigen.

„Mir geht’s gut.“ log sie und trank erneut etwas – wieder der Sekt.

„Du solltest wirklich nicht so viel trinken.“ murrte Adam nun und fragte erneut nach Wasser. Mirai lachte.

„Du hast also gelogen, als du sagtest, du seist trinkfest.“ sagte er höhnisch.

„Ach, Anna kann ihren Alkohol nicht halten?“ lachte Ren nun. Dass er tatsächlich lachte, gruselte Anna ein bisschen. Auch Liam zeigte ein ungewohntes Lächeln. Toki hatte seine Fliege gelockert. Kai balancierte die Spitze seines Messers auf seinem Zeigefinger. Anna sollte wahrscheinlich wirklich nichts mehr trinken. Sie fand ihre Hand auf ihrer Stirn wieder, die den Schweiß abwischte. Schnell wischte sie den Schweiß an ihrer Serviette ab. Das Stück Fleisch vor ihr war nun halb gegessen und verharrte kalt auf dem Teller. Die Ninja-Kellnerin begann mit anderen Kellnern (die Anna erst jetzt auffielen), den Tisch abzuräumen. Wein wurde serviert. Vielleicht eine gute Abwechslung zum Blubberwasser. Neben Annas Rotweinglas stand nun auch immer ein gefülltes Wasserglas. Das Dessert kam. Heißer Schokoladenkuchen mit Vanilleeis und Himbeeren. Normalerweise ein Gedicht, eine Speise, die jedem sofort das Wasser im Mund zusammen laufen ließ, doch Anna wurde bei dem Anblick schlecht. Ihr Magen fühlte sich wie aufgebläht.

„Ich bin gleich wieder da.“ sagte sie ruhig, erhob sich, nahm ihre Tasche und begann, Richtung Tür zu Laufen. Der Ninja, so nannte Anna die Kellnerin nun, führte sie zu den Damentoiletten.

„Ich hätte nicht gedacht, dass man mit euch Bratzen so viel Spaß haben kann.“ lachte Mirai, als Anna verschwunden war, und trank seinen Schnaps aus.

„Ich auch nicht.“ Ren lächelte immer noch. Adam lehnte sich zurück und musterte die Decke.

„Ihr solltet nicht versuchen, Anna abzufüllen.“ murmelte er schließlich und erntete dafür undankbare Blicke.

„Wieso nicht? Vielleicht kriegen wir sie ja dadurch ins Bett.“ lächelte Kai und begann, das Messer auf dem Tisch zu drehen. Adam lachte höhnisch.

„Eher nicht.“

„Wieso nicht? Sie ist auch nur ein Mensch. Ein Mädchen, kommt noch dazu.“ entgegnete Kai nun und hielt das Messer an. Adam lehnte sich vor und faltete die Hände unter seinem Kinn zusammen. Er musterte Annas Weinglas. Sie hatte es schon wieder ausgetrunken.

„Sie wird nicht betrunken. Ihr Körper verarbeitet den Alkohol nicht, er schickt ihn gleich raus. Jedes Gift, das jemals seinen Weg in Annas Körper findet, wird sofort verdunstet. Deshalb wart ihr so schnell besoffen.“

Stille trat ein. Jeder Blick ruhte nun auf Adam, Toki sah erschrocken aus, der Rest der Mannschaft wohl eher verwundert oder verwirrt. Doch dann wurden sie finster.

„Wir wollten dich sowieso schon mal sprechen.“ Mirai war der erste, der die Gedanken aussprach, die sie wohl alle dachten. „Wieso weißt du so viel über Anna? Wieso hängst du ihr ständig am Arsch? Sie hat uns erzählt, dass du jeden Geburtstag mit ihr feierst. Läuft da was?“

Adam grinste. Er mochte es, wenn die Kandidaten für Anna alle ein bisschen wegen ihm zurück gehalten wurden.

„Vielleicht.“ witzelte er und trank von seinem Wein.

„Verarsch' uns nicht.“ schnauzte Kai und schlug mit seiner Hand auf den Tisch. Liam hatte schnell sein Weinglas in die Hand genommen, damit es nicht umfallen würde.

„Tu' ich nicht. Ich hab' sie sogar schon nackt gesehen.“ Das Grinsen auf Adams Gesicht wurde immer breiter. Nun war es Toki, der sauer wurde.

„Sowas macht man nicht, wenn man die Person nicht liebt.“ sagte er genervt und stocherte so wild mit der Gabel im Kuchen herum, dass der langsam zerfiel.

„Ich liebe sie. Und sie liebt mich.“ entgegnete Adam gelassen und erreichte erneut, dass der große Saal durch eine schlagartige Stille erfüllt wurde.

„Ich hab' gesagt: Verarsch' uns nicht.“ Obwohl Kais Stimme nur ein Flüstern war, klang es, als würde es direkt an Adams Nacken gerichtet sein. Er stand plötzlich auf seinen Füßen. Auch Mirai und Liam waren aufgestanden. Ren trank genervt sein Glas aus.

„Und ich hab' gesagt: Tu' ich nicht.“ gab Adam gelassen zurück und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

„Ist doch normal, wenn ein Bruder seine kleine Schwester liebt.“

„Was?“ fauchte Kai nun genervt. Er wollte Adams Worte wohl noch nicht ganz verstehen. Akira hatte seinen Kuchen aufgegessen und sah nun auch auf. Anscheinend war das Thema für ihn nicht wichtiger, als sein Dessert. Er musterte Adam kurz, legte dann seine Gabel auf den Teller und seufzte.

„Er sagt, dass er Annas Bruder ist, du Dummkopf.“ erklärte der Rotschopf ruhig, wippte kurz in seinem Stuhl vor und zurück und stand dann auf, während die anderen langsam wieder zurück in ihre Sitze fanden. Akira begab sich zur Kellnerin.

„Wohin gehst du?“ fragte Toki verwundert, aber nun sichtlich beruhigt, dass er nicht noch einen Rivalen in Adam hatte.

„Klo.“ gab Akira knapp zurück und verschwand im dunklen Flur.
 

Ihre Hände krallten sich in das Waschbecken vor ihr. Wasser tropfte von ihrem Pony auf das Marmor. Anna sah in den Spiegel und musste erkennen, dass sie kreidebleich war. Noch bleicher als Kai an seinen schlechten Tagen. Sie sah aus wie eine wandelnde Leiche. Nicht mal das wiederholte Waschen ihres Gesichtes half. Im Gegenteil: Die Schminke, die ihr vielleicht noch ein bisschen Farbe ins Gesicht zaubern konnte, war mit dem Wasser im Abfluss gelandet. Nur das Augen-MakeUp hielt noch. Mit einem Papiertuch wischte sich das junge Mädchen das restliche Wasser aus dem Gesicht. Das raue Papier rötete die Haut leicht, die dann aber sofort wieder blass wurde. Anschließend kramte sie in ihrer Tasche nach MakeUp und Rouge. Sie war nicht so gut darin, sich zu schminken, wie ihre Mutter, aber das Resultat war befriedigend. Sie sah nicht mehr wie halb tot aus.

Anna seufzte kurz auf. Sie wollte nach Hause. Ihre Knie zitterten und gaben Grund zu der Sorge, dass sie mit jedem nächsten Schritt umfallen könnte. Ihr ganzer Körper schien verspannt zu sein. Als würden Blitze durch ihre Muskeln zucken, verkrampfte sich jeder ihrer Körperteile. Langsam verschwamm ihre Umgebung. Aber das würde sie nicht unterkriegen. Das Mädchen nahm die paar Schritte zur Tür zum Flur, öffnete sie mit einem großen Schwung und trat in den spärlich beleuchteten Gang, der fernab der Räumlichkeiten zum Essen war. Doch der Gang war nicht leer.

Akira lehnte an der Wand zur Damentoilette und schaute von seinem Handy auf, als Anna so schwungvoll heraus trat. Er verstaute sein Handy in der Hosentasche, musterte sie kurz und sagte dann, ohne zu lächeln: „Yo. Wie geht’s dir?“

Anna zuckte zusammen. Ihre Arme verschränkten sich wie automatisch. Schmerzhaft spürte sie, wie ihre Fingernägel sich in ihr eigenes Fleisch bohrten. Doch sie konnte den Griff nicht lockern. Sie schwieg. Akira machte einen Schritt auf sie zu. Seine Finger legten sich unter ihren Pony, der immer noch nass war. „Warst du noch mal duschen?“ Normalerweise würde er bei einem solchen Spruch lachen, um zu signalisieren, dass er einen Witz machte. Aber er lachte nicht. Wieso lachte er nicht? Wieso gab er Anna keinen Anlass dazu, die Situation so gut es ging zu bewältigen? Ein bisschen Aufmunterung hätte nicht geschadet. Erneut schwieg sie, schaffte es aber, den Kopf zu schütteln. Ihr Nacken knackte bei der Bewegung kurz schmerzhaft.

„Du zitterst.“ Akiras Stimme kam immer näher. Anna wusste nicht wie, aber plötzlich fand ihr Rücken die Wand, an der Akira vorher noch gelehnt hatte. Er stütze sich mit seiner Hand daran ab. Sein Oberkörper versperrte Anna die Sicht auf den Gang. Sein Arm blockierte den Weg zurück zu den anderen. Akiras freie Hand schlenderte langsam über Annas Arm, der unter der warmen Berührung noch mehr zuckte. Sie war schon angespannt, aber das half gerade nicht, um sie zu entspannen. Ihre Hand lockerte sich von ihrem Arm und legte sich auf Akiras Brust, um ihn wegzudrücken.

„Mir geht’s nicht gut...“ Annas Seele krümmte sich unter der Piepsigkeit ihrer eigenen Stimme.

„Ich weiß.“ Akiras Stimme war nicht mehr als ein Flüstern geworden. Seine Finger strichen über ihre Wange. Er trieb die Röte zurück in ihr Gesicht. Sie fühlte sich noch schwächer als vor ein paar Minuten im Badezimmer. Dem Ziehen der Finger an ihrem Kinn gab Anna nicht nach, das musste sie aber auch nicht. Akira lehnte sich einfach vor. Seine Lippen lagen auf ihren. Sie konnte nichts tun. Sie spürte, wie seine Zunge über ihre Lippen strich, diese langsam öffneten und ihm Einlass gewährten. Seine Hand war in ihren schweißnassen Nacken gewandert. Doch das schien ihn nicht zu ekeln – behutsam streichelte er ihn, während er sie küsste, und wanderte ihren Rücken hinab, bis seine Hand über ihrem Po Halt machte, um sie etwas näher an sich ran zu ziehen. Das Zucken, das jeder Annas Körperteile vorher fast gelähmt hatte, verschwand. Die Blitze, die durch ihre Muskeln schossen, verwandelten sich in Flammen. Ihre Arme entspannten sich. Ängstlich hielten die Finger Akiras Hemd fest, als könnte Anna jeden Moment fallen. Er schmeckte nach Schokolade und Himbeeren. Seine Zunge fuhr behutsam über ihre und verschwand dann. Akira löste den Kuss für eine kurze Sekunde, legte seine Lippen aber erneut an und küsste das Geburtstagskind wieder zärtlich. Anna war sich nicht sicher, wann sie ihre Augen geschlossen hatte, aber sie spürte mit jeder Zelle ihres Körpers, wie Akira vor ihr stand. Vielleicht schaute er sie an, während er sie küsste. Vielleicht musterte er sie, um ihre Reaktion zu erfahren. Ihre Gedanken übertönten seine, die langsam in ihren Kopf eindrangen, während er ihre Lippen mit seinen liebkoste. Er küsste sie immer wieder. Jeder Kuss war wie leichter Schnee, der sich auf ihre Haut legte und eine brennende Spur hinterließ. Jedes Mal, wenn seine Zunge ihre Lippen benetzte, stillte es Annas Durst ein bisschen mehr. Beide seiner Hände wärmten nun ihre Schulterblätter und gaben dem Mädchen Halt. Wie in dem Moment versunken ließ Anna es über sich ergehen. Sie mochte Akira, hatte aber nie daran gedacht, ihn irgendwann mal zu küssen. Das war ihr nie in den Sinn gekommen. Dennoch war es in dieser Situation wahrscheinlich das richtige. Sie ließ die Küsse weiterhin zu. Diese wanderten von ihrem Mund zu ihrer Wange, ihrem Ohr, ihrem Hals und ihrem Schlüsselbein. Der letzte, den sie spürte, berührte den nun trockenen Pony auf ihrer Stirn. Die Küsse fühlten sich an, als würden sie nachbeben. Sie wagte sich nicht, ihre Augen zu öffnen. Akiras Hände streichelten behutsam über ihren Rücken, wanderten wieder hoch zu ihrem Kopf und ihren Wangen. Seine Berührungen waren wie Feuer. Sie entzogen Annas Körper all die Schmerzen, die sie vorher noch hatte.

Anna war sich nicht sicher, wie lange sie da standen. Ihr Blick war auf ihre Hände gerichtet, die sich immer noch an Akiras Hemd festhielten. Sie konnte den Griff nicht lockern. Ihre Wangen glühten. Jede Stelle, die er geküsst hatte, glühte.

„Geht's dir besser?“ Akiras Stimme war wie Sprühregen. Sie spürte, wie sich jedes Haar an ihrem Körper aufstellte. Langsam nickte sie. Ein erneuter, kleiner Kuss auf ihre Wange, gab ihr Mut aufzublicken. Akiras Augen glänzten golden in seinem schattigen Gesicht. Nun sah sie, was sein Blick bedeutete: Er war besorgt gewesen. Als er bemerkte, dass sie ihn anschaute, zeigte er jedoch ein leichtes, beruhigtes Lächeln. Seine Hand glitt über ihren Kopf auf ihre Schulter, dann wandte er sich dem Flur zu. Annas Herz sank in ihre Kniekehlen. Adam stand da. Sein Gesicht war weder überrascht, noch wütend, noch traurig, noch glücklich. Er starrte die beiden einfach nur an, als hätte er es vermutet. Er wahrte einen gewissen Abstand, bestimmt um die fünf Meter. Seine Hände hatte er in seinen Hosentaschen zu Fäusten geballt. Er sagte nichts.

Akira ließ Anna los und ging einen Schritt zurück. Auch er verspürte nicht das Verlangen, das Schweigen zu brechen. Dann sagte Adam doch etwas.

„Wir gehen, Anna.“

Anna nickte. Das Gefühl Akiras Küsse wärmten ihr Herz immer noch.

„Bis dann.“ sagte sie zu Akira und ging zurück in den Speisesaal, um sich zu verabschieden.
 

Akira sah Anna nach. Adam nicht. Sein Blick war auf Akira geheftet, selbst als Anna an ihm vorbei ging.

„Sag' mir nicht, du bist eifersüchtig.“ lächelte Akira nun. Adam kratzte sich am Kinn.

„Nicht wirklich. Ich bin ihr Bruder, nicht ihr Lover.“ erklärte er sich.

Akira steckte seine Hände in seine Jackentaschen. Annas Haut war zart gewesen, kalt. Es war, als hätte er Porzellan angefasst. Er wollte dieses Gefühl nicht so schnell wieder los lassen.

„Natürlich nicht. Aber du brauchst dir auch nicht so alberne Lügen einfallen lassen.“ Die Stimmung wurde eisig, als Akira dies sagte.

„Was meinst du? Ich bin wirklich nicht ihr Lover.“ Adam klang bei diesem Vorwurf etwas gekränkt, doch das Heben seiner Stimme konnte Akira nicht seines Lächelns berauben.

„Aber du bist auch nicht ihr Bruder.“

Adams Gesicht wurde so bleich, wie das von Anna vor wenigen Minuten. Akira genoss diesen Anblick der Angst. Er war wahrscheinlich der erste, der das jemals laut ausgesprochen hatte. Die blauen Augen Adams starrten geschockt den Rothaarigen an.

„Keine Sorge, ich verrat's keinem.“ beruhigte dieser Adam und begann, auf Adam zu zu laufen. „Das einzige, was ich wissen will, ist ob ihr Shiki mein Rivale wird oder nicht.“

Adams ganze Körperhaltung verspannte sich. Er schluckte. „Werd' ich nicht.“ keuchte er.

„Du liebst sie also nicht?“ Akira war Adam nun so nahe, dass er seine Stimme nicht mehr heben musste, als ein Flüstern.

„Ich liebe sie, wie eine Schwester.“

„Du hast nie daran gedacht, wie es wäre, sie wie eine Frau zu lieben?“ fragte Akira leise nach und sein Lächeln wurde breiter. Finsterer.

„Nie.“ Adam fand sein Selbstbewusstsein wieder. Bestimmt schaute er Akira in den Augen. Das überzeugte Akira davon, dass Anna wirklich nur wie eine Schwester für ihn war. Vielleicht sogar weniger. Vielleicht etwas ganz anderes. Aber nie die Frau, die Adam mal heiraten würde.

„Okay. Dann kommt gut nach Hause.“

Als Anna zurück in den Speisesaal kam, erstarb das leise Tuscheln. Sie ging zu ihrem Platz und fand eine Tüte vor. Geschenke waren darin. Ein bisschen schuldig fühlte sie sich jetzt dafür schon.

„Entschuldigt bitte, aber wir gehen jetzt. Mir geht’s nicht so gut. Danke für den Abend und die Geschenke, ich pack' sie Zuhause aus.“ Das war das erste Mal, dass die Jungs sahen, wie Anna sich schämte. Anscheinend ging es ihr also wirklich nicht gut.

„Du brauchst dich nicht entschuldigen.“ sagte Kai gelassen.

„Ja, wenn's dir nicht gut geht, ruh' dich aus. Wir sehen uns Montag.“ stimmte Mirai zu, was unüblich war in Anbetracht dessen, dass er Kai nicht leiden konnte.

„Hoffentlich wirst du bald wieder gesund.“ meinte Toki und blubberte durch seinem Strohhalm in den Saft.

Ren stand auf: „Ich bring' euch raus. Das Taxi wartet schon.“ Anna dankte ihm dafür.

Die Heimfahrt war still. Adam hatte einen Arm um Anna gelegt, während diese versuchte, zu schlafen. Schnee rieselte gegen die Fensterscheiben. Der Taxifahrer verfluchte das Wetter: Schnee im Mai! Das gab's schon lange nicht mehr! Doch Adam überraschte es nicht. Im Gegenteil: es überraschte ihn, dass nicht mehr passierte.

Anna und die Welt

Adam stand an Annas Bett. Er war der einzige, dem es erlaubt war, am nächsten Tag in ihr Zimmer zu kommen. Selbst Shiro hatte sich ins Wohnzimmer verzogen, ohne auch nur darum aufgefordert zu werden. Der Junge setzte sich neben Anna und streichelte ihren Rücken. Ihr nackter Körper war von ihm abgewandt und unter der Decke versteckt, die er vorsichtig wegzog. Schweiß sammelte sich auf ihrer Haut, Annas Fieber war gestiegen. Der Anblick ihres Körpers, wie er blass und zitternd da lag, besorgte Adam. Dass sie nackt war interessierte ihn nicht. Jeden ihrer Geburtstage wurde Annas Kondition schlimmer und schlimmer. Zuerst waren es nur Kopfschmerzen, manchmal Nasenbluten. Seit zwei Jahren bekam sie zu jedem ihrer Geburtstage Fieber und Krämpfe. Und an diesen Tagen war Adam derjenige, der sich um sie kümmerte. Die Luft in diesem Zimmer war wie Gift für Fremde. An solchen Tagen dankte Adam Anna dafür, dass er bei ihr sein konnte.

Es war bestimmt 13 Jahre her, als er Anna das erste Mal getroffen hatte. Es war bei „Tante und Onkel“ - Adams echter Familie. Eine Familie aus Schatten. Niemand war wirklich mit jemanden in dieser Familie verwandt. Man wird nicht geboren. Man entsteht einfach. Das erste, woran Adam sich erinnern konnte, war, dass er schwach war. Er hatte damals keine feste Form. Er war ein schwarzer, unförmiger Ball aus Energie gewesen. Eigentlich nicht viel mehr, als ein Geist. Seine „Eltern“ erklärten ihm, wieso er so schwach war: Jeder vom Schattenvolk entsteht durch die Energie einer schwarzen Königin, die stirbt. Da diese Wesen nur alle paar Jahrhunderte auftauchten, war die Anzahl von Schattenmenschen dementsprechend gering. Mit dem letzten Atemzug der Königin auf dem Todesbett entstanden um die 20-30 neue Schattenkreaturen. Sie nehmen menschliche Form an, lernen, sich wie Menschen zu benehmen, und bereiten sich auf die nächste Königin vor, um dieser zu dienen. Doch die letzte Königin, Charlotte, starb nicht. Sie hatte es niemals geschafft, sich zu verlieben. Adam weiß noch, wie sie aussah, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Auch Charlotte hatte ein Tattoo. Schwarze Ranken, Linien und Formen hatten sich über ihren ganzen Körper verbreitet. Als Schutz vor der Macht, die sie ertränken zu schien, hat der Körper einen Wall aus Glas und Kristallen um sich gebaut. Man wusste nicht, ob Charlottes Herz noch schlug. Manchmal könnte man meinen, dass ihre Augen wanderten und die Leute beobachteten, die an dem Glasgebilde im Hauptgebäude der Schatten vorbei gingen. Aber Adam war sich ziemlich sicher, dass das nur eine leere Hülle ohne jegliche Kraft war, die man dort aufstellte. Aber da Charlotte ihren letzten Atemzug nie getan hatte, blieben die Nachkommen der Schatten für diese Generation aus. Adam war nur eine Ansammlung von Restbeständen der Energien von der vorletzten Königin geworden. Normalerweise verwehten solche Energiebündel im Wind und starben, sobald sie das erste Mal das Sonnenlicht sahen. Doch irgendetwas hielt Adam damals in dieser Welt fest. Kurz darauf kam Anna zu Besuch. Sie war gerade mal 2 oder 3 Jahre alt, ein Knirps, der ihm trotzdem wie ein Riese vorkam, so klein und unbeständig, wie er damals war. Anna hätte sich jeden Schatten aussuchen können, damit dieser ihr Shiki, ihr Begleiter und Beschützer, werden wurde. Sie verstand damals nicht, was los war. Die großen, blauen Augen, die Adam an ihr so liebte, waren damals noch naiv und offen für alles Neue in der Welt. Nichts machte ihr Angst, nichts machte sie ärgerlich.

Er war ein Wesen ohne Mund und ohne Gesicht. Hätte er eins gehabt, hätte er sie damals sofort auf sich aufmerksam gemacht. Stattdessen wurde sie umschwärmt von seinen Brüdern und Schwestern, die alle nach der Macht der nächsten Königin lechzten. Adam hatte keine Chance, jemals etwas mehr zu werden, als ein schwarzer Ball aus dunklem Schmutz, der nicht aufgefegt wurde, und bald im Boden versandete, dachte er. Doch er hatte sich geirrt. Als er im Garten umher kugelte und sich der Idee des Todes widmete, hob Anna ihn auf. Er hatte damals die Größe eines Fußballes, doch sie hatte das Gefühl, sie würde den Mond umarmen. Sie flüsterte ihm traurige, schmerzhafte Sachen zu. Adam wusste nicht, ob er ein Herz hatte, doch in diesem Moment wäre es bestimmt gebrochen. „Du Armer.“ hatte sie geflüstert. „Du armer Kleiner. Mach' dir keine Sorgen. Anna passt auf dich auf.“ Jedes Mal, wenn Adam sich an diese Worte zurück erinnerte, klingelten sie in seinen Ohren wieder, als würde sie Anna erneut aufsagen. Er bekam Gänsehaut, wenn er daran dachte. Wie konnte eine Dreijährige so viel sprechen? Wie konnte sie dabei so ernst klingen? Es brauchte nur einen Kuss auf den dunklen Ball, um Adam einen Grund und die Kraft geben, weiter zu leben. Und so wurde er zu Annas Shiki. Ihrem Beschützer, ihrem Diener und ihrem Sklaven. Er würde alles tun, worum sie ihn bat. Nie würde er sich gegen ihr Wort stellen. Auch wenn Anna es nicht bewusst war: Sie hatte ihm einen Teil ihrer Kraft geschenkt, den Teil, den er zum Überleben brauchte. Er war ein Teil von ihr. Wie sollte er sie jemals lieben können, wenn ihr Schicksal das selbe war? Wenn Anna sterben würde, würde auch er sterben. Wenn er sterben würde, würde Anna einen neuen Diener bekommen. Wie man es auch dreht und wendet: Adam würde niemals der Mann für Anna sein, den sie brauchte. Und damit sie nicht wie Charlotte enden würde, würde Adam sicher gehen, dass sie in der nächsten Zeit jemanden finden würde, der sie so liebte, wie sie es verdient hätte. So, wie Adam es gerne tun wollte, hätte er ein Herz.

Bei diesem Gedanken huschte Akiras Gesicht durch seinen Kopf und Adam seufzte. Er wrang einen Waschlappen im heißen Kräuterwasser aus und begann, Annas Rücken zu schrubben. Das Tattoo, das vor ein paar Tagen nur bis Brusthöhe ging, hatte nun ihre Schulterblätter erreicht. Linien formten und verloren sich wieder. Er hatte nicht mehr viel Zeit. In seinen Träumen sah er Charlottes Körper mit diesem Fluch bedeckt und fast komplett in Schwarz gehüllt. Nur war es nicht Charlottes Gesicht, das man durch das Glas sah. Es war Annas.

Das Klingeln der Haustür weckte Adam aus seinen Sorgen. Er hörte zu, wie seine Mutter die Tür öffnete. Stimmen hallten durch den Treppenaufgang. Toki war da.

Adam deckte seine Schwester wieder zu und klemmte die Decke unter ihren heißen Körper, damit sie diese nicht mehr abstrampeln konnte und begab sich ins Wohnzimmer. Auf dem Weg dahin hörte man bereits seine Mutter sagen „Es wäre wirklich nicht gut, wenn du zu Anna gehst. Die Luft im Zimmer ist schrecklich und...“

„Ist schon gut, Mama.“ unterbrach Adam sie, stellte den Eimer mit Wasser in die Spüle und grüßte Toki mit einem Handschlag.

„Was geht, kleine Fee?“ sagte er witzlos und griff nach zwei Gläsern.

„Ich wollte gucken, wie es Anna geht.“ antworte Toki zurückhaltend und Adams Blick fiel auf einen Blumentopf, den er in den Händen drehte. Es war Zitronenmelisse. Adam lächelte schmerzhaft.

„Mama, ich red' ein bisschen mit ihm. Ich glaube, Anna muss bald was essen. Wie klingt Suppe?“

Die gute Frau überlegte kurz, meinte dann, dass sie alles Nötige eigentlich da hätte und begann in den Küchenschränken danach zu kramen, während Adam Toki in sein Zimmer führte.

Adams Zimmer war noch schlichter als Annas. Es stand nur ein Bett und ein Schreibtisch darin, keine Blumen, Poster oder irgendwelche losen Ordner für die Schule, die rumflogen. Ein Regal war nur halb gefüllt mit Büchern, zwei Fächer waren komplett leer. Adam stellte die Gläser auf dem Schreibtisch ab, drehte Toki den Stuhl zu und ließ sich selbst auf sein Bett fallen. Toki schraubte den Oolong Tee in der Plastikflasche auf und goss die Gläser voll.

„Wie geht’s ihr?“ fragte Toki besorgt. „Vielleicht kann ich helfen.“

„Kannst du nicht.“ antwortete Adam schroff und musterte seine Fingerkuppen.

„Du ahnst es vielleicht schon, aber...“

„Ist dir Miasma ein Begriff?“ unterbrach Adam den Blondschopf und trommelte mit der einen Hand auf seiner Brust herum, während die andere hinter seinen Kopf fuhr und als Kissen diente, als er sich hinlegte.

Toki nickte. „Verunreinigte Luft.“

„Nicht nur das.“ sagte Adam, hielt kurz inne, um die Worte zu finden und erklärte dann: „Es ist Luft, die alles in der Umgebung ansteckt und verunreinigt. Tiere, Blumen, sogar Menschen gehen in ihr ein. In dem Fall, dass eine Person, die übernatürliche Kräfte hat, so eine Luft ausstößt, lockt sie all das mögliche Ungeziefer und Dämonenpack an, dass in der Nähe ist.“

Toki wurde ungeduldig. „Das weiß ich.“ gab er kleinlaut von sich und trank etwas.

„Anna schwitzt das Zeug im Moment quasi aus. Es ist so hoch konzentriert, dass selbst meine Mutter sich ihr nicht nähern darf.“ Toki verschluckte sich.

„Ich kenn' Miasma.“ brummte er dann. „Ich kann damit umgehen. Natürlich ist es für Menschen schädlich, aber ich bin quasi damit aufgewachsen.“

Adam lachte kurz: „Wenn das so ist, dann komm' mit.“

Er sprang vom Bett auf und packte unsanft Tokis Arm, der es gerade noch schaffte, sein Glas wieder abzustellen, als er auch schon aus dem Zimmer geschleift wurde. Einige Meter weiter war schon Annas Zimmertür. Adam klopfte nicht, er drückte die Türklinke hinunter und gab den Zugang zum Zimmer der Königin frei. Eine Welle von heißer, stickiger und toxischer Luft blies Toki entgegen. Er hustete. Doch Adam machte nicht Halt. Er zog ihn in Annas Zimmer. Toki konnte ihre Konturen unter der Decke erkennen. Das Atmen fiel ihm schwer. Er spürte, wie der Druck auf seiner Brust seine Lungen zusammen quetschte. Seine Augen fingen an zu brennen. Automatisch führte er die Hände zum Gesicht und begann, die Augen zu reiben. Dann fing er an zu kratzen. Haut sammelte sich unter seinen Fingernägeln. Adams Hände umfassten die Handgelenke des Kleinen und stoppten ihn, bevor er sich noch die Augen auskratzte. Ohne ein Wort zu sagen zog er Toki wieder aus dem Zimmer, schloss die Tür und schob ihn in sein eigenes Zimmer zurück. Wie gefroren stand Toki in der Mitte des Raumes.

„Und? Ist das normales Miasma für dich?“ fragte Adam nun. Toki sammelte sich.

„Wie überlebt sie das?“ keuchte er, ließ das Glas aus der Acht und griff sofort nach der Flasche, um sie auszutrinken.

„Ihr Körper regeneriert sich jede Sekunde. Hab' doch gesagt, dass sie jegliches Gift sofort ausschwitzt. Aber es wird jedes Jahr schlimmer. Dieses Jahr ist das erste Mal, dass sie tatsächlich bewusstlos ist. Was auch noch merkwürdig ist, ist die Tatsache, dass es diesmal nur geschneit hat.“ Adam zog ein kleines Buch aus dem Regal und begann, darin zu blättern.

„'Nur'?“ wiederholte Toki fassunglos. „Meinst du, das war Annas Schuld?“

Adam hatte die Seite gefunden, die er gesucht hatte. Er las vor:

„5. Mai 2000: Die Planeten reihen sich auf und stehen zum ersten Mal seit Jahrhunderten fast senkrecht zueinander. Menschen prophezeiten eine Apokalypse in Form von Flutwellen, Tornados, Vulkanausbrüchen und Erdbeben. Aber nichts passierte. Das war der Tag von Annas Geburt. 05. Mai. An ihrem 3. Geburtstag wüteten Wirbelstürme in Kansas City. 33 Menschen starben. In den nächsten Tagen folgten bis zu 389 Tornados. Weihnachten 2004: Anna hatte eine Lungenentzündung und hatte 41°C Fieber. Sie ist fast gestorben. Am 26. Dezember gab es den Riesen-Tsunami im Indischen Ozean. 230.000 Menschen sind gestorben. Anna wurde wieder gesund. 05.05.2007 Flugzeugabsturz einer Boeing 737 in Kamerun. Keiner der 114 Passagiere überlebte. An ihrem 8. Geburtstag wurde Anna das erste Mal über ihr Tattoo aufgeklärt und zu Verwandten gebracht, um sich auf die Rolle der Königin vorzubereiten. 5 Tage später hat sie schlimmes Heimweh. Am selben Tag sterben 22 Menschen in den USA aufgrund von weiteren Tornados. Zwei Tage später gibt es ein schlimmes Erdbeben in China mit um die 51.000 Tote. Das war der Tag, wo sie sich mit ihrem Vater gestritten hatte und eine Ohrfeige von ihm bekam. Am 16. August 2012 hat ein Junge Anna seine Liebe gestanden, obwohl sie erst 12 war. In Afrika wurde aus einem Streik ein Massaker, als die Polizei begann, blindlings auf die Streikenden zu schießen. 24.05.2013, der Tag, den wir gerne „Sandkasten-Massaker“ nennen. Yuki und Mika wurden auf dem Spielplatz verprügelt, bis Anna kam. Anna hat es mit 6 Jungs aufgenommen, einem von ihnen den Arm gebrochen und zwei anderen die Beine. Als die Eltern und Schulen der Jungs das mitbekamen, wurde sie am nächsten Tag für zwei Wochen suspendiert. An diesem Tag explodierte ein Schulbus in Pakistan und forderte die Leben von 16 Schülern und einem Lehrer. Annas Suspension hielt für zwei Monate. In dieser Zeit wurde sie zurück zum Haus meiner Familie gebracht. Dort lebte sie dann für ein paar Jahre. Am 01.10.2013 besuchte ihr Vater sie zum letzten Mal. Am 05.05.2015 fuhr ein Tornado durch Deutschland und forderte 30 Verletzte, während ein Erdbeben in Papua-Neuguinea bis zu 50km Tiefe mehrere Menschen obdachlos machte. Seit dem 01.01.2016 wohnt sie wieder hier und macht sich ihren Ruf als Schlägerbraut/Queen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich ihre Macht bei 50%.“ schloss Adam ab und klappte das Büchlein wieder zu. Tokis Mund war trocken. Die Daten rauschten durch seinen Kopf, von ein paar der Geschehnisse hatte er gehört, aber nie weiter groß darüber nach gedacht.

„Wenn das alles mit Anna zu tun hat, wie kommt's, dass die Naturkatastrophen in den letzten Jahren abnehmen? Beziehungsweise weniger Tote fordern…“ fragte er schließlich skeptisch nach.

„In den Jahren, wo sie woanders gewohnt hat, wurde sie trainiert, ihre Macht im Zaum zu behalten. Außerdem wird ihr Körper von Jahr zu Jahr stärker. An jedem ihrer Geburtstage nimmt ihre Macht allerdings exponentiell zu – ihr Körper kann nicht schnell genug darauf reagieren. Er muss sich immer und immer wieder regenerieren, damit es nicht zu einem weiteren Ausbruch kommt. Darauf wurde sie geschult. Mittlerweile macht sie das schon unterbewusst, aber damals musste die überschüssige Energie erst mal raus gelassen werden. Dadurch kam es dann zu diesen Problemen.“ antwortete Adam ruhig, während er das Buch zurück ins Regal stellte.

Toki starrte ihn ungläubig an. „Deine kleine Pflanze würde also sofort in dieser Luft eingehen. Aber wenn du willst, mach' ich ihr später einen Tee damit.“ fügte Adam hinzu, packte sich sein Glas und trank ebenfalls etwas.

„Wie überlebst DU das?“ fragte Toki nun, noch schockierter, da er darüber nach dachte. Adam setzte nachdenklich das Glas ab.

„Ich lebe quasi von dieser Luft. Schätze, das ist mein einziger Vorteil.“ erklärte er.

„Ich hab' von Akira gehört, dass Königinnen immer Einzelkinder sind.“ sagte Toki nun barsch und setzte sich hin. Das Gespräch verwandelte sich in ein Verhör.

„Stimmt.“ Adam klang gelassen.

„Wenn du nicht ihr Bruder bist, wer bist du dann?“ Tokis Fragen klangen immer aggressiver.

„Ihr Sklave, vielleicht?“ gab Adam witzelnd zurück, zog Toki blitzschnell am Kragen seines Shirts auf die Beine und zog sein Gesicht so nah an seines heran, dass Toki kein Licht mehr sah. Er war so klein und leicht, dass Adam fast in Lachen ausbrechen musste. Er verkniff es sich aber und grinste einfach nur.

„Ich bin der einzige, der sich in dieser Situation um sie kümmern kann. Also verpiss' dich.“ hauchte er dem Blonden zu und ließ ihn los. Toki fiel zurück auf seine Füße, er war blass, fand aber den Mut um lauter zu werden: „Ich verpisse mich nicht! Ich mach' mir Sorgen.“

„Ja, ja.“ Adam fand seine Ruhe wieder. Er tätschelte Tokis Schulter. Süß war er ja schon. „Komm, wir haben Kuchen da. Als Dankeschön für die Melisse.“ Der blonde Junge hielt sich in seinen Ausrufen über Adams Art nicht zurück. Noch auf den Treppen meckerte er, dass Adam ihn los lassen sollte. Doch der Kuchen und der frische Tee beruhigten ihn wenige Minuten später wieder und es dauerte nicht lange, bis Toki endlich wieder verschwand.

Die Sonne senkte sich langsam am Horizont. Adam hatte Anna eine halbe Schale mit Muttis bester Suppe gefüttert, doch es war schwierig für das Mädchen, die Augen offen zu behalten. Der Junge saß mit seiner Mutter im Wohnzimmer und schaute fern. Nichts. Nichts passierte. Es war wirklich nur Schnee, der gerieselt hatte. Irgendwie wurde Adam bei diesem Gedanken sehr, sehr unbehaglich.

Kais geheimes Hobby

Es war Nacht. Kai hatte das Restaurant im Hotel verlassen und machte sich auf den Weg zum Unterschlupf. Viele mürrische Gesichter empfingen ihn, als er in der verlassenen und runter gekommenen Lagerhalle ankam. Zähne knirschten.

„Wie lange sollen wir noch warten?“ fauchte einer von ihnen, als Kai sich in einen Sessel auf einer Plattform nieder ließ. Er legte seine Wange auf seiner Faust ab und schaute in die wütende Meute. Es mussten um die 100 Vampire sein, die ihm gehorchten. Heute war wieder eine Versammlung, um zu besprechen, wie die nächsten Pläne aussehen. Schon seit Tagen wurde er von den Nichtsnutzen unter Druck gesetzt, damit er endlich aktiv um das Herz der Königin kämpfte.

„Ich hab' euch gesagt, dass die Sache nicht so einfach ist. Geduldet euch.“ schnauzte er zurück. Eine Dienerin, eine Menschenfrau, trat näher und reichte ihm ein Glas mit warmen, frischem Blut. Ohne ein Wort des Dankes schickte er sie mit einer schroffen Handbewegung wieder weg.

„Wir können uns nicht gedulden. Wir werden gejagt, wie du hoffentlich noch weißt. Wir sind zu schwach – wir halten nicht mehr lange durch!“ rief eine Stimme zurück auf seine Aussage hin. „Es sind schon Dutzende gestorben!“

„Dann müsst ihr euch besser verstecken.“ lachte Kai teilnahmslos und nippte an dem warmen Lebenssaft. Er erntete wildes Zischen für seine Aussage.

„Du musst sie nicht mal dazu bringen, sich in dich zu verlieben, das weißt du, oder?“ sagte eine ruhige Stimme, wahrscheinlich die einzige neben Kais. Sie kam von Ares, einem seiner treusten Untertanen und Freunde.

„Wie meinst du das?“ Kai blickte zu dem groß gewachsenem Mann. Er hatte bereits graue Ansätze im Haar, sein Gesicht trug eine große Narbe, als wäre er mal dem Feuer zu lange ausgesetzt gewesen.

„Ich meine, dass du es auch einfach fressen könntest.“ erklärte der Mann ruhig. Kai stellte sein Glas ab.

„Ich glaube nicht, dass das funktionieren würde.“ sagte er wie aus der Pistole geschossen.

„Es kann ja sein, dass sie dir die Macht freiwillig geben muss, aber wir sind Vampire. Wir ziehen die Kraft aus dem Blut, nicht aus der Liebe. Wir brauchen nur ihr Herz. Das alleine reicht schon, um unsere Macht bis ins Unendliche zu steigern.“ fuhr Ares fort. Er war merkwürdig hartnäckig.

„Ja, mach's doch einfach so.“ Stimmen der Masse erhoben sich und sprachen sich für Ares' Vorschlag aus. Kai erhob sich, der Raum wurde schlagartig still. Sein Blick wanderte über die namenslosen Gesichter.

„Ich gehe.“ seufzte er dann schließlich, ging die Treppen der Plattform hinunter und die Masse teilte sich, um ihn durchzulassen.

„Du solltest darüber ernsthaft nachdenken, Kai.“ rief Ares ihm hinterher und trank das Blut aus, das Kai stehen gelassen hatte. Aber Kai erwiderte nichts und verschwand.

Seine Füße trugen ihn an einen Ort, den er normalerweise mied. Die Hochhäuser wurden langsamer immer weniger. Bäume und Pflanzen begannen, den Weg zu zieren. Der Mond schien hell und beleuchtete die saubere Straße. Aus Hochhäusern mit Mietwohnungen wurden allmählich Einfamilienhäuser. Pollen flogen durch die Luft. Kai konnte die Gegend mittlerweile ziemlich gut. Er bahnte sich seinen Weg durch die kleinen Gassen, die sich hier und da auftaten und erreichte schließlich sein Ziel.

Es war einige Tage her, dass er hier gewesen war. Er beobachtete sie manchmal beim Schlafen. Mit Leichtigkeit sprang er die Hauswand hoch und fand sich, ohne ein Geräusch von sich zu geben, auf dem Dach wieder. Es war eins der oberen Zimmer. Es hatte ein großes Fenster mit Sims, das sich mit Leichtigkeit öffnen ließ. Kai fummelte kurz an dem Schloss herum und tonlos stieß er die Flügelfenster auf, ehe er sich auf dem Sims nieder ließ. Einige Mondstrahlen schafften es, Annas Konturen im Bett zu entblößen. Ihr Haar schimmerte wie flüssiges Gold. Die Luft, die normalerweise gefüllt von ihrem Shampoo, Deodorant und Parfüm war, roch heute Nacht etwas anders.

Üblicherweise saß Kai einfach nur da. Wenn er so darüber nach dachte, war er beim 1. Mal nur hier, um ihr Blut zu trinken. Sie hätte nichts bemerkt. Doch irgendetwas hatte ihn diese Nacht davon abgehalten. Er hatte über ihr gestanden, an ihrem Hals und ihren Haaren gerochen. Seine Zunge schmeckte die zarte Haut ihres Halses. Sie schmeckte so süß wie frische Erdbeeren. Zu gerne hätte er seine Zähne in diese makellose Haut versenkt, aber er tat es nicht. Statt sie zu beißen, fuhr seine Zunge erneut über ihren Hals, bis seine Lippen ihn mit wenigen, zärtlichen Küssen bedeckten. Dann war er verschwunden.

In der nächsten Nacht wollte er sie auf jeden Fall probieren. Doch auch da hielt ihn auch etwas davon ab. Seitdem kam er nachts einfach nur zu ihrem Fenster, schaute ihr ab und zu beim Schlafen zu und ging wieder, als er selbst zu müde wurde. Nur eine Nacht war anders gewesen: Trotz seiner guten Vorsätze, nicht einzuschlafen, döste er am Fensterrahmen weg. In dieser Nacht bewegte sich Anna, die normalerweise in der Position aufwachte, in der sie einschlief, zum ersten Mal. Irgendetwas hatte ihren festen Schlaf gestört und sie schaute zur Digitaluhr, die ihr verriet, dass es 3:00 Uhr morgens gewesen war. Es war das Rascheln der Bettdecke gewesen, das Kai aus dem Halbschlaf riss. Sie hatte sich aufgesetzt, um etwas zu trinken. Es dauerte nicht einmal eine Sekunde, bis Kai aus dem Fenster verschwunden war.

Erst im Nachhinein war ihm aufgefallen, dass er das Fenster in dieser Nacht nicht geschlossen hatte. Seitdem war er nicht wieder gekommen.

Aber heute hatte er wieder einen Grund. Im Restaurant war sie wirklich blass um die Nase herum. Die rosigen Wangen, die normalerweise ein Zeichen für gute Durchblutung waren, waren hinter dem MakeUp in ein milchiges Weiß getaucht. Er konnte hören, wie das Blut durch ihre Adern rauschte. Es war nicht ihr normaler Puls. Er roch, wie sie unter dem Kleid schwitzte. Es war nicht nur der Alkohol, den sie ausstieß, es war auch etwas anderes. Kai kannte diesen Geruch von kranken Leuten.

Er kletterte vom Fenstersims und lief durch ihr Zimmer. Es war das erste Mal, dass seine Füße bewusst diesen Boden berührten. Seine Augen wanderten über die Bücher im Regal, ihrem Schreibtisch, dann zum Nachttisch über die Uhr und dann wieder zu Anna. Die Luft war verpestet mit Miasma. Es fiel Kai schwer, sein Husten zu unterdrücken. Er zog den Kragen seines schwarzen Hemdes hoch über die Nase und setzte sich neben die schlafende Schönheit. Als seine Finger ihren Arm berührten wurden sie heiß. Sie brannte fast vor Fieber. Vorsichtig strich er die Decke, die sie umklammerte, vom Rücken und entdeckte, zu seinem Leidwesen, dass sie eins von Adams Shirts zum Schlafen trug. Sein Finger fuhr über die Konturen ihres Rückrats. Der Stoff des Shirts war klamm vom Schweiß der Kranken. Kai stand leise auf, um das T-Shirt hoch zu ziehen. Er wollte es sehen. Anna gab kaum einen Ton von sich, als er sie auf den Bauch legte und sich über sie kniete. Seine Knie hatte er neben Annas Brust platziert, während er sich selbst auf ihrem Po setzte. Er war eine schöne Sitzunterlage, musste Kai sich eingestehen. Doch der Anblick, der sich ihm auftat, brachte sein trockenes Herz in Wallung. Zuerst dachte er, er würde halluzinieren. In der Hoffnung, dass Anna nicht aufwachte, zog er das Shirt noch höher und entblößte auch ihren Oberkörper, als er es in ihren Nacken rollte.

Es war eines der schönsten Dinge, die der Vampir jemals gesehen hatte. Das fahle Mondlicht offenbarte das kleine Wunder, dass auf Annas Rücken stattfand. Feine Linien zogen sich, Millimeter für Millimeter, durch ihre Haut, als würde man sie mit einem Messer einschneiden. Sie leuchteten kurz rot glänzend auf und fielen dann sofort in ein undurchdringliches Schwarz, das nicht mal mehr das Mondlicht beleuchten konnte. Immer und immer wieder bahnten sich neue Linien durch die Haut, formten Muster, erlagen dem Schwarz und verschwanden plötzlich, um an anderer Stelle wieder aufzutauchen. Es war, als wäre ihr Tattoo lebendig. In purer Faszination beobachtete Kai das Spektakel. Es mussten bestimmt um die 20 Minuten gewesen sein. Immer wieder bildeten sich Schweißperlen auf Annas Rücken, die er mit dem Finger wegwischte. Er leckte über seinen Finger, der von dem salzigen Wasser bedeckt war, und ihn überkam erneut das Verlangen, Anna mit Haut und Haaren zu fressen. Die Linien, die sich rot in ihre Haut ritzten, taten das, wozu er sich im Moment nicht durchringen konnte. Neid erfüllte ihn. Wieso konnte er ihr nicht einfach die Haut aufschneiden und von ihrem Blut kosten? Seine Fingernägel kratzten leicht über die Haut des Rückens, die schon die ganze Zeit von dem Tattoo gemieden wurde. Er zog mit den Nägeln feine, rote Linien. Zu seiner Enttäuschung begann sie nicht zu bluten, im Gegenteil: Es dauerte nur eine Sekunde, bevor die Kratzer wieder verschwanden. Kai ließ von Anna ab. Ihm wurde schwindelig, das Miasma wurde langsam zu stark für ihn. Er zog ihr das Shirt wieder runter, erhob sich von dem weichen Po, den er trotz aller Zurückhaltung kurz berührte, um zu testen, wie er sich anfühlte, und richtete sich dem Fenster zu, um zu gehen. Er fror in seinem Gang fest.

Das Mondlicht fiel auf schneeweißes Haar. Blaue Augen starrten ihn emotionslos an. Der kleine Junge, den Anna das letzte Mal mit in den Schülerratsraum gebracht hatte, saß dort, wo er sie immer beobachtet hatte. Er sagte kein Wort. Er war größer als noch vor ein paar Tagen. Er sah aus, als wäre er in dem kleinen Zeitraum um drei Jahre gealtert. Das Blau in seinen Augen schimmerte wie der Himmel in einer hellen Nacht. Sie ließen Kai nicht los. Seit wann war er da? Seit wann hatte er ihn beobachtet? Würde er Anna erzählen, was er getan hatte? Dass er hier gewesen war? Kais Gedanken überschlugen sich. Vielleicht sollte er ihn einfach töten. Bei diesem Gedanken trugen seine Füße ihn automatisch sofort zum Fenster. Seine Hände packten die kleine Schultern und mit einem Ruck hing der Junge im Freien. Nur Kais Hände hielten ihn noch oben. Die Höhe des Fensters war nicht lebensgefährlich. Würde Kai ihn fallen lassen, würde das nicht reichen, um ihn zu töten. Er starrte in die blauen, leblosen Augen. Er könnte ihn aufschlitzen und trinken wie eine Capri Sonne. Er könnte ihn auch einfach mitnehmen und dem Rudel der hungrigen Vampire überlassen. Während Kai darüber nachdachte, was die beste Methode wäre, den kleinen Jungen zu töten, merkte er nicht, wie seine Sicht verschwamm. Erst, als er Shiro doppelt sah, wurde ihm bewusst, dass das Miasma ihn weiterhin vergiftete. Und dann sah er die erste Emotion, die ihm dieser kleine Wicht offenbarte: Ein Lächeln. So unschuldig und so schadenfroh zugleich, dass Kai am liebsten vor Wut aufgeschrien hätte. Seine Finger bohrten sich in die Schulter des Jungens. Das Lächeln wurde immer breiter, bis er plötzlich seine weißen Zähne entblößte. Das waren keine Milchzähne. Es waren spitze, Fleisch suchenden Reißzähne. Kai ließ Shiro los und sprang über das Fenster aufs Dach. Der Junge landete im Blumenbeet. Der Vampir betrachtete den Körper der kleinen Gestalt. Diese schien sich erst nicht bewegen zu wollen, dann, langsam und vorsichtig, rappelte sich der Wolfsjunge wieder auf. Seine Augen gingen sofort zum Dach. Er grinste immer noch. Ein Grinsen eines Wahnsinnigen. Kai schnalzte genervt mit der Zunge. Seit wann pflegte Anna den Kontakt mit mörderischen Bestien?

Er sprang vom Dach runter und begab sich Richtung Gartentor, um zu gehen. Er war lang genug geblieben und hatte weiß Gott genug für heute gesehen. Als er durch die Eisentür treten wollte, hielt ihn jedoch noch jemand fest.

„Komm' nicht wieder.“ Die Stimme, die ertönte, war wie purer Bass. Hätte Kai sich nicht umgedreht und gesehen, wie Shiro diese Worte formte, hätte er schwören können, dass der Junge nicht Quelle dieser Stimme sein konnte. Es war so ein tiefes, angsteinflößendes Knurren, dass es ihm das Blut in den Adern erfrieren und Kai sich unweigerlich seine Gänsehaut eingestehen ließ. „Sie gehört mir. Komm' nicht wieder. Ich fresse dich und deine ganze Sippe.“ Die blauen Augen waren auf Kai fixiert. Seine Kehle wurde trocken, als er sah, dass der Wolf genau diese betrachtete, als würde er nur die geeignete Sekunde abwarten, um ihn anzuspringen und den Hals aufzureißen.

Kai riss sich los.

„Ich komm' wieder, wann es mir passt, kleiner Mann. Versuch' nur, sie vor mir zu beschützen. Sie wird trotzdem irgendwann mir gehören.“ grinste Kai. Wenn der Junge einen Kampf haben wollte, bitte. Aber er war bei weitem die letzte Person, mit der man sich anlegen sollte. Er tätschelte Shiro höhnisch und arrogant den Kopf, bevor er zurück in die Nacht ging.

Die nächsten Tage kam Anna nicht zur Schule.

Der Waldgott

Es war Mittwoch. Angespannt saßen die Leute des Schülerrats in ihrem Raum. Kai tippte nervös mit der Fingerspitze auf dem blank polierten Tisch herum. Seit Samstag hatte niemand Anna mehr gesehen, außer Toki, der von seinem Besuch am Sonntag erzählt hatte. Kai verschwieg seinen nächtlichen Auftritt bei ihr Zuhause. Trotzdem machte er sich Gedanken. Tokis Erzählungen zu Folge war das Miasma in Annas Raum unerträglich gewesen, er hatte es nur ein paar Sekunden lang ausgehalten. Kai war bewusst, dass Toki nie viel Miasma ausgesetzt gewesen war und deswegen so wenig aushielt. Aber er kam nicht um die Schlussfolgerung herum, dass das Miasma seit Samstag zugenommen hatte. Es war, als würde es immer noch seine Nase kitzeln.

„Wenigstens wissen wir jetzt, dass sie die Richtige ist.“ meinte Ren abschließend und lehnte sich zurück. „Auch wenn sie einen Bruder hat.“

„Ich glaube nicht, dass Adam wirklich ihr Bruder ist.“ bemerkte Toki dann und griff nach einem Keks. „Er meinte, er sei eher ihr Sklave. Auch wenn er bei ihr wohnt und sie wäscht und ...“ Seine Stimme verstarb. Er wollte nicht zugeben, dass Adam mehr von Anna gesehen hatte, als sonst irgendjemand. Akira lachte kurz.

„Mach' dir keine Sorgen. Adam würde Anna nie so anfassen, wie du es vielleicht wolltest.“ grinste der Rothaarige und Toki lief puterrot an. Kai zuckte bei der Bemerkung unmerklich zusammen. Die Erinnerungen, die er an ihre Haut hatte, fuhren in seinen Kopf. Sein Mund wurde trocken, seine Hände warm und sein Blick glasig, als er daran dachte, wie Anna sich angefühlt und geschmeckt hatte.

„Das würde ich eh nie machen...“ grummelte Toki und zerbröselte den Keks in seiner Hand.

„Was machst du dann hier?“ fragte Ren berechnend im Gegenzug. „Wenn du keine Absichten hast, sie zu deiner Frau zu machen, bist du hier Fehl am Platz.“

Ein Streit brach zwischen den Kandidaten aus, den Akira nur mit Lachen kommentieren und Kai und Liam ignorierten.

„Jedenfalls wissen wir, warum Anna nicht in der Schule ist.“ seufzte Mirai, vergrub eine Hand in seinen Haaren und begann, sich den Kopf zu kratzen. Er hatte bereits mehrere Male versucht Anna zu erreichen – im Gegensatz zu Akira.

„Ich mach' mir trotzdem Sorgen. Adam meinte, das sei das erste Mal, dass sie tatsächlich ohnmächtig geworden ist.“ fügte Toki hinzu und ließ die Krümel auf dem Tisch fallen. Rens Augenbrauen verengten sich.

Plötzlich hörte man das gewohnt schüchterne Klopfen an der Tür.

„Ähm… Adam ist hier.“ sagte die Stimme der Sekretärin zögerlich hinter dem Holz, dann drückte das Mädchen die Tür auf, um Adam herein zu lassen.

Er schien genau so gelassen zu sein, wie an dem Abend, an dem die Männer zusammen gegessen hatten. Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb dann an Liam hängen. Ohne ein „Hallo“ oder „Wie geht’s?“ ging er auf den stummen, großen Mann zu.

„Ich wollte dich was fragen.“ sagte Adam knapp, als er vor Liam stand.

„Hey, wie geht’s Anna?“ Mirai war aufgestanden und ging auf Adam zu. Toki folgte ihm.

Adam sah Liam direkt in die Augen und ignorierte die Fragen der anderen.

„Ich hab' dich was gefragt!“ Mirai riss Adam an seiner Schulter herum, doch bevor er seiner Ungeduld Luft machen konnte, war Liam aufgestanden.

„Anna ist wach.“ sagte die ruhige, selten zu hörende Stimme des Großen. „Ich helfe dir.“ fügte er an Adam gewandt hinzu und ging zur Tür.

„Da hast du's. Anna ist wach.“ schnauzte Adam Mirai an und riss sich von seinem Griff los.

Wortlos verließen die beiden Herren die Schule. Es war gerade mal erst Mittag, aber die Situation war zu brenzlig, um sich nicht zu beeilen. Schnellen Schrittes führte Adam Liam zu ihnen nach Hause. Am Gartentor blieb Liam kurz stehen. Der Blick auf die Blumen und Pflanzen, die die Frau des Hauses so liebevoll zu pflegen schien, gefiel ihm sehr. Dann schaute er Richtung Dach, zu Annas Zimmer. Es hing immer noch viel Miasma in der Luft und dieser Raum war die Quelle. Während Liam sich umschaute öffnete Adam die Haustür. Seine Mutter war nicht Zuhause. Er schlüpfte aus den Schuhen und schmiss sie achtlos in den Hauseingang.

„Komm' rein.“ Auch Liam betrat die Wohnung und war bald darauf auf Socken unterwegs. Ohne große Umschweife führte Adam Liam zu Annas Zimmer und öffnete die Tür. Das Fenster stand offen, um frische Luft herein zu lassen, doch das reichte lange noch nicht, um die Atmosphäre im Zimmer zu erleichtern. Anna saß aufrecht in ihrem Bett und starrte zur Tür. Ihre Augen waren geschwollen und gerötet, anscheinend von schlaflosen und verweinten Nächten, die sie die letzten Tage plagten. Liam setzte sich wortlos aufs Bett, während Adam Platz an Annas Schreibtisch nahm.

„Sie weint ununterbrochen, kann nicht mehr schlafen und erbricht alles, was ich ihr zu essen gebe.“ seufzte Adam nun erschöpft und fuhr sich mit den Händen müde durchs Gesicht. Auch er schien nicht besonders viel geschlafen zu haben. Liams Hand legte sich auf Annas Stirn, fuhr dann ihre Wange hinunter und verharrte dort für einige Sekunden. „Und das erste, was ich höre ist 'Bring Liam her'. Welcher Bruder wäre da nicht enttäuscht.“ fügte er wütend hinzu und lehnte sich zurück, um im Schreibtischstuhl hin und her zu drehen. Dann betrachtete er, wie Liam Annas Gesicht untersuchte. „Sie hat kein Fieber mehr.“ klärte er den Fremden auf, welcher nickte.

Annas Augen füllten sich erneut mit Tränen, ihre Hände griffen nach Liams Schultern und zogen ihn an sich. Ihr Kopf vergrub sich in seiner Brust und sie begann zu schluchzen. Völlig ahnungslos, was eigentlich los war, sprang Adam auf die Füße, trat näher und wollte Anna beruhigen, wurde aber mit einer Geste Liams davon abgehalten.

„Ich kümmer' mich um sie.“ beruhigte er Adam. Naserümpfend verließ Adam den Raum und schloss die Tür.

Anna fand endlich ihre Worte wieder: „Seit Samstag… Ich höre einfach alles. Ich muss sie nicht anfassen, nicht in ihre Augen gucken. Seit Tagen höre ich die Stimmen von allem und jedem um mich herum. Alleine, was meine Mutter über mich denkt… Ich kann es nicht ausblenden, nicht vergessen, ich krieg's nicht hin.“ schluchzte sie und wischte sich die Nase an Liams Hemd ab. „Ich weiß, dass du mir helfen kannst. Du bist der einzige, der das kann.“

„Beruhig' dich.“ sagte Liam liebevoll und streichelte ihren Rücken. Anna erwiderte diese liebe Geste mit einem noch lauterem Weinen. Seit er sich ihr vorgestellt hatte, wusste sie, was Liam war. Er war der einzige, der wusste, wieso sie jedem in die Augen schauen wollte, und als sie seine Gedanken las, erkannte sie, dass auch er die Gedanken anderer hören konnte. Das tat er schon mehrere Jahrhunderte lang und er kam damit zurecht. Er musste sie nicht berühren, nicht ansehen, einfach nur die Ohren spitzen und lauschen. In den wenigen Sekunden, die sie damals Blickkontakt hatten, erfuhr Anna alles von Liam, was sie wissen wollte. Er war ein Waldgott aus Skandinavien. Er war mal verliebt gewesen. Seine Liebe starb. Sein Wald, in dem er lebte, gedieh. Irgendwann war er so lebendig, dass er selbstständig überleben konnte. Aus Langeweile und um sein gebrochenes Herz zu heilen, ging Liam auf Reisen. Eher durch Zufall fand er sich in der Auswahl für Annas Ehemänner wieder, aber das wichtigste war: Er wollte nichts von ihr. Keine Macht, keinen Titel, keine Liebe. Und ausgerechnet dieser Fakt gab Anna die Gewissheit, bei ihm sicher zu sein.

„Es wird einige Zeit dauern.“ Seine Hand streichelte über ihren Kopf. Langsam stoppten die Tränen. Anna war in den großen, starken Armen versunken und hatte die Augen geschlossen.

„Wie lange denn?“ fragte sie leise und zog die Nase hoch.

„Kann ich dir nicht sagen. Wir müssen daran arbeiten.“ entgegnete Liam. Er erinnerte sie an den Baum im Hinterhof, an dem sie gerne lehnte. Er gab nicht nach, stärkte ihren Rücken, und war irgendwie warm. Anna fühlte sich, als würde eben dieser Ahornbaum sie umarmen und ihr einen Rückzugsort schenken.

„Wieso kann ich deine Gedanken nicht lesen?“ fragte sie nach einigen Minuten der Stille.

„Ich lasse meine Gedanken nicht einfach so sinnlos wandern.“ antwortete Liam.

„Adams Gedanken kann ich auch nicht lesen...“ murmelte Anna daraufhin.

„Ich glaube nicht, dass du das brauchst. Sie drehen sich eh nur um dich.“ lächelte der junge Mann. Seine Hand streichelte immer noch beruhigend über ihre langen, glatten Haare. Es war ein schönes, beruhigendes Gefühl, und das erste Mal seit drei Tagen fand Anna wieder Schlaf.

Liam kam die Treppen hinunter. Seine waldgrünen Augen wanderten durch das stille Wohnzimmer. Adam saß in einem Sessel und starrte ins Nichts. Mit einem Räuspern machte sich Liam bemerkbar.

„Oh, seid ihr fertig?“ fragte Adam überrascht aus den Gedanken gerissen, die ihn plagten und sprang auf. Liam nickte und setzte sich zu ihm.

„Sie hat Probleme mit dem Gedankenlesen und wollte, dass ich ihr zeige, wie man es kontrolliert. Sie ist nicht dumm, aber es wird trotzdem eine Weile dauern, bis sie den Dreh raus hat.“ sagte der große Junge und deutete auf eine Tasse, um Adam zu zeigen, er solle ihm auch einen Tee bringen.

Adam stand auf und ging in die Küche, um den Tee zu holen. Dabei rief er Liam zu: „Wie kommt's, dass ausgerechnet du helfen kannst?“

Liam wartete auf seinen Tee, trank einen Schluck und erklärte dann: „Waldgötter leben fast unendlich lange. Mit der Zeit hören wir so gut unserer Umwelt zu, dass die Gedanken von alleine zu einem kommen.“

Adam ließ sich mit einem überraschten Pfeifen neben Liam in den Sessel fallen. „Waldgott, hm? Aus welchem Wald kommst du denn?“

„Ich weiß es nicht mehr. Es war irgendwo in Nordeuropa, Richtung Skandinavien.“ gab Liam karg zurück. Eigentlich hatte er keine Lust, Adam über sich zu erzählen. Eigentlich hatte er auch keine Lust, überhaupt zu reden.

„Hab' mich schon gewundert. Den Namen 'Liam' hört man hier nicht so oft.“ murmelte Adam. Sein Blick war auf den schwarzen Fernseher gerichtet. Liam nippte eine Weile lang an seinem Tee, dann begann er: „Eine Freundin hat mir diesen Namen gegeben.“

Adam grinste, ohne den Blick vom Schwarz abzuwenden. „Deine feste Freundin?“ meinte er hämisch.

„Nein, sie ist mittlerweile tot. Sie hieß Theodora und war eine Waldnymphe aus Irland.“ Adams Grinsen verschwand. Liam setzte die Tasse ab und stand auf. „Ich werde versuchen, ihr die Grundlagen so schnell wie möglich zu erklären. Ich glaube, sie kann morgen wieder zur Schule kommen. Es ist einfacher die Gedanken anderer zu ignorieren, wenn man ausgeruht ist. Achte nur darauf, dass ihr Wege nutzt, die nicht voller Menschen sind.“

„Okay.“ sagte Adam und stand ebenfalls auf. „Danke für deine Hilfe.“

Im Türrahmen drehte sich Liam noch einmal um, um Adam zu mustern. Die Frage, warum Anna Adams Gedanken nicht lesen konnte, beschäftigte Liam ein bisschen. Für ihn war Adam ein offenes Buch. Es konnte also nicht daran liegen, dass Adam wusste wie man sich gegen das Gedankenlesen wehrte. Vielleicht lag es eher daran, dass Adam Annas Macht in sich trug. Ein Großteil seiner Existenz gehörte eigentlich Anna. Wenn man es so betrachtet, hatte Anna also versucht, ihre eigenen Gedanken zu lesen. Natürlich würde das nicht gehen.

„Du weißt, dass du sie bald verlassen musst, oder?“ fragte Liam Adam. Adams erleichtertes Lächeln verblasste, wirkte langsam gequält.

„Ja.“ kommentierte er nur. Shiro stand hinter Liam und schnüffelte an ihm. Er war immer noch in Wolfsform. Liam seufzte und bevor er den Wolf näher an ihn ran ließ, wandte er sich dem Gehen zu.

Wie Liam voraus gesagt hatte, hatte Anna am nächsten Tag weniger Probleme, die Gedanken auszublenden. In der Schule angekommen wartete bereits Liam in ihrem Hinterhof, um mit den ersten Grundlagen anzufangen. In den Zeitraum, in denen sie übten, erfuhr sie sehr viel von ihm und er von ihr. Nachdem Theodora, eine rothaarige, quirlige Waldnymphe, die gerne reiste, altersbedingt gestorben war, hatte auch Liam den Wunsch verspürt, seinen Wald zu verlassen und die Welt zu sehen. Seine Reise brachte ihn hierher und er war mehr oder weniger durch Zufall in die Auswahl der Ehemänner geraten. Jedes Mal, wenn Anna das Bild von Theodora in Liams Gedanken sah, wurde ihr warm ums Herz. War das der Gedanke von Liebe, den Liam mit dem Bild verknüpfte? Hatte er Schmetterlinge im Bauch, wenn er an sie dachte? Wie fühlte es sich an, jemanden zu lieben?

„Du wirst es verstehen, sobald es soweit ist.“ antwortete ihr Liam darauf und Anna musste sich mit dieser Antwort zufrieden geben.

Die restliche und nächste Woche verbrachte Anna komplett damit, ihre Kräfte unter Kontrolle zu kriegen. Erst am 21. Mai, einem Montag, traf Anna Mirai wieder, um die Situation im Wald zu besprechen. Merkwürdig schnell gab Mirai sein Einverständnis zu den neuen Konditionen.

„Wo ist eigentlich Shiro? Wenn wir zurück fahren, sollten wir ihn mitbringen.“ Anna blickte verwundert auf. Sie hatte ganz vergessen, dass er wieder zurück musste. Sie seufzte. Shiro war schon lange nicht mehr in seiner Menschenform vor sie getreten, aber sie war sich ziemlich sicher, dass er in der Wolfsform immer größer wurde.

„Dann lass uns doch nächstes Wochenende fahren. Ich wollte mich sowieso ein bisschen im Wald austoben.“ lächelte Anna und starrte in den Himmel. Die beiden hatten sich im Hinterhof getroffen, wie immer. Der Himmel war mit kleinen, grauen Wolken verhangen. Vielleicht würde es jeden Moment regnen. Shiro war seit einigen Tagen nicht mehr mit in die Schule gekommen. Auch Zuhause ging er Anna eher aus dem Weg. Einmal hat sie den weißen Wolf sogar auf dem Dach über ihrem Fenster wieder gefunden! Bei dem Gedanken fragte sich das Mädchen immer sofort, wie er da hoch gekommen war. Auch das Gedankenlesen bei Schnee war nicht so einfach, wie vermutet: Die Gedanken des Wolfes waren ganz anders, als die der Menschen. Es waren mehr Gerüche und Geschmäcker als Worte oder Bilder. Anna konnte den Sinn dahinter nicht wirklich ausmachen.

„Okay. Dann können wir ja wieder in die heißen Quellen.“ stimmte Mirai ihr zu, streckte sich und stand auf. „Ich bin froh, dass wir diese Gespräche endlich hinter uns haben. Auch wenn ich die Zeit mit dir alleine genieße.“ fügte er grinsend hinzu. Auch Anna stand auf.

„Ich versteh' schon. Wir haben uns mehr gestritten, als sonst was.“ lachte sie kurz.

„Ach, seid ihr süß.“ Akiras Stimme hauchte Anna in den Nacken. Anna fuhr herum. Sie hatte es vergessen. Sie hatte ihn seit ihrem Geburtstag nicht mehr gesehen. Heißes Feuer loderte mit einem Schlag in ihrer Brust. Das Gefühl, geküsst zu werden, drang zurück an ihre Lippen. Die Erinnerung an Akiras Geschmack lag auf Annas Zunge. Die Erinnerungen sickerten wieder durch.

Vor Schreck machte Anna einen Sprung zurück und landete an Mirais Brust. Akira blinzelte sie verwundert an.

„Was'n?“ fragte er nonchalant und hob Annas Tasche auf, die sie fallen gelassen hatte. „Du hast gesagt, das nächste Mal, wenn ihr in den Wald geht, darf ich mit, oder?“

Anna bereute jedes Wort und Versprechen, das sie jemals gegeben hat. Sie nickte kurz. Mirai seufzte genervt. Der Gedanke, dass Anna mal wieder tat, was sie wollte, huschte durch seinen Kopf, und Anna hörte ihn. Sie fühlte sich leicht schuldig.

„Ja, dann komm' halt mit.“ murmelte der Blondhaarige und Akira grinste. Alle wollten langsam nach Hause. Auf dem Weg zum Schultor hielt Anna immer noch einen gewissen Sicherheitsabstand zu Akira, auch wenn sie wusste, dass er sie hier nicht einfach nochmal küssen. Der Gedanke daran trieb dem Mädchen trotzdem die Schamesröte ins Gesicht. War er in sie verliebt? Hatte er sie deshalb geküsst? Oder war es eine Art Geburtstagsgeschenk? Ein Gedanke weckte Anna aus den ihren. Sie konnte nicht in Worte fassen, was sie gerade gehört hatte, weil es keine Worte gewesen waren. Es war ein Gefühl, als würde sie jemand angucken. Als würde sich jemand über sie lustig machen. Als würde sie jemand durchschauen. Sie schaute sich um. Akira hatte seine Arme hinter den Kopf verschränkt und lief seelenruhig die Allee entlang. Sein Blick ruhte auf Anna. Er lächelte. Es war ein überhebliches, höhnisches Lächeln. Genau das Gefühl, das Anna gerade gespürt hatte. Die Hitze, die sich in ihrer Brust gesammelt hatte, flaute ab und wurde kalt. Wusste er, woran sie gedacht hatte? Wusste er, wieso sie sich so komisch verhielt? Wieso verhielt sie sich eigentlich so komisch?

Nein. Einfach nein. Warum war sie plötzlich so unsicher und zurück haltend? Das war nicht ihre Art.

Anna holte Schwung mit ihrer Tasche und traf Akira schmerzhaft am Kopf, der dann in Lachen ausbrach. „Grins' nicht so frech!“ fauchte Anna und holte gleich noch mal aus, als sie Akiras Gröhlen hörte. Er lachte Tränen.

„Du … Oh man...“ fing er an und versuchte Luft zu holen „Du hättest dein Gesicht sehen müssen!“ Das Bild einer völlig verstörten und verwirrten Anna brachte Akira noch mal zum Lachen. Anna holte wiederum aus, doch bevor sie ihn erwischen konnte, nahm Akira die Beine in die Hand und versteckte sich hinter Mirai.

„Wenn du dich über sie lustig machst, solltest du dir deine gerechte Strafe abholen.“ Mirai verweigerte sich jeder Hilfestellung.

„Aber sie sah aus, als würde sie sich wegen unnötigen Sachen unnötige Gedanken machen. Es sah so süß aus, wie sie ihr kleines Köpfchen zerbrach.“ Akira wischte sich die Tränen aus den Augen und duckte sich, als Anna ihre Tasche schmiss. Auch Mirai musste ausweichen.

Doch Anna wusste, dass Akira Recht hatte. Es war unnötig, darüber nach zu denken, warum Akira sie geküsst hatte. Er hatte es getan. Und ein solcher Kuss sollte ihr nicht so viel bedeuten. Er hatte mehr Gewicht als der Kuss, den sie Mirai gegeben hatte oder die Küsse, mit denen sie Shiro immer überhäufte, aber es war nur ein Kuss. Und nichts weiter. Sie war eine Königin. Wie konnte ein Kuss sie dermaßen aus der Fassung bringen? Nein. Sie weigerte sich, diesen Sorgen zu erliegen.

Das Mädchen seufzte, holte tief Luft, zog den Bauch ein, streckte die Brust raus, streckte ihren Rücken und öffnete ihren gewohnten Zopf. Das lange, blonde Haar ergoss sich über ihren Rücken und wehte leicht im Wind. Sie musterte Akira und Mirai kurz. Sie wollte die Gedanken dieser zwei Idioten gar nicht erst lesen.

Mit einer schnellen Handbewegung wischte sie eine Haarsträhne aus dem Gesicht, ging zu Akira und Mirai, um ihre Tasche aufzuheben und sagte „Dankeschön, dass du mich daran erinnert hast.“. Sie warf Akira einen hochnäsigen, kalten Blick zu. Sie hatte Lust, jemanden zu verprügeln. „Wir sehen uns morgen.“

Die Rückkehr des Affenkönigs

ie Woche wurde gefüllt mit Lernen, Lernen und Lernen. Wenn Anna doch noch Zeit hatte, etwas anderes zu tun, traf sie sich mit Liam und übte das Gedankenlesen. Sie hatte bereits große Fortschritte erzielt: Im Klassenraum konnte sie jegliche Sorgen ihrer Klassenkameraden ausblenden. Auch auf belebten Straßen hörte sie seit kurzem nur noch ihre eigenen Gedanken. Das gab ihr die Kraft und das Selbstvertrauen zurück, wieder die Alte zu werden. Doch die Prüfungen rückten näher – Es war Ende Mai und die erste Klausur stand schon in zwei Wochen an. Also mussten sie sich ran halten!

Akira, Liam und Anna lernten meistens oft zusammen in der Schulbibliothek. Dass Akira da war, störte Anna nicht mehr. Sie hatte mit dem Kuss abgeschlossen und er anscheinend auch. Sie sah es nur noch als nette Geste an, als würde man jemandem die Hand schütteln. Warum Akira allerdings da war, wusste Anna nicht so ganz. Auf die Frage hin, warum er die private Lernsession von Anna und Liam mit seiner Anwesenheit beehrte, musste er lachen: „Ich bin nicht besonders gut, was das Lernen für Prüfungen angeht.“

Ehe man sich versah, stand das Wochenende vor der Tür. Adam und ihre Mutter wussten dieses Mal im Vorhinein, dass Anna dort übernachten würde. Seit Anna die Gedanken ihrer Mutter gelesen hatte, konnte sie ihr nicht mehr richtig in die Augen sehen. Sie wollte nicht daran denken.

Am frühen Samstagmorgen standen Mirai und Akira vor Annas Haustür. Man spürte, dass es bald Sommer werden würde. Die Luft war warm, streichelte einem angenehm über die Haut und war erfüllt vom süßen Duft der Blumen. Beide Jungs hatten große Sporttaschen über der Schulter hängen. Auch Anna hatte diesmal etwas mehr eingepackt: Schlafsachen, Duschzeug, Wechselwäsche, etc. Ihre Mutter drückte den dreien noch etwas zu essen für den Weg in die Hände.

„Pass auf dich auf, mein Schatz. Ruf an, wenn was ist, ja?“ Ihre Mutter drückte Anna liebevoll und küsste ihre Wange.

„Alles klar.“

Shiro trottete aus der Haustür. Er wedelte mit dem Schwanz und begrüßte Mirai und Akira mit einem kurzen Bellen. Anscheinend freute er sich auf Zuhause.

„Wir gehen dann mal, bis Montag!“ Anna drückte auch ihren Bruder noch mal und dann gingen die drei los.

Gegen Mittag kamen sie an der alten Station an, die Anna noch von ihrem ersten Besuch hier kannte. Sie war noch verwildeter als vorher. Shiro kannte kein Halten mehr: Sobald die Türen des Zuges sich öffneten sprang er raus und begann wie wild hin und her zu rennen. Es war selten, ihn so lebendig zu sehen. Und es war irgendwie auch traurig.

Der Weg den Berg hoch war noch anstrengender, als Anna es in Erinnerung hatte. Die Sonne stand im Zenit und nun wurde es wirklich, wirklich heiß. Ächzend zog sich jeder der Wanderer die Oberteile oder Jacken aus. Anna stahl sich einen kleinen Blick auf Mirais gut trainierten Körper, während er sie an seiner Hand hinter sich her führte. Das riesige Tattoo auf seinem Rücken glänzte unter einer dünnen Schweißschicht. Auch Akira schwitzte. Er hatte nur noch ein weißes Tanktop an, während sie den Berg hinauf stiegen, aber er strahlte übers ganze Gesicht. Alles, was man in einem Wald für normal hielt, fand er „cool“ oder „aufregend“, als wäre er noch nie in der freien Natur gewesen. Es dauerte nicht lange, da erreichten sie die gewohnte kleine Plattform, doch diesmal war diese nicht leer. Affen begrüßten sie mit Blumen und Pfirsichen. Auch die Zwillinge waren wieder da und sprangen sofort zu Anna, um an ihr hoch zu klettern und ihr Gesicht abzulecken.

„Hey ihr Süßen.“ säuselte die Blondine. Shiro fing an zu knurren, die Affen fiepsten und verschwanden wieder von Annas Schultern.

„Du brauchst nicht gleich eifersüchtig zu sein.“ sagte Anna schroff gegenüber dem Wolf, der im Gegenzug nur abweisend schnaufte. Mirai beobachtete die Situation, sagte jedoch nichts.

„Anna, wie wär's, wenn wir diesmal zusammen in die heißen Quellen gehen? Dann trennt uns nichts mehr.“ lachte er dann kurz und legte einen Arm um das Mädchen. Die Affen quietschten, doch mit einem Bellen von Shiro war auch das wieder zum Erliegen gekommen. Erneut musterte Mirai den weißen Wolf.

„Anna.“ flüsterte er dann leise, zog sie mit dem Arm etwas näher an sich ran und legte seinen Mund an ihr Ohr. „Ich glaube, Shiro denkt, du würdest hier mit ihm bleiben.“ Anna drehte sich verwundert um und musterte den Wolf.

„Wir haben ihm doch gesagt, dass er alleine zurück kommt.“ entgegnete sie verwundert.

„Ja, aber ich glaub, du bist ihm ans Herz gewachsen. Vielleicht hat er's verdrängt?“

Anna seufzte kurz. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Sie hatte die ganze Zeit das Gefühl gehabt, Shiro würde ihr aus dem Weg gehen. Sie beugte sich zu dem Wolf runter, der ihr mittlerweile bis zur Brust reichte, und wurde mit einem kurzen, feuchten Schlecken im Gesicht begrüßt. Die blauen Augen starrten sie an, als würde er auf etwas warten. Erneut durch fluteten Anna Bilder und Gerüche. Diesmal erinnerte es sie an Vanille, Himbeere, vielleicht auch schwarzer Tee. Sie sah Bilder aus dem Garten vor dem Haus. Aber was sollte das bedeuten?

„Ich geh heute mit Shiro baden.“ Sie wuschelte durch das weiße Fell ihres Begleiters und stand wieder auf.

„Los, ich hab' Hunger.“ Das Mädchen lächelte und dann führten die Affen sie zum Palast.

Wie auch beim letzten Besuch wurde die Truppe im großen Stile begrüßt. Die Räume waren gefüllt mit dem lieblichen Duft aller möglichen Speisen, anscheinend war das Essen schon fertig. Heute allerdings stand in dem Esszimmer ein größerer Tisch, an den sich die drei setzten. Auch Shiro durfte dort Platz nehmen. Gerade, als sie es sich alle bequem gemacht hatten, schwang die Schiebetür wieder auf und Diener mit Platten, gefüllt mit fernöstlichen Köstlichkeiten, die zum Teil noch zischten und brutzelten, brachten das heißersehnte Essen. Akira war hin und weg. Auch Anna musste zugeben, dass das Essen außergewöhnlich gut war.

„Wir sollten heute noch was chillen und morgen mit Silver reden.“ meinte Mirai dann zwischen zwei Bissen und griff nach einer Hühnchenkeule. Anna nickte.

„Ich will noch ein bisschen mit Shiro zusammen bleiben.“ stimmte sie zu und streichelte eben jenem über den Kopf. Akira, der neben ihr saß, warf dem Wolf einen Hühnerknochen zu, auf dem dieser vergnügt herum biss.

Shiro und Anna fanden sich wenig später in dem bekannten Zimmer wieder, in dem sie schon einmal geschlafen hatten. Die Vorhänge waren zurück gezogen worden und das Licht der Sonne gab den Blick fürs Zimmer frei. Die Gastgeber hatten den Raum mit Pflanzen und Blumen dekoriert. Der Raum war nicht sonderlich bemöbelt, nur ein Bett stand dort und eine kleine Teeecke war umringt von Sesseln. Shiro begann sogleich, alles fleißig zu beschnüffeln. Anna ließ sich währenddessen müde aufs Bett fallen und streckte ihre Beine durch. Sie starrte an den Baldachin des Himmelbettes. Kleine Schnitzereien waren in dem dunklen Holz verewigt, sie erzählten Sun Wukongs Geschichte. Gedankenverloren folgte Anna den Bildern seiner Geschichte. Vieles hatte er schon erzählt und konnte sie seinem Leben zu ordnen, ein paar Bilder warfen allerdings Fragen auf. Shiros kalte Schnauze fuhr über Annas Hand und sie drehte den Kopf über die weiche Matratze, um sich ihren Süßen anzusehen. „Wollen wir baden gehen?“ fragte sie leise, streichelte durch das weiße, wilde Fell und kraulte dem Wolf am Nacken. Dieser schnaufte kurz. Anna nahm das als ein „Ja“ an.

Sie setzte sich auf, packte sich einige ihrer Klamotten und das Duschzeug und begab sich Richtung Bäder. In einer kleinen Dusche vor der Quelle begann sie sich von Schmutz und Schweiß zu befreien, ehe sie, gefolgt von dem Wolf, ins heiße Wasser stieg. Erneut erfüllte sie ein wohliger Schmerz und alle Muskeln begannen, sich zu entspannen. Shiro setzte sich neben sie ins Gras und schnüffelte kurz am Wasser, ehe er sich über die Schnauze leckte und sich umsah.

„Wie kommt's eigentlich, dass du mir fast nie von der Seite weichst?“ Der Wolf schwieg. Annas nassen Hände suchten nach seinem Gesicht, um ihm in die Augen zu schauen. Selbst das gab ihr keinen Aufschluss darüber, wieso Shiro so anhänglich war.

Langsam kamen die Äffchen, die bemerkt hatten, dass die Blondine nicht mehr im Zimmer war, und begannen, Lichter über das Wasser treiben zu lassen. Sie hatten auch Blüten des Pfirsichbaumes geklaut, um sie Anna ins Wasser zu schmeißen, zusammen mit wohlriechenden Kräutern.

Die Türen des Badehauses gingen auf. Anna dachte sofort an die unfreundliche Dienerin von vor ein paar Wochen, die sie erwartet würde, doch weit gefehlt: Nur mit einem Badehandtuch um die Hüften gewickelt kamen Mirai und Akira durch die Tür und fingen an zu lachen.

„Warst wohl vor uns hier.“ grinste Mirai belustigt, wurde jedoch sofort von Shiro zurück gehalten, der aufgesprungen war und zu bellen begann.

„Woah, komm runter, Shiro.“ murmelte Akira erschrocken, doch die Hand, die er dem Wolf hin hielt, wurde noch heftiger angebellt.

„Shiro, du bist zu laut.“ seufzte Anna nun genervt und ließ sich bis zum Kinn ins Wasser sinken. Dankbar war sie ihm schon, dass er sich für sie aufregte, dann musste sie es nicht selbst tun. „Wie ihr seht, bade ich gerade, also geht bitte wieder.“ gab sie angespannt von sich und suchte nach dem Handtuch, das in der Nähe liegen müsste. Doch Mirai war schneller: Er zog das Handtuch aus dem Gras und warf es sich über die Schulter.

„Kannst ja gehen, wenn wir dich stören.“ grinste er neckisch und auch Akira lachte ein bisschen. Die beiden setzten sich in Bewegung. Anna zog sofort die Knie an die Brust, um jegliche Sicht auf ihren Körper zu verhindern, ehe sie in einer relativ amüsanten Pose vom Baderand wegrutschte. An der gegenüberliegenden Wand fand sie dann wieder Halt und versuchte gar nicht erst, den Jungs einen Blick auf ihre Brüste zu genehmigen. Doch was die beiden Männer sahen gefiel ihnen bei weitem mehr.

Sie tauchten ins Wasser ein, völlig ungeniert und unbeeindruckt von dem Knurren, das Shiro immer noch von sich gab. Ihr Blick war auf Annas Rücken verziert. Die Linien ihres Tattoos reichten nun locker bis zu den Schultern, während ein paar sich auf den Schulterblättern kringelten.

„Sieht gut aus, oder?“ fragte Mirai, der es schon einmal gesehen hatte. „Seit dem letzten Mal sogar noch besser.“

Akira stimmte zu. Es war das erste Mal, dass er das Tattoo sah. „Zieht einen magisch an.“ pflichtete er bei. Ein merkwürdiges Verlangen überkam ihn, die Linien berühren zu wollen.

„Willst du's anfassen?“ Mirais Grinsen wurde breiter. „Ich hab' schon.“ fügte er hämisch hinzu. Erst jetzt wurde Anna klar, worüber die beiden sprachen. Sofort riss sie ihre Arme von den Knien und versuchte, sie so zu verrenken, dass sie das Tattoo bedecken konnte.

„Guckt nicht hin!“ fiepste sie angespannt.

„Ja.“ antwortete Akira auf Mirais Frage hin und setzte sich in Bewegung, um auf Anna zu zu schwimmen. Auch Mirai ging auf Anna zu. Anna handelte, bevor sie denken konnte. Mit einem Ruck drehte sie sich um; Alles, was sie in diesem Moment wollte, war, dass niemand ihren Rücken berührte. Sofort verharrten die Jungs in ihrer Bewegung. Akira konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, Mirai wurde merkwürdig rötlich um die Nase und schaute verlegen zur Seite. Ein Bellen hallte durch das Bad und mit einem Flutwellen ähnlichem Platscher sprang Shiro ins heiße Nass direkt vor Anna. Heißes Wasser explodierte Anna im Gesicht und auch die Jungs wurden von der Welle getroffen. Sie begannen laus lot zu lachen, während Anna sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht wischte. Shiro fuhr herum und setzte sich sofort auf Annas nackten Schoß. So überrag der Wolf sie mit einer Kopflänge und versperrte nicht nur den Männern den Blick auf ihren Körper, sondern auch Anna den Blick auf alles andere.

„Shiro… ist schon okay.“ Anna konnte ein Lachen in ihrer Stimme nicht unterdrücken.

„Oh mein Gott, wie eifersüchtig er ist!“ Akira warf sich vor Lachen zurück und tauchte somit kurz ab. Auch Mirai lachte laut, was ein Knurren Shiros zur Folge hatte. Die Blonde umarmte den Wolf, woraufhin er sich beruhigte. „Alles gut.“ flüsterte sie ihm zu. Sie schob den Wolf von ihrem Schoß, welcher widerwillig nach gab und durch das Wasser zu den Herren ruderte. Dort blieb er vor ihnen stehen und starrte sie ernst aus seinen blauen Augen heraus an. Sie verstanden sofort: Noch ein Blick in Annas Richtung und er würde sie fressen.

„Dafür hast du ihre Brüste berührt.“ schnauzte Mirai und drehte sich weg, um Richtung Ausgang zu gucken.

„Ja, eigentlich bist du der Perverse, Shiro.“ lachte Akira und tat es Mirai gleich. Der Wolf knurrte beschämt. Er legte die Schnauze auf dem Rand des Beckens ab und starrte nun ebenfalls Richtung Ausgang, anscheinend realisierend, dass er nicht viel besser war, als die anderen.

Die Affen, die sich bis zu diesem Zeitpunkt ängstlich in den Gebüschen und Pflanzen versteckt hatten, traten nun langsam wieder hervor. Einige von ihnen suchten nach Annas geklautem Handtuch – einer von ihnen brachte es der Dame dann und diese wickelte es sich um den Oberkörper. Als sie das getan hatte, stand sie auf und ging an den Männern vorbei, um das Bad zu verlassen. Diese warfen noch mal einen kurzen Blick zu ihr, als sie aus dem Wasser stieg, um vielleicht noch einmal irgendetwas sehen zu können, wurden aber sofort mit lautem Bellen wieder an ihre Position erinnert, ehe Shiro mit Anna das Bad verließ.

„Du hast es also schon mal gesehen?“ murmelte Akira nachdenklich nach einigen Minuten. Sein Blick war auf die Tür fixiert, die Anna verlassen hatte.

„Ja, hab' ihr auch meins gezeigt.“ erwiderte Mirai und nahm eine Sakeschale entgegen, die einer der Affen ihm reichte, um sie Akira zu geben. „Neidisch?“ fügte er grinsend hinzu und stieß mit Akira an. Dieser leerte den Becher in einem Zug und ließ sich nach schenken.

„Nicht wirklich. Werde es ja in Zukunft ständig sehen.“

„Ziemlich selbstbewusst, findest du nicht?“ antwortete Mirai genervt auf Akiras Kommentar. Dieser grinste. Er war halt ziemlich selbstbewusst.

„Was hältst du von ihr?“ fragte Mirai dann nach, unsicher über Akiras Beweggründe.

„Weiß nicht. Du?“ entgegnete Akira und ließ die Sakeschale über das Wasser treiben.

„Sie ist ziemlich weich.“ Mirai erinnerte sich an den zarten Rücken, den er berührt hatte. Akira dachte über den Kuss nach, den er mit Anna an ihrem Geburtstag teilte. Ihr ganzer Körper war eiskalt, ihr Mund allerdings war warm wie ein wohliges Kaminfeuer gewesen. Akira musste lächeln.

„Stimmt.“ pflichtete er dem Affenkönig bei, der bei dieser Bemerkung herum fuhr.

„Wie stimmt? Woher weißt du das denn?“ begann er zu keifen und brachte Akira unweigerlich zum Lachen.

„Bleibt ein Geheimnis.“ grinste er hämisch und spielte mit einer der Pfirsichblüten. Mirai musterte ihn einige Sekunden lang, seufzte dann und drehte sich um, um seine Beine auszustrecken.

„Was machst du eigentlich in den Sommerferien?“ fragte der Blondhaarige dann beiläufig und musterte seine Zehen, die er aus dem Wasser hielt. „Gehst du nach Hause?“

Akira schüttelte den Kopf und schloss erschöpft die Augen. „Nee.“ gab er zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Ich bleib' in der Stadt.“

„Wieso? Immer noch Stress mit deiner Familie? Wie geht’s ihnen eigentlich?“ hakte Mirai nach.

„Schlecht. 'N paar sind schon tot.“

„Immer noch dein Vater, ja?“ Mirai wirkte genervt. Akira nickte stillschweigend darauf hin.

„Wenn du willst, kannst du her kommen. Ich werd' die ganze Zeit wahrscheinlich hier verbringen, um die Situation im Auge zu behalten.“ erklärte Mirai und nippte an dem Reisschnaps.

„Mal gucken.“

Anna war in ihrem Zimmer angekommen und die angenehme Kühle des Raumes legte sich auf ihre noch warme Haut. Sie hatte sich bereits umgezogen, allerdings trieften ihre Haare noch vom Kräuterwasser. Auch Shiros Fell war noch mit Tropfen benetzt, obwohl er sich unzählige Male geschüttelt hatte, um das Wasser loszuwerden. Das Mädchen zog ihren Föhn aus der Tasche und begann, ihre Haare zu trocknen, ehe Shiro an die Reihe kam. Genervt legte er die Ohren an, um das laute Geräusch des Föhns auszublenden, ließ es jedoch über sich ergehen.

„Willst du vielleicht heute deinem Vater 'Hallo' sagen gehen?“ fragte Anna dann, während sie liebevoll das Fell des Wolfes mit ihrer Bürste zähmte. Dieser schwieg. Anna beugte sich vor, legte ihren Oberkörper auf den Rücken des Tieres, schloss die Augen und seufzte. „Ich frag' mich, wieso du so ein Geheimnis für mich bist.“

Der Wolf machte ein paar Schritte von Anna weg und schnüffelte durch die Luft. Dann ging er zur Tür. Anna kam sich komplett ignoriert vor. Seufzend stand sie auf und ging zur Tür, die sich gerade öffnete.

„Oh, wir wollten dich gerade zum Essen holen.“ Akira stand im Türrahmen und musterte Anna. Ihre Kleidung stand ihr auch ganz gut. Nicht so gut wie heißes Badewasser allerdings.

Anna verzog das Gesicht bei Akiras Gedanken und boxte ihm in die Schulter. „Lass uns essen gehen.“ erwiderte sie und schloss die Tür hinter sich und ihre Begleitung.

Obwohl das Mittagessen gar nicht so lange her war und Anna auch wirklich nicht so viel Hunger hatte, weckten die Gerüche des frisch gemachten Essen in ihr das Verlangen, noch mehr zu verschlingen. Zufrieden griff sie nach einem Teigball, der mit gebratenem Fleisch und Gemüse gefüllt war. Auch Shiro bediente sich an diesen, als Anna ihm einen hinlegte. Akira und Mirai wandten sich eher dem Alkohol zu, den Anna wie gewohnt ablehnte.

„Ach, wäre eigentlich ganz schön, noch ein bisschen betrunkener zu werden.“ gluckste Mirai bereits angetrunken und erhob erneut das Glas. Viele der Affenmenschen hatte sich heute zu ihnen gesetzt, nun, da sie in einem großen Saal aßen. Es waren zwei lange, gut gefüllte Tische, die sich durch den Raum streckten. Die Türen waren auf einer Seite geöffnet, um die warme, abendliche Mailuft hinein zu lassen. Die ersten Sterne knipsten ihre Lichter an. Der Abend wurde mit langen Geschichten über Mirais Vergangenheit gefüllt, die nicht nur er, sondern auch seine Freunde zum Besten gaben. Akira, sowie Anna, hörten gebannt zu und mussten zugeben, dass viele der Dinge, die Sun Wukong tat, eskalierende Streiche mit lustigem Hintergrund waren. Irgendwann wurde es sogar Mirai zu bunt: beschämt erteilte er seinen Freunden den Befehl, aufzuhören, so peinliche, alte Kamellen auszugraben. Doch Akira und Anna kannten kein Halten mehr. Sie lachten aus vollem Herzen und als Mirai sah, dass selbst Shiro ihm einen hämisch grinsenden Blick zuwarf, platzte ihm der Kragen. Er stand auf, brüllte nach einer größeren Flasche Alkohol und begann fünf Sakeschalen damit zu füllen. Und nun mussten alle trinken.

Es ist tatsächlich lange her, dass Anna so viel getrunken hatte. Selbst sie schien langsam etwas zu spüren, auch wenn das nicht möglich war. Vielleicht steckte sie diese entspannte, lustige Atmosphäre auch einfach an. Viele Affen, darunter die Zwillinge, tanzten zwischen den Speisen auf den Tischen, während die Affen in Menschenform begannen zu klatschen und zu singen. Auch Akira und Mirai wurden zum Tanzen hingerissen. Irgendwann wurde Shiro an den Pfoten auf die Hinterbeinen gezogen und musste mit Akira einen unförmigen, lustigen Tanz aufführen, für den er sich noch die ganze Nacht schämen würde. Anna klatschte zufrieden im Takt mit, dann fingen die ersten Affen an müde zu werden. Einer nach dem anderen fielen sie langsam in einen tiefen, Alkohol getränkten Schlaf, bis die einzelnen restlichen begannen, die Tische abzuräumen. Niemand hatte bemerkt, dass es bereits späte Nacht geworden war.

„Lasst uns gehen, sonst sitzen wir hier noch im Weg.“ Mirai verkniff sich einen Schluckauf und packte die Flasche, die auf dem Tisch stand, sowie ein paar Gläser. Anna und Mirai taten es ihm gleich und folgten dem großen Affenkönig in den Hinterhof zum Teich. Die Mondfläche spiegelte sich auf dem glatten Wasser. Die drei setzten sich auf den hölzernen Boden der Terrasse und ließen ihre Füße vom Gras kitzeln. Annas Blick wanderte zu Shiro, der um den Teich herum schlich und die segelnden Blütenblätter beobachtete. Beide der Jungs sprachen über irgendwelche Themen, die Anna nicht verstand. Sie war müde, dennoch verharrte das entspannte Lächeln in ihrem Gesicht. Sie schloss die Augen und lehnte ihren Kopf an Mirais Schulter. Akira, der das sah, schien nicht allzu begeistert von der Idee zu sein, legte seinen Arm um sie und zog sie an seine Schulter. Im Gegenzug dazu legte auch Mirai einen Arm um sie und zog sie zurück. Anna stöhnte kurz genervt auf und das Ziehen stoppte. Und so saßen die drei dann da: Schweigend, Arm in Arm den Mond beobachtend, während die Jungs über die Schule, Heirat und Welt redeten und ab und zu tranken. Zwischen ihnen eine müde Anna, die langsam in den Schlaf über glitt.

Als die Luft zu kühl wurde, um weiter draußen zu sitzen, standen sie auf. Akira hob Anna hoch und trug sie, wie eine Prinzessin, zurück in ihr Zimmer, gefolgt von einem schwer entrüsteten Shiro, der allerdings diesmal schwieg, um Anna nicht aufzuwecken. Akira platzierte Anna auf ihrem Bett, während Mirai an der Tür stand und zusammen mit Shiro darauf achtete, dass er ihr nichts antat. Akira zog die Decke zurück um Anna zu zu decken, streichelte kurz über die weichen, blonde Haare, grinste dann Mirai selbstgefällig zu und verließ zusammen mit ihm den Raum, um selbst schlafen zu gehen.

Die Allianz

Am nächsten Morgen war Anna die einzige, die wirklich entspannt und fröhlich zu sein schien. Ein relativ blasser Mirai begrüßte sie schroff, während Akira komplett schweigend an dem Frühstückstisch saß und in seinen Kaffee starrte. Der Saal war wieder aufgeräumt worden, die Affen schienen aber heute nicht so enthusiastisch wie am Vorabend zu sein, als sie noch gesungen und getanzt hatten.

„Tut ein Kater weh?“ Anna konnte sich ein feistes Grinsen nicht verkneifen, als sie sich zu den Jungs setzte und sich Kaffee eingoss. Shiro ließ sich neben sie fallen, legte seinen Kopf auf ihren Schoß und ließ erschöpft die Zunge aus dem Maul hängen. Mirai knurrte nur zustimmend.

Es dauerte eine Weile, bis Anna die Gemüter wieder heben konnte. Doch bevor sie das nun belebte Gespräch vollends genießen konnte, stand die bekannte, unfreundliche Dienerin neben ihr. Das Frühstück war beendet.

„Sasahira.“ Mirai erkannte die Frau anscheinend wieder. Ihr Blick wandte sich kaltherzig ihrem König zu, ehe sie ein „Guten Morgen“ hervor quetschte. Mirai lächelte gezwungen und erwiderte die Begrüßung.

„Es ist Zeit, dass wir sie einkleiden.“ erklärte Sasahira. Ihr braunes, dünnes Haar war in einen festen Zopf geknotet. Keine einzige Strähne schien diesem Zopf jemals zu entkommen. Anna blickte Mirai verwirrt an, doch auch sein Blick verriet ihr, dass er keine Ahnung hatte, was vor sich ging. Sasahira räusperte sich.

„Ich dachte, in Anbetracht der Situation wäre es vielleicht klug, die Königin etwas … passender zu kleiden.“ Ihr Blick wanderte von der Jeans zu ihrem Pullover. Ja okay, vielleicht trug sie etwas sehr zivile, schlichte Kleidung, aber das gab der Frau noch lange kein Recht, sie so abwertend zu betrachten. Anna schnaufte beleidigt auf. Mirai lachte.

„Mach's einfach. Schlecht kann's ja nicht aussehen, immerhin kümmert sich Sasahira um dich.“ lachte der Affenkönig lässig. Auch Akira grinste schadenfroh.

„Die Herren erwartet auch eine neue Garderobe.“ erklärte Sasahira kühl daraufhin und das Lächeln von Akira und Mirai verschwand. Anna erhob sich.

„Ausgleichende Gerechtigkeit nennt man das.“ grinste sie böse und folgte Sasahira in die Gemächer.
 

Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis Anna fertig war. Sie wurde in einen teuer aussehenden Kimono gequetscht, der bestimmt nicht für sie angefertigt worden war, sondern eher für eine Vogelscheuche. Das Atmen fiel dem Mädchen schwer. Ihr Haar wurde unfreundlich in eine Hochsteckfrisur gebunden und mit Blumen Accessoires verziert. Auf die Frage hin, ob Anna nicht ihre Opalkette ablegen wollte, schüttelte sie heftig den Kopf. Seit ihrem Geburtstag hatte sie diese nicht abgenommen. Mit einem Schnalzen der Zunge gab Sasahira nach und begann, Anna zu schminken. Die Blondine freute sich schon in diesem Aufzug zum Wolfsrudel laufen zu müssen.
 

Shiro hechelte aufgeregt, als sie den Raum verließen und zur Haustür liefen. Zufrieden sprang er um Anna herum und betrachtete die ungewohnte Kleidung. Anscheinend gefiel sie ihm. An der Haustür warteten bereits Akira und Mirai, die ebenfalls in traditioneller Kleidung steckten und ebenfalls nicht sonderlich begeistert aussahen. Sie gaben Anna einen kurzen, mitleidigen Blick, als würden sie ihre Schmerzen verstehen, und wurden von den Affen durch die Haustür begleitet.

Die Mittagssonne brannte wie Feuer auf der geschminkten Haut. Die Schritte der Gruppe wurde mit einem rhythmischen Schlag und Glöckchenklingeln begleitet. Die Affen trugen Baren mit Essen, Alkohol und anderen Kleinigkeiten, während sie den langen Marsch durch den Wald antraten. Anna, die sich in dem eng gewickelten Kimono noch schlechter bewegen konnte, als sonst schon, wurde von Mirai und Akira an den Händen gehalten, damit sie nicht hinfiel. Waren Baumstämme oder Felsen im Weg, über die man klettern musste, hob einer der beiden sie darüber. Dennoch kamen sie alle drei verschwitzt und erschöpft auf einer Lichtung an, die Anna bisher noch nicht kannte. Sie war sehr weitflächig und beherbergte um die zwanzig Wölfe, die bereits auf die Reisenden warteten. Silver saß in der Mitte und erhob sich, als er Anna wieder erkannte, um zu ihr zu gehen und sich vor ihr zu verbeugen.

„Tch. Bei mir macht er sowas nicht.“ knirschte Mirai beleidigt und gewann Akiras Grinsen dafür. Anna erwiderte die Verbeugung. Dann ging Silvers Blick an ihr vorbei und ein junger Mann trat hinter Anna hervor. Er hatte die Gestalt eines 14-Jährigen. Sein schneeweißes Haar glitzerte silber unter der Sonne, die es durch die Baumkronen auf die Lichtung schafften. Seine hellblauen Augen waren auf den Alphawolf gerichtet. Das war das erste Mal, dass Anna Shiros Stimme hörte.

„Ich bin Zuhause, Vater.“ Die Stimme war so tief und basserfüllt, dass Anna fast zu zittern begann. Sie blickte auf und sah zu, wie Shiro sich neben seinen Vater stellte. Wie konnte er in diesen 1-2 Monaten so sehr gewachsen sein? Überrascht richtete sich die Blondine wieder auf. Außerdem hatte er es vermieden, sich ihr in dieser Gestalt zu zeigen. Wieso?

Shiro schien zu merken, dass Anna sauer auf ihn war. Er wandte den Blick von ihr ab und richtete sich an seinen Vater. Dieser schwieg beim Anblick seines Sohnes.

„Wir haben Geschenke mitgebracht. Als Zeichen des guten Willens.“ unterbrach Akira die Stille nun und die Affen begannen, die Gaben auf der Lichtung auszubreiten. Silver schnaufte kurz beim Anblick all der kleinen Kostbarkeiten.

„Solange ihr keine Vorschläge mitgebracht habt, die uns weiter helfen, brauchen wir das nicht.“ knurrte die dunkle Stimme des Alphas. Anna hatte das bereits eingeplant.

„Wir haben welche.“ begann sie. „Können wir uns setzen?“ Silver nickte schweigsam und ließ sich auf seine Pfoten fallen. Der Boden erschütterte kurz unter dem riesigen Gewicht. Als Anna sich auf den Boden setzen wollte, ging Shiro auf sie zu und bedeutete ihr, zu warten. Mit einem Knurren Silvers sprangen die anderen Welpen von damals, die deutlich kleiner waren, als Shiro nun, auf und brachten den Gästen ein paar weiche Zweige und Blumen zum Hinsetzen. Auch die Affen-Zwillinge bemühten sich, Sitzunterlagen zu finden und beizusteuern. Nach der provisorischen Garnitur ließen die drei sich in den Pflanzen nieder und wurden von allen Seiten her gemustert. Anna stupste Mirai mit ihrem Ellenbogen in die Seite, damit er anfangen würde, zu reden.

„Wir haben beschlossen, dass ihr im Wald bleiben könnt. Aber nur unter gewissen Konditionen. 1. Ihr werdet keinen mehr von uns töten, angreifen oder in sonst einer Weise negativ uns gegenüber auffallen. Das beinhaltet das Beleidigen, Verletzen oder Bestehlen von Affen. 2. Ihr werdet die Jagd im Wald so gut es geht drosseln, damit jedes Tier hier in Frieden leben kann. Um der Natur nicht zu trotzen, werdet ihr fressen können. Aber ihr werdet nur so viel jagen, wie ihr zum Überleben braucht. 3. Wir erwarten eine gewisse Wiedergutmachung für die Gräueltaten, die ihr uns angetan habt. Um die Kräfte auszugleichen, die ihr unserem Haus geraubt habt, werdet ihr dem Palast dienen. Dazu gehört nicht nur das Schützen des Königreiches, sondern auch die Verpflegung der Alten, das Putzen des Hauses, das Wässern des Gartens, die Erziehung der Jungen und andere Aufgaben.“ Und das war der kritischste Punkt. Konnten die Wölfe diesen Konditionen zustimmen und sich dem Palast unterwerfen?

Ein paar der Tiere waren während Mirais Forderungen aufgestanden und näher getreten. Bedrohlich nahe. Anna wich etwas mit dem Oberkörper zurück, spürte aber, wie Akiras Hand auf ihrer Schulter ihr das Gefühl der Sicherheit zurück gab. Sie durfte nicht weichen – sie musste standhaft sein. Silver schnaufte nun auf. Anscheinend hatte er stark über diese Forderungen nach gedacht und kam nun zu dem Schluss, sie anzunehmen.

„In Ordnung.“ brummte die tiefe Stimme und Shiro, der neben seinem Vater stand, entspannte sich nun etwas. Beruhigt schloss er die Augen. „Allerdings habe ich auch eine Bedingung.“ Shiro blickte auf. Er schien überrascht – ein seltener Anblick. Er war sich ziemlich sicher gewesen, dass die Wölfe zustimmen würden, solange sie in Frieden hier leben konnten. An den Gedanken von Gegenleistungen hatte er keine Sekunde verschwendet.

„Die da wäre?“ fragte der Affenkönig nun höhnisch und rollte die Liste mit den Konditionen zusammen. Im Gegensatz zu Shiro hatte er sehr wohl daran gedacht, dass die Wölfe nicht bedingungslos zustimmen würden, auch wenn sie in keiner Position zum Verhandeln gewesen waren.

„Einen Tropfen Blut der Königin für jeden von uns.“ Silvers Stimme hallte durch die Bäume wie Donner. Er war aufgestanden und überragte die meisten von den Besuchern doppelt und dreifach. Auch die Wölfe standen jetzt restlos, als wären sie zum Kampf gewappnet. Die Stille, die sich breit gemacht hatte, wurde nun durch einen wütenden Mirai unterbrochen.

„Das KANN nicht dein Ernst sein!“ schnauzte er aufgebracht und erhob sich ebenfalls. Seine Hand griff nach einem Stab, den einer seiner Diener hielt und zog ihn an sich. Doch nun stand Anna auf und gebot ihm Einhalt.

„Nein, das ist völlig okay.“ antwortete sie ruhig. Diesmal war es Akira, der seine Stimme erhob.

„Du weißt, was passiert, wenn du das tust.“ zischte er leise und überhaupt nicht einverstanden.

„Das tue ich. Aber es ist mein Blut und meine Schuld, dass diese Situation überhaupt erst zustande gekommen ist.“ erklärte die zukünftige Königin sich und wandte sich an den Alpha: „Dann gibt es aber noch eine Kondition, die ihr erfüllen müsst.“ Silvers Ohren spitzten sich. Auch Shiro schien nun interessiert daran zu sein, was Anna sagen würde. Noch mehr Konditionen? Wann hatte Anna darüber nach gedacht? „Ihr werdet hier wohnen und Wukong dienen. Aber eure Loyalität gehört mir. Ihr werdet kommen, jedes Mal, wenn ich euch rufe. Ihr werdet kämpfen, jedes Mal, wenn ich es befehle und ihr werdet sterben, wenn es sein muss.“

Erneute Stille erdrückte die Anwesenden. Shiro hatte jegliche Kontrolle über sein Gesicht verloren. Wäre es eine andere Situation gewesen, hätte Anna bei seinem Anblick laut angefangen zu lachen. Selbst Akira und Mirai starrten Anna ungläubig an. Das war ein merkwürdig frecher und fordernder Vorschlag. Sie fragte schließlich nach einer Armee! Doch Silvers Reaktion war noch überraschender. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er einem der Wölfe, Anna ein in Leder gebundenes Messer vor die Füße zu legen. Die Wölfe setzten sich in Bewegung und reihten sich vor Anna auf. Anscheinend war alles geklärt, oder? Etwas überrascht über die wortlose Annahme dieser Kondition setzte sich Anna wieder hin und nahm das Messer in die Hand. Silver machte zwei große, schwere Schritte auf sie zu. Anscheinend wollte er der erste sein, der dieses Blut kostete. Nun überkam Anna Nervosität. Ihre Hände begannen zu schwitzen. Sie starrte auf das Messer in ihrer Hand. Es würde zwar weh tun, aber verheilen. Sie zog das silberne Metall aus der Scheide und legte es sich auf die linke Handfläche, hielt dann jedoch inne.

Mit einem Seufzen setzte sich Akira wieder neben sie und nahm ihr die Waffe aus der Hand, während er mit der anderen ihre Handfläche fest hielt. „Ich mach' das.“ Er klang immer noch leicht schockiert, aber jetzt mehr verärgert, als sonst was.

Ein beißender Schmerz fuhr durch Annas Hand. Akira war nicht zimperlich, was das Schneiden anging: Ein langer Schnitt führte vom Zeigefinger runter bis zum Handgelenk. Warme, rot schillernde Linien liefen Annas Handfläche hinunter. Schroff drückte er die Hand Richtung Alpha, dessen warme und nasse Zunge nur einmal hinüber fuhr. Die Sonne verblasste. Wolken waren aufgezogen, verdunkelten die Sonne restlos und verbargen den Himmel. Eine starke Böe raste durch den Wald und riss jeden aus seinen Gedanken. Man spürte, wie der Boden zu beben begann, doch dann war alles wieder normal. Die Wolken zogen weiter, der Wind beruhigte sich.

„Gruselig.“ murmelte Akira und starrte Silver an, der nun zurück zu seinem Platz trottete, ehe er sich wieder der Hand widmete. Die Wunde war mit einigen Bluttropfen verkrustet und verheilt. „Das wird echt wehtun, Anna.“ hauchte er dann dem Mädchen zu, schien aber nicht besonders viel Mitleid für sie zu entwickeln. Im Gegenteil: Ein sadistisches Lächeln legte sich auf seine Lippen.

„Ich weiß.“ gab sie knirschend zu, ehe er erneut in die Hand stach. Dieses Mal brauchte er nur die Fingerkuppe zu öffnen. Jeder der Wölfe war um einiges kleiner, als der Alpha, und dementsprechend war die Aussage 'ein Tropfen Blut' wirklich nur noch 'ein Tropfen'. Immer und immer wieder stach Akira in die zarte Hand des Mädchens. Trotz der fast sofortigen Regenerierung wurde der Finger langsam rot und begann zu puckern. Der letzte Wolf leckte über ihren Finger und wandte sich ab. Anna blickte zu Shiro. Er wusste sofort, wie er ihren Blick zu deuten hatte. Der Junge ging auf Anna zu, nahm ihre Hand in die seine und setzte sich zwischen sie und Mirai, ehe sein Kopf auf ihre Schulter wanderte und sich dort ausruhte. Seine Lippen hauchten einen Kuss auf die verheilte Fingerkuppe. „Ich brauch' es nicht.“ Shiro sagte diese Worte nicht. Sie huschten durch Annas Kopf, als hätte er es gewollt. Das erste, was er zu ihr sagte und nur für ihre Ohren bestimmt war. Und wahrscheinlich würde es für lange Zeit auch das letzte Mal sein, dass sie seine Gedanken lesen konnte. Wie Säure spürte Anna Tränen ihre Netzhäute bedecken. Sie sammelten sich in den Winkeln und Wimpern ihrer Augen und rannen die zarten Wangen der 16-Jährigen hinab. Shiros Hand streichelte über ihren Kopf, während er den Rücken der verletzten Hand an seine Lippen führte und vorsichtig küsste. Anna vergrub ihr Gesicht in ihrer freien Hand und begann zu weinen. Erst jetzt wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass es heute Abschied Nehmen hieß.

Mirai und Akira beobachteten die Situation für einige Sekunden, standen dann jedoch auf und begannen, die Sachen für das Fest vorzubereiten. Wölfe, wie Affen, packten gemeinsam an, um die Lichtung in eine Art Festivalplatz umzuwandeln, während Shiro Annas Tränen trocknete. Beide sagten nichts zueinander. Ab und zu wischte Shiro mit den Ärmeln seiner Kleidung über Annas Nase oder Wangen. Ihre Tränen glitzerten wie süßer Tau am Morgen. Sie weinte einfach nur und er hörte einfach nur zu. Jede Träne, die sie vergoss, war nur für ihn und er würde jede einzelne behandeln, als wären sie sein Schatz. Seine Hände streichelten immer wieder über ihren Kopf und Rücken. Ihr Körper, nicht gewohnt an die Tränen, zitterte leicht. Ihr schmaler Körper fand sich in seiner Umarmung wieder und allmählich begann er, den festen Zopf der Königin zu lösen, damit ihre langen, blonden Haare durch seine Finger gleiten konnten. Mit offenen Haaren gefiel sie ihm besser. Es erinnerte ihn daran, wie er neben ihr im Bett lag und sie beim Schlafen beobachtete.

Dann schaffte Anna es allmählich, ihre Tränen zurück zu halten. Sie umarmte diesen liebenswerten, süßen Jungen mit all ihrer Kraft und drückte ihn an ihre Brust. „Ich werd' dich so vermissen, Shiro.“ seufzte sie und zog die Nase hoch. Shiro erwiderte ihre Worte mit einer sanften Berührung ihrer Schulter, um sich aus der Umarmung zu lösen. Dann murmelte er:

„Wir sehen uns bestimmt wieder.“ Seine tiefe Stimme hinterließ ein Gefühl der Gewissheit in Anna. Sie wischte sich die letzte Träne weg, schluckte und nickte schließlich.

„Ich werd' immer an dich denken.“ quetschte sie dann hinter ihren Lippen hervor. Sie wollte diese Worte nicht sagen. Irgendetwas hielt sie davon ab. Vielleicht die Angst, dass er sie vergessen würde oder dass sie ihn wirklich nie wieder sehen würde? Er war IHR Mündel, IHR Vermächtnis, IHR Shiro. Was würde sie tun, wenn er es nicht mehr sein würde? Doch seine Worte ließen all ihre Sorgen und Ängste verblassen. Sie erbebte unter diesen Worten.

„Ich auch an dich, Mama.“ seufzte der Wolfsjunge leise. Es war nur ein Flüstern in ihrem Ohr. Er setzte einen Kuss auf ihre Wange oben drauf und wandte sein in Rosa getauchtes Gesicht von ihr ab. Erneut brach Anna in Tränen aus.
 

Es dauerte eine Weile, bis sie sich beruhigt hatte. Shiro war zu seinem Vater gegangen und begann von der Zeit mit Anna zu erzählen. Die tiefen, brummigen Stimmen drangen an ihre Ohren, während sie seufzend ins Feuer starrte, dass die Leute angezündet hatten. Grillen zirpten entfernt im Gras und die Sonne senkte sich bereits der Nacht zu. Langsam wurde es frisch. Die Blondine saß auf einem Holzstamm nahe des Feuers, aber abgelegen vom Getümmel und Gefeier. Die Wölfe und Affen schafften es nur langsam und allmählich, sich zu mischen und miteinander zu trinken. Mit einem Ächzen ließ Akira sich neben Anna fallen und teilte mit ihr den Blick ins Feuer.

„Alles wieder gut?“ fragte er ruhig und seine Stimme war wie Honig für ihre Seele. Sie nickte.

„Ja.“ Schweigen trat ein. Das Knistern der Flammen und die zusammenhangslosen Wörter einzelner Gespräche prasselten zusammen in der Abendluft.

„Er hat mich Mama genannt.“ sagte Anna dann schließlich heiser und versuchte, ihr Quieken auf ein Minimum zu beschränken, während sie diese Worte sagte. Ihre Hände wanderten wieder vor ihre Augen, damit Akira nicht sah, dass sich erneut Tränen ansammelte. Ein warmer, muskulöser Arm legte sich um die fragilen Schultern der gewordenen Mutter und streichelte sie leicht.

„Ist doch schön.“ Akiras Stimme war fast ein Flüstern, doch sie konnte sein Lächeln heraus hören. Anna nickte. Es war schön. Es füllte ihr ganzes Herz aus. Ihr Blick wanderte schließlich durch die Menge, als sie sich bei Akira anlehnte und sich zu beruhigen versuchte. Mirai stand nun bei Silver und Shiro und erzählte davon, wie klein Shiro noch war, als sie ihn mitgenommen hatten. Er wäre in wenigen Tagen bereits so gewachsen, dass man es kaum für möglich gehalten hatte. Außerdem war er so anhänglich, dass man Angst hatte, er würde sie beim Pinkeln beobachten... Akiras Arm lenkte Annas Aufmerksamkeit von den peinlichen Geschichten ab. Er bot ihr an aufzustehen und an dem Gespräch teilzuhaben.

„Das liegt wahrscheinlich daran, dass der kleine Shiro jede Nacht bei Anna im Bett schlafen durfte.“ erklärte Akira dann, der zugehört hatte und Anna gerade einen Platz zu Shiros Seite zuwies. Shiro wurde erneut leicht rot. Silver bleckte seine riesigen, weißen Hauer und lachte trocken auf. Es war ein gruseliges, boshaftes Lachen, dass alle Anwesenden kurz Gänsehaut verpasste.

„So ist das also.“ brummte er schließlich und sein Blick verharrte auf seinen Sohn, der unter dem weißen Haar nun noch röter anlief. „Hätte nicht gedacht, dass er sich jemals jemanden so anhänglich zeigen würde. Schließlich hat er seine Mutter nach der Geburt gefressen.“ haute das Alphatier raus und jedes Gespräch kam für kurze Zeit zum Erliegen. Mirai und Akira blickten leicht schockiert zu dem Jungen. Selbst Anna konnte ihre Fassungslosigkeit nicht verbergen. Dann erinnerte sie sich aber an den Geschmack von Eisen und Blut, als sie Shiro zum ersten Mal gesehen hatte. Sie musterte den Jungen. Er hatte nie vergessen, was er getan hatte. Es hatte ihn die ganze Zeit geplagt. Man konnte leicht sagen, dass dieses sonst so ausdruckslose Gesicht nun von Sorge, Angst und Scham erfüllt war. Angst davor, dass Anna ihn jetzt nicht mehr lieben würde. Doch dann fand er den Mut, die nächsten Worte zu sagen:„Sie ist anders. Ich mag sie.“ Und Anna konnte nicht anders – Sie zog Shiro an sich heran und umarmte ihn noch fester, als zuvor. Er war einfach zum Sterben süß.

„Mir egal, wer deine Mutter ist. Aber wenn sie es sein soll, ist es wahrscheinlich die beste Wahl.“ kommentierte der riesige Wolf brummig und begann, aus der riesigen Schale zu trinken, die gefüllt mit dem besten Schnaps des Hauses Wukong war. Nun reichte man auch Anna und Akira Alkohol, Shiro verweigerte sich allerdings nach dem letzten Abend.

Während Anna immer wieder um Shiros Aufmerksamkeit und Kuscheleinheiten kämpfte, begannen die anderen Anwesenden zu tanzen und zu singen. Selbst die Wölfe, die zu eitel und zu stolz schienen um zu tanzen, gaben sich dem Alkohol und der Musik hin. Auch der Alpha lächelte den Abend hinweg durch. Nach einigen Stunden schaffte Shiro es endlich, sich von Anna los zu reißen und verwandelte sich mit einem „Puff“ zurück in einen Wolf, um schneller wegrennen zu können und ließ eine enttäuschte Anna zurück.

„Ich glaube, er ist so tränenreiche Abschiede nicht gewöhnt.“ erklärte ihr Mirai mit einem schmerzhaften Lächeln, als Anna zu schmollen begann. Sie stützte ihre Hände in ihr Gesicht und sah den Feierwütigen beim Tanzen zu. Doch allzu lange konnte sie in dieser Position nicht verharren – Mirai zog sie mit einem Ruck auf ihre Beine und zwang sie zu dem, was sie letzte Nacht nicht tun wollte: mit ihm zu tanzen. Er zog sie zum Lagerfeuer und begann dann, ihre Hände in die Luft zu heben und sie zu schwenken, während sich beide ab und an im Kreis drehten. Die Bewegung tat Anna gut. Irgendwann musste Mirai sie nicht mehr zwingen – sie begann zu tanzen. Mit ihm, mit den Affen, mit den Wölfen. Langsam hatte sie wieder Spaß an dem Abend. Mirai zog an ihrer Hand, sie drehte sich in seinem Arm ein, gab sich Mirais Tanzschritten hin und hüpfte mit ihm ums Feuer, während viele der Gäste zu klatschen und gröhlen begannen. Auch Akira klatschte und gröhlte, bis er sich nicht mehr zurück halten konnte und Mirai ablöste. Dann tanzte er mit Anna und führte sie mit großen Bewegungen ums Feuer. Anna konnte sich nicht erinnern, jemals so ausgelassen getanzt zu haben.

Schnaufend ließ das Mädchen sich nach einer Weile, die ihr wie Stunden vorkam, auf ihren Platz zurück sinken. Shiro und Alpha waren irgendwo hin gegangen und das Feuer beleuchtete in der eingetretenen Dunkelheit nur spärlich Annas Sitz. Sie schwitzte. Ihr Kimono war komplett durcheinander und aufgelockert, doch das störte sie gerade nicht. Sie ließ den Stoff mit ihrer Hand an ihrer Brust auf und ab flattern, um etwas der kühlen Luft an den Schweiß getränkten, bebenden Torso zu lassen. Grinsend schaute sie der Masse an ungewöhnlichen Wesen zu, wie sie zusammen tanzte, lachte und trank. Es war ein Bild für die Ewigkeit.

Die Stimmen erlagen langsam der Nacht. Viele der Affen hatten sich zurück gezogen, auch die Wölfe rissen langsam aber sicher die Mäuler zum Gähnen auf. Akira sprach immer noch mit Silver über dessen altes Zuhause in Europa. Shiro lag schweigend neben dem Rothaarigen. Seine Augen blinzelten müde und suchten nach Anna. Diese wurde gerade von Mirai gefragt, ob sie nach Hause gehen wollten. Shiro stand auf und tappste zur Blondine hinüber, ehe sie Mirais Frage beantworten konnte.

„Schätze, ich lass euch noch mal etwas alleine.“ lächelte der Affenkönig verständnisvoll, wuschelte dem Jungen durch das weiße Fell und gesellte sich zu Akira und Silver.

Shiro führte Anna etwas tiefer in den Wald, um mit ihr alleine sein zu können. Er war wieder in Menschengestalt. Sein weißes Haar schimmerte angenehm wie frisch gefallener Schnee im Mondlicht. Er hielt ihre Hand und sie war angenehm warm, wenn auch rau. Anna wusste, dass sie diese Hand nicht so schnell wieder spüren würde, und kostete jede Sekunde dieses Moments aus.

Zwischen drei großen Bäumen blieb Shiro stehen. Es dauerte eine Weile, bis er den Mut gefunden hatte, sich umzudrehen, Anna anzuschauen und sie zu umarmen. Er ging ihr gerade mal bis zum Kinn, weshalb er seinen Kopf in ihrer Brust vergrub. Sie spürte, wie seine Tränen auf ihre Haut fielen. Er schluchzte leise. Anna kämpfte mit ihren eigenen Tränen. Sie drückte den Kopf des Kindes an sich und schloss die Augen. Ihr Herz schmerzte bei dem Gedanken, ihn nicht wieder zu sehen. Shiros Gedanken sickerten in das Mädchen ein und sie waren so klar, wie noch nie. „Ich hab' dich lieb. Ich werd' dich vermissen. Ich hab' dich lieb. Ich werd' immer an dich denken.“ Sie drehten sich im Kreis. Immer wieder hörte Anna diese Worte in allen Formen und Variationen. Sie wusste nicht, wie lange sie da standen und sich in den Armen hielten. Annas Tränen kullerten über ihre Wangen auf das schneeweiße Haar, die sie dann aber schnell wegwischte. Irgendwann ließ Shiro sie los. Annas Hände fuhren über seine Wangen und trockneten die letzten der Tränen.

„Du kommst einfach vorbei, wenn du Lust hast, okay?“ flüsterte sie leise und gab ihrem Jungen einen kleinen Kuss auf die Stirn. Zu Boden starrend nickte er, nahm ihre Hand und führte sie zurück zum Platz, wo die anderen bereits auf sie warteten.

Der Junge verabschiedete sich von Mirai und Akira sehr viel knapper und emotionsloser, als er es bei Anna getan hatte, und folgte Silver schließlich zurück in die Wolfsunterkunft. Anna und die zwei Jungs traten den Heimweg an.

„Du bist 'ne ganz schöne Heulsuse.“ kicherte Akira und deutete auf die geröteten Augen der Blondine.

„Schnauze.“ schniefte Anna beschämt und rieb sich erneut die Augen.

„Ich versteh' das schon, müsste ich mich von dir verabschieden, würde ich wahrscheinlich auch so heulen.“ gab Mirai dramatisch zu und legte seinen Arm um das sehr viel kleinere Mädchen. Akira zischte. Mirai grinste triumphierend zu ihm hinüber, doch dieser zog das Tempo etwas an und kommentierte genervt: „Ich lass' es zu. Immerhin bist du hier der König... Noch.“ Dann ließ er die beiden alleine.

Im Dunkeln war das Gehen noch anstrengender, als im Hellen. Die sowieso schon schmalen und überwachsenen Wege waren in der Dunkelheit kaum wieder zu erkennen. Unbewusst schnappte Anna nach Mirais Hand, als sie langsam unsicher über die Äste lief.

„Du hast das gut gemacht.“ meinte Mirai schließlich und sein warmer Daumen streichelte über Annas Handrücken.

„Danke, aber im Laufen war ich noch nie schlecht.“ entgegnete Anna schroff und hielt den Blick auf den Weg vor sich gerichtet.

„Das mein' ich nicht. Ich meine die Situation mit den Wölfen. Du wirst bestimmt eine gute Königin.“ erklärte sich der Affenkönig. Die beiden hatten das Tempo deutlich verlangsamt wegen dem unsicheren Weg. Anna hielt kurz inne. Sie wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte. Das Knacken der Äste unter ihrem Gewicht wirkte zu laut in dieser stillen Nacht. Kein Wind regte sich, kein Säuseln der Baumkronen, kein Rascheln in den Büschen und Blättern.

„Anna...“ auch Mirai versuchte, Worte zu finden und blieb schließlich stehen. „Du weißt, dass ich ernst mache oder?“ Seine Worte lösten ein Erdbeben in ihrer Brust aus. Sie hob den Blick von den zerknickten Ästen und zertrampelten Blättern, um Mirai anzusehen. Erst schwieg sie. Scham stieg in ihre Wangen und machten ihr das Antworten schwer. Dann sagte sie schließlich:

„Das wusste ich schon die ganze Zeit.“ Ihre Lippen zitterten bei dieser Antwort. Die Hand, die ihr gerade noch Halt gab, zog nun an ihrem Arm. Mirais großer, harter und warmer Oberkörper presste plötzlich gegen Annas Gesicht. Seine Arme drückten sie merkwürdig angenehm gegen ihn und ließen sie nicht mehr los. Sie hörte, wie heftig sein Herz gegen die Rippen schlug, als sie so an ihm lehnte. War er wirklich so aufgeregt? Wenn ja, steckte es an. Hitze explodierte in Annas Gesicht, doch sie schwieg. Auch Mirai schien nicht zu wissen, was er eigentlich damit ausdrücken wollte. Das Gewicht seines Kopfes lastete auf ihrem, während er sich an sie schmiegte. Der Geruch von Alkohol drang in Annas Nase. Sie wollte tief Luft holen, um sich zu beruhigen, schaffte es aber kaum in dieser festen Umarmung. Ihr Herz flatterte.

„Ich zwing' dich zu nichts. Ich weiß, dass du kein Mensch bist, der sich halbherzigen Bekundungen hin gibt.“ Seine Stimme war ein Flüstern geworden. Seine Worte waren wie kleine Feuerwerke, die an ihrem Ohr explodierten. Sein Körper entfernte sich langsam und gab Anna wieder die Freiheit, etwas tiefer einzuatmen, als vorher. Er musterte sie, während ihre Brust sich langsam hob, um die kühle Nachtluft einzuziehen. Er hatte diese Nervosität schon einmal gesehen – es war mehrere Wochen her, doch hier in der Nähe hatte sie ihm damals als Entschuldigung einen Kuss gegeben. Ein kleiner, zarter Kuss auf die Wange, der ihn daraufhin süchtig danach gemacht hatte. Er dachte an die süßen, weichen Lippen Annas. Während sein Blick von ihrer Brust zu diesen wanderten, die im Mondlicht leicht glänzten, bemerkte der Affenkönig, dass sich ihre Augen nun trauten, seinen Blick zu erwidern. Sie schaute ihn an. Ihre blauen Augen waren hier so dunkel wie die Nacht selbst. Der Mond spiegelte sich in ihnen wieder und machten sie damit sehr, sehr viel größer und leicht einschüchternd, als sie Mirai so erwartungsvoll anstarrten.

„Liest du meine Gedanken?“ fragte er leise. Seine Hände ruhten immer noch auf ihrem Rücken.

„Ich hab' dir gesagt, es funktioniert nicht, wenn ich nervös bin.“ gab Anna noch leiser zu.

„Wieso bist du nervös?“ fragte Mirai nun weiter nach und ein Anflug eines neckischen Lächelns zeigte sich in seinem Gesicht.

Anna schwieg verbissen und begann, noch röter zu werden. Beschämt schaute sie zur Seite. Mirai beugte sich vor. Er roch nach einer Mischung aus Sake, Kräutern und Zederholz, als er ihr so nahe war. Seine Lippen legten sich auf ihre Wange. Es war nur eine kurze Berührung, wie ein vereinzelter Regentropfen, der vom Himmel fiel, dennoch schien sie für eine Ewigkeit anzuhalten. Annas Wange fing fast Feuer. Schnell huschten ihre Finger über die Stelle, die er geküsst hatte, als wollte sie es löschen. Mirai grinste kurz bei diesem Anblick.

„Lass uns nach Hause gehen, bevor Akira vor Eifersucht platzt.“ lachte er dann, ließ Anna los und griff nach ihrer Hand, um sie weiter durch die Dunkelheit zu führen. Nach einigen Minuten des beschämten Schweigens schaffte es Anna aber schließlich doch, das Gespräch fortzuführen:

„Ich glaube kaum, dass er eifersüchtig ist.“ Es war eher ein Murmeln.

„Doch, glaub' schon.“ entgegnete Mirai daraufhin knapp und schien kurz zu überlegen. „Er zeigt es nur nicht so gut.“ Annas Herz machte erneut einen Hüpfer und sie fühlte sich leicht schuldig. Sie war mit Mirai unterwegs, warum dachte sie dann an Akiras Kuss? Mirais war nicht mal Minuten her…

„Du brauchst nichts sagen.“ Mirai klang, als würde er ahnen, woran Anna dachte. Hatte Akira ihm von den Kuss erzählt? Oder war es nur so offensichtlich, dass sie darüber nach dachte? Wahrscheinlich war es eher Paranoia. Woher sollte Mirai es denn wissen können?

Die beiden kamen an den Steintreppen an, die zum Palast führten. Langsam und vorsichtig erklommen sie eine Stufe nach der anderen, denn die Treppe hatte kein Geländer und wirkte in der Nacht dreifach so gefährlich, wie am Tag. Sie erreichten den Palast. Fast alle Lichter waren gelöscht worden, nur hier und da gaben ein paar Kerzen noch den Weg zu den Schlafräumen preis. Mirai führte Anna zu ihrem Zimmer, ehe er sich für die Nacht verabschiedete und verschwand. Anna fiel aus ihrer Kleidung, schlüpfte in ein Shirt ihres Bruders und legte sich ins Bett. Kein Schnaufen, kein Schnauzelecken und keine Bewegungen, um sich bequemer hin zu legen waren zu hören. Die Schritte Mirais verhallten. Das Haus lag im Schweigen. Und das erste Mal seit langer, langer Zeit fühlte sich Anna wieder einsam.

Der nächste Tag war hektisch und aufregend. Viele Leute waren am frühen Morgen schon unterwegs, um alles für die Abreise von Akira und Anna vorzubereiten. Mirai würde weiterhin auf dem Berg bleiben, um ein paar Details mit Silver absprechen zu können, weshalb er im Gegensatz zu den anderen ausschlafen konnte. Nicht so Anna und Akira: Mit einem lauten Klopfen wurden die beiden aus dem Schlaf gerissen und dazu getrieben, sich anzuziehen und ihre Sachen zu packen. Ehe sie sich versahen und ohne nochmal Mirai zu Gesicht zu bekamen, saßen die beiden schon verdattert und müde im Zug.

Anna seufzte, legte ihre Tasche vor sich ab und schloss die Augen. Auch Akira gähnte halbherzig vor sich hin, legte dann jedoch seinen Arm um sie und verharrte in dieser Position. Zuerst wusste nicht, was Anna tun wollte. Sie dachte an Mirai und seinen Kuss. Und dann an Akira und dessen Kuss. Und dann entschied sie, dass sie zu müde war, um noch über irgendetwas eine Entscheidung zu treffen, lehnte sich bei Akira an und schlief, bis sie ihre Station erreicht hatten.

Mit einem kurzen Umweg über Annas Haus machten sich die beiden mit Adam, den sie dort eingesammelt hatten, ohne weitere Umschweife zur Schule auf. Anna begann von dem Wochenende zu erzählen.

„Also hat alles geklappt, ja? Du hättest allerdings nicht gleich für sie bluten müssen.“ fügte Adam murmelnd hinzu, zog Annas Hand zu sich und begutachtete sie deutlich. Es war keine Wunde zu sehen, die Fingerkuppe war nicht einmal mehr rot.

„Alles gut.“ Anna zog ihre Hand zurück. „Ich glaube, es war richtig so.“

„Naja. Und Küsse?“ wollte Adam nun wissen. Anna druckste ein bisschen um die Antwort.

„Mirai hat mich auf die Wange geküsst.“ gab sie dann kleinlaut zu und stahl sich einen Blick auf Akira, der neben ihnen her lief. Dieser beobachtete die Geschwister, schien aber wenig interessiert an dem Kuss zu sein.

„Solange du ihn nicht geküsst hast.“ Adam klang erleichtert.

„Erzählst du ihm immer alles?“ wollte Akira nun wissen und vergrub seine Hand in der Hosentasche.

„Immer.“ antwortete Anna.

„Alles.“ fügte Adam agrwöhnisch hinzu.

„Oh?“ Akira klang überrascht, doch ein unheilvolles Lächeln klang in seiner Stimme mit. Seine Augen wanderten zu Anna, die den Blick erwiderte, und dann wusste, woran er dachte. DIESEN Kuss hatte Anna Adam verschwiegen. Die ungewollte Röte trat in ihre Wangen, die Anna eigentlich schon abgelegt haben wollte, als sie den Kuss ad Acta gelegt hatte. Als würde Akira ihr Geheimnis spüren, breitete sich sein Grinsen im ganzen Gesicht aus. Doch auch er verschwieg Adam den Kuss.

Es dauerte nicht lange, bis die beiden Jungs begannen über Fußball zu sprechen. Adam hatte Anna mal erzählt, dass er außerhalb der AG keinen Kontakt mit Akira pflegte. Dafür unterhielten sie sich aber ziemlich angeregt.

Sommerferien

Der restliche Monat war gefüllt mit Stress und Prüfungen. Bis Ende Juni würden diese gehen und Anna ließ sich von nichts abhalten, um für sie zu lernen. Fehler wurden nicht geduldet. Dates wurden nicht geduldet. Das schlug vor allem denen auf den Magen, die noch keine private Treffen mit Anna hatten. Toki und Kai waren extrem genervt von der Situation, vor allem Toki war ungewöhnlich frustriert darüber. Doch Anna ließ sich von nichts davon abbringen, ihre Zeit fürs Lernen zu unterbrechen. Auf die Frage hin, ob sie wenigstens in den Sommerferien zusammen Urlaub machen würde, verneinte auch das Anna. Neben der Tatsache, dass Mirai und Liam im Affenreich und Ren auf Geschäftsreise seien würden, wären Anna und Adam auch nicht Zuhause (woraufhin Toki grummelte: „Adam interessiert mich nicht.“). Und so brach der erste Ferientag an. Anna hatte ihre Prüfungen gemeistert und war auf gutem Wege, in die nächste Jahrgangsstufe zu kommen. Sie würde dann in der zweiten Klasse der High School sein.

Am frühen Morgen hatten die Geschwister ihre Taschen schon Abreise bereit und die kleine Schwester brachte ihren Koffer zum Gartentor, an welchem ein bekannter, roter Haarschopf zu sehen war.

„Was machst du denn hier?“ fragte Anna überrascht, als Akira sie angrinste.

„Ich dachte, wir könnten zusammen Fußballspielen gehen. Natürlich mit deinem Bruder.“ fügte er winkend hinzu, als Adam Anna aus der Haustür folgte. Der Junge lehnte auf dem eisernen Tor und ließ von einer Hand zur anderen einen Fußball über das Metall rollen.

„Wir werden gleich abgeholt...“ seufzte Anna leicht gequält als sie daran dachte, wie ihre „Ferien“ aussehen würden. Akira verzog das Gesicht zu einer frustrierten Miene.

„Ernsthaft? Es ist gerade mal acht Uhr, ich dachte, ich könnte wenigstens noch heute morgen etwas Zeit mit euch verbringen.“ schnauzte er genervt.

„Ja, ich wunder' mich sowieso, wie du's geschafft hast, so früh aufzustehen.“ lachte Anna.

Ein Wagen fuhr vor, der Blick der drei Jugendlichen schwenkte vom Gespräch zu dem schwarzen Van. Akira zog die Augenbrauen hoch, seufzte dann kurz und wandte sich wieder an Anna. Er hatte das liebste Lächeln auf den Lippen, das Anna bisher gesehen hatte.

„Na dann viel Spaß.“ Er verabschiedete sich. Annas Körper versteifte sich merkwürdig. Ihr Griff umklammerte den Henkel ihres Koffers. Sie dachte nach. War es das? Einfach 'Viel Spaß' ? Jetzt, wo sie darüber nach dachte, hatte Akira sich sowieso nicht viel Mühe hinsichtlich ihrer Person oder Beziehung gemacht. Würde er sie einfach gehen lassen? Würde er sie nicht vermissen? Mochte er sie überhaupt?

Als wüsste Akira genau, was in Annas Kopf vorging, streichelte er ihr sanft über diesen und grinste sie an. „Guck' nicht so.“ Anna wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. „Vielleicht schreib' ich dir ja.“ fügte er neckisch hinzu, ehe er das Tor öffnete und Anna und Adam ihrer Wege gehen ließ.

Es war heiß. Die Luft war stickig und angespannt. Die Fahrt dauerte Stunden. Als sie endlich am Ziel angekommen waren, war es bereits Nachmittag. Hier, beim Haus ihrer Tante und Onkels, schien die Juni Sonne kaum durch die dichten Baumkronen hindurch kriechen zu können. Das Haus an sich war alt und wenn es auch gut gepflegt aussah, schien es, als wäre es verflucht. Als der Fahrer den Geschwistern ihre Koffer gab, standen bereits zwei langgezogene, schmale Personen vor ihnen.

„Hallo Adam.“ Die kühle Stimme der Frau schien wie ein kalter Windzug zu sein. Plötzlich zeigte sich ein Lächeln auf den Lippen dieser Person: „Und hallo Anna, meine Liebe.“

„Hallo Tante.“ entgegnete die zukünftige Königin etwas steif. Ein junger Mann trat heran, um Anna den Koffer abzunehmen. Auch ihr Onkel begrüßte die beiden nun und führte sie ins Haus.

Es gibt nicht viel über den Aufenthalt der beiden Geschwister bei ihren Verwandten zu erzählen. Anna und Adam verbrachten ihre Tage meist getrennt: Während Anna tagsüber über die Profession einer Königin lernte, verbrachte sie ihre Nächte in einem stockdunklen Zimmer. Sie musste eine Kerze in den Raum bringen, um nichts umzuwerfen und musste dann auch das letzte bisschen Licht in dem Raum löschen. Sie lernte über die vergangenen Königinnen: Zero, Kalista und Charlotte.

Zero war die erste Königin, von der man wusste. Niemand kannte ihren richtigen Namen und ohne die aus ihr entstanden Schattenmenschen hätte wohl keiner jemals von ihr erfahren. Ihr Aussehen, Alter und Tod waren unbekannt. Es war nicht einmal klar, was sie in der Welt bewegt hatte oder ob sie jemals verliebt gewesen war. Sie gebar wohl ein Kind, doch ihre Blutlinie ist nach wenigen Generationen ausgestorben. Die Alten der Schattenmenschen, die aus ihrer verbliebenen Macht geboren wurden, berichten aber, dass sie die Schönste aller Lebewesen gewesen war. Ihre Macht war bis zu ihrem Tod ungebrochen und deshalb wären sie, die ältesten der Schattenmenschen, auch die stärksten und bis zum heutigen Tage unsterblich.

Die nächste Königin hieß Kalista. Auch sie war von unbändiger Schönheit gepriesen. Von Geburt an hatte sie die Macht, Menschen zu verzaubern und nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Nie war es jemandem in den Sinn gekommen, sie als Menschen zu betrachten: Sie war eine Nymphe, die sogar als Göttin angepriesen wurde. Es gab wohl nur einen, der es jemals geschafft hatte, ihr Herz zu berühren: Artemis. Zeus, der Göttervater, wie hypnotisiert von der Nymphe, verwandelte sich in diesen und verführte Kalista. Daraufhin gebar sie sein Kind, Arcas. Hera, die Geliebte des Göttervaters, wurde so wütend und eifersüchtig, dass sie Kalista in einen Bären verwandelte, hässlich, gefährlich und ungeliebt. Lycaon, der König der Region, in der Arcas versteckt worden war, wollte den Sohn der beiden dann als Opfer auf einen brennendem Altar sterben lassen. Zeus rettete das Leben Arcas und verwandelte Lycaon in den ersten Werwolfen. Anna konnte daraus nur schließen, dass Kalista zwar schön, aber nicht unbedingt stark gewesen war. Oder war es so, dass Götter immer stärker sein würden, als die Königin der Dunkelheit? Bei dem Gedanken wurde Anna ein bisschen unwohl.

Die letzte Königin, Charlotte, war wohl pures Chaos. Schön und mächtig, ja, aber unzähmbar. Das gefiel Anna. Sie war die erste Königin, für die eine Bräutigam-Show gestaltet wurde. Sie hätte jeden einzelnen von ihnen verführen können, ob es nun Götter, Prinzen oder Dämonen gewesen waren. Allerdings gab es keinen einzigen, den sie hätte lieben können. Zu ihrem 18. Geburtstag, als sie sich immer noch weigerte, jemanden als Mann anzuerkennen (oder auf Frauen auszuweichen), geschah dann das Unvorstellbare: Das Tattoo, als Zeichen der Macht, die im Körper innewohnt, wandte sich gegen den Besitzer: Es verschlang ihren ganzen Körper. Anna hatte Charlotte im Hauptgebäude gesehen. Man konnte kaum noch einen Flecken ihrer Haut erkennen, so schwarz war ihr Körper geworden. Sie strahlte immer noch eine unheimliche Lebendigkeit aus. Ihre Augen waren milchig weiß gewesen, ihr Haar im Kristall und Glas ausgebreitet wie ein riesiges Spinnennetz, in dem jeder, der zu lange hingucken würde, gefangen werden würde. Adam hatte seiner Schwester schon öfter erzählt, dass das nur ein Mythos sei, um die jungen Schatten einzuschüchtern, und dass Charlotte längst fort sei.

„Nur noch ihr Körper ist da.“ versicherte er ihr. Aber Anna war sich nicht so sicher. Manchmal, wenn sie alleine durch die Gänge streifte, um dem Lesen zu entgehen, hörte sie Geflüster. In seltenen Fällen fand sich das Mädchen vor Charlotte wieder, wo deren milchig weißen Augen auf sie fixiert waren.

Wie Königinnen nun eigentlich entstanden, wusste allerdings niemand. Ob es nun eine gewisse Sternenkonstellation sei, wie bei Anna oder die Sünden der Menschheit das Miasma in der Luft einem Körper gaben; es waren nur Gerüchte. Es gab keine Beweise.
 

Die Tage verstrichen. Sie wurden zu Wochen des Geschichten Lesens und Manieren Lernens. Die Nächte waren kurz und undankbar: Jedes Jahr musste Anna in diesem Raum verbringen, in dem es kein Licht gab. Sie hatte sich irgendwann damit abgefunden, als ihr mehrmals erklärt wurde, dass der Raum einen minimalen Teil ihrer Energie aufnehmen würde. Man wollte dem Fiasko mit Charlotte, wegen der keine Nachkommen entstanden waren, aus dem Weg gehen, und begann bereits jetzt, Miasma und Energie der Königin zu sammeln. Doch dieses Jahr war anders. Einige Flecken im Raum schienen schwarzer zu sein, als andere, selbst wenn man in diesen auch nichts von der Umgebung erkennen konnte. Nachts, wenn Anna dann die Augen schloss um zu schlafen, begannen die Stimmen. Es waren keine Sätze, es waren höchstens Wörter, meist aber nur Wortfetzen. „Hunger“, „kalt“ und „Wo?“ waren die Sachen, die sie in den ganzen Nächten erfahren konnte. Wie sollte man so etwas deuten? Konnte Anna sie hören, weil ihre Kräfte gewachsen waren und sie nun Gedanken lesen konnte, ohne jemandem in die Augen blicken zu müssen? Sie wollte Adam davon erzählen, doch sobald sie den Mut gefunden hatte, ihn darauf anzusprechen, sah sie ihn nicht mehr. Ihr Bruder ging ihr aus dem Weg, so schien ihr, auch wenn er sehr beschäftigt mit seinem Training war. Tante und Onkel vertraute sie nicht genug, um ihnen zu erzählen, was nachts in diesem Raum vor sich ging. Und so blieb Anna mit ihren Sorgen alleine.

Es war nur in dieser einen Nacht, das alles sich änderte.

„Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh.“ Das Flüstern, das sie abends in den Schlaf jammerte, hallte nun gefährlich in ihren Ohren wieder und rüttelte Anna wach. Nackter Schweiß bildete sich in ihrem Rücken. Das Atmen wurde schwer. Die Stimmen wurden lauter. Sie blickte sich um: Nichts als Schwarz. Keine Augen, keine Münder, keine Gestalten, die die Stimmen erklären könnten. Doch das Mantra fuhr fort: „Geh. Geh. Geh.“ Waren die Stimmen in ihrem Kopf? Oder sprachen sie wirklich mit Anna? Bildete sie sich das alles nur ein? Es wurde lauter. „GEH. GEH. GEH.“ Klirren. Etwas rutschte über den Boden. Ihr Handy, das neben ihr lag, fing an zu vibrieren und das fahle, neongrüne Licht entblößte die Umgebung. Augen in schwarzem, flüssigem Schatten. Manchmal hoben sich runde Gestalten ab, die den Augen Besitzer verliehen, zerfielen dann aber wieder in schwarzen Dunst. Anna stockte der Atem. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, befahl ihr mit all ihrer Kraft aufzustehen und weg zu rennen, doch sie blieb sitzen und starrte auf die schwarze Masse an Energie, der sie wohl Leben verliehen hatte. „Zeit. Zeit. Zeit. Zeit.“ Die Stimmen veränderten ihre Worte. Sie hallten in Annas Ohren wieder, als würden sie ihr Befehle erteilen. Unweigerlich blickte das Mädchen auf die Uhr ihres Handys. 06:13 Uhr. „Geh. Geh. Zeit. Zeit.“ Nun konnte man hören, wie mehrere Sachen über den Boden schleiften: Tasche, Handy, Portemonaie, Kleidung, alles, was Anna mitgebracht hatte, wurde an einen Ort geführt. Nur Anna bewegte sich nicht. Das Licht des Handys starb. Das Mädchen spürte, wie die Masse sich erhob und wuchs. Sie erreichte die Decke, wollte Anna verschlingen. Die Stimmen, ein einstiges Flüstern, wurden zu einem tiefem, einstimmigen Brummen. Es war so tief, so bedrohlich, als würde man sich Silver zum Feind machen.

„GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH.“ Das Geschrei hämmerte in ihren Ohren. Mit einem erstickten Japsen sprang Anna auf, griff sich die umliegenden Klamotten und ihre Wertgegenstände und rannte zur Tür. Doch die Schatten hielten sie fest. Totenblass drehte sich das Mädchen um. Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus. Eine letzte Sache rutschte über den Boden. Es hatte keinen Glanz in dieser Dunkelheit, Anna konnte nicht ausmachen, was es war. Sie beugte sich hinunter, um es aufzuheben und spürte wie kaltes, dickes, schleimiges und schwarzes Nichts es ihr in die Hand drückte. „Geh. Geh. Geh. Geh. Keine Zeit.“ Das Schwarz drückte sie in den Türrahmen und dann, als wäre die klamme Lähmung verschwunden, rannte sie. Sie rannte wie schon lange nicht mehr.

Schattenmenschen, die sie eigentlich hätten begrüßen sollen, stellten sich ihr in den Weg. Manche wollten kämpfen. Manche riefen andere als Verstärkung. Doch Anna hielt nichts auf: Sie rannte. Alles was in ihrem Weg stand wurde entweder umgangen oder umgestoßen. Dazu zählten auch Personen. Sie wusste nicht, wieso, aber etwas an dieser Warnung hinterließ einen bleibenden, scharfen Geschmack in ihrem Mund. Sie musste verschwinden. Sie wusste nicht, wieso. Wo war Adams Zimmer? Wenn sie in Gefahr war, war er es wahrscheinlich auch. Sie konnte nicht ohne ihn gehen.

Doch je tiefer das Mädchen ins Haus rannte, desto mehr Gegner stellten sich in ihren Weg. Ein Mann packte sie an ihren Haaren, riss und zerrte daran. Anna begann zu schreien. Es waren nicht einmal Worte, es war nur ein schriller, unglaublich lauter Schrei, der den Mann anscheinend so schockiert hatte, dass er sie los ließ. Anna hatte noch nie so geschrien; Sie musste es noch nie. Ihr Rücken brannte und das Mädchen hatte das Gefühl, dass er jeden Moment aufplatzen würde. Sie konnte hier nicht bleiben. Sie musste Adam zurück lassen.

Ihre Kehle brannte. Anna wusste nicht, woher sie die Kraft hatte oder wo sie war. Es dämmerte. Sie war ohne Halt gerannt. Die Wälder und Hügel, wo das Haus stand, hatte sie verlassen. Sie war irgendwo in irgendeiner Stadt. Kalter Schweiß rann den heißen Körper hinab. Nur in T-Shirt und Leggins gekleidet kämpfte sie sich die letzten Meter zu einer Taxi-Haltestelle. Sie musste nach Hause.

Die Fahrt dauerte Stunden und kostete ein kleines Vermögen. Auf dem Weg rief das Mädchen ihre Mutter an, auch wenn es mitten in der Nacht gewesen war. Dann rief sie ihre Freunde an, um die zu fragen, ob sie Adam erreichen könnten, denn Anna traute sich nicht, dort anzurufen. Doch was erwartete sie, als sie ihre Kontaktliste durch ging? Sie rief Yuki an. „Der von Ihnen angerufene Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen.“ Sie rief Mika an. „Der von Ihnen angerufene Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen.“ Sie rief Kiki an. „Der von Ihnen angerufene Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen.“

Das Herz, das sich erst gerade beruhigt hatte, hämmerte nun wie ein Vorschlaghammer gegen ihre Rippen. Anna drehte sich der Magen um. Sie wollte brechen. Ob vor Erschöpfung oder vor Angst, war ihr egal. Sie wollte es raus lassen. Ihre Hand hielt sich ihr den Mund zu, zwang sie, ihren Mageninhalt bei sich zu behalten. Was war mit den anderen? Sie wählte Liams Nummer. Während die Wahltöne in ihrem Ohr wieder hallten, betete sie zu Gott, er möge ran gehen. „Der von Ihnen angerufene Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen.“ Das konnte nicht stimmen. Sie wählte Tokis Nummer. „Der von Ihnen angerufene Teilnehmer ist zur Zeit nicht zu erreichen.“ Mirai. „Der von Ihnen angerufene Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen.“ Ren? „Der von Ihnen angerufene Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen.“

Die Worte, die die mechanische Ansage von sich gab, waren wie Messerstiche. Bei jedem weiteren Wort hätte Anna laut los schreien können. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Wieso? War das nur ein Traum? Sie konnte sich nicht zurück halten. Die Tränen purzelten über die verdreckten und verschwitzten Wangen. Anna wischte sich mit dem Arm den Rotz von der Nase weg und hustete. Ihr Hals war zu trocken vom ganzen Rennen, um richtig atmen zu können. Ihre Stirn war heiß. Ihr Rücken schmerzte immer noch und pochte unter dem leichten Shirt bedrohlich. Sie fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und über die Stirn, um den Schweiß in ihren Pony zu reiben. Das konnte nicht wahr sein. Du musst dich beruhigen. Sie wählte Kais Nummer. Sie hatte ihn noch nie angerufen, doch Ren, der darauf beharrte, dass alle gleich berechtigt wurden, hatte ihr die Nummer aller Heiratswilligen eingespeichert. Es klingelte. Und es klingelte weiter. Und weiter. Kai ging nicht ans Handy. Anna zog die Nase hoch. Ohnmacht befiel sie, doch sie bekämpfte diese so gut es ging. Es konnte nicht sein. Es konnte einfach nicht sein, dass keiner von ihnen erreichbar war. Die letzte Nummer. Annas Herz füllte sich mit der letzten Hoffnung, die sie noch hatte, und gleichzeitig mit Panik. Was, wenn er nicht ran gehen würde? Was, wenn die mechanische Ansage ihr wieder das Leben zur Hölle machen wollte? Sie wählte Akiras Nummer. Das Tuten ließ Anna in ungeduldiger Atemlosigkeit warten. Es klingelte weiter. Und weiter. Dann fühlte Anna erneut, wie Tränen ihre Wangen befeuchteten. Ihre Stimme wurde selbstständig. Akira klang müde und verschlafen, als wäre er durch das Klingeln aufgewacht. Doch sein „Hallo“ war genau so liebevoll und freundlich, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte.

Das erste, was Anna sah, als das Taxi vor ihrer Haustür vor fuhr, waren die Lichter in Küche und Wohnzimmer. Dann erst sah sie die Gestalt am Tor. Akira stand in Shorts und Shirt da, als hätte er sich gar nicht erst umgezogen – er trug sogar noch Hausschuhe. Das Mädchen bezahlte den Taxifahrer, in dem sie ihm zitternd ihre EC-Karte hin hielt und wieder in Empfang nahm. Dann stieg sie aus. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie keinen BH trug. Ihre Haare waren fettig und zerrupft vom Rennen. Ihre Füße waren schmutzig und geschunden. Wahrscheinlich hatte sie auch ein paar Zecken an ihren Beinen. Doch nichts konnte sie in diesem Moment halten: Sie ging auf Akira zu und drückte sich an ihn, während der Taxifahrer wieder weg fuhr. Sie zitterte am ganzen Leib. Akiras Hand legte sich auf ihren Kopf. Behutsam fuhr die Hand über ihre Haare, zu ihrem Rücken. Dieser zuckte unter der Berührung kurz auf. Doch Anna weinte nicht. Sie konnte nicht mehr. Ihre Beine würden jeden Moment unter ihr nach geben, würde sie auch nur eine weitere Träne verlieren. Wortlos legte der junge Mann seinen Arm um das Mädchen und brachte sie zur Haustür. Er klingelte. Ihre Hände ließen ihn nicht los. Er wusste nicht, was los war. Anna konnte keine klaren Sätze am Telefon formulieren, geschweige denn erklären, was überhaupt passiert war. Ihr Schluchzen war so kratzig und heiser gewesen, dass er sie wahrscheinlich eh nicht verstanden hätte.

Eine sehr verstörte, dürre Frau öffnete den beiden die Tür. Sie fiel Anna um den Hals, ohne nur zu bemerken, dass Akira noch an ihr hing. Es war kein Moment für Worte, auch wenn Annas Mutter damit überschwappte. Ihre Stimme bebte vor Sorge und Angst um ihre Tochter. Sie führte Anna – und letztendlich auch Akira – ins Wohnzimmer und begann, das Mädchen mit einer Decke warm zu rubbeln.

„Du bist ja eiskalt, Kind!“ flüsterte sie besorgt und rubbelte noch fester. Akira sah, wie Anna auf ihre verdreckten und aufgekratzten Knie starrte. Sie fing an zu weinen. Er ahnte es. Er hatte sich auf das Sofa gegenüber von den zwei Frauen gesetzt und beobachtete mit ruhiger Miene die Situation. Ihre Hände krallten sich in die zerrissene Leggins. Ihre Lippen formten Wörter, doch ihre Stimme kam nicht aus dem Mund hervor. Die Worte der Schatten übernahmen ihre Gedanken. Sie konnte nicht klar denken, ihre Sätze überschlugen sich in ihrem Kopf und wurden letztendlich alle nicht ausgesprochen. Akira hatte sein Gesicht auf seiner Hand abgestützt. Sie spürte seinen musternden Blick, wie er sie anstarrte, beobachtete, beurteilte. Sie fühlte sich nicht sicher. Die Decke, die ihr Wärme schenken sollte, raubte ihr nun die Luft zum Atmen. Ihr Herz schlug schneller und schneller und schien jeden Moment aus ihrer Brust zu springen. Beruhig' dich. Beruhig' dich. Doch all diese Versuche, sich bei zu bringen, wie man normal atmet, scheiterten.

Eine plötzliche Bewegung ließ Anna zusammen zucken. Akira war aufgestanden und lief um den Teetisch herum, um sich neben Anna zu stellen.

„Frau Kurosawa, vielleicht würde etwas Tee helfen, um sie zu beruhigen.“ sagte er in seiner merkwürdig ruhigen Stimme. Die Mutter nickte überrascht, stand auf und verschwand. Den Platz, den sie zurück gelassen hatte, wurde nun durch Akira gefüllt. Er berührte Anna nicht. Er redete ihr nicht gut zu. Er versuchte nicht einmal zu fragen, was los war. Wieso nicht? Wieso würde er nicht fragen, was sie so aufgebracht hatte? Was sie in solch eine Panik versetzte? Erst jetzt erkannte Anna, dass sie ihn anstarrte. Sie starrte ihm direkt in die Augen, die goldgelb unter dem blutroten Haar glänzten. Und er erwiderte ihren Blick. Dennoch… wieso waren seine Gedanken vor ihr verschlossen?

„Es funktioniert nicht, wenn ich nervös bin.“ blitzte plötzlich durch ihren Kopf. Sie erinnerte sich. Als sie Mirai küssen musste, als er sie geküsst hatte – sie war nervös gewesen. Sie konnte die Gedanken von Mirai nicht erkennen. Wenn Anna sich nun beruhigen würde, könnte sie sehen, was in Akiras Kopf gerade vor sich ging?

Große, warme Arme legten sich um ihren kalten Körper. Akiras Herzschlag puckerte gegen Annas Wange, als er sie an sich drückte. Und plötzlich schwiegen die Stimmen und Sorgen in ihrem Kopf. Plötzlich konnte Anna ihre Hände lockern und schmerzhafte, rote Stellen in ihrem Fleisch, die ihre Fingernägel hinterlassen hatten, machten sich bemerkbar. Ihr Herz hörte auf, ausbrechen zu wollen. Stille füllte das Mädchen aus.

„Shh...“ Akira streichelte über ihre Haare. Er klang so ruhig, so gelassen, als würde er ihr eine Gute Nacht Geschichte erzählen. Er flüsterte ihr liebe, beruhigende Worte zu. Seine Hände schienen ihren Körper zu wärmen: Am Rücken, an den Armen, am Kopf, an den Händen, den Oberschenkeln. Jede Stelle, die er berührte, glühte in lieblicher Hitze auf und hörte auf zu zittern. Das Mädchen zog die Beine an ihren Körper, versenkte ihre Hände in Akiras Shirt und drehte ihren Körper zu dem seinen. Wie ein Igel kugelte sie sich in Akiras Umarmung.

Der Vampir

Als Anna die Augen aufschlug blendete sie die Sonne. Vögel zwitscherten müde unter der Hitze des Mittags und auch die Zikaden machten langsam schlapp. Ihr war warm. Als sie sich aufsetzte, rutschte ihr die Decke vom Rücken. Neben ihr lag ein tief schlafender Akira, welche an der Kante des Sofas lehnte. Sein Arm lag immer noch um ihr. Als sie sich jedoch bewegte, fiel auch dieser von ihr und weckte den Rotschopf unsanft. Er rieb sich die Augen und starrte für einige Sekunden in die Leere, ehe er Anna anschaute. Dann fiel sein Blick auf das andere Sofa, wo Frau Kurosawa schlief.

„Morgen.“ flüsterte Akira leise und ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Alles, was gestern passiert war, prasselte auf Anna ein wie Hagel.

„Akira, wir müssen Adam helfen.“ Sie hustete nach diesem Satz – Ihre Kehle war immer noch trocken und sie schmeckte Blut. „Die Schatten… ich meine, mein Onkel und meine Tante hatten irgendetwas mit mir vor und ich wurde gewarnt und konnte noch gehen, aber ich konnte Adam nicht finden und es wurden immer mehr und ich wusste nicht wohin, also bin ich gerannt und – “ Adam unterbrach Anna mit einer Handbewegung, als sie so schwallartig und ohne Punkt und Komma vor sich hin redete.

„Anna, erzähl' mir ganz ruhig, was passiert ist. Lass nichts aus und lüg' mich nicht an, ich merk' es sowieso.“ Akira hatte sich zurück gelehnt und erneut fühlte Anna sich, als würden seine Augen sich ein Urteil über sie bilden. Deshalb begann sie, so gut es ging, jedes Detail vom gestrigen Tag zu erklären. Ihre Mutter wachte zwischendurch auf und fing an, Kaffee zu machen und beiden Jugendlichen etwas zu trinken und zu essen zu reichen, während Anna erzählte. Stille folgte, als die Erklärung endete, bis Akira seufzte.

„Du bist echt 'ne Heulsuse...“ murrte er, fuhr sich mit einer Hand über die Stirn, um die Haare zurück zu kämmen, und nahm einen Schluck vom Kaffee. Das erntete ihm einen ungläubigen Blick von Anna. Sofort fügte er hinzu: „Pass auf, wir rufen dort an und fragen, was los ist, okay? Und dann fragen wir, wie es deinem Bruder geht. Natürlich kannst du deine Freunde nicht erreichen. Yuki, Mika und Kiki haben dir doch erzählt, dass sie in den Urlaub fahren oder? Und Mirai, Toki und Liam sind im Wald. Du weißt doch selbst, dass da kein Empfang ist. Und Ren ist auf Geschäftsreise. Kai geht nachts seinen Geschäften nach und hat sein Handy generell aus geschaltet..“ erklärte er schnell und legte eine beruhigende Hand auf ihre Schulter. Natürlich. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Wie konnte sie nur denken, dass die Schattenmenschen plötzlich ihre Freunde gefangen hielten? Wieso hatte sie überhaupt gedacht, dass sie IHR etwas antun wollten? Vielleicht hatte sie nur geträumt, dass die Stimmen sie warnten. Vielleicht haben sie ihr auch nur einen Streich gespielt. Vielleicht hat Anna einfach überreagiert?

„Na dann machen wir das jetzt erst mal.“ Motiviert sprang Annas Mutter auf die Füße und holte das schnurlose Telefon, um die Nummer von Adams Mutter und Vater zu wählen.

„Diese Nummer ist nicht vergeben.“ Der Lautsprecher musste nicht an sein, um diese Worte zu hören. Jede kleine Hoffnung, die Anna gerade noch eben gefunden hatte, war nun wieder Grund zur Sorge. Sie spürte wie die beruhigende Hand Akiras nun nervös verkrampfte. Was sollten sie jetzt tun? Was ist passiert?

Das Telefon verschwamm allmählich. Annas Augenlider fielen zu und gaben den Weg frei für neue Tränen. Ihr Schluchzen fand die Stimme wieder, auch wenn sie zerbrechlich und zitternd war. Anna versuchte, ihre Tränen mit den Händen zu stoppen, doch es brachte nichts. Auch Akiras Umarmung half diesmal nicht so gut, wie letzte Nacht.
 

Die Tage vergingen. Die Tränen trockneten. Akira kam mittlerweile jeden Tag vorbei und brachte Sachen zum Spielen mit – ob es nun Fußball oder Basketball, Schnorchel oder Bücher waren, Akira brachte Anna jeden Tag dazu, raus zu gehen und sich auszutoben. Jeden Abend kam das Mädchen dadurch erschöpft und verschwitzt nach Hause, ließ sich müde in die Badewanne fallen und schlief im Bett sofort ein. Es war zwei Wochen her, seit sie von Tante und Onkel weggerannt war. In einer Woche würde die Schule wieder anfangen. Ihre Träume drehten sich diese Nacht nur um Adam. Hoffentlich würde er bald wieder auftauchen. Hoffentlich ging es ihm gut. Hoffentlich musste er nicht leiden. Doch er litt – Anna spürte es mit jeder Faser ihres Körpers. In ihren Träumen war er in Dunkelheit getaucht, konnte nicht atmen und seine Glieder verdrehten sich in alle Himmelsrichtungen. Knacken gebrochener Knochen, sein Schreien. Es riss das Mädchen aus dem Schlaf. Keuchend und schwitzend saß sie kerzengerade in ihrem Bett. Ihr Rücken brannte, als hätte man Säure darüber geschüttet. Sie verschloss ihre Augen mit ihren Händen und holte tief Luft. Reg' dich ab. Es war nur ein Traum.

„Geht es dir gut?“ Das leere Zimmer, das Anna so gut kannte, war nicht leer. Jemand war da. Jemand auf dem Fenstersims beobachtete sie. Sie traute sich nicht, hinzusehen, aber was, wenn es Adam war?

Kai stand besorgt am Fenster, eine Hand zu Anna gerichtet, sich anscheinend nicht sicher, ob es okay war, sie zu berühren. Anna hielt den Atem an und starrte Kai an. Das Licht des Mondes warf tiefe Schatten über seine Gestalt. Das Fenster stand offen, doch wegen der Hitze kam kein kalter Windzug ins Zimmer – tatsächlich schien der Wind mit der Zeit still zu stehen.

„Was… Was machst du hier?“ Anna erkannte ihre eigene Stimme nicht wieder, als sie sprach. Sonst war sie klar und hell, vielleicht ein bisschen piepsig ab und an, aber nie so rau, erschrocken und zerbrechlich, wie jetzt. Kais Blick, der zuerst von Sorge geprägt war, zeigte nun Schuld. Er wandte sich ab und starrte aus dem Fenster. Wollte er jetzt einfach verschwinden? Anna konnte nicht anders, als seine Silhouette anzustarren, als würde sie ihn mit ihrem Blick festhalten wollen. Kai sagte immer noch nichts. Tatsächlich machte er jetzt Schritte auf das Fenster zu. In Windeseile war Anna aufgesprungen und hielt ihm am Handgelenk fest. Als wäre ihre Berührung ein Wespenstich jagte seine Hand von ihr weg, erschrocken sah er das Mädchen an.

„Was machst du?“ fragte er schockiert und nahm einen Meter Abstand zur Königin.

„Was machst DU, frage ich dich!“ entgegnete Anna nun verärgert und schien ihre Stimme wieder gefunden haben.

„Ich passe auf dich, was sonst?“ fauchte Kai im Gegenzug. Stille trat ein.

„Was für ein Aufpassen?“ Anna war sichtlich verwirrt. Kai seufzte und kratzte sich am Kopf. Er schaute zu Boden. Seine schwarzen Augen verschwammen fast mit den Schatten in seinem Gesicht und dennoch konnte Anna sagen, dass ihm etwas peinlich war.

„Akira hat mich gebeten, ab und zu ein Auge auf dich zu werfen. Er hat mir erzählt, was los war, und natürlich mache ich mir auch Sorgen.“

Anna war baff. Sie konnte es nicht glauben. Immer noch das eben Gesagte verarbeitend ließ sie sich auf ihre Bettkante sinken. Kai machte zögerlich ein paar Schritte auf sie zu.

Er setzte an, um etwas zu sagen, doch sobald ein „Ähm“ seine Lippen verließ, schaffte er es nicht, weiter zu reden. Nach einigen Sekunden des Schweigens sank er vor ihr auf die Knie, um ihr in die Augen sehen zu können. Seine Hand glitt zögerlich über Annas. Er war es gewöhnt, sie beim Schlafen zu berühren, doch nun hatte er Angst, dass sie ihn schlagen würde… dass sie ihn zurück weisen würde.

„Ich mache mir wirklich nur Sorgen, okay?“ wiederholte er. Seine Hand übte keinerlei Druck auf ihre aus. Er war so verdammt unsicher. Wie konnte Anna ihm da böse sein?

„Wieso beobachtest du mich beim Schlafen?“ fauchte Anna. Nein. Sie konnte ihm sehr wohl böse sein. Kai schluckte. Sie hatte jedes Recht böse zu sein, das wusste er. Wer würde es schon befürworten, wenn man wie ein Stalker nachts in seinem Schlafzimmer hocken würde? Wer würde sich schon in so jemanden verlieben?

Bei dem Gedanken zuckte Kai unweigerlich zusammen. Seit wann wollte er, dass sie ihn liebt? Das Blut gefror ihm in seinen Adern. Anna konnte Gedankenlesen. Seine Pupillen zogen sich zusammen, mit aufgerissenen Augen wanderte sein Blick zu Anna. Hatte sie es gehört? Anna erwiderte seinen Blick. Es war keinerlei Überraschung oder Schock zu sehen, nur Ärger. Ärger darüber, dass er sie beobachtet hatte? Das musste es sein.

„Du siehst süßer aus, wenn du schläfst.“ Kai konnte diesen Satz nicht verhindern, er entwich einfach seinem Mund. Ein unsicheres Lächeln sollte zeigen, dass es ein Spaß war. 'Schrei. Lach. Sag irgendetwas. Bloß lass es nicht so still zwischen uns sein.' dachte sich Kai sofort peinlich berührt. Anna seufzte genervt auf und zog ihre Hand von Kais weg.

„Schätze, das stimmt.“ Mehrere Leute hatten ihr schon gesagt, dass man Angst hatte, sie anzusprechen, wenn sie durch die Gegend lief. Menschen hatten einfach zu viel Respekt vor ihr, doch sie hätte nicht gedacht, dass auch Kai zu schüchtern gewesen war, um mit ihr zu reden. Sie lehnte sich zurück und überschlug die Beine. Kai fiel erleichtert auf seinen Po und legte seine Beine in einen Schneidersitz.

„Seit wann machst du das schon?“ wollte das Mädchen nun wissen und warf einen Blick auf die Uhr.

„Schon länger...“ Irgendetwas an seiner Antwort verriet Anna, dass er nicht ganz ehrlich mit ihr war.

„Und ist es schön, mir beim Schnarchen zuzuhören?“ fragte sie nach einer Weile grinsend.

„Du schnarchst nicht.“ lachte Kai im Gegenzug. Wenn Akira sagte, Kai würde auf sie aufpassen, würde sie Akiras Urteil vertrauen. Außerdem gab Annas Unversehrtheit ihr keinen Anlass dazu, anders zu denken. Sie legte sich wieder hin und warf die Decke über ihren Körper, ehe sie gähnte und die Augen schloss. Kai sagte nichts, sondern blickte nur auf ihren Rücken, der sich langsam senkte und hob. Wollte sie wieder schlafen? Stille. Sollte er gehen?

„Ich hab' dich lange nicht mehr gesehen.“ Annas Stimme weckte Kai aus seinen Gedanken.

„Ja.“ gab er zu. „Ich hab' viel zu tun.“ Erneut trat Stille ein.

„Was tust du denn?“ fragte Anna endlich. Ihre Stimme war wieder so lieblich und süß, wie sonst gewohnt. Sie rann wie Honig über seine Seele.

„Ich hab'n paar Gefolgsleute… Ein bisschen wie deine Gang. Sie sind nicht sonderlich zufrieden mit mir in letzter Zeit.“ gestand er und lächelte müde.

„Wieso nicht?“ entgegnete Anna neugierig und drehte sich zu ihm um. Ihr Haar glänzte golden. Ihre Augen erinnerten Kai an den Nachthimmel. Doch er schwieg. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Sollte er sich ihr offenbaren? Würde sie es nicht sowieso raus finden?

„Hmm...“ grübelte er. Welche Worte sollte er verwenden? „Ich.. Meine Leute sind...“ fing er an, doch verstummte wieder. Anna schien ungeduldig zu werden.

„Ja?“ fragte sie erbarmungslos und musterte den Jungen. Er schien wirklich hart nach zu denken, doch konnte und wollte sie in diesem Moment seine Gedanken nicht lesen.

„Vampir.“ brachte Kai endlich zustande und schien sich zu schämen. Anna war nicht klar, wieso.

„Also trinkst du Blut von Menschen und so?“ hakte sie nach. Kais Gesicht verzerrte sich in Schuld.

„Ja… hab' ich. Zur Zeit nicht wirklich.“ Er klang, als würde er gleich in Scham versinken. „Noch ein Grund, warum die anderen wütend sind. Sie sagen mittlerweile, ich wäre kein richtiger… Vampir mehr.“ Das Wort schien wie ein Kloß in seinem Hals zu stecken.

„Wieso trinkst du kein Blut mehr?“ Annas Frage schlugen wie Peitschenhiebe auf Kais Herz ein. Einerseits ist das die erste richtige Unterhaltung, die die beiden hielten, andererseits war es schwer, sich jemanden anzuvertrauen. Aber wenn nicht seine zukünftige Frau, wer dann? Wem würde er jemals sein Herz öffnen können, wenn nicht ihr?

„Hab' nicht mehr das Verlangen.“ log er. Und die Lüge wog noch mehr auf seinem Herzen, als ihre Frage. Er konnte sich ihr nicht öffnen.

„Hmm.“ entgegnete Anna nachdenklich. „Wie fühlt sich das an? Wenn du Blut trinkst, meine ich?“ fragte sie nach ein paar Sekunden weiter. Kai lächelte.

„Besser als Sex.“ gab er nachdenklich zu und schien in Gedanken bei diesem Gefühl zu sein. „Kannst du natürlich nicht wissen, oder?“ fragte er und ein süßes, ärgerndes Lächeln umspielte seine Lippen. Es steckte an. Auch Anna lächelte nun.

„Stimmt.“ Sie lachte kurz. Kais Herz machte einen Freudenhüpfer. „Was gibt es denn sonst noch für Probleme mit deinen Leuten?“ fragte sie dann weiter.

„Ach.“ seufzte Kai genervt und ließ sich nach hinten fallen, während seine Hände ihn abstützten. „Sie finden, ich mach mich nicht genug an dich ran, um dich für mich zu gewinnen.“ gab er zu.

„Ist mir auch schon aufgefallen.“ antwortete das Mädchen darauf. Kai konnte nicht glauben, dass sie das gesagt hatte.

„Hä?“ entgegnete er fassungslos und setzte sich wieder auf. „Willst du etwa, dass ich mich an dich ran mache?“ fragte er ungläubig.

„Ich sag' nur, dass es mir aufgefallen ist. Ich hab' gehört, dass du gern mit allen möglichen Mädchen rummachst. Und an dem Tag, wo ich die Mädchen verprügelt habe, hattest du auch ein Mädchen aus deiner Klasse oder?“ Ihre Worte klangen kalt, rational und teilnahmslos. Kai keuchte.

„Ja, aber das ist was anderes.“ sagte er leicht genervt davon, dass sie das nicht interessieren zu schien. Anna fing an mit ihren Fingerspitzen auf ihrer Brust herum zu trommeln.

„Wieso ist es was anderes? Ich bin doch auch ein Mädchen.“

„Du bist nicht irgendein Mädchen. Du bist kein Mädchen, dass ich benutze, um mich besser zu fühlen.“ Sobald die Worte aus Kais Mund purzelten, wollte er sich dafür schlagen. Anna, die gerade noch die Decke betrachtet hatte, grinste Kai arrogant an.

„Ist das so?“ sagte sie, halb geschmeichelt, halb hochnäsig. Kai schnaubte und stand auf. Vielleicht war es ein Fehler, mit ihr zu gesprochen zu haben. „Sag' mir nicht, du bist jetzt eingeschnappt.“ Auch Anna setzte sich jetzt auf. Ihr T-Shirt flatterte leicht. Kais Blick fiel für eine Millisekunde in ihren Ausschnitt und der blasse Junge errötete leicht. „Ich will nur wissen, wieso du mich nicht so wie die anderen behandelst und dich nicht an mich ran machst wie ein notgeiler Hund.“ stichelte das Mädchen weiter und konnte sich ihr Grinsen nicht verkneifen. Und das reichte Kai.

Mit einem Satz stand er vor ihr, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Seine Hand glitt über das Haar, das ihr ins Gesicht fiel, über ihre Wange, ihren Hals und machte oberhalb ihrer Brüste Halt.

„Willst du das denn?“ flüsterte er ihr leise zu. Seine Augen, die Anna immer für schwarz gehalten hatte, hatten einen leichten Rotstich. Das Mondlicht, das heute Nacht alle Straßen klar beleuchtete, schien nicht in diese Augen. Aber sie sah, was er wollte. Seine Augen wanderten über ihre Lippen zu ihrem Hals. Ein blasser, langer Finger streichelte über ihre Halsschlagader und hinterließ eine prickelnde Gänsehaut. Er roch nach Zimt. Wieso ausgerechnet Zimt?

„Wenn ich dich nur einmal küssen würde, würde ich deine Lippen nie wieder in Ruhe lassen. Würde ich nur einmal dein Blut probieren, würde ich dich wahrscheinlich bis auf den letzten Tropfen aussaugen. Sag' mir also, meine liebe, schwarze Königin, wieso mach ich das nicht? Wieso tue ich nicht das mit dir, was ich mit all' den anderen mache? Wieso nehm ich mir nicht einfach das, was ich will? Wieso?“ wisperte er. Anna wusste nicht ob es Gefahr oder etwas anderes war, aber ihr Herz schlug bis zum Anschlag. Sie wollte nach geben. Sie wollte dieser weichen, weißen Hand nach geben, ihren Hals entblößen und ihm hinhalten, nur um zu sehen, wie er reagieren würde. Ob er geschockt sein würde. Ob er es gewusst hätte. Ob die Augen, die sie anstarrten, sie los lassen würden oder für immer gefangen halten würden.

Seine Hand fuhr erneut von ihrem Hals zu ihrer Brust. Sie legte sich auf Annas wummerndes Herz. Ihre Brust war weich und warm. Sie gab unter dem leichten Druck nach und Kai konnte seine Finger in dem weichen Fleisch versenken. Ohne nachzudenken führte seine andere Hand eine Spur über ihren Arm auf ihren Rücken und drückte diesen zu sich. Er hatte es aufs Bett geschafft, ohne dass beide wussten, wie. Anna starrte ihn wie hypnotisiert an, während er ihre Brust an seiner fühlte. Seine Hand lag immer noch über ihrem Herz und fühlte das zarte Fleisch. Er spürte, wie sich ihr Nippel unter seinen Fingern aufrichtete und Widerstand leistete. In ihren Augen sah er, dass sie nicht wusste, was sie tun sollte, und auf eine sadistische Art und Weise gefiel es ihm. Er lächelte als er in diese unsicheren Augen sah. Die Hand, die einst auf ihrem Rücken lag, zog nun ihren Hinterkopf zu Kai. Er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr. Zurückhaltung war das letzte, woran er in dieser Sekunde dachte. Er wollte die Lippen schmecken, die ihn nächtelang in seinen Träumen verfolgten. Er wollte ihr Gewicht auf sich spüren, ihre Zunge an seiner Haut, ihre Stimme in seinem Ohr. Er wollte fühlen, wie sie nach gab, sich hin gab und komplett sein werden würde. Er wollte die Feuchte zwischen ihren Schenkeln spüren, schmecken und mit seinen Händen zu Tropfen machen. Er wollte hören, wie sie stöhnte. Wie sich ihr Körper unter ihm vor Sehnsucht verbog und wand. Es würde mit diesem Kuss beginnen.

Doch es waren nicht Annas Lippen, die er schmeckte und ihn die Augen öffnen ließ. Mit sanfter Gewalt hielten ihre Fingerspitzen ihn erneut davon ab, sie zu küssen. Die Augen, die ihn wie hypnotisiert angestarrt hatten, waren gefüllt mit Scham und Schuldgefühlen. Ihr Gesicht, das im Mondlicht blass gewirkt hatte, war nun in ein helles Rosa getaucht. Schließlich wurde es ein leuchtendes Kirschrot. Die Fingerspitzen, die ihn bei ihrem ersten Treffen so entschlossen wegdrückten, bebten und zitterten unter ihrer Nervosität. Sie brachte sich nicht dazu, etwas zu sagen. Vor lauter Scham versteckte sie ihr Gesicht in ihrer freien Hand. Ihr goldenes Haar bildete einen Rahmen um das Rot ihres Gesichtes.

„Wie süß kannst du eigentlich sein?“ flüsterte Kai, nahm ihre Hand und küsste jede einzelner ihrer Fingerspitzen, die ihn von ihr abhalten wollten, ehe er aufstand und seufzte. Ihm war heiß. Wahrscheinlich zu heiß. Anna saß schweigend und beschämt in ihrem Bett und Kai hörte ihren Herzschlag immer noch. „Morgen… Morgen Nacht will ich mit dir wohin. Ich mach' auch nichts, versprochen. Ich will nur meinen Gutschein für ein Date einlösen, okay?“ Er blickte sie nicht an. Er konnte nicht. Ihre Nervosität hatte ihn angesteckt. Ohne auf Zustimmung zu warten, kletterte Kai aus dem Fenster und verschwand in die Nacht.

Interview mit einem Vampir

Kein. Funke. Schlaf. Erschöpft saß Anna im Park. Die heiße Mittagssonne knallte auf den Rasen, der jede Sekunde darunter litt. Akira saß neben ihr und völlig unbeeindruckt von der Hitze. Gelangweilt ließ er seinen Fußball vor sich hin und her rollen. Dann seufzte er.

„Anna, was ist los?“ fragte er genervt. „Ich will Fußball spielen. Oder irgendwas. Lass uns irgendwas machen.“

Anna rollte mit den Augen. „Hab' nicht geschlafen.“ ächzte sie und streckte ihre Beine aus. Ihre Shorts gingen höchstens bis zu ihren Knien, sie trug ein knappes Tanktop mit einer Strickjacke darüber. Dennoch war ihr zu heiß. Erneut stöhnte das Mädchen gequält auf und begann, ihr Top mit der Hand flattern zu lassen.

„Wenn dir zu heiß ist, zieh die Jacke aus.“ knirschte Akira.

„Nee… Rücken.“ gab Anna halbherzig zurück und lehnte sich an den Baum, der ihr wenigstens ein bisschen Schatten spendete. Doch Akira ließ keine Widerworte zu. Er packte Anna am Kragen und begann, sie auszuziehen. Und Anna musste zugeben, dass es ihr gut tat. Als die Jacke sich von ihrer klebrigen Haut löste, ließ sie das kleine bisschen kühle Luft daran, die dieser Tag aufbringen konnte.

„So. Und jetzt erzähl mir, warum du nicht geschlafen hast.“ Akira war merkwürdig hartnäckig. Anna verharrte jedoch in Schweigen. Was sollte sie ihm sagen? Und beim längeren Nachdenken fiel es Anna auf. Sie hatte niemanden mehr, den sie es sonst hätte erzählen können. Adam war fort. Und sie wusste nicht, wann er wieder kommen würde. Also begann das Mädchen zu erzählen.

Zuerst zeigte Akira ein Grinsen. Das verflog dann. Dann versetzten ihre Sätze sein Gesicht in einen Schockzustand. Er wurde bleich. Zu guter Letzt zeigte sich pure Abscheu in seinen Augen, die nun gold flackerten.

„Er … Er hat was?“ fragte er, völlig fassungslos darüber, dass er ihre Brüste befummelt hatte. Annas Kopf fiel auf ihre Knie. Ihr Gesicht war puterrot. Sie schämte sich noch mehr, die Sache zu erzählen, als dabei gewesen zu sein. Akiras Blick wandelte sich nicht. Das war ungewöhnlich. Als sie erzählt hatte, wie das Date mit Mirai gelaufen war, hatte er schnell sein Lächeln wieder gefunden. Doch jetzt nicht. Sie spürte, wie sein Blick sich in ihren Nacken brannte. Und es tat weh.

„Was soll ich nur mit dir machen.“ seufzte er dann schließlich. Anna bewegte sich nicht. „Du kannst dich doch nicht einfach von so 'ner Nachtratte befummeln lassen.“

„Ich weiß...“ gab Anna gequält zu.

„Wenn du's weißt, wieso tust du es dann?“ Akira klang ziemlich kaltherzig. Genervt schmiss er den Ball von sich weg. Er wollte spielen. Gegen irgendetwas treten. Anna schwieg wieder.

„Was soll ich nur mit dir machen...“ seufzte er erneut. Seine Stimme klang sehr viel näher, als vorher. Das Mädchen spürte, wie sich einer ihre Strähnen aus dem Haar löste und in die Luft gehoben wurde. Akira betrachtete es in den kleinen Sonnenfetzen, die die Blätter des Baumes zu ließen, drehte und wendete es vor seinem Gesicht. Nun wagte Anna sich, ein bisschen aufzuschauen. Als der Junge sah, dass sie sich wieder traute ihr Gesicht zu zeigen, schaute er ihr in ihre Augen. Und wieder konnte Anna nichts, aber rein gar nichts, erkennen. Akira war ein Buch, das ihr verschlossen blieb. Selbst als er sich vor lehnte, wusste Anna nicht, was er sich dabei dachte. Die Rücken seiner Finger streichelten über Annas Wange, sein Atem blies gegen ihre Lippen, so nah war er ihr. Sie schaute in diese goldgelben, funkelnden Augen und wusste, sie würde ihnen erliegen. Es war nicht so wie bei Kai, wo sie darüber nach dachte, ob sie so tun wollte. Sie wusste ganz genau: Würde Akira es wollen, würde Anna nicht nein sagen können. Doch sie wusste nicht wieso. Und sie wusste nicht, wieso er ihr so nahe war. Wollte er sie küssen? Wollte er sie ärgern? Seine Finger glitten die Wange hinab zu ihrem Kinn und zogen es an sein Gesicht. Nur noch ein Zentimeter. Ein Zentimeter fehlte noch, damit die zwei sich küssen würden. Anna wurde schwach. Sie schloss die Augen, wartete darauf, dass es passierte. Dann vernahm sie Akiras Flüstern: „Du bist echt süß, wenn du was erwartest.“

Das Mädchen öffnete die Augen. Akira war aufgestanden, um den Ball wieder einzusammeln und ließ Anna wie den letzten Idioten da sitzen. Sie wurde knallrot. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte ihn gewürgt, doch er lenkte schnell vom Thema ab, als er zurück kam: „Und? Gehst du mit ihm aufs Date?“ Er klang wieder ganz wie der alte Akira. Als würde es ihn nicht interessieren.

„Natürlich.“ gab Anna beleidigt zurück.

„Dann solltest du wahrscheinlich noch ein bisschen Schlaf aufholen.“ grinste der Rotschopf. Und das tat Anna.
 

Es war später Abend, als Anna wieder aufwachte. Ihre Mutter schlief bereits. Gebeutelt ging Anna Richtung Bad. Vor Adams Tür machte sie Halt. Die Flure waren dunkel, Adams Tür war geschlossen. Er war nicht nach Hause gekommen, das spürte Anna sofort. Deprimiert stieg sie unter die Dusche. Es dauerte eine Weile, bis sie sich den Schweiß und die Müdigkeit abgewaschen hatte. Als sie sich umzog, überlegte sie kurz, was sie tragen sollte: Ein Kleid, wie bei Ren? Jeans wie bei Mirai? Sie hatte keinerlei Anhaltspunkte, auf was sie sich eigentlich einrichten sollte. Vielleicht einen Pullover? Auch wenn es später Juni war, waren die Nächte zum Teil recht kühl. Ja, ein Pullover wäre vielleicht nicht schlecht. Aber sie wollte auch nicht aussehen, als wäre sie gerade aus dem Bett aufgestanden. Vielleicht einen Rock dazu, damit sie das ganze Outfit etwas aufpeppen konnte? Nachdenklich stand die Blonde vor ihrem Schrank und musterte ihre Kleidung. Sie hatte bisher nur ihre Unterwäsche und Strumpfhosen an, doch nichts wollte ihr so richtig in den Sinn kommen.

„Zieh' an, was du willst.“ murmelte Kai im Fenstersims. Anna fuhr herum und starrte den Vampiren an. Dieser guckte schnell weg. „Beeil' dich. Ich will dich nicht den ganzen Abend lang halb nackt sehen.“ knurrte er beschämt und drehte sich um, um die Beine aus dem Fenster baumeln zu lassen. Anna zischte aufgebracht zwischen ihren Zähnen hervor und begann, wahllos Klamotten aus dem Schrank zu ziehen. Und so blieb es bei einem Top und Shorts. Die Strickjacke vom Mittag, die noch über den Schreibtischstuhl hing, krallte sie sich auch noch eben.

„Wir treffen uns unten.“ knurrte sie, immer noch beschämt, als sie fertig angezogen war.

„Hast du Höhenangst?“ fragte Kai plötzlich und brachte Anna dazu, stehen zu bleiben.

„Nein, wieso?“ entgegnete sie leicht nervös. Kai kam durchs Fenster und nahm ihren Arm.

„Gut.“ Er zerrte das Mädchen aus dem Fenster aufs Dach und sprang. Annas Atem gefror in ihrer Brust. Sie wollte schreien, als sie fielen, doch sie fielen nicht – sie erhoben sich in die Lüfte. Wie, warum und wieso verstand Anna nicht. Sie baumelte an Kais Arm wie ein schweres Gepäckstück. Auch er merkte das, zog an ihrem Arm und hielt sie, zum Leidwesen von Anna, wie eine Prinzessin in seinen Armen, damit sie nicht fallen würde. Die kalte Nachtluft, die ihr gerade noch Gänsehaut verpasst hatte, wurde nun durch Kais Körper mehr oder weniger blockiert. Er war ungewöhnlich kräftig für so einen schmalen Mann. Langsam fand das Mädchen ihren Mut wieder.

„Wohin gehen wir?“ fragte sie leise. Sie war sich allerdings nicht ganz sicher, ob er sie überhaupt hören konnte.

„Wir sind gleich da.“ antwortete Kai, dessen Blick auf den Horizont gerichtet war. Sie flogen nicht Richtung Innenstadt. Die Stellen, wie Dächer oder Laternenpfähle, auf denen Kai sich manchmal absetzte, wurden weniger. Die Häuser wurden größer, aber so wurden es auch die Abstände zwischen ihnen. Sie näherten sich der Stadtgrenze und von weitem konnte man schon die ersten Sachen erkennen: Ein Riesenrad, eine Schiffsschaukel und ein riesiges Schild. Ein Vergnügungspark? Sie landeten.

Es war sehr frisch hier. Die Lichter waren aus und der Park war verlassen. Nicht nur das, anscheinend wurde er seit Jahren nicht mehr benutzt. Was wollten die beiden hier?

„Hier komme ich her, um nach zu denken.“ antwortete Kai, als wäre diesmal er es, der Gedanken lesen könnte. Er nahm die Hand der Königin und begann sie durch den Park zu führen. An einem Karussel machten die beiden Halt.

„Willst du fahren?“ fragte der Junge grinsend und deutete zu den merkwürdig entstellt wirkenden Plastikpferden. Anna war noch nie in einem Vergnügungspark gewesen. Machte das Spaß?

„Wir können's mal ausprobieren...“ meinte sie unsicher. Mit einem Schwung hob Kai sie hoch und setzte sie auf eins der Pferde.

„Warte kurz.“ Er freute sich wie ein kleines Kind und verschwand. Anna saß da. Das Plastik war kalt, selbst durch die Shorts hindurch. Sie schaute in die Richtung, in die Kai verschwunden war, aber nichts als Dunkelheit und Stille lag in dem Park. Er hatte sie doch nicht etwa zurückgelassen?

Mit einem Ruck setzte sich ihr Pferd in Bewegung. Lichter begannen aufzuleuchten, Musik fing an zu spielen. Anna japste erschrocken auf, als ihr Pferd auch noch anfing, hoch und runter zu wippen.

„Haha, hast du Angst?“ lachte Kai nun. Er stand plötzlich wieder hinter ihr und ein merkwürdiges Gefühl der Sicherheit kehrte zu Anna zurück. Nun musste auch sie grinsen.

„Irgendwie schon, aber irgendwie ist es auch cool.“ gab sie belustigt zu.

„Schön.“ Kai setzte sich nicht, er hangelte sich an den Stangen entlang, die hier und da aus dem Boden ragten und den Pferden den Halt am Karussell gaben. Er summte ein kleines Lied, während er so durch die Pferdereihen tanzte. Dann stoppte die Fahrt. Der Vampir half der Königin von ihrem edlen Ross hinunter und führte sie weiter.

„Hier gibt es ein Spiegelkabinett und da vorne ist ein Geisterhaus. Aber da hier keine Mitarbeiter sind, denke ich mal, dass wir im Spiegelkabinett mehr Spaß haben werden. Hast du Lust?“ Er klang aufgeregt. Er klang fröhlich. Er klang glücklich. Wieso machte ihm das so viel Spaß?

„Ja, okay.“ Anna konnte nicht umhin, nicht in die gute Stimmung einzusteigen. Sie folgte Kai eine Treppe hinauf. Auf einem großen, vermodertem Schild stand „Spiegellabyrinth“ und eine große Metalltür gewährte Einlass.

„Am besten, du lässt meine Hand nicht los. Sonst verirrst du dich nur.“ grinste Kai nun und streckte seine Hand aus.

„Ist das ein billiger Versuch, Händchen zu halten?“ lächelte Anna nun höhnisch, nahm das Angebot aber an. Und es war die richtige Entscheidung. Als die beiden die Gänge entlang liefen, sah Anna sich selbst in allen Formen und Größen. Mal klein und dick, mal groß und dürr, mal total verzerrt. Auch wenn das Licht in diesem Raum nicht schien, kam irgendwo genug her, um ihnen den Blick auf ihre Spiegelbilder zu gestatten. Doch nach einigen weiteren Schritten bemerkte die Königin es: Sie war alleine. Von allen Seiten herum sah sie nur sich selbst. Blaue Augen, die sie anstarrten. Leicht zerzaustes, blondes Haar. Wann war das letzte Mal gewesen, dass sie in den Spiegel geguckt hatte? Sie hatte Sonnenbrand auf dem Nasenrücken. Sogar ein paar Sommersprossen. Ihre Klamotten passten überhaupt nicht zueinander. Das Mädchen versuchte, ihre Haare zu richten. Sie hob die Strähnen im Nacken an, drehte sie ein paar mal in ihren Händen und ließ sie zur Seite hinunter hängen. Dann sah sie es. Es war unscheinbar, klein, nicht zu bemerken, hätte Anna nicht darauf geachtet: Eine kleine, schwarze Ecke machte sich auf ihrer Schulter Platz. Anna drehte ihren Kopf. Ihr Spiegelbild wandte ihr den Rücken zu, blickte sie aber über die Schulter an. War da ein Lächeln? War da ein Lächeln auf ihrem Spiegelbild? Sie lächelte doch nicht etwa, oder? Die Augen des Spiegelbildes wanderten ihren eigenen Rücken hinab. Das Top, das sonst so gut versteckte, was Anna zu verbergen versuchte, entblößte eine feine, schwarze Linie, die vom Rücken aus über ihre Schulter Spuren zog. Annas Herz setzte aus. Dann spürte sie eine zärtliche, liebe Bewegung auf eben dieser Schulter. Das Mädchen zuckte zusammen. Kai stand hinter ihr. Wieso hatte sie ihn nicht bemerkt?

„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“ grinste er neckisch. Doch Anna konnte nicht lachen.

„Wo warst du?“

„Was redest du? Ich war die ganze Zeit bei dir.“ Kai schien verwundert darüber zu sein, dass sie ihn so anfauchte.

„Was? Nein. Du warst nirgendswo zu sehen.“ Man konnte Sorge aus ihrer Stimme hören, doch Kai lächelte verständnisvoll.

„Nimm meine Hände.“ sagte er ruhig und ließ Anna keine Wahl. Er legte beide ihrer Hände in seine. „Und nun schau in den Spiegel vor dir. Ich stehe hinter dir. Ich rede mit dir. Ich berühre dich. Was siehst du?“ flüsterte er leise.

Anna betrachtete den Spiegel vor ihr. Sie sah sich selbst, blass, trotz des Sonnenbrandes. Ihre Hände griffen ins Nichts.

„Nichts...“

„Jep.“ Anna hörte, wie Kai grinste. „Lass uns gehen, das ist nichts für uns.“

„Wieso kann man Vampire nicht im Spiegel sehen? Ich dachte, das wäre nur 'ne blöde Legende.“ fragte Anna verwundert, während sie die verwinkelten Gassen des Spiegelkabinetts zurück liefen.

„Lange Geschichte, kurzer Sinn: Wir reflektieren kein Licht.“ erwiderte Kai knapp und blieb an einer Kreuzung stehen. „Licht scheint durch uns hindurch. Und da Spiegel nur eine Art von Lichtreflexion sind, haben wir kein Spiegelbild. Deswegen ist dein Tattoo auch so schön. Anstatt Licht hindurch zu lassen, saugt es jedes kleine Elektron auf und verschlingt es. Kein Licht wird jemals davon reflektiert werden.“ Kai lächelte bei dieser Bemerkung: „Vielleicht mag ich deinen Rücken deshalb so.“

Anna starrte die wilden, violetten Strähnen an, die während des Laufens leicht auf und ab hüpften. Seit wann dachte Kai so? Seit wann fühlte er so über sie? Die beiden hatten nie richtig geredet. Ja, vielleicht war er schüchtern gewesen, aber er war auch ein ziemliches Arschloch, wenn es um Frauen ging. Er hatte nie richtig Interesse gezeigt, irgendetwas ernsthaftes anzufangen, das wusste sie von Mika. Und doch – just in diesem Moment fiel Anna ein, wie sie im Hinterhof geschlafen hatte. Kai war bei ihr gewesen und hatte sich an sie geschmiegt. Vielleicht war er wirklich nur jemand, der erst einmal auftauen musste, um mit jemanden ernst zu machen?

Die kühle Nachtluft klatschte Anna ins Gesicht und weckte sie aus ihren Gedanken.

„Wohin willst du jetzt?“ Kais Stimme hatte nicht an Aufregung nach gelassen.

„Hmm, weiß' nicht. War noch nie in einem Vergnügungspark.“ gestand die Sechszehnjährige und sah sich um. Kai fuhr herum.

„Wie bitte?“ fragte er schockiert. Anna lachte kurz.

„Ja, ist mein Ernst.“

„Das können wir aber nicht so auf dir sitzen lassen.“ Und damit hat Anna Kai dazu eingeladen, ihr ALLES im Park zu zeigen: Von verlassenen Schießbuden bis hin zu dem verlassenen Geisterhaus war alles dabei. Viele Orte waren allerdings unbrauchbar ohne Preise oder Personal. Doch das erschütterte nicht Kais Gemüt – er führte sie zum letzten Ort. Sie liefen auf das Riesenrad zu. Die Sterne hingen klar wir LED Leuchten am Himmel, der Mond war zu einer dünnen Sichel geschrumpft. Und plötzlich verließen Annas Füße den Boden – der Himmel rückte näher und mit ihm die Sterne und der Mond. Ein erneuter Sprung brachte sie noch höher hinaus. Kai hatte sich das Mädchen gepackt und sprang mit ihr die Kabinen des Riesenrads hinauf, ehe sie auf der obersten angekommen waren. Das verrostete Metall knarzte gefährlich unter ihrem Gewicht und die Kabinen fingen an zu schaukeln. Vorsichtig setzte er Anna auf dem Dach ab. Diese bewegte sich so lange nicht, bis jedes knarrende Geräusch verstummt war. Ein Blick auf den Boden verriet ihr, dass sie mindestens 100 Meter in der Höhe waren. Auch wenn die Königin keine Höhenangst hatte – nun wurden ihre Knie weich. Kai hielt sie vorsichtshalber fest.

„Ich glaub', es ist besser, wenn wir uns setzen.“ Er konnte sich ein leichtes Lachen nicht verkneifen. Er ließ sich auf das Metalldach fallen, welches ein weiteres gefährliches Schwanken auslöste und zog Anna in seinen Schoß, wodurch die Kabine noch mehr ins Schaukeln geriet. Anna kniff die Augen zusammen und quietschte kurz vor Schreck auf. Sie drückte sich vor lauter Angst in seine Brust, was ihr, beim längeren Überlegungen, doch peinlich wurde. Doch Kai war es nicht peinlich. Er streichelte beruhigend über ihren Rücken und starrte in den Sternenhimmel. Dann begann er zu erzählen: „Ich mag diesen Ort. Ich hab' schnell gemerkt, dass alles hier wie mein eigenes Leben ist. Alles, ohne Ausnahme, dreht sich im Kreis. Das Karussell, die Achterbahn, das Riesenrad. Selbst das Spiegellabyrinth hat einen Weg, der zurück ins Innere führt.“ Seine Stimme hielt er leise, dennoch war sie so klar wie die Nacht, die sie gerade gemeinsam beobachteten. „Bei mir ist es genau so. Seit ich denken kann, reise ich. Dann trinke ich Blut, verführe Frauen, töte Menschen, hole mir Leute, die mir dienen… Dann flüchte ich wieder. Es ist immer das selbe. Und wenn man sich denkt 'Ich würde gerne sterben' steht man plötzlich kurz davor. Und was denkst du, macht jemand, wenn er kurz vor'm Ableben ist?“ Sein Kopf richtete sich zu seiner Brust, in der Anna ihr Gesicht vergraben hatte. Als sie das merkte, hob sie ihren Blick an. Sie hatte sich noch nie gewünscht, zu sterben und sie war auch nie kurz davor gewesen.

„Weiß nicht?“ fragte sie unsicher. Was für eine Antwort erwartete er?

„Man wünscht sich, mehr gehabt zu haben. Mehr Emotion, mehr Spaß, mehr Leben an sich.“ antwortete Kai. Sein Blick war wieder auf die Sterne gerichtet. Er sah nicht glücklich aus. Seine Gedanken schwappten wieder über und es waren die selben, wie das letzte Mal: Dunkelheit. Schwarze Luft gefüllt mit Blut. Kein Licht schien in diesen Kopf. Anna blendete die Gedanken aus.

„Gibt es nichts, was dich glücklich macht?“ fragte sie unbedacht, als sie die Bilder Revue passieren ließ.

„Ein Kuss.“ lächelte Kai zufrieden.

„Ein Kuss?“ fragte Anna grinsend nach. „Das würde dir doch eh nicht reichen, oder?“

„Stimmt.“ Und Anna wünschte sich, bei allem, was sie je liebte oder einst lieben würde, bei Gott, bei allem, was ihr heilig war, dass sie das nie gesagt hätte. Kai, dieser lebensmüde Vampir, hatte seine Arme um sie geschlungen, lehnte sich zurück in die Tiefe und ließ sich fallen. Alles, was Anna Sicherheit gab, löste sich von ihr. Die Tiefe kam so schnell, dass die Königin nicht mal lang und laut genug schreien konnte, um ihrem Terror Ausdruck verleihen zu können. Der Asphalt kam näher. Nicht nur der Asphalt – auch die Absperrung aus Metallgittern um das Riesenrad herum kam ihnen plötzlich so nahe, dass Anna schon den Gedanken hatte, darauf aufgespießt zu werden. Doch das wurde sie nicht. Zentimeter über dem Boden kamen beide zum Stillstand. Anna zitterte am ganzen Leib. Ihr wurde schlecht und sogar schwarz vor Augen.

„Bist du… komplett verrückt?“ fragte sie Kai, völlig außer Atem, und schlug ihn mit ihrer vor Angst bebenden Faust auf die Brust. Doch Kai lachte bereits.

„Meinst du wirklich, ich würde dich fallen lassen?“ fragte er sie und kringelte sich vor Lachen. Anna verstummte.

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was du von mir hältst. Zumindest bin ich keine Königin für dich.“ Anna fasste sich ein Herz und kletterte von Kai runter, um wieder festen Boden unter ihren Füßen spüren zu können. Ihre Beine fühlten sich wie Wackelpudding an.

„Stimmt, du bist keine Königin für mich.“ wiederholte sich Kai. Seine Worte waren wie Messerstiche direkt in ihr Herz. Er hatte seine Ansicht nie geändert. Kai lächelte sie an. „Du bist wie eine Blume. Ich kann dich nur angucken. Pflücke ich dich, stirbst du.“ Und das sagte er nicht. Es waren die ersten klaren, von Licht gefüllten Gedanken, die er ihr jemals zeigte, auch wenn er das wahrscheinlich nicht wollte. War es das? War es das, was ihn glücklich machte? War sie das Licht in seinen Gedanken? Diesmal konnte sie wahrhaft nicht das Herz aufbringen, wütend zu sein. Wie konnte sie ihm das einzige, was ihm Freude bereitete, nehmen, indem sie ihn anschrie? Annas Blick wanderte zu Boden.

„Alles okay? Bin ich zu weit gegangen?“ Kai klang nun etwas besorgt. Er wollte keinen schlechten Eindruck bei ihr hinterlassen.

„Ja, bist du.“ antwortete Anna ruhig. Sie sah völlige Gesichtsentgleisung bei Kai als Reaktion. „Man befummelt Mädchen nicht und kneift ihnen auch nicht einfach so in ihre Nippel.“ fügte sie hinzu und griff sich seine Hand. Er errötete unweigerlich.

„Ich schwöre dir bei Gott, ich hätte dich am liebsten sofort an Ort und Stelle genommen.“ brachte Kai erregt hervor und drückte ihre Hand, während die beiden zum Ausgang liefen.

„Untersteh' dich.“ lachte Anna beschämt und boxte ihn erneut in die Seite.

Die nächste Königin

Anna lag in ihrem Bett. Die Vögel begannen, die ersten Melodien des Tages zu zwitschern. Das Mädchen drehte nachdenklich ein metallenes, schwarzes Etwas in ihren Händen und betrachtete es eingehend. Immer noch hörte sie, wie die Stimmen ihr zuflüsterten: „Geh. Keine Zeit.“ Wieso war das passiert? Egal, mit welchen Gründen sie versuchte, der Sache eine Erklärung zu geben, sie verwarf jeden einzelnen von ihnen. Sie glaubte einfach nicht, dass die Schattenmenschen sie verraten hatten, geschweige denn ihr was antun wollen würden. Und dennoch konnten sie Adam nicht finden – die Nummer des Hauses wurde geändert und sein Handy war ausgeschaltet geblieben. Und wieso wollte dieses schwarze Ding in ihrem Zimmer, dass sie ausgerechnet DAS mitnahm? Sie drehte weiter das kleine Butterfly in ihren Händen. Mit einem Flipp ihres Handgelenks klappte es auf und entblößte eine weiß glänzende Klinge. Sie war scharf, Anna wusste das, denn Adam hatte sich immer gut darum gekümmert und es geschliffen, sobald es anfing stumpf zu werden. War das eine Art „letzte Erinnerung“ an ihn? Oder ein Abschiedsgeschenk?

Annas Wecker klingelte. Erschöpft haute sie auf den Schlummer-Knopf. Der erste Schultag würde gleich anfangen. Es war jetzt schon vier, fünf Wochen her, dass sie Adam das letzte Mal gesehen hatte. Sie weinte nicht mehr, das haben ihr die anderen aus den Kopf geschlagen, aber dennoch verging keine Minute, in der nicht die Sorgen um Adam in ihrem Hinterkopf schlummerten und rumorten.

Die Sachen für die Schule waren schnell gepackt, da Anna eh nicht vor hatte, am Unterricht teil zu nehmen. Sie war auch schnell angezogen. Dabei bemerkte das Mädchen, dass ihre Haare um einiges länger geworden waren, als noch letztes Semester – ihr Pferdeschwanz, den sie immer trug, damit ihre Haare beim Kämpfen nicht im Weg waren, fiel nun über ihren Po, während er vor den Sommerferien höchstens bis zur Hüfte ging. War das normal? Das Frühstück war nicht so ausgiebig wie sonst. Auch wenn Annas Mutter wusste, dass Adam nicht ihr Sohn gewesen war, vermisste sie ihn schmerzhaft. Genau so wie Anna hatte auch sie aufgehört zu weinen, schien aber nicht so gut damit klar zu kommen, wie ihre Tochter. Zahllose Anrufe hatte sie getätigt, sie hatte sogar Annas Vater angerufen, doch es brachte nichts.

Als die Blondine aus der Haustür trat, schien die Augustsonne noch angenehm heiß auf den Asphalt. Akira und Kai warteten vor dem Gartentor, Akira sichtlich aufgeregt und Kai sichtlich genervt von der Hitze. Als die drei sich in Bewegung setzten begannen sie über Schulsachen, Schülerrat und AGs zu sprechen.

„Wir haben gar nichts mehr von den anderen gehört.“ fiel Anna dabei auf. Seit sie wieder nach Hause gekommen war, hatte sich keiner ihrer Freunde gemeldet, außer Kiki. Auch Ren, Mirai, Toki und Liam hatten sich nicht mehr gemeldet.

„Vielleicht haben sie dich aufgegeben.“ grinste Kai schwach unter den Sonnenstrahlen. Seine Hand fuhr über ihren Pferdeschwanz. War ihm aufgefallen, dass ihre Haare gewachsen waren? Akira sagte nichts. Ihm war bewusst, dass die anderen nicht so leicht aufgeben würden. Langsam kam die Schule in Sicht.

„Eurer Fußball AG fehlt jetzt ein Mann, oder? Überlegt, Mirai danach zu fragen?“ fuhr Kai nun fort. Annas Herz verkrampfte sich kurz. Der „Mann“ der fehlte war ihr Bruder.

„Ja, aber er meldet sich nicht.“ antwortete Akira und seufzte. „Ich weiß nicht, wieso. Hört sich an, als wäre etwas in den Ferien passiert.“ beendete er das Thema. Zu diesem Zeitpunkt wusste der Rotschopf noch nicht, wie Recht er eigentlich hatte.

Die Allee, die zum Hauptgebäude führte, war gefüllt mit Schülern. Alle redeten, lachten und tauschten Fotos von ihren Urlaubstagen aus. Viele neue Schüler, die Anna noch nicht kannten, liefen dicht an der Königin und ihren zwei Prinzen vorbei, ohne Scham und Scheu. Es war irgendwie erfrischend. Auch die Schüler, die Anna bereits kannten, schienen nun nicht mehr so viel Angst zu haben, wie früher. Vielleicht hatten sie es einfach vergessen? Einer rempelte Anna beim Vorbeilaufen an. Vielleicht mussten sie daran erinnert werden. Kurz vor dem Hauptgebäude machten die drei Jugendlichen eine Biege und gingen Richtung Hinterhof. Anna wollte unbedingt mit Mika und Yuki über Adam reden – immerhin kannten die vier sich, seit sie noch klein waren. Doch was Anna im Hinterhof vorfand enttäuschte sie: Yuki lehnte am Baum und starrte ungeduldig Richtung Hauptgebäude. Ansonsten war es leer – komplett leer. Bis auf den Baum war nichts übrig geblieben. Der Gartenschuppen war weg, die kleinen Pflanzen, die Mika eingesetzt hatte, um ihr „Hauptquartier“ schöner zu gestalten, waren raus gerissen worden. Als Yuki Anna erblickte sprang der Junge auf sie zu, packte sie an den Schultern und ernte sich fauchende und bissige Kommentare von Kai und Akira. Doch Yuki ignorierte das. Der sonst so stille und bodenständige Junge war aufgebracht. Dicke Augenringe, die nicht vom zu lange Lesen oder Spielen herrührten, machten sich bemerkbar. Er war blass. Er schien krank. Als hätte er Nächte lang nicht geschlafen.

„Anna, hat sich Mika bei dir gemeldet?“ fragte Yuki aufgebracht. Anna, von der Situation völlig aus den Wolken gerissen, schüttelte nur den Kopf. Ein Seufzen folgte. Ihr Sandkastenfreund griff sich an die Stirn und wischte sich den Angstschweiß weg, schaute sich um, fiel dann aber auf die Knie. Anna beugte sich zu ihm hinunter – sichtlich besorgt – und hielt ihn fest.

„Yuki. Komm' runter. Erzähl mir, was los ist.“ Da war sie wieder. Sie hatte einige Monate lang eine Auszeit genommen, doch nun war die Anführerin der Gang zurück.

„Mika wollte mit irgendjemandem in den Urlaub fahren. Aber ihre Mutter hat mich vor zwei Wochen angerufen – sie ist verschwunden, Anna. Sie taucht einfach nicht wieder auf. Sie geht nicht ans Handy, meldet sich nicht… Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Yukis Stimme brach. Man konnte hören, wie er versuchte, seine Tränen und Angst hinunter zu schlucken, damit sie nicht ans Tageslicht traten. Das Mädchen legte ihre Arme um ihn und drückte den Jungen an sich. Ihr war schon immer klar, dass egal welche Beziehung Mika und Yuki nun hatten, es ein Band war, dass niemand so schnell trennen konnte. Doch wieso war sie weg? Auch Anna hatte immer wieder mal versucht, mit Mika in Kontakt zu treten, war aber nie durchgekommen. Sie hatte nicht bei ihr Zuhause angerufen, weil Mikas Mutter Anna hasste. Das war schon vor dem Sandkasten-Massaker so gewesen.

„Habt ihr die Polizei gerufen?“ fragte Anna ruhig.

„Ja. Aber es gibt keinerlei Spuren.“ Yukis Stimme war schwach, kaum hörbar. Anna drehte sich zu Kai und Akira um. Kai musterte die Situation teilnahmslos, Akira schien nachzudenken.

„Dann müssen wir selbst suchen.“ Ihre Worte waren eher an die beiden übernatürlichen Wesen gerichtet, als an Yuki. Doch ausgerechnet Yuki schüttelte den Kopf.

„Ich habe jeden, JEDEN einzelnen Tag nach ihr gesucht, seit ich und meine Familie aus dem Urlaub zurück gekommen sind. Ich finde sie nicht. Alle Stellen, wo sie vielleicht sein könnte… Wo wir Erinnerungen gesammelt haben … Oder wo man sich vor seinen Eltern verstecken könnte, alle ...“ Er brach ab. Sein Handballen rieb in seinem Gesicht herum. Anna holte tief Luft. „Alle sind verschwunden.“ Dieser Gedanke, den sie vor einigen Wochen noch gehabt hatte, dann aber als Paranoia abstempelte, kehrte zurück. Er umklammerte Annas Herz, als wolle er es zerquetschen und sich in ihrem Schmerz suhlen. Doch sie konnte jetzt nicht die Fassung verlieren: Yuki brauchte sie. Mika brauchte sie. Das Mädchen stand auf, zog Yuki auf die Beine und schaute ihm in die Augen. Seine Gedanken überschlugen sich mit Erinnerungen an Mika und Sorgen um ihre Person. Es war nichts hilfreiches dabei.

„Wir finden sie. Wir haben den Schülerrat auf unserer Seite. Die sind für solche Sachen zuständig.“ Ihre Stimme drang so klar und leicht zu Yuki hindurch, sodass er es endlich schaffte, vom Boden aufzublicken. Er schaute besorgt zu den zwei Jungs, die nun etwas zurückhaltend aussahen, und schaute dann noch besorgter zu Anna. „Ja, das ist mein Ernst. Überlass' es uns. Hast du noch was von Mika?“ fragte Anna schnell nach. Yuki dachte kurz nach, ging dann zu den Büschen hinter dem Ahorn und zog die lange, weiche Decke hervor, die Mika immer für das Mittagessen ausbreitete.

„Sonst nichts.“ murmelte er gedankenvoll.

„Muss reichen.“

„Was reicht?“ Mirais Stimme drang durch den Hinterhof wie Donner. Alle Anwesenden fuhren herum und starrten den großen, braun gebräunten Mann an, der den Blick verwirrt erwiderte. „Was ist los?“ fragte er verwirrt. Anna seufzte – halb genervt, halb erleichtert. Wenigstens ihm ging es gut. Doch sie konnte nicht weit denken – innerhalb einer Sekunde spürte das Mädchen, wie sich ihre Füße vom Boden lösten. Mirai hatte sie hoch gehoben und ließ sie in seinen Händen fliegen. „Wie geht’s dir, meine Königin?“ fragte er mit einem Lächeln, dass man ihm gar nicht zu traute. Er ließ sie runter und umarmte das Mädchen. „Ich hab' dich vermisst.“

„Lass' sie los.“ fauchte Kai und auch Akira hatte sich in Bewegung gesetzt, um Mirai von Anna zu trennen.

„Das ist jetzt wirklich nicht der Zeitpunkt!“ Anna erhob die Stimme und richtete sich ihre Kleidung, als sie wieder festen Grund unter sich hatte. „Yuki, geh' zum Unterricht. Mirai, Akira und Kai: Wir treffen uns zum Mittag in eurem Raum. Wir müssen den anderen erzählen, was los ist.“ koordinierte die Anführerin.

„Oh. Toki und Liam kommen nicht mehr.“ Mirais Worte waren Eiswasser, dass einem plötzlich über den Kopf geschüttet wurde.

„Was?“ fragte Anna schockiert nach. „Wieso nicht?“

„Erzähl' ich dir später.“ Mirais Augen folgten Yuki, der nun eher an einen Schneemann in der heißen Sonne erinnerte, während dieser zur Klasse ging.

In ihrer Klasse angekommen, befand sich Anna in einer Situation, die sie lange schon nicht mehr erlebt hatte: Ignoranz. Die sonst von Geflüster und Gerüchten gefüllte Luft war klar, von Lachen erstrahlt und voller Gespräche. Sie rankten sich um die neuen Schüler, die hierher versetzt worden waren. Einer davon schien in ihrer Klasse zu sein. Wäre Anna bei der Morgenversammlung in der Aula gewesen, bei der der Direktor das neue Semester begrüßte, hätte sie vielleicht was davon mitbekommen. Aber nun wusste sie nicht, was auf sie zukam. Die Glocke klingelte. Ein Schüler kam herein. Er war groß gewachsen, hatte schwarzes, unbändiges Haar. Seine Augen waren ein tiefes Blau. Seine Statur, seine Haare, seine Augen. Ohne, dass Anna es wusste, stand sie auf ihren Füßen. Die Schüler, die dem Neuen gerade bei seiner Vorstellung gelauscht hatten, wandten sich nun Anna zu. Aber kein Wort drang an ihre Ohren. Sie starrte den Neuen an. Er erwiderte ihren Blick, lächelte sogar.

„Fräulein Kurosawa, setzen Sie sich bitte wieder.“ ermahnte sie der Lehrer eingeschüchtert. „Wie ich bereits sagte: Ab sofort wird Iori hier zur Schule gehen. Setzen Sie sich.“ Iori. Nicht Adam.

Anna ließ sich auf ihren Po fallen und seufzte leicht auf. Natürlich. Adam sah ganz anders aus. Auf den ersten Blick hin hätte Iori sie vielleicht täuschen können, aber auch seine Ausstrahlung war komplett anders, als die von Adam. Adam war fröhlich, offen für alles, genau so wie Anna es an ihm liebte. Aber Iori umgab eine geheimnisvolle, leicht gefährliche Aura. Auch wenn er lächelte, wusste Anna, das alles was er sagte, nur Lügen waren. Es war Anfang der Mittagspause. Die Mädchen rankten sich um den Neuen. Die Blondine lehnte in ihrem Stuhl und begann damit zu kippeln, während sie dem Gespräch folgte. Wieso hat er die Schule gewechselt? Seine Familie sei umgezogen. Wie alt war er? Siebzehn. Hatte er eine Freundin? Nein, aber jemanden, den er gerne als Freundin hätte. War sie auch an dieser Schule? Wer weiß. Seine Stimme klang total anders als Adams. Adam hatte eine tiefe, angenehme Stimme. Ioris Stimme war etwas höher, geladen mit Energie und Kraft. Anna schnaubte kurz.

„Wer ist das?“ fragte Iori nun und nickte Richtung Anna.

„Das… Wäre besser, wenn du dich nicht mit ihr abgibst.“ Die angenehme Luft von Geflüster und Gerüchte trat wieder in den Raum.

„Wieso? Hat sie 'nen Freund?“ fragte er grinsend. Die Mädchen begannen zu lachen.

„Nee, die hat keinen. So'n Machoweib kriegt auch nicht so schnell...“ Anna war aufgestanden. Ihre Schritte hallten durch den Klassenraum, der mit einem Schlag mucksmäuschenstill geworden war. Sie ging auf die kleine Traube von Mädchen zu, die es gerade noch für angebracht hielten, ihre Mäuler über die zukünftige Königin zu zerreißen. Ein schmaler Arm legte sich um die Normalsterbliche, die eben noch gelacht hatte. Kristallblaue Augen wanderten über die Gesichter der nun erbleichten Mädchen, ehe sie an dem Neuen hängen blieben.

„Ich brauch' keinen Mann. Ich brauch' Untertanen.“ lächelte sie feist. Ihre Finger glitten durch das struppige Haar ihrer Klassenkameradin, ehe sich Anna an diese wandte und ihr in die Augen starrte. Sie musste nichts sagen. Ihre Gedanken würden reichen. „Und du… solltest dich in Zukunft besser ein bisschen zurück halten, was deine Aussagen betrifft. Auch wenn wir Klassenkameradin sind, hab' ich kein Problem damit, dir deine Knochen zu brechen.“ Und das Mädchen zeigte genau die Reaktion, die Anna sehen wollte: Terror. Und das gefiel ihr.

Seit wann war sie jemand, über den man sich lustig machen könnte? Hatte sie nicht schon genug durch gemacht und gemeistert, damit man ihr wenigstens ein bisschen Anerkennung zeigte? In diesem Moment wurde Anna klar, dass zu viele Leute in letzter Zeit mit ihr Spielchen getrieben haben. Jeder aus dem Schülerrat bog und formte sie in seinen Händen, Anna war nicht sehr viel mehr als ein Spielzeug, mit dem sie Spaß hatten. Mirai. Akira. Kai. Ren. Sie alle hatten Anna berührt, ohne dass Anna es wollte. Sie hatten ihr Probleme bereitet. Sie hatten sie abhängig gemacht. Eigentlich hatte Anna gedacht, sie hätte Fortschritte in Sachen Diplomatie und Regieren erreicht, aber jetzt zerfiel diese Wunschvorstellung. Sie war nicht stärker geworden. Sie war schwach geworden. Und dass in letzter Zeit keinerlei Vorfälle passiert waren, die den Schülern einbläuten, dass Anna DIESE Anna war, schien nicht zu helfen.

Ein Lachen riss Anna aus ihren Gedanken. Iori war aufgestanden und lachte aus vollem Herzen, ehe er Anna die Hand reichte. „Ich heiße Iori.“ grinste der Junge. Annas Hand, die noch auf dem Kopf ihrer „Freundin“ lag, zuckte kurz, um die Begrüßung anzunehmen. Aber ihr Stolz verhinderte es. Nichtsdestotrotz fand sich ihre Hand in Ioris wieder, als dieser sie einfach an sich nahm. Er küsste ihren Handrücken, wie man es aus Mittelalterfilmen her kannte. „Guten Tag, werte Königin.“

„Willst du mich verarschen?“ hisste Anna genervt und zog ihre Hand weg. Schluss damit, dass Leute sie einfach küssten. Sie drehte sich um und wandte sich der Tür zu, ehe sie es noch einmal klar stellte: „Es ist vielleicht doch besser, wenn du dich von mir fern hältst. Dein Gesicht verursacht einen Würgreiz in mir.“ Und damit verschwand sie.

Sie schlenderte durch die Gänge. Schule war scheiße. Lehrer waren scheiße. Schüler waren scheiße. Am liebsten hätte sie auf etwas eingetreten. Warum? Warum nur musste er Adam so ähneln? Der Fluch der Sommerferien jagte Anna nach wie ein Schatten, kurz davor sie in absolute, tobsüchtige Dunkelheit zu ziehen. Die doppelflüglige Tür des Schülerratsraums eröffnete sich vor ihr. Ren blickte auf. Seine Worte waren Worte der Begrüßung und Begeisterung, das Mädchen wieder zu sehen. Mirai war aufgestanden. Toki und Liam waren wirklich nicht da. Als die Männer merkten, dass Anna in keiner guten Stimmung war, erlagen die Floskeln und Nebengespräche. Das Mädchen schmiss die Tür ins Schloss. Sie wollte sich nicht setzen, sie wollte ausbrechen. Aber Mika ging gerade vor. Mit einem tiefen Atemzug begann Anna, durch den Raum zu schreiten.

„Wir müssen Mika finden.“ brachte sie schließlich hervor, als sie am bekannten Fenster stand. Die Vorhänge ließen kein Licht und keine Hitze in diesem Raum und dafür war Anna dankbar.

„Sollten wir nicht erst mal nach deinem Bruder suchen?“ fragte Ren verwundert nach.

„Mein Bruder ...“ hisste Anna genervt und Ioris Gesicht tauchte in ihren Gedanken auf. Die Wut in ihr brodelte. Adam war nicht ihr Bruder. Er war ihr Shiki, ihr Beschützer, ihr Diener. Wenn er seine Aufgaben und Anna vernachlässigte, war er seinem Status als Shiki nicht würdig. Anna spürte, wie sich Blicke in ihren Rücken brannten. Schweißperlen formten sich unter ihrer Bluse zusammen und kitzelten das Tattoo auf ihrem Rücken. Ihre Hand fuhr über ihre Stirn.

„Nein, wir suchen Adam nicht.“ beendete sie das Thema zähneknirschend. „Mika geht vor. Sie ist nur ein Mensch, wenn ihr wirklich etwas passiert ist, zählt eigentlich jede Sekunde.“ Und dabei war sie schon seit Wochen verschwunden. War sie überhaupt noch am Leben? Denk nicht darüber nach, ermahnte sich Anna selbst. „Mirai, ruf' Zuhause an und lass' Silver drei seiner Jungs herschicken. Sie sollen Mikas Fährte aufnehmen.“ Mirai blickte verwundert zu Anna. Er hatte sich hingesetzt und kippelte in seinem Stuhl, während er ein Hotdog aß.

„Sicher? Shiro kennt sie. Soll er das nicht übernehmen?“ fragte er beiläufig. Anna schnalzte mit der Zunge.

„Hätte ich gewollt, dass Shiro es tut, hätte ich 'Shiro' gesagt, oder?“ fauchte sie. Wieso hinterfragte man sie? Mirai verschluckte sich. Er hatte so eine aggressive Antwort nicht erwartet.

„Hmm. Sollen Liam und Toki auch helfen? Wobei Toki wahrscheinlich nicht kann...“ murmelte dann der Affenkönig.

„Was?“ Anna drehte sich um und sah Mirai an. „Sind sie etwa im Wald?“

„Ja...“ antwortete Mirai leicht eingeschüchtert. „Hmm. Wo soll ich anfangen? Toki ist krank geworden. Er liegt zur Zeit bei mir Zuhause und ruht sich aus, Liam kümmert sich um ihn. Sieht aber nicht gut aus.“ Annas Herz hatte die Schwere eines Felsens, als es ihr in die Hose rutschte.

„Wie 'sieht nicht gut aus'?“ Ihre Stimme war wie ein tonloser Windzug geworden.

„Das hat auch wann anders Zeit. Was sollen wir machen?“ unterbrach sie Rens tiefe, ruhige Stimme. Annas Augen wanderten zu Ren. Was KONNTEN sie denn tun?

„Ren. Hast du oder deine Familie Beziehungen zur örtlichen Polizei? Falls ja, meinst du, du kannst irgendetwas in Erfahrung bringen?“ Ren nickte. Anna wandte sich an Kai. „Und du meintest, du hättest viele Gefährten. Können die vielleicht die Augen offen halten und schauen, ob sie Anhaltspunkte für Mikas Aufenthaltsort finden? Ich weiß, ihr habt gerade Stress in eurer Gruppe, aber...“ Kai unterbrach sie.

„Ich bin ihr Anführer. Selbst wenn wir Stress haben, sollten sie mir gehorchen. Außerdem lenkt es sie vielleicht ab...“ Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als er seine Fingernägel betrachtete. Gut, das sollte reichen. Dann betrachtete Anna Akira. Was konnte er tun? Er erwiderte ihren Blick lächelnd. Anna wusste NICHTS darüber, was Akira eigentlich tun konnte und was nicht. Sie wusste nicht einmal, was er war.

„Dann wäre ja alles geklärt.“ Akiras Stimme hallte durch den Raum wie ein Weckruf. Die Männer erhoben sich und begannen, Richtung Tür zu laufen. Anna blieb wie angewurzelt stehen. Seit wann hatte Akira so eine Autorität über die anderen? Der einzige, der blieb, war die Person, die Anna im Moment so viele Fragen aufwarf und gleichzeitig faszinierte. „Anna, was ist los?“ Akira schloss die Tür hinter Kai und kam nun auf das Mädchen zu. Sie schluckte. Woher wusste er schon wieder, dass etwas los war?

Genervt ging das Mädchen auf Mirais Platz zu und suchte in seiner Tasche nach etwas zu essen, ehe sie sich in einen der Lederstühle fallen ließ und auf einem Apfel rum kaute. „Ich hab 'nen neuen Mitschüler.“ fauchte sie genervt und schluckte runter. „Er sieht aus wie Adam.“

„Aber er ist es nicht?“ fragte Akira nach und setzte sich ihr gegenüber. Anna schüttelte den Kopf. Natürlich war es nicht.

„Wir haben auch ein paar neue… Mirai ist jetzt übrigens mit Kai in einer Klasse. Die zwei verstehen sich überhaupt nicht.“ grinste der Junge. Auch Anna musste grinsen. Dass der Vampir und der Affenkönig sich nicht verstünden, glaubte sie sofort. Kai war immerhin nicht leicht umgänglich.

„Wie sind deine neuen so?“ fragte Anna neugierig nach.

„Oh, wir haben ein Mädchen und einen Jungen. Der Junge ist ziemlich blass, glaub' er war krank oder so. Sieht fast aus, wie ein Albino. Das Mädchen hat schwarze kurze Haare und scheint ziemlich lebendig zu sein. Die beiden sind wie Ying und Yang, totale Gegensätze, aber scheinen sich nicht zu kennen.“ erzählte Akira belustigt, lehnte sich dann jedoch zurück und starrte auf Annas angebissenen Apfel. „Aber wenn du mich fragst...“ Seine Stimme verfiel in ein Flüstern, als würden sie belauscht werden. „Wenn du mich fragst, kennen sie sich. Und sie sind nicht menschlich.“

Das Stück Apfel, das gerade Annas Speiseröhre betrat, wollte nicht in den Magen. Anna hustete kurz. Aber ja, auch Iori machte einen übernatürlichen Eindruck auf sie. Anna nickte. „Meiner wahrscheinlich auch nicht. Was wollen sie hier?“ überlegte sie.

„Vielleicht hat dein Vater gehört, dass einige von uns nicht mehr im Rennen sind und hat neue Kandidaten hergeschickt.“ witzelte der Junge leise. Anna schnaubte kurz.

„Als ob. Und im Fall der Fälle, wieso ein Mädchen?“ entgegnete sie ungläubig.

„Vielleicht glaubt er, du bist lesbisch? Könnte man sich vielleicht denken. Immerhin hattest du nie einen Freund und hast dir immer noch keinen der heißen Schülerratjungs ausgesucht.“ Sein Grinsen wurde immer breiter. Er wollte sie ärgern. Doch Anna zwirbelte den Stiel des Apfels zwischen ihren Fingern und ließ das angeknabberte Gehäuse damit rotieren. Es erinnerte sie an das Karussell.

„Ich bin nicht lesbisch.“ gab sie kühl zurück. „Du müsstest das wissen.“ Ein kleines Lächeln zeigte sich. Auch Akira musste grinsen. Kurz trat eine nachdenkliche, melancholische Stille ein, in der beide an die Situation des Kusses nachdachten. Dann fragte Anna Akira schließlich: „Was bist du eigentlich?“

Akira ließ den Blick durch den Raum wandern und antwortete nicht. Er summte eine kleine Melodie, die Anna nicht wieder erkannte.

„Ist noch nicht an der Zeit, dir das zu sagen.“ erklärte Akira schließlich, als er merkte, wie Annas Blick sich ungeduldig in sein Gesicht bohrten. Anna schnaubte genervt und stand auf.

„Was machen wir wegen den Neuen?“ wollte sie nun wissen.

„Was sollen wir schon machen?“ Das Desinteresse in Akiras Stimme war erschlagend. „Wenn dir einer gefällt, machst du ihn zu deinem Mann. Oder deiner Frau.“ fügte er neckisch hinzu und erntete sich einen strafenden Blick der Blondine, ehe diese wieder zurück zur Klasse ging. Doch im Türrahmen zu ihrer Klasse stand eine alte, erfreuliche Gestalt. Kiki war da. Ihr Haar war kurz, sie hatte sich wohl einen Pixi-Schnitt während der Sommerferien zugelegt. Außerdem hatte sie deutlich abgenommen: Das runde, freundliche Gesicht wirkte schmaler und erwachsener, sie hatte keine Stummelbeine mehr und zeigte tatsächlich etwas Taille.

„Hey Anna.“ sagte das Mädchen glücklich.

„Was geht, Kiki. Siehst gut aus.“ grinste Anna. Auch sie war glücklich, das Gesicht ihrer menschlichen Freundin endlich wieder zu sehen. Wenigstens ihr ging es gut.

„Danke… Ich wollte fragen: Hast du das von Mika gehört?“ Annas gute Laune wich genau so schnell, wie ihr Lächeln.

„Ja.“ gab sie wortkarg zurück und ging zu ihrem Platz, um Sachen in ihre Tasche zu packen. „Wir kümmern uns darum.“ fügte sie noch hinzu, als sie Kikis besorgten Blick sah.

„Kann ich helfen?“ fragte sie nervös. Wie konnte sie helfen?

„Denk' nicht...“ Anna hasste sich für diese Antwort. „Vielleicht kannst du'n paar Snacks für die Suchenden machen.“ ergänzte sie schnell. Kiki konnte gut kochen, aber ob die Wölfe oder Vampire es essen würden, war eine andere Frage.

„Okay.“ Kiki schien erleichtert und zufrieden mit dieser Aufgabe. „Wird Adam auch da sein?“

In diesem Moment wünschte Anna sich, Kiki wäre nicht da. Dieser erste Schultag war wie ein Höllentrip geworden. Die Blondine biss sich auf die Unterlippe und massierte ihre Stirn, ehe sie schließlich sagte: „Nein. Adam ist bei Verwandten.“

„Oh… Na gut. Meld' dich, sobald du was brauchst, ich muss zurück zum Unterricht.“ erklärte Kiki sich enttäuscht.

„Ist das einer deiner Untertanen?“ Ioris Stimme drang an Annas Ohr. Es wurde schlimmer und schlimmer. Anna wollte keine Sekunde mehr hier verbringen.

„Nein. Sie ist meine Freundin.“ zischte sie kühl. Iori, der sich neben Anna gestellt hatte, ging nun auf Kiki zu und betrachtete sie eingehend. Es gefiel Anna nicht. „Geh' jetzt, Kiki.“ sagte sie zu der Kleinen, die Annas Rat befolgte.

„Hast sie gut dressiert.“ grinste Iori schamlos. Anna warf ihm einen bösen Blick zu, ehe sie ihr vibrierendes Handy in die Hand nahm. Es war eine Nachricht von Mirai: Die Wölfe würden morgen eintreffen. Das Mädchen schmiss ihr Handy in die Tasche und wandte sich um zu gehen. „Gehst du etwa schon?“ fragte Iori enttäuscht und hielt sie fest. War es wirklich Enttäuschung?

„Hey, Iori.“ Eine glockenhelle, fröhliche Stimme trällerte durch die Klasse. Vor Anna in der Tür stand ein schlankes, hübsches Mädchen. Sie hatte kurze, schwarze Haare. Einige ihrer Strähnen waren in kleine Zöpfchen geflochten. Sie hatte dunkle, schwarze Augen. Sie erinnerten an Kais. Sie trug das liebste Lächeln im Gesicht. „Oh, hey. Ich bin neu hier. Ich heiße Eve.“ stellte sich die junge Dame charmant vor.

„Anna.“ Die Blondine konnte nicht umhin, ihrer Stimmung Ausdruck zu verleihen und klang dementsprechend genervt.

„Bist du eine Freundin von Iori?“ fragte Eve erfreut nach.

„Psh. Als ob.“ eriwderte Anna und warf Iori erneut einen bösen Blick zu, welcher daraufhin lachte.

„Ach, bist du DIE Anna?“ Eves Stimme klang, als würde sie Anna durchleuchten. „Die, die immer mit den Jungs aus dem Schülerrat abhängt? Ich glaub' einer von ihnen, Akira oder so, ist in meiner Klasse.“ fügte sie hinzu und man sah ihrem Gesicht an, wie sie versuchte, sich Akira in Erinnerung zu rufen.

„Ja, ich kenne sie.“ entgegnete Anna schroff und schulterte ihre Tasche.

„Ah, cool. Anscheinend hast du viele Verehrer.“ Anna knirschte mit den Zähnen. „Gehst du etwa schon? Ist doch noch Untericht, oder?“

„Ja. Sorry, wir reden wann anders weiter. Bis dann, Eve.“

Nichts konnte sie mehr in diesem Klassenraum halten. Nichts. Wütend ging Anna nach Hause. Auch der Hinterhof würde ihr keine Ruhe schenken, wenn der Großteil ihrer Clique weg oder verschwunden war. An diesem Tag hasste Anna die Welt.

Keine Geduld

Es dauerte nur wenige Tage, bis Anna sich sicher war: Sie wurde ignoriert. Damit konnte sie leben. Aber obendrein kam auch noch, dass man begann, sich über sie lustig zu machen. Sobald sie ihre Gedanken für die ihrer Klassenkameraden öffnete, konnte sie es hören. 'Sie ist arrogant. Wer denkt sie, wer sie ist?' Solche Sachen. Aber dafür hatte Anna gerade keinen Kopf.

Die Wölfe waren da, wie versprochen. Es waren drei an der Zahl, eben jene, die Anna noch als Welpen in Erinnerung hatte. Sie waren deutlich gewachsen. Dennoch schien die Suche nicht viel Erfolg mit sich zu bringen: Jede Nacht begannen die Wölfe, durch die Gegend zu streifen und Mikas Fährte zu finden. Auch Kai berichtete, dass seine Anfrage auf Hilfe ohne Erfolg blieb. Tatsächlich wollten sie nicht einmal mehr Kai sehen, meinte einer seiner engsten Vertrauten. Er solle warten, bis die Masse sich beruhigt hatte. Auf die Frage hin, ob wenigstens Ren etwas heraus gefunden hatte, schüttelte dieser nur enttäuscht den Kopf. Mika sei Anfang Juli verschwunden, kurz bevor Anna von den Schattenmenschen weggerannt war. Seit dem fehlte von dem Mädchen jede Spur. Mirai erklärte schließlich auch die Situation mit Toki und Liam: Toki war ein Elf. Zusammen mit seinen zwei Geschwistern hatte er sich um eine Fläche des Waldes sehr weit westlich von hier gekümmert. Er war für das Gießen zuständig, während eine Schwester die Erde düngte und die andere die Pflanzen zum Wachsen brachte. Als der Wald aber gerodet wurde, starben seine Schwestern. Er kümmerte sich für einige Jahre alleine um den Rest des Waldes, ehe er von Anna erfuhr und seine letzte Hoffnung in die nächste Königin steckte.

„Weißt du, Feen und Elfen pflanzen sich nicht wie Menschen fort. Sie haben gewisse Blumen, aus denen sie geboren werden. Diese Blume brauchen die Energie des Waldes, frisches Wasser und klare Luft. Toki dachte, du könntest ihm helfen, und brachte eine solche Blume mit sich hierher. Die Blumen sind selten und vom Aussterben bedroht, weshalb er wahrscheinlich nicht viel Zeit hatte. Aber die Blume begann, einzugehen. Deshalb fing der kleine an, seine eigene Lebensenergie in sie zu stecken, bis er schließlich umfiel.“ erklärte Mirai Anna an einem ruhigen Tag im Hinterhof. Anna fuhr sich mit ihren Händen über die Stirn in die Haare. Hätte sie ihr Date mit Toki gehabt, hätte er sich und die Situation wohl erklärt. Kein Wunder, dass er immer hier bei ihr und Yuki im Hinterhof abhing. Er hatte nach dem richtigen Moment gesucht. „Naja. Liam kümmert sich jetzt um ihn und wir dachten, der Wald sei eine bessere Umgebung für ihn, um wieder gesund zu werden. Das Problem ist aber die Blume. Sie raubt dem Wald die Kraft. Der Pfirsichbaum fängt bereits an zu verblühen.“ schnauzte der Affenkönig nun genervt.

„Ist es nicht schon längst Zeit dafür, dass er verblüht?“ wollte Anna müde wissen und massierte ihre Schläfe.

„Bei uns ist immer Frühling, weißt du doch.“ grinste Mirai. „Jedenfalls wäre es schön, wenn du der kleinen Fee einen Besuch abstatten könntest. Ich weiß, du hast zur Zeit viel um die Ohren, aber Shiro würde sich bestimmt auch freuen.“ Anna seufzte. Sie wollte Shiro im Moment nicht sehen. Warum, wusste sie auch nicht so recht.

„Ich werde gucken, dass ich ein Wochenende frei schaufeln kann. Aber mit Mika und den Neuen ...“ begann sie, wurde jedoch von Mirai unterbrochen:

„Die Neuen haben dich nicht zu interessieren. Selbst wenn es stimmt, was Akira sagt, und diese Personen versuchen, dein Herz für sie zu gewinnen, hast du schon uns.“

„Ich habe dieses Gerede von „Heiraten“ und „Herz verschenken“ satt.“ fauchte die Blondine nun und stand auf. „Es gibt noch andere Dinge auf dieser Welt.“ Auch Mirai erhob sich.

„Ja und diese anderen Dinge werden dadurch beeinflusst. Du wirst Königin sein, also denk' nicht, dass deine Taten nur auf dich Auswirkungen hat. Der, den du heiratest, wird deine Kräfte dafür benutzen, seinen Einfluss auf die Welt zu erweitern.“ Es war merkwürdig, dass Mirai im Stande war, so rational zu denken. Doch Anna wollte nicht einsehen, dass er Recht hatte.

„Also willst du mich auch nur benutzen?“ Es war lange her, dass sie ihre Stimme erheben musste.

„Nein, ich hab' doch gesagt, ich mach ernst!“ fauchte Mirai im Gegenzug.

„Lass gut sein. Wir sehen uns.“ Anna wandte sich von ihm ab und ging nach Hause. Sie war nicht einmal drei Stunden in der Schule gewesen, aber nichts in der Welt würde sie an diesem Ort halten. Alles ging ihr auf die Nerven. Alles machte sie zur Zeit wütend. Iori, Mikas Verschwinden, Adams Unerreichbarkeit, Heirat, bah. Sie wollte das nicht mehr. Die einzige Zeit, zu der sie sich noch entspannen konnte, waren die ruhigen Nachmittage, die sie alleine im Garten verbrachte. Da Anna nicht mehr am Schwimmunterricht teilnahm und auch nicht einfach in ein Schwimmbad konnte, hatten sie und ihre Mutter einen kleinen, aufblasbaren Pool im Garten aufgestellt, den Anna mit dem Wasserschlauch füllen konnte. Nur da konnte sie mal im Bikini sitzen und sich von der Sonne wärmen lassen. Selbst nachts, wenn sie versuchte zu schlafen, hielten Träume sie von einer Auszeit ab. Zu Anfang waren es Träume von Adam, wie er litt, schrie und schließlich starb. Nun war es auch Mika, die schrie, unter Schmerzen. Jede Nacht wachte Anna mit dem Geschmack von Blut auf ihrer Zunge auf. Und dann würde ihr klar werden, dass sie alleine war.

Aber die heutige Nacht war anders. Schweißgebadet und schreiend sprang Anna aus dem Bett hoch. Die Hitze im Zimmer war unerträglich, doch das Mädchen zitterte vor Kälte. Eine Hand fuhr über ihre nackte Schulter, die das Shirt nicht mehr bedecken konnte. „Was ist los?“ Kais schwarze Augen starrten sie an. Es war lange her gewesen, dass er hier gewesen war. „Wieso weinst du?“ Annas Hände, die nach der Wasserflasche gegriffen hatten, fuhren nun über ihre Wangen. Das war kein Schweiß. Kai hatte Recht. Gedanken tummelten sich auf ihrer Zunge und wollten raus, um sich zu erklären, doch Anna wusste nicht, wie sie anfangen sollte, also schwieg sie. „Du wirkst ziemlich gestresst in letzter Zeit...“ murmelte Kai nun besorgt und setzte sich neben Anna aufs Bett. Annas Mundwinkel zogen sich unweigerlich nach unten. Ja, sie war gestresst. Aber sie konnte es nicht rauslassen. Kais Finger fingen Annas Tränen ab, ehe sie die Wangen runter purzeln konnten. Schließlich legten sich seine Arme um die fragile Figur seiner Königin und drückten sie an sich. „Alles wird gut. Wir finden deine Freundin.. Und auch deinen Bruder.“ flüsterte er ihr liebevoll zu. Annas Stimme wollte nicht raus. Sie konnte nichts sagen, nicht einmal schluchzen, während sie in seinen Armen weinte. Sie konnte nicht stark sein. Erneut fühlte sie sich, als würde Kai sie durchschauen und manipulieren. Mirais Worte, dass alle von ihnen sie für eigene Zwecke missbrauchen würden, hallten in ihren Ohren wieder.

„Du warst lange nicht mehr hier.“ drückte Anna unter Tränen hervor.

„Ja, da meine Leute nicht helfen, suche ich selbst nach Mika. Dauert natürlich länger und ich kann nachts nicht auf dich aufpassen. Tut mir Leid.“ erklärte der Junge sich. So war das also. Würde jemand, der Anna ausnutzen wollte, seine Nächte und Kräfte für ihr Wohl verschwenden? Sie wusste nicht, ob Kai die Wahrheit sagte. Selbst wenn: Konnte sie ihm vertrauen? In diesem Moment löste sich Kai von ihr. Seine langen, blassen Finger fuhren ihr über den Kopf. Er sah sie verträumt an.

„Geht's dir besser?“ fragte er leise. Anna nickte. Sie hatte Angst, er könnte erkennen, dass sie an ihm zweifelte und wandte den Blick ab. Kai schaffte es, ein bisschen zu lächeln. „Na dann geh ich jetzt wieder. Versuch' zu schlafen.“ Das Bett wurde von Kais Gewicht entlastet. Ohne einen Ton von sich zu geben liefen seine Füße über den Boden zum Fenster und er verschwand. Irgendwie war Anna ihm dankbar, dass er da gewesen war. Aber nun war sie ihm auch dankbar dafür, dass er ihr ihren Freiraum ließ.

Kai seufzte laut, als er die Straße hinunter ging. Anna schien in letzter Zeit sehr blass und entnervt zu sein, weshalb er sich Sorgen gemacht und sie heute besucht hatte. Wer hätte ahnen können, dass Alpträume sie plagten?

„Da wohnt die kleine also.“ Eine feiste Stimme unterbrach die Stille der Nacht. Kai sah sich um. In einem Baum saß ein Junge mit blauen Augen und schwarzen Haaren. Er grinste.

„Adam?“ fragte Kai überrascht und blieb stehen. Der Junge schwang sich vom Ast und landete mit den Füßen auf dem Boden.

„Adam? Wer ist das?“ fragte Iori überrascht und verstaute seine Hände in seinen Hosentaschen. Kai erkannte nun, dass das nicht Annas Bruder war.

„Sorry, falsche Person...“ murmelte der Vampir und wandte sich ab. Doch vor ihm stand nun auch jemand. Eine schmale, schwarzhaarige und lieblich aussehende Person. Doch obwohl sie so klein war schien sie die ganze Straße mit ihrer Präsenz einzunehmen.

„Du bist Kai, oder? Der Anführer der Vampire?“ Ihre Stimme war so hell und klar wie Annas, als sie Kai das erste Mal angesprochen hatte. Kais Körper erstarrte. „Ich heiße Eve.“ sagte das Mädchen nun lächelnd und spielte mit einem der Zöpfe, die sie sich ins Haar geflochten hatte. Sie war umringt von Gestalten. „Das ist Iori.“ sie deutete auf den Typen, der Adam so ähnlich sah. „Das ist Jonathan, er kommt aus London.“ Sie zeigte auf einen großen, breit gebauten Jungen mit wilden, zerzausten rostbraunem Haar. Dann deutete sie auf einen Mann an ihrer Seite. Er überragte sie mit einer Kopflänge, hatte aber weißes, glattes Haar und helle Augen. Ein Albino, könnte man meinen. „Das ist Tsuki. Und hier haben wir noch Dei.“ Ihre Hand hob sich zu dem Mann zu ihrer Rechten. Er war gefährlich, das konnte Kai sofort sehen. Er war groß, gut gebaut, auch wenn nicht so gut wie Mirai. Seine Augen funkelten in einem merkwürdigen Violett. Er hatte lange, schwarze Haare, die ihm über die Schultern fielen. „Und das ist Jiro, mein Shiki.“ Sie stellte den letzten der Herren vor, der noch an einem Laternenpfahl lehnte. Er schien nicht begeistert von der Situation zu sein. Er hatte braunes, schmutzig wirkendes Haar. Seine Augen waren grün, aber so gut wie tot. Aber…

„Shiki?“ fragte Kai überrascht nach. „Was ist das?“

„Oh, tu nicht so, du kleiner Vampirfürst, du.“ säuselte Eve und machte zwei große Schritte auf Kai zu. Dieser schnalzte mit der Zunge.

„Shiki gehorchen nur einer Person.“ erwiderte Kai genervt. Doch das schien Eve nicht zu stören – ihre weichen, schönen Arme legten sich um Kais Hals und sie zog sich an ihn ran. Keiner der Anwesenden schien das zu stören.

„Ich weiß.“ flüsterte sie ihm zu. „Sie gehorchen nur der Königin.“

„Lass mich los.“ fauchte Kai und schlug einen ihrer Arme weg. Das Mädchen entfernte sich und rieb sich über die Stelle, die Kais Gewalt zu spüren bekommen hatte.

„Es gibt nur eine Königin.“ fügte Kai hinzu und wandte sich zum Drehen zu.

„Und die bin ich.“ Eves Grinsen wurde breiter und breiter. Was bildete sich die Göre eigentlich ein? Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Auch Kai zeigte nun ein Grinsen – es war aus Mitleid.

„Ich weiß nicht, wo du diese Hirngespinste her hast, aber du bist sicherlich keine Königin.“ sagte er und aus Mitleid wurde Häme.

„Sie ist die rechtmäßige Königin.“ sagte eine andere, helle, aber männliche Stimme. Der Albino-Junge hielt Kai an seiner Schulter fest. „Du solltest ihr ein bisschen mehr Respekt zollen.“

„Lass mich los, kleiner Mann.“ zischte der Vampir sofort und packte sich das Handgelenk des Fremden. Er war eiskalt.

„Du schwörst deine Treue also lieber einer falschen Königin?“ fragte Eve traurig. „Ich dachte, wir hätten gute Freunde werden können...“

„Ich schwöre niemandem irgendetwas.“ gab Kai genervt zurück. „Ich bin nur unterwegs um meine nächtliche Dosis an Blut zu kriegen. Wenn ich deins nicht trinken kann, solltest du mich langsam gehen lassen. Ich fang an, schlechte Laune zu kriegen.“ brummte er und ließ Tsuki los. Nun ging Dei ein paar Schritte auf Kai los – auch die anderen setzten sich in Bewegung.

„Na gut, dann verschieben wir das einfach. Wenn du satt bist, kommen wir dich noch einmal besuchen.“ Eve schien nicht überrascht, nicht einmal angespannt. Sie drehte sich um, um zu gehen. Auch Iori und Jonathan begannen, zu gehen. Während Jiro an ihnen vorbei schlenderte, schauten Dei und Tsuki Kai noch eine Weile musternd an. „Ich weiß nicht, was sie mit einer abartigen Kreatur wie dir will, aber wenn sie es will, solltest du es ihr besser geben.“ seufzte Tsuki genervt. Dei schwieg. Dann verließen auch diese beiden die Straße und verschwanden in den Schatten der Nacht.

Als Anna am nächsten Morgen aufwachte, erwarteten sie bereits drei hungrige Mäuler. Rose, Tristan und Marlo standen im Garten und wollten nach ihrer nächtlichen Suche Bericht erstatten und gefüttert werden. Das Haus betraten sie in Menschenform: Rose und Marlo hatten lange, rote wilde Locken und haselnussbraune Augen. Beide waren kräftig gebaut. Tristan ähnelte vom Gesicht her eher Shiro, doch seine Haare waren tief braun, während seine Augen in einem verführerischen Bernstein glänzten. Alle drei hatten die Statur von 10-Jährigen – sie reichten Anna gerade mal bis zur Brust.

„Und, habt ihr was gefunden?“ fragte das Mädchen schließlich und sah dabei zu, wie die Kinder gierig die Reste vom gestrigen Abendessen verschlungen. Sie hatten erstaunlichen Hunger – anscheinend haben Kikis Kochkünste nicht ausgereicht.

Rose schüttelte auf Annas Frage hin den Kopf. Der einzige, der halbwegs Manieren zeigte und tatsächlich Besteck benutzte war Tristan: Er setzte seinen Löffel ab und murmelte kurz zwischen zwei Bissen: „Wir haben sie kurz gerochen, aber dann war die Fährte wieder weg.“

Anna rührte nachdenklich in ihrem Kaffee. „Das heißt doch, sie lebt noch oder?“ fragte sie hoffnungsvoll. Tristan nickte.

„Könnte sein.“ sagte er leise. „Mach' dir aber nicht zu viele Hoffnungen.“

„Tu' ich nicht. Ihr könnt euch in mein Bett legen um zu schlafen, ich geh' jetzt zur Schule.“ seufzte Anna und stand vom Tisch auf. Die Kinder nickten eifrig und verabschiedeten sie an der Haustür, an der schon Akira stand und bereit war zum Klingeln. Beide traten den Weg zur Schule an.

„Hab' gehört, du hättest dich mit Mirai gestritten.“ begann Akira schließlich. Er war fröhlich und locker wie immer. Anna ignorierte es. „Worum ging's?“ fragte er schließlich, als er wusste, dass die Hoffnung auf Antwort vergebens war.

„Er sagte, ihr würdet mich nur ausnutzen.“ erklärte die Königin knapp. Akira musterte Anna eine Weile.

„Hast du das Gefühl, jemand würde dich ausnutzen?“ fragte er dann ruhig.

„Ich weiß es nicht. Es ist mir egal.“ Erneute Stille. Ihre Schritte waren die einzigen Geräusche, die sie im Moment hörten.

„Hast du das Gefühl, ich würde dich ausnutzen?“ Akira war stehen geblieben und hielt Annas Handgelenk fest. Anna drehte sich unweigerlich um und musterte den Jungen. Sie versuchte nicht einmal mehr, ihn zu entziffern oder seine Gedanken zu lesen. Sie wollte es nicht, es machte sie müde, sich darum zu sorgen, was Akira von ihr hielt – außerdem hatte sie genug andere Sorgen im Moment. Akira betrachtete das schweigende Mädchen eingehend. „Wieso sagst du nichts?“ fragte er schließlich. Anna zog an ihrem Arm, um sich los zu reißen, doch Akira war sehr bestimmt darin, sie weiterhin festzuhalten.

„Was für einen Sinn habe ich denn sonst, als meine Kraft zu teilen?“ schnauzte Anna schließlich und schaffte es, ihr Handgelenk zu befreien. „Wenn ich keine Königin wäre, hätten wir uns nicht einmal getroffen.“

„Du bist aber eine und wir HABEN uns getroffen.“ erwiderte Akira in seiner nervigen Ruhe.

„Und wäre jemand anders eine, würdest du versuchen, SIE auszunutzen.“ erwiderte Anna scharf und begann wieder, Richtung Schule zu laufen.

„Also denkst du wirklich, ich würde dich ausnutzen?“ wiederholte er sich und erneut begann Anna zu schweigen.

„Ich weiß es nicht.“ sagte sie schließlich wahrheitsgemäß. Wieder die Stille. Sie hing wie eine Wolke über das Gespräch der beiden. Schließlich schnaubte Akira genervt.

„Wenn du so denkst… Bitte.“ sagte er in einem ziemlich gehässigen Ton, den man normalerweise nicht von ihm kannte.
 

Der Schultag war erneut eine Qual. Heute hatten sie Schwimmunterricht im schuleigenen Pool, der dafür extra gesäubert und gefüllt worden war. Alle Mädchen und Jungs hatten sich bereits in ihre Badesachen geworfen, als der Pool eröffnet wurde. Sportunterricht wurde ab sofort hier abgehalten und keiner, der sich normalerweise vor diesem Unterricht scheute, fehlte heute. Annas Klasse würde mit Akiras Klasse zusammen schwimmen. Anna, die sich strikt weigerte, ins Wasser zu gehen, betrachtete in ihrer Jogginghose und Sweatjacke die wasserwütigen Leute. Auch Akira war unter ihnen. Man sah einen leichten Sixpack-Ansatz bei ihm. Das feuerrote Haare war von Wasser getränkt und wirkte nun eher blutrot. Er spielte mit einigen seiner Klassenkameraden.

„Hey Anna.“ sagte eine liebliche Stimme. Anna schaute hoch und erkannte, dass auch Eve sich in einen hübschen Badeanzug geworfen hatte. Belustigt schaute sie zum Pool. Hinter ihr stand ein großer, braunhaariger Junge. „Hey, kannst du ein bisschen auf Jiro aufpassen? Er kann nicht schwimmen, aber ich möchte gerne.“ grinste sie Anna zu und schon setzte sich dieser 'Jiro' neben Anna auf die Bank. Anna sagte nichts. „Cool.“ erwiderte Eve und drehte Anna den Rücken zu.

Sie trug einen roten Badeanzug, der den ganzen Rücken entblößte. Dicke schwarze Linien zogen ihre Spuren über Eves Rücken. Das Schwarz war so tief, das nicht einmal die Sonne es zum Glänzen bringen konnte. Anna stockte der Atem. Es war ein Tattoo, wie sie es hatte, auch wenn es nicht die selbe Form aufwies. Außerdem hatte es eher breite Balken, als feine Linien, wie auf Annas Rücken.

„Willst du doch schwimmen gehen?“ murmelte eine Stimme hinter ihr. Anna drehte sich um. Ohne es gemerkt zu haben, war sie auf ihre Füße gesprungen und Eve hinterher gelaufen. Jiro musterte sie und erinnerte Anna an ihre Position. Dann fing sich die Blondine wieder.

„Wo kommt deine Freundin eigentlich her?“ fragte Anna Jiro, als sie sich wieder hingesetzt hatte.

„Sie ist nicht meine Freundin.“ gab Jiro kaltschnäuzig zurück. Er hatte die Beine angewinkelt und sein Gesicht halb in seinen Armen vergraben.

„Das beantwortet nicht meine Frage.“ erwiderte Anna genervt.

„Es geht dich aber nichts an.“ antwortete Jiro, der anscheinend bereits auf solche Fragen vorbereitet war. Anna seufzte und lehnte sich zurück. Die Sonne knallte auf die dicken Sportklamotten. Am liebsten wäre sie auch einfach ins Wasser gesprungen, andererseits hätte sie dafür ihren Rücken entblößen müssen, den der Badeanzug nicht mehr verdecken konnte. Ächzend gab sie der Sonne nach und schloss die Augen.

„Deine Haare sind ganz schön lang.“ murmelte Jiro nun. Er hatte sich eine Strähne aus dem Pferdeschwanz gegriffen und betrachtete sie in der Sonne, als würde er sich an etwas erinnern. Er drehte und wendete es. Mit einem Ruck ihres Kopfes entriss Anna dem Jungen ihre Haare wieder.

„Habt ihr beiden Spaß?“ Akiras Stimme klang als wäre er frisch von einem Marathon gekommen. Er stützte sich mit den Händen am Beckenrand vor Anna und Jiro ab und kletterte aus dem Wasser. Sein Körper triefte und strahlte den alt bekannten Chlor Geruch aus. Grinsend schüttelte er sich vor den beiden wie ein nasser Hund und beträufelte Anna mit wohltuender Kälte.

„Wusste nicht, dass ihr beiden euch so gut versteht. Ist er dein neuer Freund?“ stichelte Akira und ließ sich links neben Anna auf der Bank nieder. Anna verdrehte die Augen.

„Als ob ich mich mit so jemandem abgeben würde.“ Es war aber nicht Anna gewesen, die ihm geantwortet hatte. Überrascht blickten Akira und Anna Jiro an, der nun aufgestanden war und wegging.

„Wow, du bist echt gut darin, Leute zu vergraulen.“ murmelte Akira, griff sich Annas Handtuch und trocknete sich die Haare. Anna zischte genervt.

„Ist mir egal.“ knurrte sie und schloss erneut die Augen.

„Wieso gehst du nicht schwimmen?“ fragte Akira nun und musterte Annas Kleidung. „Du musst in den Klamotten ja zerfließen.“

„Du weißt doch… Mein Tattoo.“ seufzte die Königin.

„Stört Eve aber nicht.“ entgegnete der Rotschopf. Der Kommentar nervte sie. Nicht nur, dass er sie dazu bringen wollte, sich vor versammelter Mannschaft zu entblößen, nein, anscheinend hatte er auch noch Eves Rücken inspiziert. Bei diesen Gedanken wurde Anna wütend. So wütend, dass sie erst zu spät bemerkte, wie Akira sie hoch hob und gleich wieder fallen ließ. Kaltes Nass erfüllte ihre Umgebung plötzlich, Poolwasser drang in Annas Nase. Sofort tauchte sie wieder auf um laut nach Luft zu schnappen. Ein lachender Akira stand vor ihr.

„Bist du bescheuert?“ fauchte Anna und wischte ihm mit einem Schwung ihres Arms eine Welle Wasser zu. Dieser ließ sich nicht davon beeindrucken – Mit einem Sprung landete Akira neben Anna im Wasser und sorgte für erneute Wellen. Auch Anna bekam ihre Portion ab. Als Akira wieder aufgetaucht war, hielt er Anna grinsend an den Armen. Anna wehrte sich. Seine Hand war am Reißverschluss ihrer Jacke und zog ihn langsam hinunter. Er grinste immer noch.

„Akira, hör auf.“ sagte Anna sofort. Sie zogen die Blicke der gesamten Schüler auf sich, die um sie herum badeten. Doch Akira hörte nicht auf. Während seine eine Hand ihren Oberkörper aus der Kleidung entblätterte fuhr die andere, unangenehm weiße Hand unter ihre Hose an ihrem Po vorbei. Mit dem Unterarm begann er Annas Hose abzustreifen. Ihr wurde heiß. „Akira, hör auf, ich schwöre bei Gott.“ Doch Akira lachte immer noch. Nun wurde Anna unangenehm. Sie schlug mit ihrer Faust gegen seine Schulter. Doch sie musste sich eingestehen, dass er sehr viel mehr Muskeln und Kraft hatte, als man ihm ansehen konnte. Es dauerte nur wenige Sekunden, da hatten sich ihre Sportklamotten von Anna getrennt und sie stand in einem schwarzen Badeanzug im Wasser. Ihr Gesicht war puterrot. Immer noch hielt der Junge sie fest, während er Annas Haare dabei beobachtete, wie sie im Wasser hin und her glitten.

„Ich hasse dich.“ flüsterte Anna nun zornerfüllt.

„Du wärst umgefallen, wärst du in der Hitze weiterhin draußen geblieben.“ grinste Akira im Gegenzug und ließ das Mädchen los. Dieses drehte ihren Rücken sofort zum Becken. „Was denn? Zeig's ihnen doch ruhig. Was sollen sie schon tun?“ fragte der Rotschopf sie nun überrascht. Anna wollte ihn nicht mehr sehen.

„Lass mich in Ruhe.“ fauchte sie genervt.

„Sicher?“ Akira zeigte sein sadistisches Lächeln wieder. Mit einer Wucht schmiss er Anna Wasser ins Gesicht. Kaltes, erfrischendes Wasser.

„Hör auf!“ schrie Anna nun genervt und wedelte ihm selbst ein paar Wellen zu. Es artete langsam in einer Wasserschlacht aus.

„Oh, was macht ihr da?“ Die helle, fröhliche Stimme verriet sie: Eve. Sie war an Akira ran geschwommen und hielt sich an seinem Arm fest, um nicht weg zu treiben.

„Wir spielen nur ein bisschen.“ grinste der Junge.

„Oh, ist das deine Freundin?“ fragte das Mädchen liebreizend. Anna zuckte zusammen, als sie sah, wie Akira sie musterte. Was würde er sagen? Nicht, dass es Anna interessierte. Sie war nicht seine Freundin, er konnte einfach die Wahrheit sagen, ihr doch egal. Genervt suchte Anna nach einem Weg, um aus dem Pool zu klettern. Sie spürte Akiras Blick, als würde er sie durchschauen. Jedes Mal.

„Tja, wer weiß?“ neckte er Eve und entfernte sich ein Stück von ihr, während Anna den Pool verließ. Die blonden Haare der Königin glitten wie goldene Seide über ihren Rücken und ihren Po.

„Also nicht.“ hörte sie Eve noch hämisch grinsen.

„Noch nicht.“

Hausbesuch

Es war September und das erste Wochenende nahte. Die Hitze hatte Anna letztendlich doch mit dem Poolwasser bekämpft – nach ewigen Zankereien und Kämpfen schaffte es Akira, dass Anna freiwillig im Badeanzug schwimmen ging – sogar vor den anderen. Auch wenn sie für ihr Tattoo viele Blicke erntete, schafften es Akira, Kai und Mirai ihr diese schlechte Laune zu vertreiben. Vor allem Mirai war eine Badenixe; Wenn er gekonnt hätte, wäre er gar nicht mehr aus dem Wasser raus gegangen. Merkwürdigerweise hielt Ren sich zurück, was das Schwimmen anging. Anna dachte kurz über das Gerücht nach, dass Meerjungfrauen in Menschengestalt sich in Fische zurück verwandeln, sobald sie das Wasser berührten. Aber Ren war ja keine Meerjungfrau, oder?

Am Samstagmittag fand sich Anna schon mit Akira, Mirai, Ren und Kai beim Aufstieg des Affenberges wieder. Heute waren sie besonders früh los gegangen und mittlerweile schaffte Anna es ohne Keuchen und nach Luft ringend den Berg hinauf zu klettern – im Gegensatz zu Kai und Ren. Diese schienen fast beim Aufstieg zu sterben. Am Palast angekommen wurde die Truppe erfreulich begrüßt. Das erste Gesicht, das Anna wieder erkannte, war natürlich das ihres Sohnes.

„Hey.“ sagte Shiros tiefe und brummige Stimme, ehe er auf Anna zuging. Er war kein Stück gewachsen, er ging ihr immer noch bis zum Kinn. Zögerlich schloss die Blondine ihn in die Arme. Ihr war klar, dass er wahrscheinlich etwas böse war, dass sie nicht nach ihm, sondern nach seinen Geschwistern gefragt hatte, um bei der Suche nach Mika zu helfen.

„Hey.“ erwiderte sie leise und streichelte über das glatte, weiße Haar.

„Du bist immer noch ein Knirps.“ stellte Akira überrascht fest und wuschelte dem Jungen nun durchs Haar. Kai verzog das Gesicht. Er schaffte es jedoch, eine kleine Begrüßung zu formulieren, die Shiro gekonnt ignorierte.

Der Wolfsjunge begleitete die jungen Ankömmlinge in Tokis Zimmer, das Anna ohne Umschweife sehen wollte. Was sie erwartete, überraschte jeden. Das Zimmer war gefüllt worden mit Blumen und Pflanzen aus dem Wald – Tatsächlich war es schwierig, nicht auf eine Pflanze zu treten. Toki hatte das Zimmer mit Blick auf den Pfirsichbaum bekommen. Dieser trug weder Blätter noch Blüten. Er sah aus, als wäre er im tiefen Winterschlaf… Genau so wie Toki. Liam, der an dessen Bett stand, erhob sich nun, um alle zu begrüßen.

„Wie geht’s ihm?“ fragte die Königin besorgt und setzte sich auf den Stuhl, den Liam frei gemacht hatte.

„Unverändert.“ antwortete die tiefe, ruhige Stimme. Anna seufzte.

„Wo ist die Blume?“ wollte sie als nächstes wissen und sah sich um. Hier stand eine große Menge an Pflanzen, aber viele erkannte sie aus dem Wald wieder.

„Die Blume steht nicht hier. Sonst würde sie weiter an Tokis Leben zehren.“ erklärte Mirai. „Ich kann dich hin bringen, wenn du willst, aber nur, wenn du mir sagst was du vor hast.“

Anna streichelte dem lieben, kleinen Blondhaarigen über den Kopf. Wenn er seine blauen Augen nicht mehr öffnen würde, könnte Anna sich nicht mehr verzeihen. Immerhin wollte er, dass sie ihm beim Überleben seiner Rasse half und sie hat ihn für ihre Prüfungen im Stich gelassen. Was sollte sie also sonst tun?

„Scheint, als hätte sie sich schon entschieden.“ murmelte Liam. Mirai seufzte genervt auf.

„Schön und gut, aber wie soll das Toki helfen?“ fragte er leicht aufgebracht.

„Weiß nicht. Wenn es ihm nicht hilft, sieh' es als letzten Wunsch an.“ antwortete Kai ihm. Er zog damit die Blicke der anderen auf sich.

„Genau so seh' ich es auch, Kai.“ befürwortete Annas Kai Entscheidung, zu sprechen und stand auf. Die Truppe wurde weiter geführt. Sie betraten das Innere des Hauses, gingen an der Badestelle des Hauses und liefen noch weiter. Wie groß war Mirais Palast eigentlich? Anna musterte den Affenkönig. Der Streit schien wie vergessen, trotzdem hatte sie das Gefühl bekommen, dass Mirai sich von ihr distanzierte. Sie nahm es zähneknirschend hin, immerhin gab es wichtigere Dinge, die ihre Aufmerksamkeit erforderten.

Langsam wurde das Haus kalt. Die Gänge wurden dunkler, irgendwie leblos. Die jungen Leute standen nun vor einer großen Tür, von der eine unheilvolle Aura ausging. Selbst Anna spürte es. Sie drehte sich um, um die anderen zu fragen, was hinter der Tür war, doch was sie sah, verwunderte das Mädchen: Alle der Anwesenden hielten sich die Nase und den Mund zu.

„Was ist los?“ fragte Anna verwirrt und zog die Luft durch die Nase ein. Doch nicht einmal der saure Gestank von Käse war zu vernehmen.

„Miasma.“ keuchte Kai, der wohl noch am besten damit klar kam.

„Es wurde so schlimm, dass wir die Blume in den verlassenen Teil des Hauses bringen mussten.“ erklärte Mirai.

„Und wer hat sie gegossen und sich um sie gekümmert?“ Annas Stimme hatte einen Anflug von Skepsis. Mirai schüttelte schuldig den Kopf. „Na… Dann bleibt ihr wohl besser draußen.“ seufzte das Mädchen genervt, öffnete die Tür einen Spalt breit und schloss sie, sobald sie hindurch geschlüpft war.
 

Der Raum war dunkel. Es erinnerte sie fast an ihr Schlafzimmer bei Tante und Onkel, allerdings gab es hier eine Lichtquelle: Eine Blume, die aussah wie ein Maiglöckchen, stand auf einem Hocker im sonst leeren Raum. Beim näheren Hinsehen erkannte die Blondine, dass noch viele andere Pflanzen in diesem Raum untergebracht worden waren, aber alle waren verwelkt und ausgedörrt. Sie ging ein paar Schritte auf die Pflanze zu. Die Knospe hing wie eine Laterne am Stiel und barg Licht in sich. Sie hatte die Größe von Annas Daumennagel, wie also konnte so ein kleines Ding allem und jedem die Kraft rauben? Die Knospe zitterte kurz. War es der Wind? Annas Finger streichelten über die zarten Blätter und den dünnen Stiel, ehe sie bei der Knospe Halt machten. Die Pflanze war kalt wie Eis. Zumindest das konnte das Mädchen sagen: Sie war so kalt, dass jegliche Wärme aus ihrer Hand wich. Und was sollte sie nun tun? Wie würde sie die Kraft, die sie in sich trug, einer Pflanze übertragen können? Ihr wurde immer erzählt, dass sie jemanden lieben musste, um ihre Macht zu teilen. Das fing mit einem Kuss an. Aber konnte man eine Pflanze lieben? Die Knospe zuckte erneut. Der Raum war still und doch hatte Anna das Gefühl beobachtet zu werden. Sie seufzte, nahm sich den Blumentopf und setzte sich auf den morschen und staubigen Holzboden, ehe sie begann den Tontopf in ihren Händen zu drehen. Die glockenförmige Knospe schwang fröhlich mit. Anna hielt sie an und roch kurz daran – ein süßer, lieblicher Duft, wie eine Mischung aus Honig, Vanille und etwas anderem ging von der Knospe aus. Es war ein beruhigender Duft. Wie konnten die Jungs sagen, dass es hier nach Miasma stank? So schlimm roch es doch gar nicht. Es dauerte einige Minuten, in denen Anna die Blume in ihren Händen anstarrte, ehe sie sich einen Ruck gab und die Knospe küsste. Nichts geschah.

„Hmm...“ Wieso funktionierte es nicht? Anna drehte den Topf erneut in ihren Händen und studierte ihn eingehend. Konnte man seine Macht doch nur auf Menschen übertragen? Wie hätten die anderen Königinnen das gelöst? Bestimmt wäre Charlotte einfach darauf zu gegangen und hätte etwas gesagt, wie „Du wächst jetzt gefälligst!“. Bei dem Gedanken musste Anna schmunzeln. Die Glockenblume tanzte kurz mit ihrem Kopf hin und her, als Anna den Topf wieder zu drehen begann, als würde auch sie kurz kichern. Anna würde so etwas nicht sagen – Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass jede Blume, jeder Mensch und jedes Lebewesen in seinem eigenen Tempo wachsen würde. Man sollte nichts erzwingen. Anna stieß ein bisschen Luft aus, als sie sich an die Wand lehnte und den Raum inspizierte. Alles war verhangen mit Staub und Spinnenweben, auch wenn es wohl keine Spinnen mehr in diesem Raum gab. Das Licht flackerte und die Schatten der Skelette verrotteter Blumen tanzten an den Wänden. Toki wurde aus solch einer Pflanze geboren – hatte er seinem Wald auch die Energie geraubt? So wie sich die Situation anfühlte, könnte man meinen, allein Tokis Geburt hätte gereicht um den Wald komplett zu zerstören. War das der Grund gewesen, wieso er und seine Geschwister sich so liebevoll darum gekümmert hatten?

„Andererseits gab es wahrscheinlich viele Bäume da… Und Bäume sind ein bisschen robuster als normale Zimmerpflanzen oder?“ überlegte das Mädchen laut. Niemand antwortete ihr. Gedankenversunken beobachtete sie die toten Tänzer und verstummte wieder. Es ist eine lange, lange Zeit her gewesen, dass sie einen so ruhigen Moment für sich alleine hatte. Niemand nervte sie, sie musste sich hier um nichts sorgen, als das kleine Ding in ihren Händen. Was hätte Adam wohl gesagt, hätte er gewusst, dass Anna ihre Kräfte einer Blume schenken würde? Er wäre wahrscheinlich ausgerastet. Er beharrte immer darauf, einen geeigneten Mann für Anna zu finden. Eine Blume konnte wohl kaum geeignet sein, geschweige denn war sie ein Mann. Wobei Toki mehr oder weniger ein Mann zu sein schien – allerdings pflanzten sich Feen ja nicht wie Menschen fort, oder? Konnte man überhaupt mit einem der Kandidaten Verkehr haben, wie mit Menschen? Anna überlegte kurz. Akira und Mirai hatten menschliche Körper, das kannte sie aus den heißen Quellen und aus dem Pool in der Schule. Auch Kai schien menschlich zu sein, was Sex anging, immerhin hatte er fast täglich welchen. Was war mit Liam und Ren? Fische legten normalerweise Eier … Bei dem Gedanken erschauderte Anna kurz. Die Knospe tanzte hin und her. Es brachte nichts, Anna fiel nichts ein. Enttäuscht stand das Mädchen mit dem Topf in ihrer Hand auf und begab sich Richtung Tür, um sie zu öffnen.

Die Flure waren noch dunkler, als auf dem Hinweg. Niemand wartete. Niemand außer Kai.Dieser hatte sich auf den Boden gesetzt und schien an der Wand zu schlafen. Anna hockte sich zu ihm hinunter und rüttelte ihn an seiner Schulter wach.

„Kai, steh' auf. Wo sind die anderen?“ fragte Anna verwundert. Kai, dessen Augen sich weigerten, sich zu öffnen, murrte kurz, rieb sich durchs Gesicht und wollte schon antworten, als sein müder Blick die Blume traf.

„Wieso nimmst du das Ding mit raus?“ fauchte er und sprang auf die Füße, was beinahe Annas Fall zu Folge hatte.

„Mir fällt nichts ein. Dachte, ich nehm' die Blume mit in die heißen Quellen und werd' ein bisschen kreativ.“ antwortete Anna überrascht und sah zu, wie Kai sich den Arm vor die Nase hielt. „Sei nicht so zimperlich.“ fauchte Anna daraufhin und begann los zu laufen.

„Weißt du eigentlich, wie lange du da drinne warst?“ wollte Kai als nächstes wissen und folgte der Königin durch die Flure.

„'ne halbe Stunde?“ gab Anna gelassen zurück und Kai stieß ein Geräusch des Entsetzens auf.

„Anna, es ist halb zwölf nachts!“ stieß er geschockt auf. „Wir dachten schon du wärst eingeschlafen und wollten nach dir sehen, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Wir haben sogar nach dir gerufen!“ Anna lachte kurz auf.

„Verarschen kannst du wen anders.“ Ihr Blick fiel zum Fenster. Tiefe Nacht hatte sich über den Berg gelegt. Ein kleiner Funke Sorge leuchtete in Annas Herzen auf. „Wie dem auch sei, ich geh' baden. Sag' bitte Shiro Bescheid, er soll mir ein paar Handtücher und meinen Schlafanzug bringen.“ Und damit verschwand Anna um die nächste Ecke Richtung Bad.
 

Das heiße Wasser tat ihr gut. Die Pflanze hatte Anna in einen der hölzernen Eimer abgestellt und trieb fröhlich über den Szenenwechsel über das Wasser. Vielleicht war es eine Art Orchidee – die brauchten eine hohe Luftfeuchtigkeit. Anna begann, sich den Schweiß vom Anstieg abzureiben. Heute waren keine Äffchen im Bad und auch sonst schien nicht sonderlich viel Leben hier zu herrschen. Das Gras wirkte merkwürdig gelb und die kleinen Blümchen, die den Rasen sonst zierten, hatten sich verschlossen.

Die Tür vom Badehaus ging auf und Shiro kam herein. Er trug ein Handtuch um die Lenden und hielt einen großen, runden Stein in seiner Hand. Seufzend setzte er sich neben seiner Mutter ins Wasser und lehnte sich bei ihr an. Shiro war wie ein Sohn für sie und sie wie eine Mutter für ihn, also war es okay, dass sie nackt war oder?

„Du hast nicht nach mir gefragt.“ brummte der Sohn des Alphas, nahm jedoch Annas Hand. Anna seufzte kurz schuldbewusst und drückte die Hand des 14-Jährigen.

„Ich weiß. Tut mir Leid.“

„Braucht es nicht. Ich will nur wissen, wieso.“ antwortete der Junge kühl. Anna begutachtete den Stein, den er in seinem Arm hielt. Wieso eigentlich? Wieso hatte sie nicht nach Shiro gefragt? Er war wie Familie für sie. Anna verzog das Gesicht. War das das Problem?

„Weißt du… Es passiert sehr viel. Adam ist fort. Er wird irgendwo fest gehalten.“ begann das Mädchen, löste ihre Hand und zog den Eimer mit der Blume an sich heran. Sie wog fast nichts. „Jetzt ist auch noch Mika weg. Ich hab' das Gefühl, das alles, was ich liebe, verschwindet.“ Stille trat ein. Shiro gab einen Ton von sich, der wie ein Seufzen klingen sollte, aber nur in einem Brummen endete.

„Also hattest du nur Angst um mich?“ knurrte er leise und sein Gesicht begann bis zur Nase im Wasser zu versinken. Er schämte sich. Anna lächelte kurz halbherzig. Ja, sie hatte Angst, dass Shiro auch noch verschwinden würde.

„Was ist das eigentlich für ein Stein?“ fragte das Mädchen, um Shiro einen Grund zu geben, nicht mehr zu schmollen.

„Weiß nicht. Mirai wollte, dass ich ihn dir gebe. Er sagte: 'Wenn sie schon diese Teufelsblume mit nimmt, soll sie gefälligst auch darauf aufpassen!' Und hat ihn mir einfach in die Hand gedrückt.“

Anna legte ihre Augenbrauen in gequälte Falten. Wie sollte ein Stein ihr helfen, die Blume mit Kraft zu versorgen? „Lass mich dir den Rücken waschen, Mama.“ sagte Shiro nun plötzlich und schien wieder „fröhlich“ zu sein – jedenfalls so fröhlich, wie man es von Shiro normalerweise kannte. Anna drehte sich um und Shiro griff nach einem Schwamm, der am Steinkreis lag, um Anna damit über den Rücken zu schrubben.

„Es ist gewachsen.“ gestand er nachdenklich. Seine Finger streichelten über die neuen, feinen Linien.

„Ja, ich weiß nicht wieso. Natürlich kommt manchmal was neues dazu, aber es waren nur Millimeter. Die eigentlichen Schübe hab' ich, wenn mein Geburtstag näher rückt.“ erklärte auch Anna gedankenversunken. Das plötzliche Wachsen des Mals machte ihr Sorgen.

„Es heißt nur, dass du stärker geworden bist.“ brummte Shiro beruhigend. Anna zeigte ihm ein gequältes Lächeln als Dank. Erst vor wenigen Tagen fühlte sie sich noch schwach, ihren Problemen nicht gewachsen. Shiros Behauptung, sie wäre stärker geworden, beruhigte sie zu einem Teil, zum anderen machte sie es traurig, ihn enttäuschen zu würden.

„Anna, ich will einen Kuss.“ Die Stimme des Wolfjungens war ungewöhnlich hoch für ihn. Anna drehte sich verwundert um.

„Was? Für was denn?“ wollte sie wissen.

„Als Entschuldigung.“ Shiros Gesicht war geprägt von Schamesröte. Er traute sich nicht, Anna anzusehen. Doch für Anna war nichts leichter als das – sie zog den Jungen an sich heran und küsste ihn auf die Stirn.

„Tut mir Leid.“ lächelte sie liebevoll und fuhr mit ihren Fingern durch das weiße Haar. Shiro wurde noch röter.

„Auf die Lippen.“ brummte er knapp. Annas Körper erstarrte kurz bei diesen Worten.

„Wieso?“ fragte sie und auch sie wurde nun rot.

„Als Entschuldigung.“ Der Weißhaarige machte dicht.

„Aber nur einmal, okay?“ keuchte Anna nun verschwitzt. Shiro nickte. Dann richtete er sich auf, beugte sich über Anna, zog ihr Kinn an sich heran und küsste sie. Es kam so schnell, wie es ging, und puterrot fielen die beiden wieder in ihre ursprünglichen Positionen ins Wasser. Niemand sagte etwas. Beide waren etwas verwirrt. Irgendwann stand Shiro auf – er schien wütend zu sein. Mit einem „Puff“ war er wieder der weiße Wolf, den Anna kannte. Müde und gebeutelt und vor allem klitschnass watschelte der Hund stocksteif Richtung Badehaus, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Anna wandte ihren Blick wieder zur Blume, ehe sie sich das warme Wasser ins Gesicht klatschte. Was war so toll an einem Kuss? Was war so wichtig daran? Sie konnte nicht einmal eine Blume damit zum Blühen bringen. Irritiert griff das Mädchen nach dem Topf, zog die Pflanze an sich heran und übersäte die Blüte mit Küssen. Nichts passierte. Stöhnend setzte sie die Blume auf dem Rasen ab, stieg aus dem Wasser, zog sich an und ging in ihr Zimmer. Shiro lag bereits auf dem gewohnten Bett und wartete darauf, dass Anna sich zu ihm legte. Sie stellte den Topf auf dem Nachttisch ab, legte sich unter die gemütliche Decke und kraulte das schneeweiße, glatte Fell, ehe sie einschlief.

Dark Hour

Irgendwas drückte Anna gegen den Magen. Nein, irgendjemand drückte sie gegen etwas. Gegen die Matratze vielleicht, denn das Mädchen spürte, wie dieses etwas unter ihrem Gewicht nachgab. Nicht nur ihrem Gewicht. Jemand saß auf ihrem Rücken. War sie nackt? Die Linien ihres Tattoos schmerzten. Sie brannten. Sie bluteten. Anna keuchte. Lange Nägel rissen die Haut auf ihrem Rücken auf. Warme Flüssigkeit lief über ihre Seiten und tränkte die schneeweiße Matratze mit Blut. Sie musste sich wehren. Irgendwie. Aber ihre Arme waren wie an ihren Seiten festgeklebt. Man hörte das Geräusch von reißender Haut. Es löste einen Würgreiz in Anna aus. Jetzt folgte das Fleisch. Tiefe, scharfe Nägel hatten sich bis zu ihren Muskeln vorgekämpft, wühlten in ihrem Rücken, zerrissen die Fasern. Etwas kratzte an ihren Rippen und ließ Anna erschaudern. Waren diese Hände schon bis zu den Knochen vorgedrungen? Der Schweiß perlte ihr von der Stirn. Wieso konnte sie nicht schreien, sich nicht bewegen? Wo war Shiro? Wo war Adam? Kai hatte Nachtdienst, oder? Wieso half ihr keiner?

Anna spuckte. Sie spuckte Blut. Die Klauen steckten in ihren Gedärmen. Sie spürte, wie ein Lachen hinter ihr aufblitzte. Am liebsten hätte sie zugeschlagen. Doch sie konnte sich immer noch nicht bewegen. Die Person steckte nun bis zu den Ellenbogen in Annas Rücken. Sie schien etwas zu suchen, aber was? Langsam kratzte ein langer, scharfer Nagel an ihrer Brust ... an ihrem Herz. Anna drehte sich ruckartig um. Shiros Schnauze lag auf ihrem Nacken, er leckte sie behutsam über die Wange. Stimmen ertönten. Verwundert öffnete Anna die Augen und sah sich um. Alle waren versammelt. Shiro lag neben ihr, besorgt wimmernd. Akira saß auf der Bettkante, Liam auf einem Stuhl. Mirai und Kai stritten sich gerade wegen irgendetwas. Anna setzte sich auf.

Nicht ganz sicher, wo sie war, rieb sie sich die verschlafenen Augen und blickte sich um. Es war das Zimmer, in dem sie gestern eingeschlafen war. Ihre Hände huschten über den Rücken, der immer noch mit einem T-Shirt bedeckt war. Er tat nicht weh, blutete oder brannte nicht.

„Was macht ihr alle hier…?“ fragte die Königin verschlafen. Ihre Stimme war merkwürdig heiser. Alle drehten sich um. Shiro legte seine Schnauze auf Annas Schoß und schloss die Augen. Akira griff nach Annas Hand, fühlte sie.

„Sie hat kein Fieber.“ stellte er überrascht fest. Anna zog die Hand weg, Akira war zu warm.

„Warum sollte ich auch?“ fragte sie giftig. Ihr Blick fiel auf die Blume auf dem Nachttisch. Sie hatte sich nicht verändert. Gähnend streckte sich die Königin. „Wann gibt’s Frühstück? Ich hab Mordshunger.“

„Anna, du hast zwei Tage lang geschlafen.“ Kai hatte sich auf die andere Bettkante gesetzt und fühlte Annas Stirn. Sie hatte wirklich kein Fieber.

„Willst du mich immer noch verarschen?“ fragte Anna genervt, doch Kai war über sie geklettert, um sie umzudrehen.

„Zeig' mir deinen Rücken.“ sagte er hastig und zog am Shirt. Ren und Liam hatten sich neben ihn gestellt, sagten jedoch nichts. Das Gefühl kam zurück – Gewicht lastete auf ihrem Rücken. Gleich würden die Klauen in ihr Fleisch schlagen.

„Lass mich los!“ schrie Anna entsetzt und schlug Kais Hand weg. Nackter Schweiß sammelte sich auf ihrer Brust. Irritiert entfernte sich Kai ein paar Zentimeter.

„Anna, bitte zeig uns deinen Rücken.“ sagte nun Rens ruhige, tiefe Stimme. Shiro war aufgestanden und sah sie erwartungsvoll an. Anna blickte verwirrt zu Liam, welcher nickte und ihr zu verstehen gab, sie solle sich ausziehen. Dann sah sie zu Akira. Dieser lächelte nicht, er sah besorgt aus. So besorgt, wie an ihrem 16. Geburtstag.

„Ich versteh' nicht, was ihr alle für 'nen Aufstand macht...“ Ihre Gesichter gaben Anna Grund zur Sorge. Sie kniete sich, mit dem Rücken zu den Männern, hin und zog sich das Shirt aus. Ihr Gesicht war der Wand hin gerichtet, dennoch spürte sie, wie alle Blicke auf ihren Rücken geheftet waren. Gewicht fiel vom Bett, als Akira wütend aufstand und gegen die Kommode trat. Ren seufzte. Kais lange, kühlen Finger fuhren über die Haut.

„Das kann nicht sein...“ flüsterte er leise und als ob er sich vergewissern wollen würde, fuhren seine Finger erneut über die warme Haut.

„Was?“ fragte Anna, nun komplett verwirrt und begann, böse zu werden. Konnte ihr bitte jemand mal sagen, was los war?

„Dein Tattoo ist kleiner geworden.“ Jegliche Farbe wich aus Annas Gesicht. Mit einem Ruck drehte sie den Kopf ihrem Rücken zu, konnte jedoch nichts sehen.

„Shiro.“ sagte sie sofort.

„Es stimmt.“ knurrte der Wolf nachdenklich. Er schien sich Sorgen zu machen. Auch Schuld konnte man aus seiner Stimme hören.

„Hast du dich verliebt?“ wollte Ren sofort wissen, der nun ebenfalls begann, Annas Rücken abzutasten.

„Nein.“ antwortete das Mädchen wahrheitsgemäß, dennoch entgegnete Ren nun wütend: „Lüg' mich nicht an!“

„Ich lüge nicht!“ fauchte Anna nun, ließ ihr Shirt sinken und drehte sich zu den Männern um. Ihr stockte der Atem. Kai schien blasser als Weiß zu sein. Liam und Ren sahen ebenfalls merkwürdig geschockt aus. Akira blickte Anna an, als wolle er sie umbringen. Das Gold in seinen Augen war kalt wie eine Klinge aus Stahl, als würde er sie jeden Moment anspringen und würgen wollen.

„Bist du dir sicher?“ zischte er leise und Anna zuckte zusammen. Er klang wie eine andere Person. Sie traute sich nicht, ihre Stimme zu erheben, also nickte sie einfach. Akira seufzte.

„Aber ich kann nicht glauben, dass es kleiner geworden ist...“ murmelte Anna. „Seid ihr euch sicher?“ fragte sie vorsichtshalber nach.

„Ich hab' es gesehen, als ich nachts auf dich aufgepasst habe und bei unserem Date. Und Shiro sagte, er hätte es vor zwei Tagen im Bad gesehen.“ antwortete Kai. Seine Hand ruhte nachdenklich auf seiner Stirn.

„Du meinst gestern?“ Anna war noch verwirrter.

„Wir haben dir bereits gesagt, dass du zwei Tage lang geschlafen hast.“ fauchte Mirai erschöpft und ließ sich ans Ende des Bettes fallen.

„Das kann nicht sein.“ Anna griff nach ihrem Handy und sah auf die Uhr. Es war Montagmittag. Sie waren Samstagmittag hier angekommen… Das Mädchen starrte auf das Smartphone. Was war passiert? Hatte es mit dem Traum zu tun?

„Welcher Traum?“ Liams Stimme hallte durch den Raum wie ein plötzlicher Starkregen. Verwundert sah Anna ihn an, erinnerte sich aber dann an die Tatsache, dass er als Waldgott Gedanken hören konnte. Sie schnalzte genervt mit der Zunge. Dann seufzte Liam und auch er legte sich die Hand ins Gesicht, als würde er erschöpft sein.

„Was? Erzähl' es uns.“ bellte Akira nun. Wieso war er so wütend? Anna schwieg und musterte den Rotschopf. Er sah nicht normal aus. Konnte er eigentlich nicht normalerweise ahnen, was Anna auf dem Herzen lag? Liam begann zu erzählen. Seine Worte hielten Anna so real vor Augen, was sie erst vor kurzer Zeit gesehen hatte, dass sie erneut wie eine Wachsfigur erstarrte. Akira und Mirai sahen Anna ungläubig an, als Liam fertig war.

„Klingt wie ein Fluch.“ schlussfolgerte Sherlock Ren nun. Mirai sprang auf die Füße.

„Was für ein Fluch? Von wem?“ fauchte er.

„Es ist die Schuld dieser scheiß Pflanze!“ Akiras Stimme war unnormal laut. Er deutete auf die Blume, die regungslos auf dem Nachttisch verharrte, doch bevor er einige Schritte auf sie zumachen konnte hatte sich Anna den Topf schon gekrallt und hielt ihn schützend in ihren Armen.

„Ist es nicht!“ fauchte sie zurück.

„Was hast du damit gemacht? Hast du sie geküsst?“ Akira, der eigentlich die Pflanze anvisiert hatte, ging nun schnellen Schrittes auf Anna zu.

„Ein paar Mal.“ gab Anna zu, konnte ihre Wut jedoch nicht unterdrücken. „Das war doch der Sinn unseres Besuches, oder?“ fügte sie zischend hinzu. Mit einem Schlag verstummte sie. Akira hatte eine Hand neben Anna abgestützt, die andere gegen die Wand zu ihrem Rücken geschlagen. Er war Anna so nah, wie er es im Park gewesen war, als er den Kuss an täuschte. Doch diese Atmosphäre schmeckte überhaupt nicht nach Kuss: Die Pupillen von Akira zogen sich zu Schlitzen zusammen. Jegliche Wärme war aus seinen Augen gewichen. Er sah aus wie ein Biest, das sie auf der Stelle zerreißen wollte, als würde er sie wirklich töten wollen. Für eine Sekunde fühlte Anna, wie Terror ihre Zellen erschütterte. Warum war er nur so aufgebracht?

Kai stieß Akira von Anna weg und hielt ihn fest. „Was glaubst du eigentlich, was du da tust?“ zischte er den Rotschopf an und bohrte seine Finger in Akiras Schulter.

„Leg' dich nicht mit mir an, Blutsauger.“ gab Akira wutentbrannt zurück und legte seine Hand wiederum an Kais Hals. Beide begannen fest zuzudrücken. Kai, der normalerweise nach Luft schnappen müsste, blickte Akira kalt und emotionslos in die Augen, völlig unbeeindruckt. Nun war Anna diejenige, die auf ihre Füße sprang. Sie stand weit über allen anderen, da das Bett ihr einen Vorteil verschaffte.

„Hört sofort auf mit der Scheiße.“ Ihre Stimme war klar und kalt wie eine Winternacht. Nicht die romantische Art von Nacht, in der Schnee leise fiel und man sich der Liebe hingab, nein, die Art von Nacht, in der das Eis dir das Blut in den Adern gefrieren ließ und der kalte Wind dir die Haut zerfetzte. Beide Männer ließen einander los. Kai rieb sich über seinen Hals.

„Es ist nicht die Schuld der Blume.“ schnauzte Anna nun, sprang vom Bett und stellte das Pflänzchen wieder auf den Nachttisch. „Ich bin auch nicht verliebt.“ fügte sie gehässig hinzu. Liebe war zweifelsohne das letzte, woran sie gerade dachte. „Und wenn euch mein Tattoo nun zu klein ist, seid ihr herzlich willkommen, mich in Ruhe zu lassen.“

Der Raum war erfüllt von einer aggressiven Stille. Mirais Blick war auf Anna fixiert, musterte sie. Ren und Liam hatten ihre Blicke bereits abgewandt – Liam starrte gedankenversunken zur Pflanze, Ren begutachtete Akira, welcher immer noch eine mörderische Aura ausstrahlte. Kai setzte sich wieder auf Annas Bett, während diese begann, nach Klamotten zu suchen.

„Ich geh' nicht.“ sagte Mirai nun gelassen und ließ sich neben Kai auf dem Bett fallen. Er war der einzige, der das sagte.

„Wir suchen erst mal nach dem Grund dafür, bevor wir irgendwelchen eiligen Schlüsse ziehen.“ murmelte Ren nun und ging zur Tür. Akira war noch vor ihm aus dem Raum. Anna, die sich nun Shirt und Jeans gegriffen hatte, schaute zu Kai und Liam. Liam würde bleiben. Das sagte ihr sein Blick. Annas und Kais Augen trafen sich in der Mitte, schnell wandte er den Blick ab. Anscheinend hatte auch er vor, zu bleiben.

„Akira ist ein Arschloch.“ schnauzte Mirai nun und stand vom Bett auf. „Wer hätte gedacht, dass er so schnell weg ist, huh?“ Er musterte Anna aus den Augenwinkeln, während diese nach einem Paar Socken suchte. Wollte er Emotionen sehen? Wut? Trauer? Sein Blick fiel auf die Unterwäsche, die Anna nun hervor holte, und schnell drehte er sich der Tür zu. „Wir sollten gehen, damit die Königin sich anziehen kann.“ sagte er laut und Liam und Kai setzten sich ebenfalls in Bewegung. Die Tür fiel ins Schloss. Shiro schnaufte kurz, sprang dann vom Bett und wurde mit einem „Poof“ zum Menschen. Er stand neben Anna, legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie kniete immer noch über der Tasche, hatte aber aufgehört zu kramen und zu suchen. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen.

„Shiro… Waren die ganzen 16 Jahre umsonst?“ flüsterte Anna nun heiser. Der Junge kniete sich hin. Er legte einen Arm um die Blondine, beugte sich hinunter, um ihr Gesicht zu sehen. Stille Tränen kullerten über ihre Wangen. 'Denkst du, ich nutze dich aus?' hatte Akira sie mal gefragt. Nach dieser Aktion konnte Anna wohl kaum etwas anderes denken, oder? Anna wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen. Shiros warme, raue Hand streichelte beruhigend über ihren Rücken.

„Ich dachte für eine Zeit, dass es wegen dem Kuss war.“ seufzte er leise. Anna spürte sofort, dass er sich schuldig fühlte. Auch sie legte ihren Arm um den Jungen, der nun sehr viel größer erschien, als sie selbst.

„Selbst wenn, wärst du es mir wert. Und wenn du der einzige wärst, den ich jemals lieben würde, würde es mir nichts ausmachen.“ weinte das Mädchen leise. Dafür gewann sie Shiros Umarmung.

„Du brauchst einen richtigen Mann, Mama. Ich reiche leider nicht.“ seufzte er in ihr Ohr. Anna zerbrach unter diesen Worten. Wie würde sie jemanden finden, wenn ihre Kräfte schwinden? Würde sie ein normales Leben mit normalen Menschen führen würden?

„Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll...“ Und in diesem Moment wurde Anna erneut, wie so unzählige Male, schmerzhaft bewusst, dass der einzige, der sie gerade wirklich trösten könnte, nicht mehr bei ihr war. „Wo ist er… Wo ist Adam...“ heulte das Mädchen erstickt und vergrub ihr Gesicht in ihren Knien. Shiro antwortete nicht. Seine Hand fuhr über den kleinen, blonden, bebenden Kopf und tat das für eine sehr lange Zeit.

Als Anna endlich angezogen war und die beiden Richtung Festsaal zum Essen liefen, bemerkte sie, wie groß Shiro eigentlich geworden war. In den zwei Tagen, in denen sie ausgeknockt gewesen war, hatte der Junge es geschafft einen Kopf größer zu werden als seine Mutter. Er wirkte überhaupt nicht mehr wie ihr kleiner Junge – er hatte die Ausstrahlung eines Erwachsenen, wirkte nun sogar älter als sie.

„Wieso bist du eigentlich so in die Höhe geschossen?“ wollte die Königin wissen, als es ihr auffiel.

„Jedes Mal, wenn du mich küsst, krieg' ich einen Teil deiner Kraft. Ich dachte du wüsstest das.“ brummte der Wolf. „Deswegen habe ich ja auch gedacht, dass es meine Schuld ist, dass dein Tattoo jetzt so...“

„Schon okay.“ unterbrach ihn Anna hastig. „Ich glaube nicht, dass es daran liegt.“ Sie hatte Shiro oft genug geküsst, auch wenn nicht auf die Lippen, ohne dass ihr Tattoo geschrumpft war. Es war trotzdem stetig weiter gewachsen. Die Gänge füllten sich allmählich mit Leuten, angenehmer Luft und Gesprächen. Langsam hörte man auch die Musik und das Klatschen der Affen aus dem Festsaal. Die Türen waren weit geöffnet und Shiro führte Anna zu einem Platz abseits ihrer Heiratskandidaten.

„Danke.“ sagte Anna und war wirklich dankbar dafür, die Gesichter der fünf im Moment nicht zu sehen. „Gibt es schon was Neues von Toki?“ fragte sie ihren Sohn und nahm sich einen der Baozi. Shiro schüttelte den Kopf.

„Ich war die ganze Zeit bei dir, ich weiß es nicht.“ Anna blickte sich um, vielleicht war er ja schon aufgewacht. Sie sah die Affen, die Zwillinge, die ihr freudig zuwunken und erstaunlich gewachsen waren, sah Mirai wie er mit Akira ein Armdrücken veranstaltete, einen tuschelnden Ren und einen zuhörenden Liam, aber keinen Kai. Ein paar Wölfe liefen herum und schnupperten am Essen.

„Habt ihr euch hier mittlerweile eingelebt?“ fragte Anna nun neugierig. Sie hatte ganz vergessen, dass die Wölfe zum Teil hier arbeiten mussten. Shiro nickte erneut und griff sich ein Stück Fleisch.

„Gab anfänglich ein paar Zickenkriege, aber jetzt geht’s...“ murmelte er zwischen den Bissen. Er erinnerte sie in diesem Moment merkwürdig an Tristan.

„Abgeregt?“ flüsterte eine Stimme in Annas Ohr und das Mädchen zuckte zusammen. Kai ließ sich neben ihr sinken und betrachtete die Speisen. Anna nickte nur und schaufelte sich weiterhin Essen in den Magen.

„Du solltest nicht sauer auf die anderen sein.“ redete der Vampir weiter und begann endlich, nach einer der Speisen zu greifen. „Sie machen sich nur Sorgen.“

„Ich dachte, Akira bringt mich um.“ schnauzte Anna gehässig. Bei diesem Thema verflog ihr langsam der Appetit.

„Dachte ich auch.“ gab Kai schmunzelnd hinzu. „Deswegen bin ich ja dazwischen gegangen.“ Annas Herz machte einen Hüpfer. In diesem Moment hatte Kai sie wirklich beschützt. Aber war sie überhaupt in einer lebensgefährlichen Situation gewesen? Ihr Blick schwenkte rüber zu Akira, der immer noch versuchte, Mirais Arm runter zu drücken. Er schien so lebendig und fröhlich zu sein, wie Anna es von ihm kannte. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Was, wenn sie nicht mehr gut genug war? Würde Akira wirklich einfach gehen?

Kai musterte das Mädchen, seufzte und fuhr mit seinen Fingern durch ihren Pony. „Denk' nicht daran.“ säuselte er leise.

„Woran?“ fragte Anna und versuchte, so gut wie möglich, nicht so zu klingen, als wüsste sie, was er meinte.

„Egal woran du gerade gedacht hast. Jede Nacht plagst du dich mit deinen Sorgen herum, du musst nicht alles alleine schultern, weißt du.“

„Müsste ich nicht, wäre Adam noch hier.“ knirschte Anna leise und biss auf ihren Stäbchen herum. Auch dieses Thema schlug ihr heftig auf den Magen.

„Egal, was dein Bruder für dich getan hat, ich kann's auch.“ seufzte Kai, ließ Annas Stirn in Ruhe und wandte sich wieder seinem Gericht zu. Shiro schnaubte kurz höhnisch und fing sich dafür einen bösen Blick von dem Vampir ein. Und dann begannen sie zu streiten.

„Du glaubst also nicht, dass ich mich um Anna kümmern kann?“ fauchte der Vampir.

„Ich glaube nicht, dass du ihr Bruder sein willst.“ lachte Shiro gehässig und das Lachen erinnerte Anna erschreckend an Silvers.

„Will ich auch nicht. Ich sag' nur, dass ich längst das kann, was ein Shiki tut, wenn nicht sogar noch mehr.“

„Du weißt doch überhaupt nicht, was ein Shiki tut.“ bellte Shiro nun. Wieso regte er sich so auf? Anna blickte verwundert zu dem weißhaarigen Wolfsjungen. „Außerdem war Adam nicht nur ein Shiki, er ist ihr Bruder, ihre Familie.“ Shiro war aufgestanden. Auch Kai erhob sich.

„Sie kann eine neue Familie kriegen.“ gab er kühn zu, bereit zu kämpfen.

„Sie hat eine Familie, die sie braucht und liebt.“ schnauzte Shiro. Er war überhaupt nicht mehr gelassen, geschweige denn emotionslos.

„Oh, und das bist du?“ wollte Kai nun wissen und schmiss seine Stäbchen auf den Tisch.

„Verdammt richtig. Und ihre Mutter. Und Adam.“ erwiderte Shiro. Sein angriffslustiges Grinsen entblößte die scharfen, blitzweißen Reisszähne. Dennoch wurde Anna leicht rot als er das einfach so sagte.

„Was'n hier los?“ fragte Akiras altbekannte, lockere Stimme. Anna verharrte in ihrer Position, wie ein Reh, das von Scheinwerfern erfasst wurde. Sie wollte nur in Ruhe essen, wieso ging das nicht? Sie spürte, wie sich für eine Sekunde Akiras Augen in ihren Nacken bohrten, dann aber zu Shiro und Kai schwenkte.

„Wenn ihr euch prügeln wollt, tut es draußen.“ schnauzte der Rotschopf erschöpft.

„Oh, das hat dich vorhin aber nicht abgehalten oder?“ fragte Kai nun kess und wandte sich Akira zu.

„Ich weiß nicht, das Gefühl dich zu erwürgen hat mir erstaunlich gut gefallen. Willst du es noch mal versuchen?“ Akiras Lächeln wandelte sich wieder zu dem eines kaltblütigen Mörders. Shiro stampfte mit dem Fuß auf den Boden.

„Habt ihr überhaupt keinen Anstand?“ wollte er nun wissen. „Sich so vor Anna zu verhalten… Vor allem du, Akira.“ Hass schwang in seiner Stimme mit. „Dass du dich nicht schämst...“

„Ich? Mich schämen?“ wollte Akira nun wissen, drückte Kai beiseite und ging ein paar Schritte auf Shiro zu. „Guck dich an. Erwachsen wie du bist, gehst du immer noch mit Anna baden und machst weiß Gott was mit ihr. Und du bist seit dem merkwürdig gewachsen, oder? Was hat sie getan? Hat sie dich geküsst? Und dann soll ICH mich schämen?“ Er wurde immer lauter. Immer wütender.

„Ich...“ Shiro lief knallrot an. Anna wusste sofort, dass er immer noch die mentale Reife eines Kindes hatte, auch wenn er im Körper eines Erwachsenen steckte. Das Mädchen erhob sich und drehte sich um, um an den drei Streitenden vorbei zu sehen und die Affen-Zwillinge zu sich zu rufen.

„Bringt mir das Essen bitte aufs Zimmer.“ Sie trug ein Lächeln auf den Lippen und die zwei kleinen, die es mittlerweile auch schafften, sich eine menschliche Form zuzulegen, grinsten bis über beide Ohren. Hastig begannen sie, leere Teller mit Speisen zu füllen. Dann wandte sich Anna den Streithähnen zu.

„Ihr verhaltet euch wie kleine Kinder.“ Das Lächeln verblasste. Anna blickte Shiro an: „Du kannst aufhören, dich für mich aufzuregen. Ich habe keine Lust, dass du dich wegen sowas mit jemandem prügelst.“ Sie erinnerte sich an die Worte, die ihre Mutter mal in so einem ernsten Tonfall an sie gerichtet hatte. Dann wandte sie sich Akira zu: „Du hast kein Recht, zu erfahren, wen ich küsse oder nicht. Vor allem nicht nach dem, was du getan hast.“ Und zu guter Letzt, Kai: „Ich finde es schön, dass du dich so für mich einsetzt, aber wenn du meine Familie angreifst, sind wir keine Freunde mehr.“

Es war einfach, das alles zu sagen. Anna musste nicht einmal mehr wütend werden. Sie hatte nur essen wollen, ihre Zeit in Ruhe und Frieden mit ihren geliebten Freunden und Familienmitgliedern verbringen können. Doch das ging nicht. Der Königin war nicht klar, wieso. Was hatte sich geändert? Eigentlich hatten sich doch alle gut miteinander verstanden oder? Oder war es nur wegen dieser Blume? Wegen ihrem Tattoo? Kaum wurde etwas an der Kraft in ihr anders, schon wandten sich alle von ihr ab und dem Kampf zu?

„Du verstehst nicht, Anna...“ fing Akira an. Jegliche Boshaftigkeit war seiner Stimme gewichen. Auch Kai begann, Anna aufhalten zu wollen. Shiro schien nicht einmal Worte zu finden. Ohne ein weiteres Wort begann das Mädchen, Richtung Ausgang zu laufen, gefolgt von zwei kleinen Affenmenschen. Shiro traute sich nicht, Anna hinterher zu gehen. Als hätte sie ihm das Herz gebrochen fiel er auf seinen Po und starrte, den Tränen nahe, auf seine Füße. Auch Akira und Kai setzten sich seufzend und deprimiert wieder hin. Alle wollten dem anderen die Schuld geben, aber niemand sagte es, weil sie genau wussten, dass auch sie Schuld an Annas Gehen hatten. Akira seufzte genervt, griff sich eine Flasche Bier und stand auf, um ebenfalls zu gehen. Der nächste war Kai. Und zurück blieb Shiro, immer noch mit Tränen kämpfend.

Ein haarbreit Hoffnung

Annas Füße waren träge, als sie durch die Flure lief. Die Zwillinge folgten ihr, schienen glücklich zu sein, sprachen aber nicht. Wahrscheinlich waren sie der menschlichen Sprache einfach noch nicht mächtig. Die platschenden Geräusche ihrer nackten Füße hallten über den Dielenboden durch die Gänge. Sie folgten Anna zu ihrem Zimmer, betraten es aber nicht, wahrscheinlich wegen dem Miasma. Das Zimmer wirkte dunkel, fast schwarz, obwohl es gerade mal früher Nachmittag war. Die Äffchen stellten die Tabletts mit den Speisen ab und verabschiedeten sich. Die Königin brachte das Essen in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Sie wollte keinen sehen. Sie wollte nur einen sehen. Manchmal fragte sich das Mädchen, ob Adam sie von den Schatten der Winkel und Ecken in diesem Zimmer beobachtete, ob er immer noch auf sie aufpasste. Sie fühlte sich nicht ganz, wenn er nicht da war.

Seufzend glitt das Mädchen wieder unter die Bettdecke und starrte an das verzierte Holz, das Sun Wukongs Geschichte erzählte. Die Blume neben ihr spendete ein bisschen Licht. Ab und zu flackerte es, als die Blüte zuckte. Annas Blick wandte sich der kleinen Pflanze zu. Die Knospe war auf jeden Fall größer geworden. Vielleicht brachten die Küsse doch etwas? Sie beugte sich vor, führte die Knospe an ihre Lippen und küsste das kostbare Pflänzchen. Dass ihre Kraft schrumpfte war weder Shiros Schuld, noch die der Pflanze. Anna vertraute Toki – er würde ihr keine Pflanze andrehen, die Anna letztendlich leer saugen würde. Oder vielleicht war es so? Zweifel kamen auf. Er hatte Anna nie wirklich die Pflanze anvertraut, stattdessen hat er lieber seine eigene Lebensenergie benutzt, bis er ins Koma fiel. Vielleicht, damit die Königin eben jenes nicht tun würde?

Die zarten Fasern der Blüten streichelten über Annas Fingerkuppen, als sie sich von der Pflanze trennte. Das einzige, was Anna tun konnte, war hoffen. Hoffen, dass sie die richtige Entscheidung traf, dass ihre Kräfte nicht wegen der Pflanze schwanden und die anderen, restlichen Leute, die sie kannte und liebte, nicht auch noch verschwinden würden. Vor allem Toki schien in einer unglaublichen Gefahr zu schweben. Anna stand ruckartig auf. Wieso lag sie hier herum und blies Trübsal, während Toki in Lebensgefahr war?

Sie küsste die kleine Blüte noch einmal, zog sich ihre Hausschuhe wieder an und begab sich Richtung Tokis Zimmer. Es dauerte eine Weile, bis sie die ganzen Gänge durchschaut und die richtigen gefunden hatte. Tokis Zimmer war nicht verschlossen gewesen – leise trat das Mädchen ein und schloss noch leiser die Tür hinter sich. Niemand außer den beiden war da.

Toki lag immer noch stocksteif im Bett. Er war nicht mehr so leichenblass wie vorher, dennoch sah er sehr krank aus und schien nicht all zu bald wieder aufzuwachen. Still seufzend setzte sich Anna auf die Bettkante und streichelte über die trockene, kühle Stirn des Elfs. Es hatte fast den Anschein, als würde er schlafen. Ihm fehlte Lebensenergie oder? Annas Kräfte begannen zu schwinden. Wenn es wirklich dazu kommen würde, dass sie sich komplett auflösten und alle sie verlassen würden, dann könnte sie wenigstens eine Sache noch tun oder?

Anna beugte sich vor. Ihre Lippen berührten die sanfte, spröde Haut, die sie gerade noch gestreichelt hatte. Mit all ihrer Kraft hoffte sie auf ein kleines Wunder. Ein Wunder, dass es Toki ermöglichen würde, wieder aufzuwachen. Seine strahlend blauen Augen zu öffnen, Anna anzugrinsen und zu begrüßen, als wäre nichts passiert. Sie wusste ganz genau – selbst wenn jeder gehen würde, würde Toki bei ihr bleiben. Es war einfach das Vertrauen in dieses treue, liebevolle Herz, dass er besaß, und Anna hoffen ließ. Als das Mädchen ihre Augen öffnete, starrte sie auf die langen, schönen Wimpern Tokis Augenlider. Er schlief weiter. Anna wusste nicht ob sie lächeln oder weinen sollte. Bei all ihren Erwartungen war es doch immer noch klar, dass ein Kuss ihn nicht aufwecken würde. Das hier war kein Märchen, in dem die Prinzessin durch einen Kuss urplötzlich wieder auf den Beinen stand und quietschfidel war. Das Bett knarzte leicht, als Anna sich wieder zurück lehnte. Sie wischte sich mit einem Finger am Auge entlang, um ihre Tränen davon abzuhalten, raus zu kommen. Sie durfte nicht weinen, sie musste stark sein. Aber für wen musste sie eigentlich stark sein? Für sich? Für Adam? Für die Leute, die Erwartungen in sie steckten? Für die Leute, die sie ausnutzen wollten?

Das Zimmer war genau so dunkel, wie als Anna es verlassen hatte. Shiro war nicht wieder gekommen. Die Glockenblume tänzelte leicht, als Anna zurück zum Bett lief und sich wieder hin legte. Stark sein war nicht einfach. Tatsächlich stellte sie sich gerade die Frage, wie man überhaupt stark sein konnte. War es Gewalt? War es Willenskraft? Musste man sich einfach nur sagen 'Ich mach das jetzt' und wenn man daran scheiterte, solange weiter probieren, bis es schließlich mit Erfolg gekrönt wurde? Das Mädchen wälzte sich herum. Ihr Blick war auf die Blume fixiert, die immer noch sachte hin und her schwang. Es steckte Leben in diesem kleinen Pflänzchen, dachte Anna sich. Leben, das für den Fortbestand der Feen und Elfen entscheidend war.

Eine Flutwelle aus Erinnerungen schwappte erneut durch Annas Gedanken. Wie Akira sie angeschaut hatte, die Gewaltbereitschaft, die er gezeigt hatte… Sie war wie ein kleines Mädchen vor ihm zusammen gezuckt. Da war sie schwach gewesen. Als sie den Streit zwischen ihm und Kai beendet hatte, war sie da stark gewesen? Das Blümchen erzitterte, als würde es Anna für einen Moment auslachen.

Am nächsten Morgen griff das Mädchen sofort zum Handy. Irgendwann war sie eingeschlafen und sie kreuzte ihre Finger, während sie nach dem Datum auf dem Smartphone spähte. Es war nur eine Nacht verstrichen. Alles okay. Als nächstes begutachtete die Königin die Blume: Still und ohne jegliche Bewegung hing die Knospe immer noch geschlossen an dem Stiel. Allerdings war sie jetzt faustgroß, bestimmt das Dreifache ihrer gestrigen Größe. Ein triumphierendes, aber müdes Grinsen machte sich auf Annas Gesicht breit. Als nächstes war ihr Rücken dran. Hastig zog sie das Shirt über die Schultern und rannte zum Spiegel, um ihren Rücken zu begutachten. Ihre Haare fielen ihr über die Schultern und tatsächlich, musste Anna schmerzhaft feststellen, tatsächlich war ihr Tattoo merkwürdig klein geworden. Es schien sich in der Mitte ihres Rückens zu zentrieren, als würde es seine Fänge aus Annas Schultern lösen und wieder einfahren. Bei diesem Gedanken blätterte Anna die Haare wieder über ihren Rücken, um ihre Schultern zu begutachten. Die kleine Linie, die sie beim Date mit Kai entdeckt hatte, war immer noch da. Tatsächlich war sie sogar gewachsen: Sie breitete sich vom Schulterblatt aus über ihr Schlüsselbein. Die Linie war nicht breiter als eines von Annas Haaren, aber sie hielt daran fest, dass es wirklich eine Linie ihres Tattoos war und keine merkwürdige Schlaffalte. Wenn das stimmte: Wuchs das Tattoo einfach an anderen Stellen weiter? War es fertig mit ihrem Rücken? Sofort sprang Anna aus ihren Klamotten, um weitere Anzeichen von Linien im Spiegel zu finden. Doch nichts. Egal, welche Pose Anna einnahm, sie konnte nichts finden. Gerade in diesem Moment flog die Tür auf. Erschrocken drehte sich Anna um. Erschrocken sah Kai sie an, machte auf dem Absatz kehrt und wollte wortlos wieder gehen, doch Anna sprang auf ihn zu und zog ihn ins Zimmer.

„Kai.“ sie sah ihn mit weit aufgerissenen, kristallblauen Augen an.

„Ich hab' nichts gesehen.“ sagte der junge Mann sofort, schloss die Augen und sein Gesicht bildete den perfekten Farbübergang von rot nach violett in seine Haaren.

„Kai, guck' hin.“

„Nein.“ Er weigerte sich immer noch. Nun schlug er sich die Hände vor die Augen und richtete den Kopf an die Decke. Anna packte sich Kais Gesicht und führte es an ihre Schulter.

„Mach' die Augen auf und sag mir, dass du das siehst.“ Ihre Stimme war ein kaltes, aufgeregtes Flüstern geworden. Unweigerlich öffnete Kai seine schwarzen Augen einen Spalt breit und begutachtete Annas Brüste… Natürlich Schulter. Eine feine, schwarze Linie zog sich über Annas Schulter über das Schlüsselbein und endete in kleinen Schnörkeln. Sofort öffnete Kai die Augen vollends und zog Annas Schulter näher an sich heran.

„Du siehst es oder?“ fragte das Mädchen aufgeregt. Ihr Herz raste vor Spannung, ihr Blut floss schwallartig durch ihre Venen. Kai spürte es sofort und ließ die Schulter los, um Abstand zu gewinnen. Er drehte sich weg.

„Ich sehe es. Aber zieh dir bitte was an.“ murmelte er eingeschüchtert.

„Du darfst es nicht den anderen sagen.“ sagte Anna sofort bestimmt und drehte sich erneut dem Spiegel zu, Kais Bitte ignorierend, um die Linie zu mustern.

„Wieso nicht? Alle machen sich Sorgen, dass du die Kräfte verliert.“ Kais Stimme wurde immer leiser, während er Annas nackten Rücken und Po anstarrte. Das Tattoo, das sich einst über ihren ganzen Rücken mit feinen Linien erstreckte, war dichter und kompakter, aber halt auch kleiner geworden.

„Nein. Sie dürfen es nicht wissen. Wenn ich mich in jemanden verliebe, soll es jemand sein, der mich auch ohne diese Macht lieben würde.“ Anna war begeistert. Nichts hatte sich geändert, rein gar nichts. Sie war weiterhin die Königin. Kai verzog sein Gesicht.

„Und da ich es weiß, fall' ich automatisch raus oder was?“ fragte er schmollend, drehte sich um und warf Anna Kleidung entgegen, welche sich letztendlich durch den ganzen Raum verteilte.

„Natürlich nicht.“ grinste Anna selbstbewusst. „Das macht es nur zu unserem kleinen Geheimnis.“ Wann war sie das letzte Mal so motiviert gewesen? Feuer pochte in ihrem Herzen.

Erneut flog die Tür auf und Mirai stand im Raum. Sein Blick glitt über den Fußboden und das Bett, wo Annas Wäsche überall verteilt lag, dann zu Anna, die nackt vor dem Spiegel stand und letztendlich blieb er bei Kai hängen, der gerade bemüht war, Annas Unterwäsche einzusammeln. Nie hätte man gedacht, dass dieses braune Gesicht jemals so weiß werden könnte.

„Du… Sie… Du-“ begann Mirai, völlig losgelöst und heiser. Anna drehte sich um. Sie wurde knallrot.

„RAUS!“ schrie sie sofort und bedeckte ihre Schultern und Brüste mit ihren Händen.

„WIESO KAI?“ brüllte Mirai los und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Kai stand auf.

„Nichts ist mit Kai! Beide raus!“ schrie Anna zurück und lief seitlich zum Bett, um nach der Bettdecke zu schnappen und sie sich um den Körper zu wickeln.

„DAS KANN NICHT DEIN ERNST SEIN! Also bist du doch verliebt!“ Mirai war komplett außer sich. Kai machte einen Schritt auf ihm zu, was ihm damit gedankt wurde, dass der Affenkönig ihn an den Schultern packte, bereit um zuzuschlagen.

„Ich hab' nichts mit Kai gemacht, er hat mich nur überrascht und dann wollte er mir Kleidung geben, also lass' gut sein! RAUS JETZT!“ Kai zerrte den murrenden Mirai aus der Tür in den Gang und schloss die Tür hinter sich.

„Sie wollte nur wissen, ob ihr Tattoo wirklich geschrumpft ist.“ erklärte Kai leicht eingeschüchtert, denn Mirai war alles andere als zufrieden. Sein Gesicht hatte an Farbe wieder gefunden – wutentbrannte Röte stieg ihm bis unter die Augen und er starrte Kai an, als wolle er ihn töten.

„Ist ja schön, wie ihr beide einfach los lügen könnt.“ knurrte er wütend und schleuderte Kai an die gegenüberliegende Wand. „Ein scheiß Vampir wie du soll eine Königin abkriegen? Ich glaub' es hackt.“ fauchte er.

„Sie ist keine richtige Königin, wenn sie keine Macht mehr hat, oder?“ gab Kai gehässig zurück und schlug die Hand weg, die sich an seinem Kragen festhielt.

„Das hat damit nichts zu tun. Ich überlass' dir Anna nicht. Geh' irgendein Menschenweib vögeln oder aussaugen, aber sie wird nicht zu deiner Sklavin.“

„Was ist hier los?“ Ren tauchte auf. Erneut sah er, wie jemand Kai an die Gurgel wollte, und seufzte.

„Dieser Perverse hat Anna nackt gesehen!“ schrie Mirai sofort, packte Kai am Kragen und zerrte ihn vor Ren. Dieser hob kurz die Augenbrauen, musterte Kai und wandte sich dann an Mirai.

„Und? Hat er ihr Blut getrunken oder sie entjungfert?“ Ren war mehr als kühl, als er das fragte. Mirai war immer noch rot vor Zorn, doch ihm fiel keine Antwort ein. „Er hat kein Blut an sich und wenn er Anna ins Bett gekriegt hätte, hätten wir es gespürt. Es war bestimmt nur ein Missverständnis.“ nahm Ren Kai in Schutz und löste den starken Griff Mirais. Kai richtete sich sein Hemd.

„Sag' ich doch.“ murmelte er teilnahmslos und begann, zu gehen.

„Allerdings, Kai, finde ich es doch etwas verstörend, dass du solche Einblicke bei Anna hast. Lass das. Du sollst nachts nur auf sie aufpassen.“ ermahnte ihn Ren ein letztes Mal, doch Kai schaffte es, das zu ignorieren. Immerhin hatte er eine Sache, die ihn bei Laune hielt: ihr kleines Geheimnis.

Nichts konnte Anna an diesem Tag mehr aus der Fassung bringen. Vergnügt saß sie am Frühstückstisch, wuschelte Shiro liebevoll zur Begrüßung durch die Haare und verschlang einen Bissen nach dem anderen. Akira lief an ihr vorbei, wollte etwas sagen, schwieg dann jedoch und lief weiter. Anna hatte ihr Frühstück innerhalb von zehn Minuten hinunter geschlungen und sprang auf.

„Shiro, wir gehen zu deinem Papa.“ grinste das Mädchen breit. Shiro schaute kurz zu Anna, musterte sie, erhob sich dann und lief mit schuldvoller Miene Richtung Flur, um sich die Schuhe anzuziehen.

„Können wir mitkommen?“ fragte Mirai nervös. Anscheinend gefiel ihm die Idee nicht mehr, Anna alleine zu lassen.

Mit einem strahlenden Lächeln drehte sich Anna im Rahmen der Haustür um, musterte Mirais nervöse Miene und lachte: „Nein.“

Der Weg zum Alpha war genau so, wie Anna es in Erinnerung hatte: Gewundene Pfade, gepflastert mit dicken Ästen und Schlingpflanzen, pure Natur eben. Shiro führte den Weg an und nach einer halben Stunde fanden sich die zwei auf der alten Lichtung wieder, auf der Silver anscheinend gerade ein Nickerchen machte. Als Anna die Lichtung betrat öffnete Silver eines seiner dunklen Augen.

„Oh, wenn das nicht unsere Königin ist.“ brummte die tiefe Stimme und Anna spürte, wie der Boden unter dem Bass erzitterte.

„Hallo, Silver.“ Das Mädchen setzte sich auf den Boden vor ihm, streichelte ihm kurz über die Tatze, die so groß war, wie ihr ganzer Torso und verfiel dann in ein Schweigen. Bedrückt ließ Shiro sich neben Anna nieder.

„Was hast du mit meinem Sohn gemacht?“ knurrte der Wolf beim Anblick der erbärmlichen Gestalt.

„Oh, er wollte sich gestern prügeln und ich hab's unterbunden.“ lachte Anna.

„Wenn du deshalb hier bist… Ich misch mich nicht in deine Erziehung ein.“ seufzte der Alpha genervt, legte seinen Kopf wieder auf die Pfoten, schnaufte, und schloss die Augen. Als er die Luft durch seine Nase ausblies wurde Anna von einer frischen Böe erfasst. Seine Nase lag direkt vor ihrem Gesicht.

„Nein. Deswegen bin ich nicht hier.“ Shiro blickte Anna verwirrt an. Anscheinend hatte er wirklich damit gerechnet, jetzt auch noch einmal von seinem Vater gerügt zu werden. Als Silver nicht nach fragte, was nun Anna eigentlich konkret wollte, fuhr sie fort: „Du hast mir deine Treue geschwören. Deine und die deines Rudels.“ begann das Mädchen mit einem stetigen Lächeln. Silver öffnete seine Augen wieder einen Spalt breit und brummte.

„Ja. Brauchst du uns?“ fragte er leise. Doch Anna schüttelte den Kopf.

„Nein. Aber ich wollte noch einmal fest machen, woran ich bin. Wenn ich einen Feind habe, baue ich auf deine Unterstützung.“ erklärte sie ruhig. Silver hob seinen Kopf wieder etwas an. Er schien noch riesiger als früher zu sein.

„Ja. Natürlich. Das war die Bedingung.“ schnaufte er verdächtigend.

„Selbst, wenn es einer von uns ist? Zum Beispiel Wukong oder Akira?“ fragte Anna nach.

„Selbst, wenn es einer von ihnen ist.“ bestätigte der Alpha.

„Selbst, wenn ich wollte, dass du denjenigen in Stücke reißt?“ Shiro erstarrte bei diesen Worten, traute sich aber nicht, etwas zu sagen. Ungläubig starrte er Anna an. Was hatte sie vor? Der Alpha bleckte seine Zähne bei diesen Worten. Ein unheimliches, böses Grinsen legte sich in sein Gesicht und er hechelte kurz.

„Du fragst Sachen, Kind...“ lachte er kurz und verpasste Anna damit eine Gänsehaut. Doch diese lächelte immer noch erwartungsvoll. „Natürlich. Nichts leichter als das.“ beantwortete er ihre Frage.

Anna stand auf. „Gut. Ich hoffe, du passt auf meinen Sohn gut auf, bis ich ihn wieder zu mir rufe.“ grinste Anna nun und fuhr dem immer noch sitzenden Jungen durch die Haare. Silver schnaubte herablassend.

„Meinetwegen.“ knurrte er.

„Anna… was war das?“ fragte Shiro seine Mutter verblüfft, als die beiden wieder auf dem Rückweg waren. „Du glaubst doch nicht, dass Akira dir wirklich was tun würde?“

Anna schwieg auf diese Frage hin. Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen – immerhin war er ihr wirklich bedrohlich nahe gekommen. Eigentlich hatte sie das Gefühl gehabt, dass etwas zwischen ihnen gewesen war. Seit er sie geküsst hatte, fühlte sie so. Auch im Park, als er sie noch mal küssen wollte, hatte ihr Herz ihr zu verstehen gegeben, dass es da etwas gab. Doch all diese Gedanken und Gefühle waren weg.

„Ich weiß es nicht.“ schlussfolgerte die Blondine schließlich. „Aber ich will sicher gehen, dass Silver und die anderen auf meiner Seite stehen und dass sie da sind, wenn ich sie brauche. Und dich werde ich auch brauchen, Shiro.“ fügte sie lächelnd hinzu. „Ich brauch' aber wohl nicht nach deiner Loyalität zu mir zu fragen?“ säuselte sie und kniff dem jungen Mann in die Wange. Dieser rieb sich über die schmerzende Stelle.

„Natürlich nicht.“ murmelte er.

Am Ansatz der Treppen zum Palast wurden die zwei auch schon von den anderen abgefangen. Alle schienen ziemlich genervt von Annas Aktion zu sein, nur Kai grinste über beide Ohren, als er Anna sah.

„Wo warst du?“ fragte Ren in einem ernsten Tonfall.

„Ich habe dem Alpha meine Grüße überreicht.“ entgegnete Anna mit einem charmanten Lächeln.

„Und wieso konnten wir nicht mit?“ ergänzte Mirai nun argwöhnisch.

„Ich habe ein Vater-Mutter-Gespräch mit ihm über Shiro gehalten. Das geht euch nicht viel an.“ log sie dreist und Shiro konnte nicht anders, als sich bei dieser Lüge von Anna abzuwenden, um nichts zu verraten. Diese Lüge nahmen die Jungs halbherzig hin.

„Wir wollen morgen früh zurück in die Stadt, also… pack' deine Sachen.“ knurrte Mirai genervt und sie begannen, die Treppen hinauf zu steigen. Als Anna sich gerade in Bewegung setzen wollte, hielt sie eine warme Hand am Gelenk fest. Sie drehte sich um und sah in die Augen mit der Farbe der Sonne.

„Was ist wirklich los? Warum bist du plötzlich so aufgedreht?“ fragte Akira besorgt. Anna musterte den jungen Rotschopf. Was sollte sie ihm sagen? Sie konnte ihn nicht einmal richtig ansehen, ihre Augen gingen durch ihn hindurch. Sie wandte den Blick ab. Doch sie musste nicht einmal etwas sagen: Eine Hand legte sich auf Akiras Unterarm und zog ihn von Anna weg.

„Fass' sie nicht an.“ knurrte Shiros dunkle, gefährliche Stimme und es war das erste Mal, dass Akira tatsächlich eingeschüchtert aussah. Er ließ Anna los.

„So sieht's aus...“ dachte sich Anna insgeheim und begann, die Treppen zu steigen.
 

Der Rest des Abends war schweigsam. Anna verbarrikadierte sich in ihrem Zimmer, um ihre Sachen zu packen. Als sie auch die letzte Socke gefunden hatte, die Kai durchs Zimmer geworfen hatte, stolperte sie über etwas. Der Stein, den Shiro mit in die heiße Quelle gebracht hatte, lag unachtsam auf dem Boden. Er war weiß, schien aber glatter als vorher zu sein. Außerdem war er größer geworden. Bei dem Gedanken, das Ding den Berg runter zu tragen, wurde dem Mädchen ganz schlecht. Sie hob ihn an, um zu prüfen, wie schwer er eigentlich war und wurde überrascht. Er war ungewöhnlich leicht, höchstens ein Kilo schwer. Vielleicht war er innen hohl? Neugierig klopfte Anna leicht dagegen. Nein, er klang ziemlich fest.

„Komisch.“ murmelte die Königin und ließ den Stein neben der Blume aufs Bett fallen. Die Blume tänzelte unter den restlichen, leichten Sonnenstrahlen, die das Fenster ins Zimmer fallen ließ. Ihr ging es anscheinend genau so gut wie Anna.

Die Taschen waren gepackt und die Blume, sowie der Stein, bekamen einen feuchten Schmatzer, ehe Anna ihr Zimmer verließ und sich Richtung Abendessen aufmachte. Als sie gerade links abbiegen wollte, um zur Festhalle zu gelangen, führten ihre Füße sie allerdings weiter gerade aus. Ohne es wirklich zu verstehen fand das Mädchen sich vor Tokis Zimmer wieder. Vorsichtig klopfte sie an und trat ein. Die Blumen und Pflanzen, die bei ihrem letzten Besuch fast ausgetrocknet waren, hatten sich in riesige grüne Stauden verwandelt, die faustgroße Blüten hinunter hängen ließen. Anna kämpfte sich durch den kleinen Dschungel zu Tokis Bett.

„Toki…?“ flüsterte das Mädchen leise und fuhr mit ihrer Hand über Tokis Stirn. Er war warm. Seine Augenbrauen zuckten. Mürrisch drehte sich der Junge zur Seite, holte tief Luft, atmete aus und wurde wieder still. Anna grinste. Sie grinste über beide Ohren. Sie sprang mit aller Wucht auf Tokis Körper, der unter der Decke verhüllt war, schnappte sich seine Wange und gab auch ihm einen feuchten Kuss.

„Was?“ erschrocken setzte sich Toki auf und knallte mit seinem Kopf gegen Annas Kinn. Schmerzhaft rieb sich die Königin ihren Mund. „Anna?“ Toki sah sie verwundert an, rieb sich die Stelle auf seiner Stirn und sah sich um. Anna wischte sich eine Schmerzensträne weg.

„Keine Zeit. Lass uns gehen.“ murmelte sie, packte Tokis Hand und führte ihn durch die Gänge in den Speisesaal. Liam empfing sie bereits, als hätte er es geahnt. Bei Tokis Anblick sprangen auch die anderen auf. Liam sah mehr als verwirrt aus, als er Toki musterte, dann schaute er zu Anna und es war das erste Mal, dass der Waldgott so laut und erschöpft seufzte. Er führte Toki zu einem der freien Plätze, um ihm zu erklären, was passiert war.

„Wie hast du das geschafft?“ fragte Mirai überrascht und schaute dem Elfen hinterher, wie dieser zögerlich nach einem süßen Stück Kuchen griff. Anna grinste. „Triumph“ war ihr heute aufs Gesicht geschrieben.

„Du hast ihn geküsst, oder?“ murmelte Akira und dank dieser Aussage spürte Anna entgeisterte Blicke auf sich. Sogar Ren schien fassungslos zu sein.

„Ist dir ein Kuss echt so wenig wert?“ murrte dieser nun.

„Ein Kuss ist mir das Leben eines Freundes wert, ja.“ rechtfertigte sich die Blondine und schritt an den Leuten vorbei, um sich zu Toki zu setzen. Die Männer folgten ihr. Akira musterte Anna eine Zeit lang nachdenklich, fand sich dann aber doch damit ab, dass es Toki wieder besser ging und ließ die Sache so auf sich beruhen. Ren allerdings schmollte, genau so wie Kai. Mirai, der auch einen Kuss von Anna bekommen hatte, konnte nichts sagen, auch wenn er am liebsten los geplatzt wäre mit Anschuldigungen.

Auch am nächsten Morgen hatte Anna noch gute Laune. Sie schien die angespannte Luft zwischen ihr und ihren Freunden damit zu entspannen – viele konnten nichts mehr dagegen sagen, dass Anna sich in den letzten Tagen wie eine Kusswütige aufgeführt hatte. Liam und Toki hatten der Königin berichtet, dass sie auf dem Berg bleiben würde, bis es Toki wieder 100%ig besser ging. Das war okay. Die Zugfahrt war angenehm ruhig und entspannt. Akira und Mirai waren in ein Gespräch vertieft, Ren schlief und Kai hörte Musik. Shiro war nicht mitgekommen – Anna hatte ihm versprochen, das nächste Mal nach ihm zu rufen. Er sollte auf Toki aufpassen. Also saß Anna für sich alleine auf der Bank, drehte nachdenklich den Blumentopf in ihren Händen und summte eine kleine Melodie. Bald würden sie aussteigen müssen.

Anna und Akira

„Ah, ich geh' hier schon raus.“ ertönte Akiras Stimme plötzlich. Sie waren eine Haltestelle von Annas entfernt. Der Junge packte seine Sporttasche und hievte sie sich über die Schulter, ehe er zu Anna ging. „Du kommst mit.“ Verwundert sah Anna ihn an, wollte sich gerade weigern, wurde aber erneut unterbrochen: „Keine Widerrede. Wir müssen reden.“ Er hielt Anna seine Hand hin. Im Gegensatz zu den letzten paar Malen, wo er sie einfach gepackt hatte, schien er dem Mädchen diesmal tatsächlich eine Wahl zu lassen. Widerwillig nahm sie sein Angebot an und die beiden stiegen aus.

„Wieso sind wir hier schon ausgestiegen?“ fragte Anna letztendlich, als sie den Bahnhof verließen.

„Wie gesagt, wir müssen reden. Ich dachte ein Spaziergang eignet sich für sowas.“ Er lief ein paar Schritte vor ihr. Sie musterte den breiten Rücken, die Tasche, die an seiner Schulter hin und her schwang.

„Worüber willst du denn reden?“ fragte Anna schließlich nach und ließ den Blick auf ihre Blume sinken. Eigentlich hatte sie ihm nichts zu sagen. Akira verfiel in ein Schweigen. Es dauerte ein paar Meter, bis er sich ans Herz fasste.

„Wegen der Sache mit deinem Tattoo-“ begann er und Anna schien zu wissen, was er sagen wollte.

„Du bist also nicht mehr interessiert?“ Sie klang abweisend. Akira blieb stehen und drehte sich um. Die goldenen Augen waren gefüllt mit Bedauern und Mitleid. Annas Herz sank ihr in die Hose. Sie biss sich auf die Unterlippe und starrte ihre Blume wieder an. Also doch.

„Ich wollte mich entschuldigen, dass ich dir Angst gemacht habe.“ brachte Akira endlich hervor und starrte ebenfalls Richtung Boden, aber auf seine Sneaker. „Ich bin zu weit gegangen.“

„Ja.“ antwortete die Königin knapp. „Ich hab' nicht mal was getan und dann willst du mich gleich umbringen.“

„Das wollte ich ganz sicher nicht.“ erwiderte Akira sofort und schien wieder wütend zu werden. Er ging einen Schritt auf Anna zu. „Ich war wütend, ja. Aber nur weil du dieses scheiß Ding geküsst hast. Weißt du, was passieren könnte? Du könntest auch ins Koma fallen, vielleicht sogar noch schlimmer.“ Er senkte seine Stimme wieder und starrte Annas Blume an. Wieder war Akira Anna so nahe, dass es ihr unangenehm wurde. Unmerklich zog sie ihre Arme an ihren Körper. Alle Muskeln spannten sich an.

„Hast du jetzt Angst vor mir?“ fragte der Rotschopf leise. Anna sagte nichts. Ihr Stolz verbot es ihr, Angst einzugestehen, aber sie konnte auch nicht lügen. In diesem Moment hatte Akira ihr Angst gemacht. Warme Hände legten sich auf Annas Wangen und führten ihr Gesicht nach oben. Das Mädchen konnte nicht anders, als vor dieser liebevollen Berührung zusammen zu zucken.„Sieh' mich an.“ Akiras Stimme war so zärtlich und liebevoll, dass sie sich kaum wehren konnte.

„Ich wollte dir keine Angst machen. Und dein Tattoo ist mir egal. Egal, ob es winzig klein ist oder ob es riesig groß ist. Es ist mir egal, okay?“ Seine Stimme war zu einem Flüstern geworden. Annas Augen wanderten unwillkürlich von Akiras Gesicht weg. Wieso konnte sie ihm nicht glauben? Egal, wie schmerzerfüllt oder liebevoll er sie ansehen würde, in diesem Moment konnte sie ihm einfach nicht glauben.

Seine Lippen weckten Anna aus ihren Zweifeln. Sie berührten ihre Wange, ihre Stirn, ihre Nase. Annas Augen verschlossen sich, als würden sie sich weigern, das Gesehene zu glauben. Dann kam es: Das Gefühl seiner Lippen auf ihren. Warm, sanft, zärtlich küsste er sie, genau so wie an ihrem Geburtstag. Dann erneut. Heute hatte sie kein Fieber, keine Schmerzen, dennoch wurden ihre Knie wieder so weich, wie an eben jenem Tag. Sie krallte ihre Hände in den Ton des Topfes, so sehr, dass sie beinahe daran zerbrachen. Akira ließ nicht von ihr ab. Er küsste sie erneut. Und erneut. Seine Zunge trennten die versiegelten Lippen mit leichter Gewalt. Seine Arme zogen ihren schmalen Körper näher an sich heran, drückten ihn an sich. Der Blumentopf bohrte sich schmerzhaft in Annas Magengrube, bis er es schließlich nicht mehr tat. Akira nahm ihr das Ding aus der Hand, ohne sich von ihr zu lösen, und zog ihren Körper nun so nahe an seinen, dass kein Millimeter Luft mehr zwischen sie passte. Annas Hände suchten seine Brust, hielten daran fest. Sein Herz schlug so schnell, dass es ihres ansteckte. Er schmeckte heute nicht nach Himbeeren und Schokolade, er schmeckte eher nach Pfefferminze und Pfeffer. Ungewöhnlich scharfe Kombination. Akiras Hand vergrub sich in Annas Nacken. Sie hielt das Mädchen so stark fest, als hätte er Angst, sie würde sich sonst in Luft auflösen.

Endlich. Nach einigen Minuten, die wie eine Ewigkeit schienen, hörte Akira auf Anna zu küssen. Er streichelte immer noch die nun glühende, rote Wange und starrte sie mit seinen zum Verlieben schönen Augen an. Anna wusste gar nicht mehr, worüber sie eigentlich gesprochen hatten. Ihre Füße fühlten sich merkwürdig leicht an.

„Ist das okay für dich?“ fragte der Junge dann leise.

„Was?“ Anna brachte nicht mehr als ein Flüstern hervor.

„Mich zu küssen.“ antwortete Akira. Anna hätte ihm am liebsten dafür geschlagen, wie ruhig er das einfach sagen konnte. Die Scham, die er nicht verspürte, spürte sie nun doppelt so sehr. Knallrot verzog sie die Mundwinkel. Eigentlich war es nicht okay. Aber würde sie das sagen, würde er sie vielleicht nie wieder küssen. Aber wollte Anna das überhaupt?

„Ist es okay für dich, wenn ich keine Königin bin?“ fragte sie kleinlaut zurück. Akira schnaufte kurz. Ein Blick verriet Anna, dass er erleichtert war. Seine Hand rutschte von ihrer Wange zu ihrer Hand, hielt sie fest und zog sie hinter sich her, als beide weiter Richtung Zuhause liefen.

Doch die Antwort fehlte. Anna traute sich, noch einmal nach zu fragen. Sie wollte den Moment nicht zerstören. Zögerlich ließ sie die sanfte Berührung an ihrer Hand zu. Ab und zu streichelte er mit seinem Daumen über ihren Handrücken und ließen heiße Spuren zurück. Sie gingen ein paar Schritte.

„Du hast mir immer noch nicht erklärt, wieso du eigentlich so sauer warst… Dass du sogar Kai so würgen würdest.“ brachte Anna schließlich hervor. Sie hatte Angst, er würde seine Hand bei diesen Worten zurück ziehen und drückte sie noch ein bisschen fester.

„Ich finde es nicht okay, wenn du alles und jeden küsst.“ gab er schroff zu, ließ die Hand jedoch nicht los. „Es ist nicht nur deine Kraft. Deine Lippen sind auch kostbar. Stell dir vor, jeder deiner Küsse wäre wie Sex. Mit wievielen Menschen und Dingen hättest du jetzt schon geschlafen?“ Er klang nicht belustigt. Er klang sehr ernst.

„Das ist doch kein Vergleich.“ gab Anna gezwungener Maßen zurück, konnte jedoch nicht das Bild von sich schütteln, mit Shiro geschlafen zu haben. Es war zu komisch.

„Für mich ist es so.“ beendete Akira seine Erklärung und erneut trat Stille ein.

„Sag mir nicht, du bist eifersüchtig...“ rutschte Anna heraus und Akira blieb stehen. Erst nach einigen Sekunden drehte er sich um und schaute Anna über seine Schulter hinweg an, musterte sie, drehte sich dann wieder weg und schwieg weiterhin. War das ein Ja? War das ein Nein? Wieso konnte sie ihn nicht durchschauen?

„Du hast mir auch noch nicht gesagt, was du eigentlich bist.“ fiel dem Mädchen dann ein und starrte auf den Hinterkopf, der sie nicht in seine Gedanken ließ.

„Ist leider immer noch nicht an der Zeit.“ erwiderte Akira daraufhin.

„Wie … Wie ist eigentlich Eve so?“ wollte Anna als nächstes wissen.

„Sie ist okay. Langsam hat sie so ziemlich jeden der Klasse unter ihrem Pantoffel.“ Akiras Desinteresse verdiente einen Nobel-Preis.

„Meinst du, wir müssen uns Sorgen machen? Sie hat ein Tattoo. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los...“ begann die Blondine, doch Akira beendete ihren Satz:

„...Dass sie eine Königin ist? Das selbe habe ich auch schon überlegt.“ Annas Herz verkrampfte sich schmerzhaft. „Und? Wen küsse ich und von wem lasse ich mir Löcher in den Bauch fragen?“ fügte er grinsend hinzu und zog an der Hand, die er hielt, um Anna neben sich laufen zu lassen. Sie verfiel in ein beschämtes, angenehmes Schweigen. Es war anscheinend nicht so, dass jede Königin herhalten konnte.

„Komisch ist es aber schon. Es sollte eigentlich keine zwei Königinnen geben.“ murmelte der junge Mann daraufhin.

„Weiß nicht, kam noch nie vor, so weit ich weiß.“ Auch für Anna war Eves Erscheinen suspekt. „Ich meine, sie zeigt nicht besonders viel Macht oder so...“

„Wirklich?“ fragte Akira verwundert. „Ich finde es schon merkwürdig, dass sie so schnell jeden auf ihrer Seite hat. Keinen scheint es zu stören, dass sie so autoritär ist. Sie ist sogar dabei, sich für die Wahl zum Schülerpräsidenten aufzustellen.“ Anna blickte ihre Begleitung verwundert an. War das sein Ernst?

„Wieso sollte sie so etwas tun? 'ne Schule zu beherrschen ist nicht das selbe, wie die ganze Welt zu beherrschen.“ erwiderte Anna überrascht.

„Ich weiß es nicht, aber es ist mir auch egal. Solange sie keine Probleme macht, braucht es uns nicht zu interessieren.“ Doch Anna interessierte es.

„Meinst du, sie hat einen Shiki?“ fragte sie nach einigen Sekunden hoffnungsvoll. Erneut jagte sie sich einen musternden Blick von Akira ein.

„Schätze schon. Willst du ihn nach Adam fragen?“ Anna nickte. Vielleicht hatte Eves Shiki ja eine Ahnung, was mit Adam passiert war.

„Ich glaube nicht, dass es viel bringen würde, Eve oder ihren Shiki danach zu fragen.“ enttäuschte Akira sie. „Wir können ziemlich fest von der Annahme ausgehen, dass Eve keinerlei Absichten hat, dir irgendwie zu helfen. Ihr seid Rivalen.“

„Sie scheint nicht besonders böse zu sein.“ erwiderte Anna überrascht und dachte an die Momente zurück, die sie mit Eve verbracht hatte. Sie hatte jetzt nichts böses per se gesagt.

„Du bist naiv, wenn du das glaubst. Findest du das Timing nicht komisch? Das Schattenvolk will dich festhalten, hat Adam und verschwindet plötzlich, obwohl sie der Königin ewige Loyalität geschworen haben. Dann verschwindet Mika und eine neue Königin taucht auf. Meinst du nicht, da ist was faul?“

Anna musterte Akiras Gesicht. So weit hatte sie nicht gedacht. Tatsächlich kam es ihr jetzt so vor, dass sie sich mit ihren Sorgen die ganze Zeit im Kreis gedreht hatte.

„Und dass wir Mika nicht finden können, liegt daran, dass…?“ begann sie und Akira seufzte.

„Vielleicht wird sie versteckt. Aber wir können es nicht mit Sicherheit sagen, oder? Immerhin hat Eve nichts getan. Noch nicht.“

Die beiden liefen eine Zeit lang schweigend nebeneinander her. Immer noch Händchen haltend. Langsam spürte Anna, wie ihre Hand zu schwitzen begann und es war nicht nur die Schuld der Septemberhitze. Akira ließ sie einfach nicht los. Sie kamen am Haus der Königin an. Ihre Mutter begrüßte ihre Tochter mit einer stürmischen Umarmung:

„Akira hat angerufen und gesagt, du wärst krank geworden!“ heulte sie besorgt. Das Mädchen blickte aus den Augenwinkeln zum Rotschopf, der ein entschuldigendes Grinsen auf den Backen trug. Schnell ließ sie seine Hand los.

„Ja, aber mir geht’s schon wieder besser. Mach' dir keine Sorgen.“ seufzte Anna, drückte ihre Mutter fest an sich und trennte sich von ihr. „Ich hol' eben meine Sachen, warte kurz.“ erklärte sie dann anschließend Akira und verschwand im Haus. Auf dem Weg in ihr Zimmer konnte Anna noch hören, wie sich ihre Mutter bei Akira bedankte und ihm einen Kaffee anbot.

Auf dem Weg zur Schule hatten die beiden keinen Körperkontakt. Die Blume hatte Anna vorsichtshalber im Zimmer abgestellt, genau so wie ihren Stein, auch wenn sie sich immer noch nicht im Klaren war, was der Stein eigentlich für sie oder ihre Situation tun würde. Auch Akira war sich nicht sicher, was Mirai damit beabsichtigt hatte. Kurz vor dem Schultor dann wartete schon wieder der Alltag – und mit ihm Eve. Sie trug wieder ihr liebstes Lächeln.

„Hey Anna, hey Akira. Ihr kommt zusammen zur Schule?“ fragte sie und ihr Lächeln wurde noch breiter. Machte sie sich über Anna lustig? Die Blondine erwiderte die Begrüßung mit einem halbherzigen Lächeln.

„Hey, Eve.“ grinste Akira unbeeindruckt. Und erneut wollte Anna ihm dafür einen Preis verleihen.

„Hast sie also doch rumgekriegt? Auch wenn's nicht die richtige ist...“ seufzte das Mädchen schamlos. Einer ihrer Finger legte sich nachdenklich an ihr Kinn, während sie Anna musterte. Diese wurde zunehmend irritierter. Anna wusste nicht mal, über welchen Punkt dieser Aussage sie zuerst diskutieren sollte.

„Was meinst du mit 'nicht die richtige'?“ schaffte sie schließlich hervor zu bringen. Eve grinste noch mehr. Wie weit konnte sie ihre Mundwinkel wohl noch Richtung Ohrläppchen befördern?

„Du hast mein Tattoo doch gesehen oder?“ flüsterte sie in einer kleinen, boshaften Melodie.

„Also willst du mir erzählen, dass du auch eine Königin bist?“ hakte Anna skeptisch nach und sie konnte nicht umhin, ihre Zweifel zu zeigen. Wusste Eve überhaupt, was eine Königin war?

„Eine Königin? EINE?“ lachte das Mädchen. Jeglicher Liebreiz an ihr fiel ab, wie alte Farbe. Sie legte eine Hand auf Annas Schulter, als würde sie das Mädchen bemitleiden.

„Du verstehst mich nicht. Ich bin DIE Königin. Du kannst dir nicht mal vorstellen, wie weit meine Mächte reichen. Du weißt nicht, was ich alles schon getan habe und was ich tun werde. Dass du plötzlich in meinem Leben auftauchst ist nur eine von vielen Herausforderungen, die ich bisher schon gemeistert habe. Du wirst kein Hindernis für meinen Weg zum Thron sein.“

Anna starrte Eve an. Ihre schwarzen Auge glühten wie Opale in ihren Augenhöhlen. Sie hatte kein Wort gesagt und doch hallten ihre Wörter so laut in Annas Ohren wieder, dass ihre Trommelfelle zu platzen drohten. Die blonde Königin schwieg. Eve fuhr fort. Ihre Gedanken machten keinen Halt mehr.

„Wie kann es nur sein, dass all' diese liebreizenden Dämonen und Götter dir zu Füßen fallen? Was hast du schon? Blondes, schmutziges Haar. Vielleicht ein hübsches Gesicht. Doch du bläst dich auf, als könntest du alles. Hast du jemals etwas erreicht, außer Menschen zu verletzen? Und du bist ihnen nicht einmal dankbar. Du bist nicht einmal deiner Familie dankbar dafür, dass sie dich erträgt. Oh, wie geht’s eigentlich deinem 'Bruder' ? Habe gehört, er sei bei Verwandten, aber das ist nicht ganz die Wahrheit oder? Lügst du eigentlich jeden an?“ Annas Herz gefror. Woher wusste sie all das? „Adam ist schon ein außergewöhnlich starker Shiki. Aber du nutzt nicht mal sein Potential – das einzige, was er für dich tun soll, ist normale Menschen zu verprügeln. Schämst du dich nicht, ihn für so eine Schandtat auszunutzen? Wieso ist er überhaupt bei dir? Du bist nichts, als eine Fälschung. Und dann kriegst du so einen Shiki ab? Und ich muss mich mit Jiro rumschlagen? Aber vielleicht ist Adam ja auch gar nicht so toll. Anstatt sich um seine 'Königin' zu kümmern, lungert er irgendwo herum und macht sich 'nen schönen Tag. Oder vielleicht hat er auch nur die Schnauze voll von dir? Kein Wunder.“

Ehe Anna ein weiteres Wort vernahm, schepperte es. Ihre eigene Hand riss sie aus den Wortschwall von Eves Gedanken. Ihre Finger klebten noch auf der Wange der Schwarzhaarigen, ihre Haut wurde langsam rot. Auch Annas Fingerkuppen pochten schmerzhaft. Sie hatte Eve einfach eine gescheuert, ohne es recht gewollt zu haben. Akira starrte die beiden Mädchen an.

„Sag mal, geht’s noch?“ fragte eine passierende Schülerin und stellte sich zu Eve. „Hey, alles in Ordnung?“

„Was ist passiert?“ fragte ein anderer Schüler.

Anna fand sich vor dem Schultor wieder. Die Realität, die wie ausgeblendet gewesen war, kehrte zurück. Die Dunkelheit, die sie umgab, wurde heller und zu einem Tuscheln. Geflüster. Beschwerden. Dann laute Stimmen. Immer noch geschockt zog Akira Anna von Eve weg.

„Entschuldige dich gefälligst!“ schnauzte eine weitere Stimme. Die Blondine wurde geschubst. Sie drehte sich um, nur um zu erkennen, dass sie von Schülern umzingelt gewesen war. Seit wann?

Eve erhob ihre Hand. „Schon okay. Ist nichts passiert.“ keuchte sie schmerzhaft und rieb sich über ihre Wange. Annas Augen wanderten auf ihre Schuhe. War das ihr Ernst?

Wortlos, ohne einen Funken Schuld zu zeigen, begann Anna los zu gehen. Sie bohrte sich einen Keil durch die Menschenmenge und bahnte sich den Weg zum Hauptgebäude. Vielleicht mag es so aussehen, als hätte sie kein Recht dazu gehabt, Eve eine zu klatschen. Aber Eve hatte bestimmt kein Recht gehabt, so über ihre Familie zu reden.
 

Immer noch fassungslos erreichte Akira den Raum des Schülerrats. Ren und Mirai waren bereits dort und diskutierten etwas. Seufzend ließ sich der Rotschopf auf einen der Stühle fallen. Ihr Kreis schien zu schrumpfen.

„Wo ist Kai?“ fragte er genervt und unterbrach den Drachengott und Affenkönig.

„Keine Ahnung. Ist auf dem Weg nach Hause verschwunden. Hat gesagt, er hätte etwas zu tun.“ erklärte Mirai schroff. Anscheinend war er immer noch sauer, dass Akira mit Anna abgehauen war. Akira ließ ein lautes Stöhnen von sich und mit einem „Na gut, dann erzähl ich's ihm später“ erklärte der Rothaarige den anderen, was gerade vorgefallen war.

„Also doch.“ seufzte Ren und rieb sich genervt die Augen. Dass Eve eine Königin war, schien ihn nicht zu überraschen. Dennoch machte er sich Sorgen – vor allem nun, da Anna an Kräfte verlieren zu schien. „Vielleicht sollten wir mit ihr reden. Wenn sie die rechtmäßige Königin ist, haben wir nicht viel an Anna zu gewinnen.“

Mirai schnaubte entsetzt. „Das kann nicht dein Ernst sein, Ren.“ sagte er fassungslos.

„Es ist mein Ernst. Würde ich mich in irgendeine Normalsterbliche verlieben wollen, hätte ich es schon getan. Doch was ich brauche ist Macht. Macht, die kein Mensch besitzen kann. Du doch auch oder? Wolltest du nicht die Königin heiraten, damit du endlich den Himmel erobern kannst?“

Mirai verstummte. Er blickte zu Akira.

„Schau' mich nicht so an.“ schnauzte dieser herablassend. „Egal, wie ich zu dem Thema stehe, ich entscheide nicht für dich. Aber eigentlich hatte ich das Gefühl, du würdest Anna gut leiden können?“

Mirai wandte den Blick von Akira wieder ab. „Das selbe könnte ich von dir behaupten.“ murmelte er leise.

„Ob sie oder Eve, das ist meine eigene Entscheidung.“ erklärte Akira sich belanglos.

„Wir sollten überhaupt erst einmal überprüfen, ob Eve noch zu haben ist.“ warf Ren ein. Die anderen beiden sahen überrascht aus. Daran hatten sie noch gar nicht gedacht.

„Stimmt, wenn Eve keine Jungfrau ist oder sich verliebt hat, bringt es uns nicht viel oder?“ überlegte Akira laut. „Ich frag' mich, welchen von den Deppen sie sich ausgesucht hat.“

„Wer steht denn zur Auswahl?“ fragte Mirai nach.

„Von dem, was ich so gesehen habe, hat sie folgende Leute in ihrem Gefolge: Shiki, Werwolf, Dämon, Tengu und den Mondgott.“ las Ren von einem Blatt Papier ab.

„Einen Mondgott?“ fragte Mirai verblüfft. „Woher weißt du das?“

„Ich bin ein Drachengott, Wukong. Ich erkenne einen Gott, wenn ich ihn sehe.“ schnauzte Ren genervt.

„Welcher von ihnen könnte es sein?“ säuselte Akira und begann in seinem Stuhl zu kippeln. Mirai seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Schweigen trat ein.

„Meint ihr, Kai würde Eve mehr Beachtung schenken, als Anna?“ schoss er dann plötzlich hervor. Akira und Ren schauten ihn verwundert an, dann prustete der Rotschopf und brach in ein herzliches Lachen aus.

„Kai? Der ist doch bis über beide Ohren in Anna verknallt.“ lachte er und zeigte mit einem Finger auf Mirais dummes Gesicht, als würde es lächerlich sein, dass er überhaupt darüber nachgedacht hatte. Dieser schien sichtlich genervt von Akira zu sein.

„Ganz ehrlich, Aki. Findest du es nicht komisch? Er stand vor einer splitterfasernackten Anna und hat nicht mal so getan, als hätte er sie angefasst. Er hat sich nicht an sie ran gemacht, wie er es bei anderen Mädchen tun würde. Und als sie mit Shiro aus dem Wald kam, war er nicht einmal wütend oder besorgt, dass sie weg gewesen war. Als wäre es ihm völlig egal gewesen.“ Mirai schien sehr skeptisch zu sein, was Kai an ging.

„Heißt das nicht einfach, dass sie ihm wichtig ist?“ wollte Akira im Gegenzug wissen.

„Wichtig? Dieser Blutsauger, der Frauen nur zum Vögeln und Trinken benutzt?“ lachte Mirai trocken auf. Ren räusperte sich.

„Gehen wir einmal davon aus, dass Anna keine Königin ist und Kai sie trotzdem lieben würde. Was würdet ihr tun?“ fragte er gelassen. Mirai verzog das Gesicht. Akira starrte weiterhin an die Wand.

„Was ich tun würde?“ fauchte der Affengott dann, fand aber keine Worte. Was WÜRDE er tun?

Seitdem wurde Kai nicht mehr gesehen.

Wo das Licht endet, beginnen die Schatten

Drei Wochen. Drei Wochen ist es her, seit Anna Kai das letzte Mal gesehen hat. Selbst wenn er nachts zu tun hatte und sein Handy normalerweise ausgeschaltet war – es war nicht normal, Kai nicht irgendwie zu erreichen. Im schlimmsten Falle wäre er nach ein, zwei Tagen einfach wieder aufgetaucht. Ab und an blieb Anna nachts wach, um nach dem Vampir Ausschau zu halten. Oft beobachtete sie Schatten, die im Garten oder auf der Straße aufflackerten und wieder verschwanden. Manchmal hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber nie passierte tatsächlich etwas. Es war an solchen Tagen, dass Anna sich am frühen Morgen am Fenstersims wiederfand, verspannt durch die ungewohnte Schlafposition und frierend. Der Oktober brach an und die Sommersonne wärmte die Nacht nicht mehr.

Akira holte Anna nun jeden Tag von Zuhause ab und brachte sie auch wieder nach Hause, während Ren versuchte, die Situation in der Schule unter Kontrolle zu behalten. Diese hatte sich nämlich nicht zu Annas besten gewandelt: Die Schüler waren aufgebracht und verlangten die Auflösung von Annas Gang. Das bewegte sich noch in den Erwartungen der Königin: Eine Gang, die den Ruf hatte, ständig Leute zu verprügeln, hätte früher oder später aufgelöst werden müssen. Doch das war nicht das eigentliche Problem: Die Vorfälle häuften sich, in denen Anna heraus gefordert wurde. Nicht nur von den üblichen Idioten und Gangstern – Mittlerweile schlossen sich Mobs aus Schülern zusammen, um der Blondine aufzulauern. Alles hatte mit einer Ohrfeige begonnen und schien langsam in einen einseitigen Krieg auszuarten. Doch nicht nur Akira schien Anna nicht mehr von der Seite zu weichen – Auch Iori schien darauf erpicht, Anna nicht aus den Augen zu lassen. Es verging keine Sekunde, in der nicht einer von den beiden um sie herum schwirrte.

„Ich mag das nicht...“ murmelte Akira besorgt, als die beiden es gerade geschafft hatten, Iori abzuschütteln. „Ich glaube, Eve hat ihn auf dich angesetzt.“

Anna seufzte. Sie hatte Akira erzählt, was Eve gedacht hatte – Akira schien nicht besonders überrascht zu sein, dass Anna Gedanken lesen konnte – und es ließ sie das Gefühl nicht los, dass Eve wusste, was mit Adam passiert war.

„Wir können sie nicht fragen, wo Adam ist.“ flüsterte Akira leise und geleitete Anna in den Hintherhof, als hätte er geahnt, was sie vor hatte.

„Akira. Leute verschwinden. Nicht nur Mika und Adam, jetzt auch noch Kai! Ausgerechnet ER? Ich meine, er hatte eine Armee von Vampiren hinter sich und er ist nicht auf den Kopf gefallen. Wie sollten sie ihn bekommen haben?“

„Keine Ahnung. Ist mir auch egal.“ schnauzte Akira und ging die Treppen des Hauptgebäudes hinunter. „Kai ist nun mal so. Und um ehrlich zu sein, gibt es nichts, was mich weniger stören würde, als wenn er den Platz räumt. Du erinnerst dich doch hoffentlich daran, dass das hier ein Wettbewerb ist?“ Anna schnaufte höhnisch auf.

„Ein Wettbewerb um eine falsche Königin, ja.“ hisste sie gehässig.

„Ob du eine echte oder falsche Königin bist, ist ohne Belang.“ Akira schmunzelte leicht. Sie hatten den Hof erreicht. Das Wetter wurde zunehmend schlechter. Graue Wolken verhangen den Himmel und ein gemeiner Wind fegte Anna durch die Haare, die sie sich zu zwei Zöpfen geflochten hatte. Die beiden erreichten den Hinterhof und ein erneuter Schicksalsschlag ereilte sie: Die Basis, der Hinterhof, in dem sie immer rum lungerten, war mit rot-weißem Band abgesperrt worden. Der Baum, an dem alle gerne lehnten, Schatten im Sommer bot und angenehmen Windschatten im Herbst, war gefällt worden. Ein Stumpf blieb zurück. Das war alles. Der Rasen, auf dem Anna gerne saß, war ausgehoben worden. Einige Bauarbeitermaterialien lagen herum.

„Was zum Teufel…?“ fauchte Anna aufgebracht und trat gegen einen Zementmischer. Akira fuhr sich durch die Haare.

„Nichts, was wir machen können.“ murmelte er und betrachtete sich eine der Maschinen. „Scheint, als wollten sie hier irgendwas neues bauen.“

Schweigen trat ein. Nicht nur begannen ihre Freunde einer nach dem anderen zu verschwinden, nun wurde ihr auch noch einer der Orte geraubt, an dem sie sich wohl fühlte? Was folgte als nächstes?

„Guck' nicht so. Ist nicht so, als wäre Eve auch noch daran Schuld. Tatsächlich können wir nicht einmal davon ausgehen, dass sie an überhaupt etwas Schuld hat.“ Akira klang ruhig. Zu ruhig. Aber er hatte Recht – nichts wies daraufhin, dass Eve irgendetwas getan hatte. Außerdem: Warum sollte sie sich plötzlich für neue Schulgebäude einsetzen? Anna kletterte über das Absperrband und streichelte über den Baumstumpf. Es war wie eine frische Wunde, die immer noch blutete.

„Wie geht’s eigentlich deiner Blume?“ fragte Akira beiläufig und betrachtete die Königin dabei, wie sie ihren Erinnerungen hinterher trauerte.

„Gut, schätze ich. Blüht aber immer noch nicht.“

„Ist sie nicht einmal gewachsen?“ Akira klang überrascht. Anna schüttelte den Kopf. „Vielleicht verlierst du echt deine Kräfte. Vielleicht wird sie nie richtig blühen.“ Seine Worte waren wie Faustschläge – sie wollten Anna zerbrechen. Anna erhob sich wieder und streckte sich.

„Akira. Morgen möchte ich zu Tante und Onkel fahren. Ich habe lange genug versucht, mich davor zu drücken. Ich hab' das Gefühl, wenn ich jetzt nichts unternehme, verliere ich.“

„Was sollst du denn verlieren?“

„Alles.“

Es war nur ein Gefühl. Aber dieses Gefühl verriet Anna, dass sie lange genug ohnmächtig zugesehen hatte, wie sie alles und jeden verlor. Sie brauchte Adam – mehr als jeden anderen gerade. Sie wusste, wenn er da sein würde, würde sich der Rest von alleine klären. Die Blume, die nicht wuchs, wuchs. Mit Absicht hatte Anna Akira verschwiegen, dass sie weiterhin ihre Energie raubte. Nicht nur, um zu sehen, ob er Anna auch wählen würde, wenn sie keine Kräfte mehr hätte, aber auch aus Angst, er würde erneut wütend werden. Neben der Blume wuchs auch der Stein. Und so wuchsen auch die drei Wolfswelpen, die Anna mittlerweile bis zur Nase reichten. Alles wuchs und gedieh bei ihr Zuhause – selbst das Tattoo.

Die feine Linie, die sich auf ihrer Schulter ausgebreitet hatte, formte nun Pfeile. Striche. Sie zeigten irgendwo hin, verdichteten sich langsam. Anna wusste nicht, was es zu bedeuten hatte, doch fand sie die selben Linien auch auf ihrer anderen Schulter. Langsam wurde es schwer, diese Tatsache zu verbergen. Vielleicht war es wie eine Krankheit. Wie fing es bei Charlotte an? Wurde sie auch langsam schwächer, als sie sich ihrem 18. Geburtstag näherte, weil ihr Herz sich keinen aussuchte, den es lieben konnte?

Anna biss sich auf die Unterlippe und drehte sich herum, dann knöpfte sie den Blazer ihrer Schuluniform zu.

„Willst du etwa, dass ich mit komme?“ fragte Akira verblüfft, als er Annas prüfenden Blick sah.

„Ja. Du, Ren und Mirai. Ich kann euch nicht aus den Augen lassen.“ erwiderte das Mädchen.

„Also ich hab' kein Problem damit. Was mit dem Affen und der Schlange ist, kann ich dir allerdings nicht sagen.“

„Dann geh' sie fragen. Ich muss zum Unterricht.“ Anna stopfte ihre Hände in ihre Jackentaschen, ehe Akira genervt und zähneknirschend Richtung Schülerratsraum ging.
 

„Oh, Annachen. Wie geht’s dir, Liebelein? Hast du noch jemanden verprügelt?“ Ioris Stimme drang wie ein Leuchtfeuer durch Annas Sorgen, als sie sich in ihren Platz fallen ließ. Sie würdigte ihn keines Blickes.

„Ey, Bitch, er hat mit dir geredet!“ schnauzte eines der Mädchen leise. Anna sah auch sie nicht an. „Was ist los mit der?“

„Oh, ich glaube sie ist ein bisschen traurig, weil ihre Gang aufgelöst wird und sie merkt, dass sie alleine auf der Welt ist.“ lachte ein Mädchen feist und die anderen stimmten mit ein.

„Sagt sowas nicht. Sie ist nicht alleine – Sie hat ja mich.“ Eine große, kühle Hand legte sich auf Annas Kopf. Für eine Millisekunde dachte Anna, es sei vielleicht Kai. Vielleicht Adam. Aber mit einem enttäuschten Blick stellte Anna fest, dass die Realität gerade nur Iori für sie parat hielt. Lustlos seufzend wandte sie ihren Blick wieder ab.

„Sei nicht so.“ lächelte Iori süß und kniff dem Mädchen in die Wange.

„Lass' mich.“ Anna hatte mittlerweile sehr gut von Akira gelernt, wie man sein Desinteresse zum Besten gab.

„Hast du Pläne fürs Wochenende? Wie wär's mit 'nem Date?“ Seine Finger glitten über die in den Zopf geflochtenen Haare, hoben es an. Wenn er es noch mehr heben würde, würde man das Tattoo vielleicht sehen. Anna zog ihm den Zopf aus der Hand und wedelte abweisend mit der Hand.

„Ich hab' schon Pläne, sorry.“

„Mit deinem Freund?“ grinste Iori sofort breit. Anna schüttelte den Kopf.

„Mit meiner Familie.“

Das Wochenende brach an. Es war ein düsteres, windiges Wetter, das einem die Lust nahm, etwas draußen zu unternehmen. Ren hatte sich leider ausgeklinkt – er hätte zu viel mit den Prüfungen zu tun. Er war bereits im letzten Jahr der Schule und die Examen für den Abschluss und die Universitäten waren langsam fällig. Seitdem Anna schwächer wurde, schien er sich immer mehr von ihr abzukapseln. Anna war nicht blind. Also machten sie, Akira und Mirai sich alleine auf, um Annas lieber Familie einen Besuch abzustatten. Die Fahrt war lang. Sie war nicht einmal zu vergleichen mit dem Weg zu Mirais Wald – Die Bahn brauchte geschlagene acht Stunden, um am Ziel anzukommen. Die Sonne, hätte man sie gesehen, senkte sich bereits über die hohen, mit Nebel verschlungenen Berge. Oktober war letztendlich der Monat, der den Sommer komplett verabschiedete.

Der Weg durch die Hügel zum alten Haus war anstrengend. Oft wusste Anna nicht, wohin oder wie man da hin kam, doch letztendlich, nach mehreren Stunden (genervten) Suchens, hatten sie die bekannte Auffahrt erreicht. Doch etwas stimmte nicht – bereits unten am Hügel erkannte Anna, dass es nicht die selbe Atmosphäre wie sonst war.

Der Anstieg war nicht schwierig. Allerdings gestaltete er sich schwieriger, da das Herz in Annas Brust vor Aufregung fast explodierte. Langsam müsste das Haus in Sicht kommen. Langsam. Näher. Anna begann zu rennen. Adam musste da sein.

Kein Licht brannte. Alles war dunkel. Keine Sterne, kein Mond, keine Laterne, nicht einmal eine Kerze. Das Anwesen lag in absoluter Dunkelheit. Als Anna auf die Eingangstür zugehen wollte, hielt Mirai sie fest. Seine Haare hatten sich aufgestellt, als wäre etwas im Busch und würde lauern. Auch Akira schien das Gold in seinen Augen verloren zu haben – seine mörderische Seite machte Anstalten, auszubrechen. Anna sah sich um. Sie wusste nicht, wieso, konnte und wollte aber nichts sagen. Mirai ließ sie los.

„Wir müssen vorsichtig sein.“ flüsterte er leise. Beide anderen nickten.

Wie auf Zehenspitzen begannen alle drei, um das Haus herum zu schleichen, um ein offenes Fenster oder eine unverschlossene Tür zu finden. Dann – tatsächlich – hatten sie eine gefunden. Sie führte zur Küche. Die Töpfe schienen schon länger nicht benutzt worden zu sein – Rost sammelte sich auf dem Metall an. Manches Geschirr, dass in der Spüle stand, hatte bereits Schimmel angesetzt. Es stank nach verrottetem Essen. Annas Magen drehte sich um. Unter einem Würgen versteckte sie ihr Gesicht in ihrem Schal, den sie nun noch fester band, damit sie ihn beim Laufen nicht halten musste. Es war schwierig die zwei Fremden durch die dunklen Gänge zu führen: Selbst im Licht kannte sich das Mädchen nicht im ganzen Haus aus. Noch schlimmer war allerdings, dass sie nicht einmal ansatzweise ihren Bruder spüren konnte. Auch die Schatten schienen nicht mehr hier zu hausen – Das, was dem Haus den Eindruck eines „Fluches“ gegeben hatte, war nun fast komplett erloschen. Als wäre eine dunkle Macht gewichen.

Ihre Schritte waren das einzige, was in diesem Haus Geräusche verursachten. Mirai und Akira warfen neugierige Blicke in die Räume und auch Anna untersuchte jeden einzelnen, mit der Hoffnung, Adam sei in einem von ihnen. Doch schon bevor sie eine der Türen öffnete war ihr oft schon klar gewesen: Adam war nicht da. Nervös drehte das Mädchen das Taschenmesser in ihrer Jackentasche. Sie hatte gehofft, es würde ihr Glück bei der Suche nach seinem Besitzer schenken, aber nichts.

„Wo gehen wir eigentlich hin?“ flüsterte Mirai in Annas Ohr, als hätte er Angst belauscht zu werden. Es verpasste Anna eine Gänsehaut.

„Mein altes Schlafzimmer.“ erwiderte das Mädchen noch leiser. Doch die Gänge verharrten so still, wie als sie das Haus betreten hatten. Es war gruselig, wie still ein altes Haus eigentlich sein konnte. Allmählich kamen die drei jedoch in die Gänge, die dem Mond zugewandt waren. Das fahle Licht zwang sich durch die Wolken, beleuchtete den Boden durch die Fenster und gab den Blick in ein paar Räume frei. Anna hatte nie gewusst, dass das Anwesen so groß gewesen war.

„Wir sind da.“ murmelte sie leise und blieb vor einer Holztür stehen. Sie war schlicht, wahrscheinlich genau so wie das Innenleben des Zimmers – sie hatte es schließlich nie gesehen. Anna stieß die Tür auf. Das restliche Licht in diesem Haus schien darin aufgesaugt zu werden. Genau so wie Annas Tattoo reflektierte dieser Raum kein bisschen Licht – als würde er den ungebetenen Gast einfach vor der Tür stehen lassen.

„Da drin hast du geschlafen?“ japste Mirai erschrocken, wollte den Kopf durch den Türrahmen hindurch stecken, machte jedoch Halt. „Es ist verflucht.“ Anna seufzte und boxte dem Affenkönig unsanft mit dem Ellenbogen in die Magengrube.

„Es ist nicht verflucht, es ist nur ein Teil meiner Energie. Es ist harmlos. Guck.“ Anna machte einen Schritt ins Zimmer und sah sich um. Nichts als pure Dunkelheit. Doch mehr als das war es nicht. Sie drehte sich um und grinste die Tür an.

Diese fiel gerade sachte und mit einem leisen 'Klick' ins Schloss. Eiskalte Stille legte sich in den Raum. Die Temperatur schien um einige Grad Celsius gefallen zu sein. Anders konnte Anna sich die Gänsehaut in ihrem Nacken nicht erklären. Ihre Finger fuhren über das morsche Holz der Tür. Die Jungs hätten sie einfach eintreten können, doch taten sie es nicht. Dann ertönte eine Stimme. Eine Stimme, die Anna so eiskalt erwischte, wie das Poolwasser vor einigen Wochen.

„Hätte nicht gedacht, dass du wieder kommst.“

In einem Satz hatte Anna sich umgedreht. Nichts. Es war nur schwarz. Keine Kontur einer Person, die sich abhob, kein Schimmer von irgendwelchen Augen. Nicht einmal eine Präsenz. Und plötzlich schwieg die Stimme wieder. Etwas, das sich anfühlte wie eine Hand, bahnte sich den Weg in Annas Jackentasche. Es spielte mit dem Butterfly.

„Du hast es mitgebracht.“ Die Stimme kam nun aus einer komplett anderen Richtung. Der Blick des Mädchens folgte ihr sofort in die andere Ecke des Raumes, doch man konnte nichts sehen. Anna hob ihre Hand vor ihre Augen. Nein, selbst die konnte sie nicht sehen. Die Hand fuhr sofort zurück zur Tür, hielt sich fest. Schwindel breitete sich in Annas Kopf aus. War es Adams Stimme? Sie klang so verzerrt, so unecht. Als würden die Schatten mit ihr reden. Die Schatten, die ihr das letzte mal so gefährlich nahe gesagt haben, sie solle verschwinden. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit.

„Geh zu Charlotte.“

Ehe Anna sich versah, stand sie vor der Tür. Niemand war da. Sofort drehte sie sich um, riss am Türknauf, doch die Tür blieb verschlossen. „Keine Zeit. Keine Zeit. Keine Zeit. Keine Zeit.“ hallte in den Ohren des Mädchen wieder. Als würden ihre Füße den Weg kennen rannte sie los. Es war erneut dieses Gefühl, als wäre Gefahr unmittelbar vor ihr. Die Schatten, die ihr zu fliehen geraten haben, sagten ihr nun, dass etwas mit Charlotte war? Was geschah hier? Waren die Schatten nun Freunde oder nicht? Anna keuchte. Die kalte Luft brannte in ihren Lungen. Alles schien kälter zu sein, als vorher. Selbst die Hitze, die sich unter ihren dicken Klamotten ansammelte, verblasste sofort in der Umgebung. Der Schweiß hatte nicht einmal mehr Zeit zu fließen.

Nach Atem ringend erreichte sie die Stelle. Sie erkannte sofort die kristallartigen Gebilde, die Spinnennetze aus Haaren. Tatsächlich nahm Charlottes Sarg fast den ganzen, riesigen Raum ein. Anna stemmte die Handflächen auf ihre Knien, um die Brust zu entlasten und besser Luft holen zu können. Das Miasma in diesem Raum war unerträglich und sonst hatte sie eigentlich nie Probleme damit gehabt. Doch was ihr wirklich den Atem verschlag, waren die zwei Gestalten vor dem Kristall. Mirai und Akira starrten wie hypnotisiert in Charlottes Augen. Mirais grüne, wilde Augen verloren an Glanz. Akiras goldgelbe Augen schienen wie ein milchiges Grau. Sofort ging Anna einige Schritte auf die beiden zu, breitete ihre Arme aus und stieß die Männer ein paar Meter von Charlotte weg. Etwas näher und sie wären vielleicht gestorben, so dachte Anna sich.

„Was macht ihr hier?“ schnauzte das Mädchen sofort leichenblass.

„Was?“ Mirai, wie aus einer tiefen Trance gerissen, wandte seinen Blick nun Anna zu. „Anna, wer ist das?“ fragte der Junge sofort. Anna schluckte.

„Das ist Charlotte oder?“ Akira, der von Annas Gewalt auf den Boden geworfen wurde, erhob sich.

„Woher…?“ Verwundert blickte sie den Jungen an. Verdammt, Akira. Was war er? Anna drehte sich um und schaute in das tote Gesicht einer vergangenen Königin.

„Ja, das ist sie. Sie hat niemandem zum Lieben gefunden und die Macht hat sie … naja.“

„Getötet?“ fragte Mirai scharf nach, doch Anna schüttelte den Kopf.

„Ich glaube irgendwie nicht, dass sie tot ist.“ Sie hob ihre Hand. Die weißen Augen Charlottes starrten in ihre. Sofort wusste Anna, wie Charlotte es geschafft hatte, die beiden in ihren Bann zu ziehen. Es war schier unmöglich, nicht in diese toten, gruseligen Augen zu blicken.

„Fass' sie nicht an.“ Eine Hand legte sich auf Annas Handgelenk. Eine warme, bekannte Hand. Akira zog Anna von den Glaskristallen weg. „Das bringt nichts Gutes.“

„Ich wollte nicht...“ Hastig steckte Anna ihre Hände wieder in ihre Jackentaschen. In einer fand sie das Butterfly wieder. „Was macht ihr überhaupt hier? Wieso habt ihr nicht gewartet?“

„Ich weiß nicht.“ Mirai schaute Akira an, doch auch dieser zuckte mit den Schultern. „Irgendwie waren wir plötzlich hier.“ Sofort erinnerte sich die Blondine daran, wie auch sie manchmal dem Flüstern gefolgt war. Keine Worte, keine Wünsche oder Befehle. Es war mehr ein Gefühl gewesen. Ein Gefühl nach Verlangen. Erneut drehte sich Anna der toten Königin zu.

„Meint ihr, ich ende auch mal so?“ Ihre Stimme war zu einem Flüstern erstorben, während ihre Hände sich langsam aus den Jackentaschen lösten.

„Natürlich nicht.“ murrte Mirai sofort. Er hatte sich der schwarzen Haut gewidmet.

„Falls du überhaupt eine Königin bist...“ grinste Akira sofort. Dieses Grinsen wich ihm, noch während er die Worte sprach. Ein langer, schmaler Finger erhob sich, ausgehend von Annas Hand. Sofort wurde Akira kreidebleich. Er streckte seinen Arm aus, um Anna erneut wegzuziehen, doch zu spät. Es war eine minimale, fast liebevolle Berührung, vorsichtig in ihrer Gestalt, als Anna mit dem Finger über das kühle Glas fuhr. Wie Sandkörner begann das Glas in feinem Staub auf den Boden zu fallen. Zuerst war es wenig, doch es breitete sich aus wie eine Seuche: nach und nach zerfiel das ganze Glas, samt Körper, Haaren und Augen, in winzige kleine Körner und baute Türme aus Sand auf dem Boden auf. Eine Staubwolke erhob sich und brauchte einige Minuten, um sich wieder zu legen.

Ächzend verhielten sich die drei Anwesenden den Mund.

„Was hast du getan?“ Mirai klang geschockt.

Charlotte war tot. Sie war immer tot gewesen. Nicht einmal ein Körper blieb von ihr zurück. Anna starrte auf die Berge von durchsichtigem Sand. War es das, was sie lernen sollte?

„Ich...“ begann sie, doch sie musste nicht einmal nach den Worten suchen, die sie brauchte. „Ich brauche keine Relikte. Und die Welt braucht keine andere Königin.“

Wieso hatte sie sich jemals so schwer damit getan, das zu sagen? SIE war die einzige, warhaftige, schwarze Königin. Niemand würde ihr den Thron stehlen. Niemand ihre Macht. Als würden ihre Worte mit ihrem Herz resonieren, füllte Wärme sie aus. Als hätte sie etwas gefunden, was sie vor Jahren verloren hatte. Es war ein merkwürdig befriedigendes Gefühl.

„Heute können wir hier schlafen.“ Anna unterbrach die schweigenden Minuten und streckte sich. Mirai und Akira sahen sich beide nachdenklich an, dann seufzte Mirai.

„Ich nehme an, du hast Adam nicht gefunden?“ fragte er vorsichtshalber nach.

„Nein. Aber dafür etwas anderes.“

„Was denn?“ wollte Akira nun mit einem Grinsen wissen, als wäre er ganz der Alte. Und es steckte Anna an. Sie fühlte sich gut.

„Ist egal. Lasst uns schlafen gehen, wir müssen morgen früh wieder los.“
 

Die drei schliefen in einer der großen Hallen im Innenleben des Anwesens. Da der Raum so gut von Mauern und anderen Räumen geschützt war, war es relativ warm und behaglich. Nichts hatte sich verändert – die Dekoration, Bilder und Wandteppiche hingen immer noch an Ort und Stelle. Seufzend ließ Anna sich an einer der Wände sinken, während Mirai und Akira aus ihren Taschen Sachen kramten. Alles, was man als Decke oder Kopfkissen halt benutzen könnte. Während die Jungs das „Bett“ vorbereiteten, sah Anna sich um. Sie hatte noch nie irgendwo anders in diesem Haus geschlafen, als in eben jenem Zimmer. Tatsächlich fragte sie sich gerade, ob sie heute Nacht überhaupt ein Auge zu kriegen würde. Würden die Schatten kommen? Würde Charlottes Fluch sie ereilen?

Das Mädchen stand auf, ging zu der Matratze aus Klamotten hin und legte nun auch ihre Jacke dort ab, um sich darauf fallen zu lassen. Mirai, der – aus welchem Grund auch immer – eine Decke mitgebracht hatte, legte sich zu ihrer Linken und deckte die beiden zu. Auch Akira ließ sich neben Anna nieder und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Die beiden redeten, doch ihre Worte rauschten an der Königin vorbei wie das Wasser eines kleines Baches über Steine. Warum hatte diese Stimme, die so vertraut nach Adam geklungen hatte, sie zu Charlotte geschickt? Eigentlich hätte Anna sich mehr erwartet. Vielleicht, dass Charlotte quietsch lebendig aus dem Glas sprang oder ihre Macht auf die Blondine übertragen würde. Wärme legte sich um Annas Schultern. Wann hatte sie ihre Augen geschlossen? Akiras Hand kraulte ihren Rücken. Mirais lag auf ihrer Hüfte. Ihr Körper war Akira zugewandt. Es war einfacher auf der Seite einzuschlafen, so wie Zuhause. Sein Atem kitzelte ihre Stirn, Mirais ihren Nacken. Hoffentlich würden sie das Tattoo nicht entdecken. Der Rollkragenpullover schenkte Anna Wärme und Schutz vor neugierigen Blicken, dennoch kugelte sie sich bei Akira in den Armen ein. Er war ungewöhnlich warm, wie eine Standheizung. Wie Feuer selbst. Ein angenehmes und beruhigendes Gefühl. Nun rückte auch Mirai näher – Anna spürte, wie sein Herz gegen ihren Rücken schlug. Die beiden redeten immer noch, es lenkte das Mädchen vom Einschlafen ab.

Etwas kitzelte Anna am Nacken. Ihre Hand zuckte sofort zur Stelle und kratzte sie. Plötzlich fing es an zu jucken. Seufzend fuhren ihre Fingernägel über ihren Rücken, doch das Jucken stoppte nicht. Anna setzte sich auf, um ihren Pullover auszuziehen. Sie verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken und begann zu kratzen. Ihr Blick wanderte durch den stillen und leeren Raum. Irgendwie schien er nun, im Mondlicht, heller zu sein. Ihr Blick wanderte über den Boden zu ihren Beinen, die unter der Bettdecke lagen. Das Jucken verschwand nicht. Ächzend kratzte Anna ein bisschen stärker. Nur sie lag hier, allein in der Stille. Wäre es nicht so hell gewesen, hätte man meinen können, sie wäre in ihrem alten Schlafzimmer gewesen. Man hörte das Reißen von Haut. Wo kam dieses Geräusch her? Plötzlich hörte es sich so an, als würde man seine Hände in einen Topf Fleisch tauchen und darin wühlen. Eisen lag in der Luft. „Ob Kai sich so sein Abendessen vorstellt?“ dachte Anna sich und atmete den Blutgeruch ein. Oder vielleicht die Wölfe? Seufzend ließ das Mädchen ihre Hände sinken. Sie dachte eigentlich, sie wäre alleine hier gewesen. Die leuchtend weiße Matratze sah unter dem Mond aus wie frisch gefallener Schnee. Das Mädchen betrachtete ihre Hände. Irgendetwas steckte unter ihren Fingernägeln. Müde begann sie, das Fleisch unter den Nägeln heraus zu pulen. Doch das Blut störte – ihre Finger waren glitschig davon. Die schneeweiße Matratze färbte sich in der Farbe von Annas Blut. Mit einem Blick nach hinten wusste Anna, dass die Quelle ihr eigener Rücken war. Er war komplett aufgerissen. Lose Fleisch- und Muskelstücke hingen aus zwei tiefen Löchern heraus. Man konnte sehen, wie das Blut mit jedem weiteren Herzschlag schwallartig aus den Wunden schwappte. Anna blickte zurück in ihre Hände. Dort lag es – ein Herz, fast schwarz aufgrund der feinen Linien, die es durchzog. Die Linien bildeten abstrakte Formen und Muster, erzählten Anna eine fremdsprachige Geschichte. Anna blickte wieder auf. Der Mond war erloschen, der Raum war dunkel. Nicht nur dunkel – das einzige, was Anna noch erkennen konnte, war der pochende Muskel in ihren Händen. Ihre Finger vergruben sich in das pulsierende Fleisch.

„Wenn du nicht wärst...“ murmelte das Mädchen vor sich her und drückte zu. „Wenn du nicht wärst.“ Ihr Körper vibrierte kurz unter dem sanften Rütteln an ihrer Schulter. Anna schlug die Augen auf und sah sich um – es war Morgen. Akiras goldgelbe Augen strahlten mehr als die Sonne. Er hob einen Finger an die Lippen, grinste und deutete auf den immer noch schlafenden Mirai. Anna folgte seinem Deut und blieb still. Mirai schlief wie ein Stein. Ihre Augen wanderten wieder zu Akira, welcher hellwach schien. Hatte sie geträumt? Oder war das der Traum? Unweigerlich schlossen sich Annas Augen wieder. Ihre Hände waren kalt und trocken. Ihr Rücken schmerzte nicht. Die Matratze war keine – es war ein wilder Haufen aus Kleidungsstücken. Natürlich hatte sie geträumt, dachte sie sich. Akiras Hand legte sich neben Annas Gesicht ab und brachte die Königin dazu, wieder die Augen zu öffnen. Rote Haare fielen ihr ins Gesicht, kitzelten ihre Nase. Warme, weiche Lippen legten sich auf ihre. Akira küsste sie. Vielleicht schlief sie also immer noch. Annas Hand krabbelte unter der Bettdecke hervor, wanderte den starken, warmen Arm hinauf und legte sich auf Akiras Wange. Wie konnte er nur so warm sein? Seine Finger glitten durch ihren Pony, wanderten ihre Schläfe hinab, streichelten sie. Noch für einen kurzen Moment lagen seine Lippen auf ihren. Akira schmeckte gut. Wenn das auch ein Traum war, bevorzugte sie diesen. Seine Präsenz entfernte sich langsam von ihr und Anna hielt die Augen geschlossen. Sie wurde wieder müde.

Als Anna das nächste Mal die Augen öffnete sah sie sich zuerst um. Zu ihrer Linken Mirai, zu ihrer Rechten Akira. Beide schliefen noch fest. Wahrscheinlich war es der nächste Morgen, doch um sicher zu gehen kniff die Blondine sich in die Wange. Schmerz breitete sich in dem weichen Fleisch aus. Erst streckte sie sich, dann gähnte sie und begann, unsanft ihre beiden Freunde zu wecken.

„Kommt, steht auf, wir müssen los.“ gähnte das Mädchen verhalten und kletterte auf ihre Füße, ehe sie anfing, Mirai und Akira schroff von den Klamotten zu rollen, um sie zu falten. Mirai gähnte laut und auch Akira schaffte es langsam, aufzustehen.

„Was war eigentlich gestern in deinem Raum?“ fragte er und riss seinen Mund weit hinter seiner Handfläche auf.

„Hm?“ Noch immer verschlafen musste Anna erst einmal überlegen, was überhaupt passiert war. „Es hat sich irgendwie wie Adam angefühlt… Aber irgendwie auch nicht. Ich weiß es nicht. Jedenfalls hat mir dieses Etwas dann gesagt, zu Charlotte zu gehen.“

„Vielleicht waren es die Schatten, von denen du mal erzählt hast?“ murmelte der Rotschopf.

„Möglich, aber es ist nicht weiter wichtig. Wir müssen nach Hause.“ Anna war voller Tatendrang. Hier konnte sie nichts mehr finden, was ihr helfen könnte. Nicht heute. Außerdem war der Weg nach Hause lang und anstrengend, es wäre also besser, sie würden so früh wie möglich los gehen. Nun streckte sich auch Mirai und offenbarte seine gut trainierte Brust.

„Na dann...“ säuselte er verschlafen und stand auf.
 

Der Weg nach Hause war einfacher, als gedacht. Immerhin hatten die drei jetzt das Licht der Sonne auf ihrer Seite. Die Stadt, von der aus die Bahn fahren würde, war nach einer Stunde erreicht. Auch die Zugfahrt war entspannt. Gegen frühen Abend, als sich die Sonne gerade senkte, kamen sie endlich wieder in ihrer Heimatstadt an. Anna wollte es eigentlich nicht, aber die Jungs bestanden darauf, sie nach Hause zu bringen. Was, wenn jemand auf der Lauer liegen würde, um sie zu entführen oder schlimmeres? Sie konnte es ihnen nicht aus dem Kopf schlagen. Redend und lachend liefen sie hintereinander her, während sie den Weg zu Annas Haus verfolgten. Die Straßen waren wie ausgestorben, mit einem Schlag erleuchteten die Straßenlaternen, um die Nacht willkommen zu heißen. Allmählich kam Annas Haus in Sicht und die drei verlangsamten ihr Tempo.

„Na dann sehen wir uns morgen in der Schule.“ grinste Mirai und streichelte selbstgefällig über Annas Kopf. Diese erwiderte das Grinsen und knuffte ihn sanft mit der Faust in die Magengrube.

„Jap.“ Anna drehte sich um, um durch ihr Gartentor zu schreiten. Ihr Blick fiel auf das geöffnete Tor. Verfolgte den kleinen Steinweg, der durch den Rasen zur Haustür führte. Die Haustür… Schlechte Energie lag in der Luft. Anna schaute sich um. Dann warf sie einen flüchtigen Blick auf Mirai und Akira, die auch aufhörten zu reden. Es roch so wie in der Küche bei Tante und Onkel. Verrottete Speisen. Altes Geschirr. Aber Annas Mutter würde ihre Hausarbeit nie so vernachlässigen. Anna wandte sich wieder dem Haus zu, vor allem ihrem Zimmer. Die Fenster waren fest geschlossen, die große Knospe ihrer Pflanze stand still und starrte aus dem Zimmer. Annas Augen wanderten die Hauswand hinunter. Es war so still, es war gruselig. Sie konnte nicht viel erkennen, aber die Haustür stand offen.

Erster Abschied

Eine Hand legte sich auf Annas Schulter und hielt sie davon ab. Mirai hatte sein Handy heraus gezogen und wählte eine Nummer. Akira starrte Anna in die Augen und ihr Blick verriet ihr: Nein. Du darfst nicht reingehen. Er löste seinen festen Griff um ihre Schulter und zückte ebenfalls sein Handy, um jemanden anzurufen. Anna drehte sich wieder dem Haus zu und musterte es. Es sah völlig normal aus. Das einzige, was störte, war die geöffnete Haustür und der Geruch. Wie hypnotisiert folgte Anna den Steinfliesen und spähte durch den Türspalt. Der Gestank kam von hier. Es war nicht zu vergleichen mit dem Geruch in der Küche des alten Anwesens. Leise drückte das Mädchen die Tür auf und wollte sich die Schuhe ausziehen. Zu ihrer Linken war ihr Wohnzimmer. Wahrscheinlich war ihre Mutter beim Fernsehen eingeschlafen und antwortete deshalb nicht auf Annas „Bin wieder da“. Doch der Fernseher lief nicht. Das Mädchen brach den Versuch ab, aus ihren Schuhen zu schlüpfen, und zog den Kragen ihres Pullovers über ihre Nase, ehe sie die vier Schritte auf die Wohnzimmertür zuging. Mit jedem Schritt wurde Anna klar, dass ausgerechnet dies sie nicht tun sollte. Die Klinke war kalt unter Annas schweißnasser Hand. Die Tür knarzte. Anna traute sich nicht, sie einfach aufzustoßen, wie sie es sonst immer tat. Sie öffnete sich, Zentimeter für Zentimeter, als würde sie Anna davon abhalten wollen, in das Wohnzimmer zu treten. Doch letztendlich gab sie Annas Hand nach. Das erste, was dem Mädchen auffiel, war das Summen von Fliegen. Eine flog an ihrem Ohr vorbei, ließ sie bei dem Geräusch erschaudern. Als nächstes flog ihr der Gestank entgegen, der einem die Tränen in die Augen trieb. Anna hustete. Ihre Brust bebte. Warum, wusste sie auch nicht. Einfach alles wirkte falsch. Ihre Füße fühlten sich schwach an. Dann fielen ihr die schwarzen Flecken an Wänden und Decke auf. Lange, dickflüssige Tropfen liefen an ihnen hinunter. Als Anna weiter in das Zimmer ging sah sie wie ein blutiges, schleimiges Etwas hinter dem Sofa lag. Es war die Quelle für die schlechte Luft. Wer war das? Ein Fremder? War es ein Einbrecher gewesen? Wo war Mama?

Etwas tropfte von der Decke und fiel mit einem dumpfen Platschen auf den Boden neben dem Leichnam. Als würde man ein Schnitzel auf ein Küchenbrett werfen. Annas Magen drehte sich um. Beim näheren Hinsehen erkannte man die dünnen Ärmchen an der Leiche. Dünne, alte, Arme. Der dürre Brustkorb mit den spitzen Rippen war komplett aufgerissen und ausgehöhlt worden. Dort, wo einst Lungen und Organe Leben schenkten, war nichts als ein klaffendes, blutiges Loch. Als Anna das Gesicht betrachtete, wurde ihrem Magen der Rest gegeben. Sie würgte. Ihr Nacken wurde kalt unter dem Schweiß. Ihre Haare sträubten sich gegen die Realität, die sich ihren Augen offenbarte. Da, wo ein Gesicht hätte sein sollen, starrten dunkle, runde, braune Augen aus ihren Höhlen. Die Nase und Lippen fehlten. Das Fleisch war nicht mehr bedeckt von Haut, als hätte man sie einfach wie eine Maske abgerissen. Es war zerfetzt. Nun stand das Mädchen über der Leiche. Mehrere Knochen waren gebrochen, Glieder standen merkwürdig ab. Einer der Arme fehlte. Erneut platschte etwas und Anna sah an die Decke. Das Blut und die Gedärme an der sonst so weißen Decke tropften langsam hinunter. Andere waren vielleicht schon fest getrocknet. Ein Schaudern ließ Annas Körper erbeben. Sie schien zu vergessen, wie man atmet. Da kam dieser stechende Gestank her. Mit einem weiteren Platschen schaute Anna wieder zu Boden, um zu sehen, was hinunter gefallen war. Ihre Augen weiteten sich.Ihr Mund wurde trocken. Die Kraft verließ ihre Fingerspitzen, hinterließen sie taub und kalt, als hätte sie zu lange im Schnee gespielt. Es war eine Lippe, ob die obere oder untere konnte man nicht sagen. Ihr Blick fiel wieder auf das Gesicht des Toten. Die Tote. Einige Zähne fehlten. Doch Anna brauchte nicht viel länger, um ihre Mutter wieder zu erkennen. Vielleicht war es der Schock gewesen, vielleicht war es auch Annas Herz, das sich vor der Realität verschließen wollte. Sie starrte in die toten Augen ihrer Mutter und plötzlich verstarben jegliche Gedanken. Ihr Herz schien die Kraft zu verlieren, weiterhin zu schlagen. Es setzte komplett aus. Irgendetwas schlug gegen Annas Kehle. Es hinterließ einen schmerzhaften Druck in ihrem Hals, den sie nicht hinunter schlucken konnte. Jegliche Wärme wich aus ihrem Körper und dumpfe, drückende Stille breitete sich in ihr aus. Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Es war betäubend. Anna konnte es nicht ganz wahrnehmen. Das einzige was sie tun konnte war Starren. Dunkelheit breitete sich hinter Anna aus. Das Licht der untergehenden Sonne war vollends verschwunden. Mit ihr trat die Kälte ein. Kein Gedanke schaffte es in ihren Kopf. Keiner. Sie war ausgefüllt von Nichts. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und zog daran, wollte Anna von ihrer Mutter wegziehen. Anna drückte Mirai weg.

„Ruf' die Polizei.“ Ihre eigene Stimme klang ihr fremd. Als würde jemand anderes ihren Mund benutzen um zu Sprechen. „Geh' schon.“ Akira machte einen Schritt auf sie zu, blieb dann jedoch stehen. Die Hand, die sich erhoben hatte, um es Mirai gleich zu tun, gefror in der Luft. Er konnte Anna nicht berühren, etwas hielt ihn davon ab. Anna ging langsam auf ihre Knie. Ihre Finger schwebten millimeterdicht über den zerfetzten Brustkorb. Das Herz fehlte. Hier hatte sie gelegen, als man es ihr raus gerissen hatte. Vielleicht war sie sogar noch am Leben gewesen. Vielleicht hatte sie nach Hilfe geschrieen. Annas Hände zuckten und hielten einander vor ihrer Brust fest. Sie sollte ihre Mutter nicht anfassen. Was war, wenn sie Spuren verwischte?

„Anna...“ Akiras Stimme war leise, fast liebevoll. Anna schaffte es nicht, ihren Blick von den spitzen Rippen zu lösen, die in die Luft ragten. Würde sie die berühren, würde sie sich in den Finger stechen, wie Dornröschen und in einen ewigen Schlaf fallen.

„Anna.“ Akiras Stimme kam näher. Seine Hände legten sich auf ihre Schultern, welche sofort Feuer fingen. Sie brannten. Ihr Rücken brannte. Annas Magen drehte sich um. Ihre Sicht verschwamm. Akira durfte sie nicht anfassen, es war gerade nicht gut. Ihr ging es nicht gut. Sofort zog Akira seine Hände wieder weg, doch der Schmerz hörte nicht auf. Nicht nur ihr Rücken, ihre Schultern, Beine und Arme, auch ihre Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Machten das Sehen schwer. Der Gestank erdrückte sie. Sie konnte nicht mehr atmen. Plötzlich befiel das Mädchen ein Anflug von Panik. Ihre Hände zitterten. „Anna, beruhig' dich.“ Akiras Worte verhallten wie ein weit entferntes Konzert. Wie das Echo eines gesungenen Liedes. Ihre Handfläche drückte gegen Akiras Brust, um ihn von sich weg zu halten. Mirai kam wieder ins Haus. Sofort spürte sie, wie auch Mirai sie weg ziehen wollte. Annas zweite Hand musste her halten, um Mirai von sich fern zu halten. Währenddessen wickelte sich Annas Hand in Akiras Shirt, um ihn an sich heran zu ziehen.

„Akira.“ flüsterte sie leise. Sie wusste nicht, wo diese Worte her kamen. Sie wusste nicht einmal, dass sie sie sprach. „Ich will sie brennen sehen. Alle. Alle. Alle sollen brennen.“ Sie konnte Akiras Gesicht nicht erkennen, konnte nicht sehen, ob er sie gehört hatte. „Lass sie brennen“ sagte sie erneut. Mirais Hände umfassten Annas Handgelenk und versuchten, ihn von ihrem Griff zu erlösen. Würde er sich befreien, würde er sie wegziehen. Sie durfte nicht gehen. Sie musste bei ihrer Mutter bleiben. Sie hielt ihn noch fester als vorher. Er durfte nicht gehen. Niemand durfte gehen.

„Anna!“ schrie Mirai nun. Ein dumpfer Schlag auf ihrer Wange verblasste im Schmerz. Sie sah nicht, wer die Hand gehoben hatte. Alles verschwamm im Schatten. Wann war sie aufgestanden? Ihre Füße schienen nicht einmal das Gewicht ihres Körpers zu tragen. Es funktionierte automatisch, erforderte keinerlei Energie, zu stehen. Akiras Gesicht war nicht zu erkennen. Anna wandte den Kopf zu Mirai, doch auch sein Gesicht verschwamm. Sie sah alles wie durch einen Schleier. Ovalförmige, blasse und gesichtslose Farbflecken verrieten ihr die Position von ihren Köpfen. Keuchen. Wer keuchte? Das vertraute Gefühl von Fleisch zwischen ihren Fingern kehrte zurück. Und sie drückte. Sie drückte, so wie sie in ihrem Traum ihr Herz zerdrückt hatte. Genau. Sie musste noch träumen, anders war es nicht zu erklären. Sie war nicht einmal aufgewacht heute morgen. Es war wieder einer dieser Träume, durch den sie tagelang schlafen würde. Ein Alptraum. Erneutes Keuchen. Sie war es nicht gewesen.

Und plötzlich, als würde Wasser ihr den Atem rauben, bekam Anna keine Luft mehr. Ihr ganzer Körper wurde kalt. Kalt und nass. Wo kam das Wasser her? War es Teil eines Traums gewesen?

„Anna.“ sagte eine ruhige, tiefe Stimme. So viele Leute riefen ihren Namen. Dabei sollten sie Anna „Königin“ nennen. Das kalte Wasser riss an ihren Gliedern, als wäre das Mädchen in einen Fluss gefallen, dessen starken Strömungen sie Richtung Abgrund zerrten. Die Stimme redete mit ihr, flüsterte ihr Dinge zu, die sie nicht verstand. Annas Gedanken degenerierten, bis sie irgendwann nur noch hörte, wie ihre Stimme ihr vorhielt: Wieso? Als wäre es ihre Schuld gewesen.

Das nächste, an das sich Anna erinnerte, waren die blau-rot flackernden Lichter der Einsatzwagen. Sie saß auf dem Trittbrett eines Krankenwagens. Wärme durchflutete sie wieder. Ihr Gesicht war gegen Akiras Brust gepresst worden, er ließ sie nicht los. Eine Decke schenkte ihrem Rücken Wärme, der vor Schmerzen aber eh noch brannte. Ihre Augen wanderten durch die Masse an Menschen, die sich hier versammelt hatten. Polizisten, Sanitäter, Nachbarn, Mirai und Ren. Sie sprachen miteinander, doch immer noch wollte Anna kein Wort des Gesagten hören. Nur eine Stimme klang deutlich und klar an ihre Ohren:

„Sag' es noch einmal und ich tu's. Sag, dass ich sie brennen lassen soll und sie werden brennen.“ flüsterte die Stimme. War es ihre Stimme? War es Charlotte? War es Adam? Die Worte klangen, als kämen sie direkt aus Annas Herzen.

„Verbrenn sie alle.“ flüsterte das Mädchen leise. Die Arme um ihren Körper zogen sich fester zusammen, als hätte man sie gehört.

„Anna Kurosawa?“ Eben jene blickte auf. Ein Mann in einem Trench-Coat stand vor ihr, hielt ein Notizbuch. Überstunden und schlaflose Nächte machten sich unter seinen Augen bemerkbar. „Ich weiß, dass das schwer ist, aber ich muss Sie einige Sachen fragen.“

„Sehen Sie nicht, dass die Kleine völlig aufgelöst ist?“ wollte eine schrille, alte Stimme wissen. War das ihre Nachbarin gewesen?

„Ich weiß. Aber die ersten Eindrücke sind die wichtigsten.“ erwiderte der Inspektor schroff und Stimmen erhoben sich. Stimmen, die merkwürdig bekannt klangen. Wer war alles hier?

„Haben Sie jemandem aus dem Haus rennen sehen?“

„Nein.“ antwortete Mirai sofort. Der Inspektor knirschte mit den Zähnen. Er hatte Anna gefragt.

„Ihr Vater, Herr Kurosawa, lebt von Ihnen getrennt. Haben sich Ihre Eltern im Streit getrennt?“ Anna ließ sich die Worte auf der Seele zergehen. Langsam schüttelte sie den Kopf. Der Mundwinkel des Mannes zuckte merkwürdig.

„Haben Ihre Eltern Feinde?“ fuhr er fort. Anna schloss die Augen. Ihre Stimme wollte nicht heraus kommen. Das einzige, was ihre Lippen formen konnten, waren die Wörter: Sie sollen brennen. Also verharrte das Mädchen im Schweigen.

„Frau Kurosawa war eine liebreizende Frau, die sich um das ganze Haus gekümmert hat. Sie hat nur für ihre Kinder gelebt. Keiner in der Nachbarschaft hat je...“ begann eine andere, alte und bekannte Stimme und Anna begann, ihre Umgebung wieder auszublenden.

„Haben Sie einen Ort, an dem Sie heute schlafen können? Verwandte?“ Die Stimme des Fremden weckte sie wieder aus ihrer Dunkelheit. Langsam schüttelte Anna den Kopf. Verwandte? Wer? Adam? Tante und Onkel? Niemand war da. Und zu ihrem Vater würde sie bestimmt nicht gehen.

„Wir sind ihre Freunde, sie kann erst einmal zu uns kommen.“ Rens Stimme erhob sich und prasselte auf Anna ein wie das wilde Wasser eines Wasserfalls. Mirai und Akira nickten.

„Na gut. Wir verschieben das Gespräch, das bringt uns hier nicht viel...“ seufzte der Detective genervt. „Wir brauchen Ihre Adresse.“

„Können wir ein paar Sachen aus dem Haus holen?“ fragte Mirai schließlich, als die Männer die Kontaktdaten ausgetauscht hatten.

„Nein. Alles in dem Haus ist Beweismaterial.“ ertönte die kalte Stimme. Anna schnaufte gehässig auf. Das war nicht Beweismaterial. Das war ihr Zuhause. „Wir melden uns die Tage.“

Ren half Anna auf und auch Akira stützte das Mädchen, als wäre sie eine alte Lady die nicht mehr laufen konnte. Doch Annas Körper ging es gut. Er war nicht in dieser lähmenden Kälte gefangen, wie in ihrem Traum. Er funktionierte einwandfrei. Sie drückte die Hände, die sich um ihren Körper geschlungen hatten, von sich und tappste zu einem Taxi, das auf die vier wartete, ehe sie die Decke, die sie wärmen sollte, auf den Boden fallen ließ, um einzusteigen.

Adam. Mika. Kai. Nun auch noch ihre Mutter. Alles und jeder verschwand. Akira ließ Annas Hand nicht los. Sie waren angekommen. Ren rannte in die große Villa und schrie etwas. Das war das Haus, in dem alle der Heiratskandidaten wohnten. Ren hatte es gekauft, damit der Weg zur Schule nicht zu lang war. Es war ein großes Anwesen mit einem riesigen Garten, in einem strikten, europäischen Stil gehalten. Zu einer anderen Zeit hätte Anna es für ein Schloss gehalten, nun ließ sie sich unbeeindruckt durch die Türen geleiten.

Ein weiches Federbett gab unter ihrem Gewicht nach.

„Das ist nicht gut. Sie muss sich beruhigen.“ sagte Ren sofort ernst. „Sie muss sich was anderes anziehen.“ Annas Blick fiel auf ihren Rollkragenpullover. Blut. Wo war es her gekommen? Sie hatte ihre Mutter nicht berührt. Ihre Finger glitten über den blutverschmierten Bauch. Es war noch nass. Mamas Blut war schon getrocknet. Anna sah sich um und fand sich in einem fremden Zimmer wieder. Hier waren Regale, gefüllt mit alten Büchern. Es war alles in einem angenehmen Veilchenblau eingerichtet worden: Die Bettdecke, die Wände. Ein Strauß aus Lavendel zierte einen kleinen Mahagoni-Tisch. Die weißen, dünnen Vorhänge verhangen die von der Nacht gefüllten Fenster. Es war spät geworden. Mirais Hände zogen an den Pulloveransätzen, doch Anna stieß ihn von sich weg. Wenn er ihr Tattoo sehen würde, würde das ihre Pläne ruinieren. Die Pläne, die sie mit Kai geschmiedet hatte. Kai könnte es tun. Oder sie würde sich einfach selbst umziehen. Ihr Körper funktionierte noch. Wortlos stand Anna auf und wanderte durch den Raum, auf der Suche nach neuer Kleidung. Drei Paar Augen verfolgten ihren Versuch, welche zu finden.

„Anna… Du bist hier bei uns. Deine Sachen sind nicht hier.“ erinnerte sie Akiras ruhige, sanfte Stimme. Anna sah ihn an. Richtig. Sie hatte keine Sachen dabei, nur die von ihrem Besuch bei Tante und Onkel.

„Wo ist meine Tasche?“ Ihre Stimme war ihr so fremd, dass Anna fast erschrak, als sie sie vernahm.

„Unten, ich lass sie holen.“ Ren wies eine der fremden Dienerinnen an, das Gepäck her zu schaffen.

„Ist das euer Haus?“ wollte Anna nun wissen und ließ sich wieder aufs Bett fallen. Es war nass.

Ren nickte. „Ja, wir wohnen hier.“ Er begann zu erklären, was sie sich bereits gedacht hatte. Es interessierte sie nicht.

„Anna, wir müssen gucken, wo das Blut her kommt.“ ermahnte Mirai sie nun scharf.

„Was für Blut?“ Anna klang verwundert, sah dann erneut auf ihren Bauch. Oh. War das etwa ihr Blut?

„Nein.“ sagte sie sofort, ohne überhaupt zu wissen, was sie verneinte. „Nein.“ Akira seufzte.

„Geht, ich kümmer' mich darum.“ maulte er genervt, doch Ren und Mirai blieben an Ort und Stelle und musterten den Rotschopf. „Bewegt euch. Wir haben noch andere Sachen zu tun. Mirai, ruf bei Shiro an und schick ihn her. Die Welpen sollen nach Hause zurück, es ist zu gefährlich für sie geworden. Liam soll auch wieder nach Hause kommen. Ren, wir müssen heraus finden, was passiert ist. Liam könnte uns dabei helfen.“

Widerwillig nachgebend verließen der Affenkönig und Drachengott das Zimmer, welches nun in ein angenehmes Schweigen fiel. Anna starrte auf ihre blutverschmierte Jeans.

„Steh' auf.“ befahl Akira ihr, doch sie bewegte sich nicht. „Hör' auf damit, steh' auf.“ knurrte Akira nun ungeduldig und zog das Mädchen an ihren Achseln hoch. „Heb' die Arme.“

Anna spürte, wie der Pulli unangenehm eng an ihrer Haut klebte, als er abgezogen wurde. Es war wie Frischhaltefolie, die sich ungewollt von frischem Brotteig löste. Nach dem Pulli folgte das Shirt. Dann das Unterhemd. Akira durfte es nicht sehen. Ihre Hände versuchten, ihn zu stoppen, doch er ließ sich nicht davon abhalten. Haut blieb unter Annas Fingernägeln hängen, als sie nach ihm kratzte. „Hör auf dich zu wehren.“ fauchte der Rotschopf genervt, aber unbeeindruckt von ihren Versuchen. Dann öffnete er ihre Jeans und zog sie hinunter.

„Wir müssen das Blut abwaschen, um zu sehen, wo es her kommt.“ sagte er ruhig. Die Nobelpreis verdächtige Ruhe in seiner Stimme, die Anna so bekannt war. Aber Akira durfte es nicht sehen.

„Hör auf.“ hörte Anna sich selbst sagen, ihre Hände drückten gegen Akiras Schultern, als er ihre Füße aus den Hosenbeinen anhob.

„Du brauchst dich nicht zu schämen.“ murmelte er genervt davon, dass sie sich immer noch wehrte. Doch es war nicht Scham, die Anna verspürte. Etwas kitzelte sie an ihren Beinen. Sie blickte an sich hinab. Es war nicht Akira, der es nicht sehen durfte. Anna wollte es nicht sehen. Anna DURFTE es nicht sehen. Doch nun, da Akira es ihr zeigte, konnte sie nicht umhin, hinzuschauen. Sie wusste, wo das Blut her kam. Sie mussten es nicht abwaschen, um die Wunden zu entdecken. Ein tonloses Seufzen huschte Anna über die Lippen, als Akira gefror. Er musterte sie von Kopf bis Fuß und wieder zurück. Er fand keine Worte.

Annas Haut blutete unter den feinen Linien, die sich durch ihre Haut rissen. Immer und immer wieder platzten Adern auf, formten Linien, fielen ins Schwarz und vergaßen sich wieder. Es hörte nicht auf. Annas Körper war eine wandelnde Ansicht von Zerstörung und blitzschneller Regeneration.

„Guck nicht hin.“ flüsterte das Mädchen. Ihr war heiß. Alles zerfiel vor ihrem inneren Auge.

„Ist es immer so?“ fragte Akira sie schließlich und Anna schüttelte den Kopf. Nein. Das letzte Mal, als es so schlimm gewesen war, war sie zum Glück ohnmächtig gewesen. Aber jetzt fühlte sie es. Die Schmerzen auf ihrer Haut, nicht nur auf ihren Rücken beschränkt. Es war zu früh. Ihr Geburtstag war noch mehr als ein halbes Jahr entfernt. Die Schnitte wurden tiefer. Anna hatte vergessen, welche Farbe ihre Unterwäsche einst hatte, doch nun war sie blutrot.

Die Tür öffnete sich und wie angewurzelt blieben Mirai und Ren im Türrahmen stehen, als sie zusahen, wie Annas Blut kleine Pfützen an ihren Füßen bildeten.

„Wir müssen sie in ein Krankenhaus bringen.“ keuchte Mirai sofort und machte einen Satz auf Anna zu, doch Ren hielt ihn zurück.

„Bist du komplett verblödet? Wie willst du das erklären?“

Und erneut rauschte das Gespräch an Anna vorbei. Sie verstanden es einfach nicht. Der Körper, der vorhin noch funktionierte, hörte nun damit auf. Annas Knie und Beine wurden schwach, sie musste sich hin hocken, um nicht umzufallen. Niemand verstand, was hier eigentlich geschah. Es war nicht wichtig, was mit Anna war. Akiras Hände legten sich auf den blutigen Rücken. Für eine Sekunde hatte sie das Gefühl, er würde anfangen ihr die Haut abzureißen. Doch es war die Haut selbst, die sich verabschiedete. Akira versuchte, die heilen Stellen zu streicheln. Aber er sah es nicht. Er sah nicht ihr totes Gesicht vor seinen Augen, so wie Anna. Die zwei runden Augäpfel, die sie anstarrten, leidend und leblos. Er sah nicht, wie die Rippen sich wie scharfe Speere in die Luft streckten, um zu entblößen, dass der Brustkorb ausgeräumt geworden war. Er sah nicht, wie ihr lachendes, faltiges Gesicht an der Decke hing und auf sie hinab tropfte. Er sah nicht, wie Annas Herz zerbrach, so wie es die Knochen ihrer Mutter getan hatten. Warum verstand niemand, dass es hier nicht um Anna ging?

Heiße Tränen rannen ihre Wangen hinunter. Sie waren still, unaufhaltsam, wie ein entstehender Tornado und befreiend wie ein frischer Wind. Rosa Wasser perlte auf den Boden, als sich die Tränen mit dem Blut vermischten, das durch die sich nun formenden Schnitte in ihrem Gesicht bahnte. Es hörte nicht auf zu bluten und ihre Tränen hörten nicht auf zu fließen. „Akira.“ seufzte sie leise und erstickt. „Sag' mir, dass ich träume. Sag' mir, dass wir noch schlafen. Sag' mir, dass nicht alle um mich herum sterben.“

Auch Mirai und Ren hatten sich nun zu Anna gesetzt und hielten sie. Ihre Hände waren warm, erschreckend warm für ihren bebenden Körper. Wie konnte so etwas passieren? Warum ausgerechnet ihrer Mutter? Schon wieder war Anna nicht da gewesen, um jemanden zu beschützen, den sie liebte. Akira sagte nichts.

„Sag es mir.“ wiederholte Anna sich. Doch er schwieg. Er würde sie nicht anlügen, das wusste Anna, doch er traute sich anscheinend auch nicht, die Wahrheit zu sagen. Ihre Hand suchte seinen Kragen und zog den Rotschopf an sich heran. „Akira, sag' es mir.“ forderte sie unter einem erstickten Schluchzen. Doch das einzige, was er ihr als Antwort geben konnte, waren seine Arme.

„Schlaf.“ flüsterte er ihr zu. Wie sollte sie schlafen? Das dachte sie sich gerade, als plötzlich alles schwarz um sie herum wurde. Wäre der stechende Schmerz in ihrer Haut nicht gewesen, hätte sie vielleicht gespürt, was er getan hatte, um sie zum Schlafen zu bringen.

Wie lange war es her gewesen? Es mussten um die vier Wochen gewesen sein, dass Kai zusehen musste, wie Akira Anna aus dem Zug zog. Hätte der Vampir gewusst, was passieren würde, wäre er mit gegangen. Doch anstatt mit Mirai nach Hause zu fahren stieg auch er an einer anderen Haltestelle aus. Er musste zu seinen Leuten gehen, er musste mit ihnen reden und ihnen verdeutlichen, in welcher Position sie waren. Als Kai gesehen hatte, wie sich Annas Tattoo veränderte, wusste er sofort, dass Teile davon an anderen Orten gehortet wurde. Ja, sie wurde schwächer, doch nur weil sie ihre Kräfte so verteilte, dass sie nicht mehr in ihrem Körper zentriert wurden. War es irgendjemand anderem aufgefallen außer ihm?

Seine Schritte führten ihn geräuschlos und wie ein Schatten zu der alten Lagerhalle, in der das Vampirnest zur Zeit Schutz vor der Sonne und Verfolgern fand. Wie immer herrschte hier die Stille und Dunkelheit. Erst als Kai die Tore öffnete, erhoben sich die Stimmen ermüdeter, nachtaktiver Lebewesen.

„Kai...“ Sie riefen seinen Namen, als wäre er ein guter Samariter in der Wüste, der Wasser brachte. Wortlos ging der Fürst auf seinen Thron zu und ließ sich sinken.

„Wo ist die Königin?“

„Er hat sie nicht… Immer noch nicht.“

„Er verschwendet unsere Zeit.“ Ein verhasstes Flüstern machte die Runde. Der Messiah wurde zum Antichristen.

„Kai, du hast Besuch.“ Ares trat aus den Schatten hervor, an seiner Hand führte er seine Lieblingssklavin. Ihre Haut hing ihr schlaff und fahl von den Knochen. Sie war fast komplett leer getrunken. Bei diesem Anblick wurde dem Vampirfürsten etwas schlecht. Menschen waren hässlich, wenn sie so aussahen. Absolut widerwärtig und so gut wie tot. Es war ein Akt der Gnade sie zu töten, würden sie einst diesen Zustand erreichen.

„Wer ist es?“ wollte Kai nun wissen und nahm ein Glas entgegen, das ihm gereicht wurde.

„Ich bin es.“ Die liebreizende, quälende Stimme von Eve erweckte die Halle zum Leben. Freude machte sich unter den Vampiren breit, sie verbeugten sich sogar vor der Schwarzhaarigen.

„Hmph.“ Kai konnte sich nicht so freuen, wie seine Artgenossen. Nachdenklich schwenkte er den roten Saft im Glas. Er hatte keinen Durst.

„Ich hatte doch gesagt, wir reden noch einmal, wenn du satt bist, mein lieber Kai.“ Eve trat auf den Thron zu, doch sie machte nicht Halt. Sie lief die Stufen hinauf auf die Betonplattform und setzte sich ohne Umschweife auf den kalten Schoß des Vampires. Ihre Begleiter, ihr Shiki und der schwarzhaarige Riese, den Kai absolut nicht ausstehen konnte, folgten ihr in einem Meter Abstand. Zu diesem Zeitpunkt war der Vampir froh darüber, dass nicht auch noch sie auf seinem Schoß Platz nehmen wollten.

„Was willst du, Eve.“ murrte der Vampir zwischen seinen Zähnen hervor.

„Das sollte ich eher dich fragen.“ säuselten die Lippen, die sich zu einem Lächeln verformten. Sanfte, weiche Finger glitten über Kais Gesicht an den Wangen entlang. Eve beugte sich immer näher zu ihm, als wolle sie ihn küssen. Ihre Lippen waren nur wenige Zentimeter von seinen entfernt. Doch alles, woran Kai in diesen Sekunden denken konnten, war das Gefühl, das er hatte, als er Anna so nah gewesen war. Als er sie hätte küssen können. Und genau dieses Gefühl herrschte im Moment nicht in Kai. Genervt legte er seine Hand über ihren Mund und drückte das Mädchen mit sanfter Gewalt von sich weg. Dieses grinste.

„Wie? Du willst keine Königin haben?“ lächelte Eve und zog die Hand von sich weg, die ihr das Sprechen verbieten wollte.

„Du widerst mich an.“ zischte der Vampir scharf.

„Wie könnte ich dich anwidern? Ich bin die Königin.“ lachte das Mädchen leicht verwundert. Ihre Arme glitten um den blassen Hals, der unter dem leuchtend violetten Haar versteckt war.

„Ich brauche nur an dir zu riechen und weiß sofort: Du bist keine Jungfrau mehr. Du hast keine Macht, die mich interessieren würde. Wenn du dich allerdings wie eine Hure jedem Mann an den Hals schmeißt, kann ich dir gerne zeigen, wie man eine Frau richtig befriedigt.“ grinste der Vampir hasserfüllt. Seine Augen fielen auf Dei, der sein Lächeln erwiderte. Er war ihr Mann, das konnte er genau sehen.

„Oh, ja. Bitte zeig es mir.“ flüsterte Eves Stimme leise in sein Ohr und Kai bekam unweigerlich eine erotische Gänsehaut. Sie war eine Verführerin. Er stieß das Mädchen von sich weg und trank etwas. Auch wenn er es nicht wollte: Blut zu trinken war in dieser Zeit besser, als sich von Eve um den Finger wickeln zu lassen. Die Wochen der Diät haben ihn geschwächt – würde er nicht etwas tun, würde er ihr verfallen. „Du kannst mir nicht erzählen, dass du Anna nach rennst. Sie ist die Hure Babylons, eine falsche Schlange, die nur so tut, als wäre sie echt.“ fauchte Eve genervt und stand auf. Ein Stein fiel Kai vom Herzen.

„Ich renne ihr nicht hinterher. Sie ist mir egal.“ Sofort spürte der Vampir seine Lüge wie eine Seifenblase zerplatzen. Eve hatte ein gefährliches Lächeln auf ihren Lippen.

„Wir haben dir ein Geschenk mitgebracht.“ säuselte sie leise und völlig zusammenhangslos, so dachte sich der Vampir. Er trank erneut einen Schluck von dem kalten, unreinen Blut und stand auf.

„Ist das so?“ Seine Stimme wurde immer tiefer. Eve sollte einfach gehen – er musste Dinge mit seinen Leuten besprechen.

„Ja.“ Und schon wieder dieses süße, falsche Lächeln, das Kai nur hassen konnte. „Bringt es her.“

Doch die Leute, die sich nun in Bewegung setzten, waren weder Jiro, noch Dei. Kai stand auf, als er sah, wie seine eigenen Gefolgsleute den Befehlen eines anderen gehorchten.

„Was geht hier vor sich...“ fauchte er leise und sah zu Ares, der ebenfalls los ging, um sich an Eves Seite zu stellen. „Ares...“ Der Umschwung war da.

Das einzige, was diese Stille des Schocks und Betrugs nun unterbrach, war das Geräusch von Ketten. Man hörte, wie Füße über den Boden gezogen wurden, als wäre der Körper ein Sack Mehl. Kai stellte sein nun leeres Glas ab und folgte der Königin und ihren neuen Gefährten zu der Person, die hinein gebracht wurde. Es war ein Mädchen. Sie war nackt. Wahrscheinlich hatte sie seit Tagen, vielleicht Wochen nichts zu essen bekommen. Ihre Brüste hingen leer hinunter. Die Haut, die früher mit Fleisch gefüllt war, hing wie rohes Leder an ihren Knochen. Man sah Einstiche von Zähnen und Nadeln. Die Augen, die einst von Leben erfüllt waren, hatten sich in ihren Sockeln verkrochen und graue Ringe machten sich darunter breit. Das kastanienbraune Haar, das einst glänzte und voll gewesen war, war dreckig, stumpf und zerzaust. Getrocknetes Blut klebte an der grauen Haut. Man sah, wie blaue Flecke langsam ins Grün überwechselten, verborgen unter neuen, violetten Hämatomen.

Kai konnte seinen Augen nicht trauen. Er stieß Eve beiseite und rannte auf das Mädchen zu, immer noch geschockt. Er kniete sich nieder zu der verwitterten Sterblichen, die er nie gut genug gekannt hatte. Doch nun war es zu spät dafür.

„Mika...“ Seine Stimme war zu einem heiseren Flüstern gestorben. Mikas Augen rührten sich nicht. Langsam hebte und senkte sich ihr Brustkorb, sie lebte noch, doch man sah keinerlei Leben in ihren Augen. Die Ketten hatten ihren Dienst erfüllt. Anfänglich hatte das Mädchen wohl noch versucht, sich zu befreien – tiefe, verheilte Kratzer zeigten sich an ihren Hand- und Fußgelenken. Sie gingen bis zum Knochen. Ihre Oberschenkel waren mit Bissen und Hämatomen übersät – auch zwischen ihren Schenkeln.

„Was habt ihr mit ihr gemacht?“ fragte Kai immer noch geschockt.

„Was schon. Ich hab' sie als Geschenk mitgebracht. Deine Leute litten Hunger und du hast nur noch Augen für Anna, anstatt dich um deine Rasse zu kümmern. Und Ares empfing uns mit offenen Armen.“ Bei diesen Worten fuhr Kai herum und stand auf, um Ares zu erspähen. Er senkte den Kopf, konnte den Blick seines Anführers nicht erwidern. Eve ging nun einige, hüpfende Schritte auf Mika zu und streichelte liebevoll ihren Kopf. „Du glaubst nicht, wie viel Spaß sie hier hatte. Jede Nacht und jeder Tag war mit Stöhnen und Leidenschaft erfüllt. Sie gab sich deinen Jungs hin, als würde sie dafür bezahlt werden.“ lachte das Mädchen schamlos und zog Mikas Kopf an den Haaren hoch.

„Du hast ihr Drogen gegeben.“ fauchte Kai sofort und ging einige Schritte auf Eve zu, ehe er ins Wanken geriet.

„Ja. Alle Drogen, die ich kannte.“ Tränen sammelten sich in Eves Augenwinkeln. Sie konnte sich nicht mehr zurück halten – sie brach in ein herzloses, kaltes Lachen aus und die restlichen Vampire stimmten mit ein. „Aber das hättest du eigentlich schmecken müssen oder?“ Sie ließ Mikas Haare los und der Kopf fiel leblos hinunter, als sie sich den am Boden kauernden Kai zudrehte. Kais Magen brannte, als hätte er Säure getrunken. Es wollte raus. Der Mann spuckte und lag mit der Wange in seinem eigenen Blut.

„Es war schwer, noch etwas Blut aus ihr raus zu quetschen. Ich glaub', sie macht es nicht mehr lange. Aber ich hab' ja gesagt, wir reden noch einmal, wenn du satt bist.“ Eves Hand streichelte zärtlich über den sich erbrechenden Kai. Seit wann hatte sie ihre Finger im Spiel? War es schon bei seinem letzten Besuch so gewesen? Wollte man ihn da schon vergiften? War der Grund dafür, dass Kai nicht mehr hierher gelassen wurde, Mikas Anwesenheit hier? Erneut spuckte der Vampir.

„Ich finde es echt schade.“ Eves Lächeln wich. „Ich hab' mich so bemüht, deine Freundin zu sein, und doch wolltest du nicht. Du hast immer nur Augen für sie. Ares hat sofort erkannt, dass ich die einzige, wahrhaftige Königin bin. Wie konntest du nur so blind sein?“ Ihre Stimme wurde immer leiser, bis sie schließlich einem Flüstern ähnelte. Kai wollte ihre Hand wegschlagen, doch lähmender Schmerz machte sich in ihm breit. Es waren nicht nur Drogen in diesem Blut gewesen – es war auch noch etwas anderes gewesen. Langsam aber sicher begann die Umgebung zu verschwinden.

„Schlaf erst einmal ein bisschen.“ klingelte in Kais Ohren wieder. „Wir werden uns Zeit nehmen, einander kennen zu lernen.“

Der Tengu

„Es war verrückt.“ flüsterte eine Stimme entsetzt. Annas Augen waren der Tür abgewandt. Sie starrte aus dem Fenster, vor welchem gerade ein Schneesturm tobte. Sie lag in ihrem Bett. Die weiche Matratze war mit einem sanften, violetten Laken bezogen und die dicke Daunendecke, die Anna wärmte, war ein tieferes Lila. Nur ihr Rücken lag entblößt da. Er war gerötet und wund.

„Siehst du das? Sie hat mich gewürgt. Ich hab sogar angefangen zu bluten.“ knirschte Mirai und rieb sich über seine Kehle. Auch Akira rieb sich über die Brust, da, wo Anna ihre Hand vergraben hatte. Liam saß an der Bettkante und wischte über Annas blutverschmierten Rücken. Immer noch formten sich Linien, doch nun, zwei Tage nach dem Tod ihrer Mutter, wurden es weniger. Auch das Tempo, in dem sie sich bildeten, wurde langsamer. Der Schmerz verblasste allmählich und zog sich aus dem restlichen Körper zurück in ihren Rücken.

„Also hat sie ihre Kräfte noch...“ Ren klang nachdenklich, während er Liam dabei beobachtete, wie dieser über die zerfetzte Haut fuhr.

„Nicht nur das. Als sie ihren Ausbruch hatte, wurden ihre Augen komplett schwarz, so wie Eves.“ seufzte Mirai genervt. Annas Rücken zuckte unter Liams Berührung zusammen.

„'Ausbruch' beschreibt es ziemlich gut.“ warf Akira nun ein. „Sie konnte es nicht kontrollieren. Sie war fast ohnmächtig. Ich musste sie ausknocken, damit wir die Sache halbwegs heil überstehen. Ich kann nicht glauben, dass sie tatsächlich geschwebt hat...“ Man hörte das erstaunte und anerkennende Grinsen aus seiner Stimme. Anscheinend war er mehr stolz auf seine Königin, als von ihr schockiert. Annas Mundwinkel zuckten für eine Millisekunde nach oben.

„Wieso hat sie uns überhaupt verschwiegen, dass sie ihre Kräfte noch hat?“ wollte Mirai nun wissen.

„So, wie ich Anna einschätze, hatte sie ihre Gründe. Dieses Mädchen spielt lieber mit verdeckten Karten. Und hättet ihr einen plötzlichen Rivalen würdet ihr auch nicht wollen, dass er eure besten Tricks kennt oder?“ seufzte Ren nun und ging zum Mahagoni-Tisch, um sich etwas Tee einzugießen, wurde jedoch von der Türklingel unterbrochen, die im Erdgeschoss ertönte. „Ich geh' gucken, wer es ist. Passt auf sie auf.“

Die Tür ging auf und schloss sich wieder. Für einige Sekunden trat Stille ein.

„Und? Bist du beruhigt?“ fragte Akiras Stimme nun. Anscheinend wusste Mirai nicht, wie er antworten sollte. Immerhin hatte er sich Sorgen gemacht, dass Anna keine echte Königin ist oder eine Königin ohne Macht. Er hatte sich Sorgen gemacht, sie würde nur ein Mensch sein, sobald ihre Kräfte komplett nach gaben. Aber das, was er fühlte, was in seinem Herz für Anna schlug, hätte es vielleicht nichts ausgemacht… Er seufzte genervt.

„Es ist gut, dass sie ihre Kräfte noch hat...“ Anna wollte das im Moment nicht hören. Sie zog das Kopfkissen weiter unter ihren Körper und verharrte dann wieder in ihrer Position. Akira und Mirai fielen zurück ins Schweigen, aus Sorge, sie hätten das Mädchen geweckt, doch dann öffnete sich die Tür erneut.

„Ich habe Ihnen gesagt, dass sie zur Zeit nicht zur Verfügung steht, Inspektor Kobayashi.“ Ren klang kühl und ungeduldig.

„Das ist mir egal. Ich versuche Sie seit zwei Tagen zu erreichen und ...“ Doch die schroffe Stimme des Inspektors brach ab. Sein Blick fiel auf Liam, dessen Waschlappen mit Blut getränkt war. Sofort wanderte der Blick auf Annas nackten Rücken. „Was geht hier vor sich?“ Entsetzen machte sich in dem Mann breit, als er Annas blutige Laken sah.

„Das sagte ich Ihnen bereits. Es geht ihr nicht gut.“ seufzte Ren nun und rieb sich den Nasenrücken.

„Sie ist leicht suizidal.“ fügte Akira gelassen hinzu. Anscheinend fand er den Zeitpunkt geeignet, Witze zu reißen. Der Inspektor wirkte geschockt.

„Sie sollten sie in ein Krankenhaus bringen...“ begann er, doch Ren wedelte mit den Händen.

„Wir haben die Situation unter Kontrolle.“ wies er ihn ab.

„Nun gut…“ murrte Herr Kobayashi schließlich widerwillig. „Dennoch habe ich einige Fragen, bei denen Sie Herren mir vielleicht helfen könnten. Die erste Frage wäre: Haben Sie eine Möglichkeit, Herrn Kurosawa zu erreichen? Ich schaffe es nicht. Ich dachte, wenn vielleicht seine Tochter anrufen würde, dann...“

„Wir kennen ihren Vater nicht persönlich und haben ihn auch nie getroffen.“ antwortete Ren sofort. Der Inspektor seufzte. Rens kurze und barsche Antworten machten es nicht einfach für ihn in diesem Fall weiter zu kommen.

„Nun gut, zur nächsten Frage. Ich weiß, dass ich das schon einmal gefragt habe, aber: Haben die Kurosawas Feinde?“ Auf diese Frage hin konnte niemand sofort antworten. Feinde? Eve, ihre ganzen Gefolgsleute, das Schattenvolk – reichte das? Doch Ren fand schnell seine Fassung wieder.

„Wie Sie bestimmt wissen, hat Herr Kurosawa eine sehr erfolgreiche Firma, die sogar nach China expandiert ist. Über die Jahre haben sich natürlich Beschwerden angesammelt wegen der zahlreichen Kündigungen, die ausgesprochen wurden, als seine Firma andere geschluckt hat. Doch da ich nicht für Herrn Kurosawa arbeite, kann ich Ihnen keine Namen nennen.“ Der Inspektor machte sich hastig ein paar kraklige Notizen. Anscheinend hatte er nicht darüber nach gedacht. Tatsächlich schien es, als würde Ren seinen Job übernehmen und essenzielle Informationen sammeln. Dann seufzte er erneut.

„Also läuft es doch auf ihn hinaus...“ murmelte er zu sich und Ren nickte.

„Nun gut. Dann müsste ich Sie noch fragen, ob Sie ein Alibi für die Tatzeit haben. Alle von Ihnen.“ Die Frage war absurd, Mirai und Akira wussten nicht, ob sie lachen durften. Fassungslos schauten sie den Herren von der Polizei an.

„Ich war bei meinem Vater in China. Der Herr am Bett war bei mir.“ erklärte Ren. Der Blick des Inspektors schwenkte zu Akira und Mirai.

„Wir waren mit Anna auf einem Wochenendtrip zu ihren Verwandten.“ antwortete Mirai wie aus der Pistole geschossen.

„Gibt es dafür irgendwelche Zeugen oder Beweise?“ hakte der Mann nach. Mirai überlegte. Es gab nicht wirklich irgendwelche Zeugen und selbst wenn sie mit einem Schaffner oder ähnlichem mal gesprochen hatten, hatten sie wohl kaum einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

„Ich bin mir sicher, dass es Kameraaufnahmen von den Bahnhöfen gibt, an denen sie Halt gemacht hatten.“ seufzte Ren sofort und wirkte allmählich genervt. „Ist das alles?“ Auch der Inspektor schien genervt – aber eher durch Rens Ungeduld.

„Eine letzte Sache noch.“ fauchte er leise, um Anna nicht zu wecken. „Wusste jemand, dass Sie drei über das Wochenende nicht Zuhause sind?“

Die Anwesenden schüttelten den Kopf. „Wir haben es niemandem gesagt. Warum sollten wir auch.“ Der Inspektor schien verärgert. Verständlich – er hatte kaum Informationen aus diesem Gespräch erhalten.

„Soll ich Ihnen ein Taxi rufen? Bei diesem Wetter ist es gefährlich, zu Fuß unterwegs zu sein.“ Ren zeigte wieder ein charmantes Lächeln, doch der Inspektor wies das Angebot ab. Sein Auto wartete unten vor der Tür. Der Hausherr geleitete seinen ungebetenen Gast zur Tür und verschwand wieder.

„Es ist nicht nett zu lauschen.“ seufzte Liam und ließ den Waschlappen in ein Plastikbecken gefüllt mit heißem Wasser fallen. Akira und Mirai schauten zu ihm.

„Hä? Was meinst du?“ fragte Akira erschöpft und entnervt. Liam deutete mit dem Finger auf Anna und erneut trat ein ekliges, ungewolltes Schweigen ein. Anna drehte sich um. Die zwei zeigten süße, leicht geschockte Gesichter.

„Weißt du etwas, Anna?“ fragte Liam. Doch wieso fragte er? Er konnte Gedankenlesen. Oder fragte er nur für Liam und Mirai nach? Das Mädchen schwieg. Akira und Mirai gingen nun auf das Bett zu und ließen sich an der Kante nieder.

„Der Typ sollte uns nicht so nerven...“ fauchte Mirai leise und fuhr mit einer Hand über Annas Seite, die unter der Decke begraben war. Akira nickte. Annas Augen wanderten durch den veilchenblauen Raum. Der Pastellton war irgendwie beruhigend, genau so wie der Lavendelduft.

„Yuki hat nach dir gefragt. Am Freitag kommt Shiro an.“ Akiras Stimme war wie Honig für die Seele. Anna nickte. Die Männer fielen zurück in ihr Schweigen. Sie wollten Anna wieder zum Reden bringen, sie dazu bewegen, aufzustehen. Doch wie zwang man ein Mädchen dazu, das seine Mutter verloren hatte, nicht mehr zu trauern? Würde ein „Kopf hoch“ ausreichen? Oder wäre es unpassend gewesen? Liams große, weiche Hand streichelte die blonden Haare. Es wäre unpassend. Das wussten alle. Jeder trauerte auf seine eigene Weise und auch, wenn Anna noch wochenlang in dem Bett liegen und weinen würde, würde ihr niemand Vorwürfe machen. Sie hatten nicht das Recht dazu.

„Wieso hast du uns nicht erzählt, dass du deine Kräfte noch hast?“ fragte Akira nun leise. Anna schwieg.

„Anna… Erklär's uns.“ Auch Mirai wollte es wissen. Doch Liam hob seine Hand. Dieses Thema stand gerade nicht zur Diskussion.

„Iori.“ Es war ein Flüstern. Annas Hals gab nicht mehr her – Er war trocken und heiser. Er tat bei jedem Wort weh, das sie sprechen wollte, als würde er explodieren. Als würde sie sofort anfangen zu weinen, sobald sie sprach. Alle drei schauten sie verwirrt an. „Ich habe Iori erzählt, dass ich am Wochenende bei Verwandten sein würde.“

Donnerstag, 06. Oktober. Die Schule war in Aufruhr. Die Wahlen für die nächste Schülervertretung stand kurz bevor und seit einigen Tagen ließ auch die Queen sich nicht mehr blicken. Die Gang, die der Schule einen schlechten Ruf eingehandelt hatte, war aufgelöst worden. Und Eve war auf dem Höhepunkt ihres Schulalltags.

„Iori, du bist mit Eve befreundet oder? Kannst du uns vorstellen?“ Der Schwarzhaarige war umringt von männlichen und weiblichen Schulkameraden. Seit Tagen ging das nun schon so. Doch er musste sie abweisen – woher kam der plötzliche Beliebtheitsboom her?

„Hat einer eigentlich was von Anna gehört? Sie war seit letzter Woche nicht in der Schule.“ fragte der Junge schnell, um vom Thema abzulenken. Er erreichte genau das, was er damit wollte: Die Traube von Schülern löste sich genervt auf.

„Lass die doch, ist besser, wenn sie nicht zur Schule kommt.“

„Wirklich, sie nervt. Niemand vermisst sie.“ Es waren Kommentare gefüllt mit Hass und Verachtung. Doch das störte den Winddämonen nicht.

„Ich weiß, wo sie ist.“ ertönte eine Stimme. „Tatsächlich wollte ich gerade mit dir darüber reden.“ Ren stand im Eingang zur Klasse. Ein Kreischen ging durch die Menge, Mädchen stürmten auf Ren zu, der sich seit langer Zeit mal wieder hat blicken lassen. Auch Mirai wurde angehimmelt. Sie hatten ganz vergessen, wie beliebt sie eigentlich bei den Menschen gewesen waren. Ren bohrte sich einen Keil durch die Menge und ging auf Iori zu. „Hast du kurz Zeit?“

Iori sprang auf seine Füße. Es war ein Reflex gewesen, aber irgendetwas an Ren passte ihm nicht. Auch dieser Mirai war kein gewöhnlicher Mensch, das konnte er sofort sagen. Eine unglaublich starke Aura umgab die beiden, als würden sie kurz davor stehen, Iori anzugreifen. Dennoch erfasste etwas seine Neugier, das ihn nicht los lies. Er nickte.

Die drei Männer verließen die Klasse und betraten den Weg zum Schülerratsraum. Die großen Türen öffneten sich und gaben Iori einen Einblick in das Leben von den mächtigsten Schülern dieser Institution. Wie von automatisch schloss sich die Eichentür hinter ihm wieder und der Raum schien dunkler zu werden. Er war warm, die Heizungen waren wahrscheinlich voll aufgedreht worden, um den kleinen Blizzard vor der Tür entgegen zu wirken. Die großen Fenster waren mit roten Vorhängen bedeckt und schienen jegliches Geräusch der Außenwelt zu ersticken.

„Was ist denn mit Anna?“ Iori klang naiv. So naiv, dass Mirai die Galle hoch kam. Genervt setzte er sich auf einen der Stühle und begann darin zu kippeln. Seine Hand fuhr sich durch die Haare und massierte die Kopfhaut. Ren wanderte um den Tisch und ließ sich am Kopfende nieder.

„Hmm… Wo soll ich anfangen.“ Seine tiefe, ruhige Stimme gab Iori zum Teil das Gefühl von Sicherheit, andererseits … Langsam krabbelte eine Gänsehaut seinen Nacken hinauf. „Anna geht es nicht gut. Es ist etwas vorgefallen, dass sie nicht erwartet hatte. Sie weigert sich zu essen oder zu trinken und hat seit Tagen nicht geschlafen.“ Ren schloss erschöpft die Augen, seufzte und rieb sich die müden Lider. Iori schluckte. Was war passiert?

„Was ist passiert?“ fragte der Junge sofort intuitiv und gab seinen Gedanken Auslauf. Mirai seufzte.

„Wenn wir das wüssten… Wären wir nicht hier. Sie will es uns nicht sagen.“ fauchte er genervt und trat mit einem Fuß gegen das Tischbein. Verwirrt blickte der Winddämon zum Affenkönig. Was sollte das bedeuten?

„Der einzige, mit dem sie reden möchte oder den sie sehen möchte, ist ihr Bruder.“ erklärte Ren nun und dehnte seinen Nacken, in dem er seinen Kopf zu beiden Schultern abwechselnd zog. Er knackte. „Doch ihr Bruder ist weg und wir können ihn nicht finden. Wir dachten, dass du und Anna vielleicht guten Kontakt habt. Immerhin seid ihr beide in einer Klasse und sie hat uns oft erzählt, wie du sie an ihren Bruder erinnerst.“

Iori schluckte. Das konnte nicht ihr Ernst sein.

„Ich? Sie hasst mich.“ gab er entsetzt zurück. Ren lachte kurz, Mirai seufzte genervt.

„Anna zeigt ihre Gefühle nicht gerne. Sie spielt gern die Harte, weißt du.“ lächelte Ren. Ja, das stimmte. Er hatte gesehen, wie sie mit Kiki und anderen Leuten aus ihrer Gang ganz anders umgesprungen war, als mit ihm. Vielleicht musste sie erst einmal mit Leuten auftauen, um ihnen näher zu kommen. Doch was, wenn es eine Falle war?

Scharf nachdenken. In so einer Situation muss man den möglichen Gewinn gegen den möglichen Verlust abwägen. Was konnte Iori dadurch gewinnen, Anna zu besuchen? Erstens könnte er an Insider-Informationen gelangen, um Eve zu helfen. Wenn Anna wirklich geschwächt war, sollte er nachsehen, ob es stimmte. Und dann könnte Eve ihr den Gnadenstoß verpassen und wäre alleinige Herrscherin. Zweitens: Würde sie wirklich so schwach sein, wäre es ein leichtes, sich in ihr Herz zu schleichen. Eve hatte schon Dei erwählt. Iori war nur bei ihr geblieben, damit er in Zukunft auf der richtigen Seite stehen würde. Die Tengus auf dem Berg wurden weniger und schwächer – er brauchte die Kraft einer Königin, um seine Rasse zu stärken. Das war wahrlich nicht mehr der Fall bei Eve. Sie war keine Jungfrau mehr, ein großer Teil ihrer Mächte war auf Dei übertragen worden. Iori könnte also seine Ähnlichkeit mit ihrem Bruder ausnutzen, um sich in Annas Herz zu schleichen. Er hatte noch eine Chance darauf, dass er die Macht einer Königin kriegen würde, wenn es auch eine falsche sein mochte. Drittens: Wäre es nicht der Fall, dass Anna wie ein kleines, heulendes Mädchen Zuhause saß und nicht mehr aß oder trank, sondern nur so tat, um Iori in eine Falle zu locken, könnte er verhandeln. Er könnte seinerseits Insider-Informationen anbieten, zu denen nur der engste Kreis von Eve Zugang hatte. Auch das würde ihm erneut eine Position zu sichern, die sich im engeren Kreis von Anna befand. Er musste sie nur davon überzeugen, dass sie ihm vertrauen könnte. Schlimmster Fall und letztens: Würde sie weder schwach sein, noch verhandeln wollen, hatte er Flügel. Er könnte fliehen. Niemand könnte ihn jagen, so schnell war er unterwegs.

Iori starrte auf den blank polierten, braunen Tisch. Er reflektierte das schwache Licht der Glaslampe, die an der Decke hing. Er spürte wie Mirai und Ren ihn musterten. Er musste sich entscheiden. Er musste es schnell tun. Das war eine Tür, die ihm geöffnet wurde und sich jede Sekunde schließen würde.

„Ich hab's dir gesagt. Es bringt nichts.“ Mirais lautes und genervtes Stöhnen weckte Iori aus seinen Gedanken. Der Blonde war aufgestanden und schritt wütend auf die Tür zu. Sofort sprang auch Iori auf und schrie, lauter als er eigentlich wollte:

„Nein! Stopp, ich mach es. Ich will Anna auch sehen.“ Mirais Rücken war ihm abgewandt. Er hatte seine Hand auf dem Türknauf ruhen. Er rührte sich nicht. Auch Ren schien sich nicht mehr zu bewegen. Es war, als wäre die Zeit für diesen Moment eingefroren.

„Okay, gut. Es ist wichtig, dass du heute noch vorbei kommst. Ich weiß nicht, wie lange sie das noch durch hält.“ Ren klang erleichtert. Er zückte ein Blatt Papier und begann, eine Adresse aufzuschreiben.

„Hier ist die Adresse. Komm vorbei, wenn du Zeit hast.“ Der große Mann war aufgestanden und drückte dem kleinen Iori das Papier in die Hand. „Bis heute Abend.“

„Wie lief's bei euch?“ Mirai und Ren kamen gerade zu der Haustür hinein und sahen, wie Akira und Liam einige Sachen auf den Boden abstellten. Als Liam nicht antwortete, seufzte Akira und antwortete:

„Gut. Toki hat uns ausrichten lassen, dass Adam ein Tagebuch von Anna hatte, in dem er die wichtigsten Punkte ihrer Entwicklung festgehalten hat. Wir haben auch die Blume und deinen blöden Stein mitgebracht.“

„Oooh.“ entgegnete Mirai erfreut und ging hastigen Schrittes auf Akira zu, der gerade einen riesigen Stein – oder eher kleinen Felsen – aus seinem Rucksack zog.

„Das Ding ist schwer. Was ist das?“ fauchte Akira genervt und warf Mirai seinen Stein zu. Dieser begann zu grinsen.

„Geheimnis.“ Auf diese Antwort hin rollte Akira genervt mit den Augen und begutachtete als nächstes die Blume.

„Sie hat gesagt, sie wäre nicht gewachsen...“ murmelte er wütend. Die Knospe war nicht mehr faustgroß. Sie hatte die Größe einer kleinen Katze.

„Wenn das Ding so viel Kraft aufgesaugt hat, ist es klar, dass Anna schwach wirken würde.“ murmelte Ren. Die Pflanze stank nicht mehr. „Hast du Toki mal darauf angesprochen?“ Er wandte sich an Liam, welcher gerade begann, Annas Wäsche auszupacken und zu falten. Dieser nickte.

„Die Pflanze stößt Miasma aus, wenn sie nicht genügend Energie kriegt. Sie tut das, um in ihrer Schwäche Feinde abzuschrecken. Er meinte, es sei normal.“ antwortete die ruhige, brummige Stimme. „Als ich ihm gesagt habe, wie groß sie ist, hat er gelacht und meinte, ich soll ihn nicht auf den Arm nehmen.“ Mirai rieb sich den Kopf.

„Scheint, als wäre sie mit Anna als Energiequelle zufrieden. Wenn das so weiter geht, hat Anna bald noch ein Kind am Hals.“ Er lachte kurz bei dem Gedanken, dass Anna eine alleinerziehende Mutter sei. Auch Akira musste grinsen, als er ahnte, was durch Mirais Kopf schoss.

„Wie lief's denn bei euch?“ wollte der Rotschopf nun wissen und schloss seinen Rucksack wieder. Mirais Grinsen wurde schärfer, boshafter.

„Er kommt.“

Es klopfte. Anna saß in ihrem Bett und lehnte an dem Kopfteil. Ein weiches, lavendelblaues Kissen diente als Stütze. Ihr Blick war aus dem Fenster gerichtet. Der Schnee klatschte stürmisch gegen die Scheiben. Nur zwei Lampen leuchteten schwach an den Wänden, es waren Leuchter mit dimmbarem Licht. Auch Shiro betrachtete das Wetter eingehend. Es hatte ihn nichts gehalten – er war gerannt. Tag und Nacht, ohne Pause, um bei seiner Mutter zu sein. Der Junge stütze sein Gesicht auf seiner Hand ab. Er saß in der hinteren Ecke des Raumes am Mahagoni-Tisch. Seine Füße ruhten auf der Sitzfläche, er kauerte sich zusammen. Wortlos starrten beide das selbe, ungeheuerliche Bild an, dessen Rahmen das Fenster war. Anna hatte sich umgezogen. Dank Akira und Liam hatte sie nun wieder Kleidung am Leib, die nicht von Blut getränkt war. Das Tattoo hatte aufgehört zu brennen und sich neu zu formen, es ruhte gerade. Der Raum war still, nur die Schneeflocken prasselten rhythmisch im Ticken der Uhrzeiger gegen das Glas.

Liam stand von seinem Stuhl auf, der neben dem Bett gestanden hatte und ging zur Tür, um sie zu öffnen. Immer noch starrten Mutter und Sohn aus dem Fenster. Niemand musste hinsehen, um zu wissen, wer durch diese Tür trat.

„Anna...“ Ioris fröhliche, leicht hohe Stimme war nun leise, bedrückt. Unsicher ging er einige Schritte auf das Bett der Kranken zu. Die anderen Männer, die Iori ins Zimmer begleitet hatten, schlossen die Tür hinter sich und warteten an der Wand.

„Anna, was ist passiert?“ Die Hand des Dämons wanderte vorsichtig auf Annas Arm. Er setzte sich auf den leeren Stuhl, den Liam hinterlassen hatte. Er schien wirklich, wahrhaftig besorgt. Das fahle Licht beleuchtete die ozeanblauen Augen, die das Mädchen so sehr an ihren Bruder erinnerten. Es war unfair. Anna winkelte die Beine an und legte ihre Stirn auf ihre Knie. Sie atmete den Geruch der Decke ein. Es waren tiefe, lange Atemzüge. Wenn er so sprach, konnte man meinen, er wüsste von nichts. Als wäre er nur ein Mensch. Ren seufzte wortlos, als hätte er den Eindruck, Anna würde es nicht schaffen. Doch dann begann sie.

„Iori...“ Annas Stimme klang leise, wie ein kleines Mäuschen, das man mit der Hand lockte und sich gerade aus seinem Versteck traute. „Hab ich dir jemals etwas getan?“

Der Junge nahm seine Hand zurück. Er starrte Anna an. Man konnte sie nicht gut erkennen, es waren zum Großteil nur Schatten auf ihrem Gesicht. Es war nicht das Szenario, das er erwartet hatte. Sie wirkte schwach, ja, aber irgendetwas sagte dem Jungen, dass sein Erscheinen hier einer anderen Motivation zugrunde lag, als sie zu trösten.

„Was?“ fragte er mit einer erstickten Stimme.

„Hab' ich dir je etwas getan?“ wiederholte sich Anna und das ängstliche, verletzte Gefühl, das sie zuvor von sich gab, verschwand. Die Blondine hob ihren Kopf an und ihr Anblick verriet Iori: Sie weinte nicht. Sie hatte keine Angst. Sie war nicht traurig. Und sie war sicherlich nicht krank. Tatsächlich waren diese tiefblauen, runden Augen gefüllt mit etwas, das keiner Emotion entsprach, die Iori wieder erkannte.

„Nein… Hast du nicht.“ antwortete der Junge wahrheitsgetreu. Annas Beine legten sich wieder lang. Ihr langes, blondes Haar fiel über ihre Schultern. Iori folgte dem Bewegung der Strähnen, wie sie über Annas vernarbte Haut fielen. Doch das waren keine Narben. Es waren Linien, die sich durch die Hautzellen kämpften und rote Spuren hinterließen. Vor seinen Augen offenbarte sich etwas, das er nicht einmal bei Eve beobachten durfte: Ihr Tattoo wanderte. Es erstreckte sich von ihrem Rücken. Immer mehr Linien, höchstens einen Millimeter breit, kletterten von Annas Schulterblättern über ihre Arme und Brust. Ihm stockte der Atem. Er war in Gefahr.

Mit einem Ruck stand Iori auf seinen Füßen. Er musste fliehen. Platz für Verhandlungen? Nein. Das, was in Annas Augen leuchtete, war die Lust zu töten. Ihre Augen fesselten ihn. Er musste seine Flügel ausbreiten, er musste fliehen, jetzt oder nie. Sofort drehte er seinen Kopf zur Tür um, die von vier großen, angsteinflößenden Gestalten blockiert wurde. Ihre Körper waren in Dunkelheit getaucht. Das Fenster. Iori wollte los laufen, doch auch das Fenster wurde versperrt. Der junge Mann mit dem weißen Haar starrte ihn an. Dort, in dem Grinsen, wo Zähne sich hätten zeigen sollen, entblößte der Kerl messerscharfe Reißzähne.

Eine Bewegung vor ihm ließ Iori zusammen zucken. Er schaute zu dem Bett. Anna hatte ein Bein unter der Decke auf den Boden gestellt. Sie wollte aufstehen. Irgendwas in Iori befahl ihm, dass sie unter keinen Umständen aufstehen dürfte. Sie durfte ihm nicht näher kommen. Doch das Blut in seinen Adern gefror. Es lähmte seine Füße, seine Hände, seine Flügel, die hervor platzen wollten, um zu fliehen.

„Iori.“ Die Stimme des Mädchens war wie Trockeneis. Sie brannte sich in seine ganze Existenz. „Ich frag' anders. Was hast du Eve erzählt, als ich nicht da war?“ Iori bekam eine Gänsehaut.

„Nichts!“ Er wollte dieses Wort schreien, doch alles, was seine Lunge her gab, war ein heiseres Husten.

„Ich schwöre dir, ich hab' ihr nur erzählt, dass ich mit dir auf ein Date wollte und dass du nicht könntest, weil...“ Er brach ab. Die Linien wurden dichter. Sie kletterten Annas Hals hinauf. Jetzt sah er, wie das Blau in ihren Augen immer dunkler wurde.

„Was hat Eve getan?“ Es war keine Menschlichkeit mehr in ihrer Stimme.

„Ich weiß es nicht, ich schwöre dir, ich weiß nicht, was passiert ist.“ Seine Beine zitterten. Hinter ihm spürte er die messerscharfen Blicke der anderen. Der weißhaarige Mann, der am Fenster stand, setzte sich nun in Bewegung, kam ebenfalls auf den Gast zu. Ioris Knie knickten weg. Sein Po fand sich auf dem Boden wieder.

„Anna, ich schwöre dir, ich weiß nicht...“

„Dein Schwur gilt nicht mir, oder? Er gilt Eve.“ unterbrach die Blondine ihn mit einem leisen Hissen der Zunge. Iori schluckte. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Brust. Es war schwer zu atmen. Er konnte ihr nicht länger ins Gesicht blicken. „Sieh' mich an.“

Ein Knurren fuhr durch den Raum, welcher immer dunkler zu werden schien. Annas Füße standen direkt vor ihm. Die blasse Haut war von schwarzen Linien, Kreisen und Formen durchzogen. Das Knurren wurde lauter. Man hörte Zähne fletschen. Heißer Atem blies Iori entgegen. Er roch nach Tod. Anna beugte sich hinunter. Iori sah zu, wie die tätowierten Hände nach seinem Gesicht griffen. Sie zogen es hoch, sodass er Anna in die Augen sehen musste. Ihre Haut war unglaublich zart. In jedem anderen Moment hätte er sich nur allzugern dieser Berührung hin gegeben, doch Annas Hand war eiskalt. Als wäre sie eine Leiche. Er schloss die Augen.

„Sieh' mich an.“ bebte die Stimme erneut. Es war leise, aber mit Hass erfüllte Wut zu hören. Iori weigerte sich, seine Augen zu öffnen. Doch er konnte sich nicht zurück halten – durch einen Spalt seiner Wimpern erhaschte er einen Blick auf Annas Augen. Das Tattoo krabbelte wie viele kleine, zahllose Spinnen langsam über Annas Kiefer in ihr Gesicht. Das Weiß in ihren Augen war gefüllt mit Schwarz. Ihre Augen waren gefüllt mit Dunkelheit. Ein Schrei-ähnliches Geräusch entwich Ioris Lippen. Er wusste es nicht. Er wusste nicht, dass ihre Mutter gestorben war. Jetzt würde er sterben. Er würde jetzt sterben und niemand würde es je wissen. Er würde für etwas sterben, wofür er keine Schuld hatte.

„Lüg' mich nicht an.“ hisste Annas Stimme. Es half nicht mehr, seine Augen zu schließen. Pure Dunkelheit erfüllte den Raum. Sie füllte seine Sicht, seine Gedanken. Anna war in seinem Kopf. Die schwarzen Augen starrten ihn durch seine Lider an, erkannten mit einem Hieb seine Schwachpunkte. „Ich weiß es. Du hast es ihr gesagt. Du hast ihr gesagt, ich wäre nicht Zuhause. Du warst der Auslöser. Du warst der Anfang.“ Die Dunkelheit schien Iori zu erdrücken. Bilder begannen, durch seinen Kopf zu fluten. Es waren die Bilder von einer Leiche. Gerüche. Gefühle. Sofort verdrehte sich ihm der Magen. Iori konnte nicht mehr oben von unten unterscheiden. Seine Hand griff nach Halt und fasste ins Leere. „Sieh hin.“ flüsterte die Stimme immer wieder. Das Flüstern war in einer Lautstärke, die fast sein Trommelfell zum Bersten brachte. Der Winddämon bekam keine Luft mehr. Miasma ertränkte ihn. Nun war die Idee von Flucht lächerlich geworden. Er würde das hier nicht einmal überleben…

Plötzlich klärte sich die Dunkelheit. Iori lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Der kalte Schweiß auf seiner Haut schien seinen Körper auf Minustemperaturen zu kühlen. Er zitterte. Seine Atmung war flach, wie die eines Fisches, der auf dem Trockenen lag. Seine Finger krallten sich in den Dielenboden, hielten sich daran fest. Er konnte die Gestalten von Ren, Mirai und Akira erkennen. Sie sahen nicht menschlich aus. Gewicht lastete auf seinem Magen und drückte ihn zu Boden. Scharfe Krallen drohten, sich durch die Haut zu bohren. Ein Blick verriet ihm, dass ein zwei Meter großer, weißer und Zähne fletschender Wolf über ihm stand. An seiner Seite ruhte Anna. Ihre Hand fuhr liebevoll und zärtlich durch das glänzende Fell, während sie auf Iori starrte. Ihre Augen sahen wieder normal aus. Die Haut war wieder blass, unbefleckt.

„Wieder wach?“ fragte sie leise mit einem feisten, angriffslustigem Lächeln.

„Lass mich gehen. Ich weiß wirklich nichts.“ keuchte Iori sofort.

„Oh man, Tengus sind echt die letzten Hinterweltler.“ fauchte Mirai nun und trat gegen den Kopf des Gefangenen. Sein Augenbrauen waren zu dicken Wülsten mutiert, sein Gesicht hatte merkwürdig kantige Züge.

„Lass ihn, Mirai.“ Ren hielt ihn zurück. Die Hand, die sich auf Mirais Schulter gelegt hatte, war von Schuppen überzogen. Die schlitzförmigen, smaragdgrünen Augen waren nun zu tierähnlichen, großen Pupillen angewachsen. Sein Haar war länger, dunkler und welliger, als wäre er frisch aus der Dusche gestiegen. Die Krallen versenkten sich in Ioris Magengrube. Blutpfützen bildeten sich in seinem Hemd.

„Shiro… Noch nicht.“ säuselte das Mädchen leise und küsste den riesigen Wolf auf den Nasenrücken. Iori erzitterte unter seiner Angst.

„Was hast du mit mir vor…?“ fragte er erstickt und zog Annas Blick auf sich.

„Ich dachte, das wäre klar.“ lächelte sie liebevoll. „Wir haben jetzt unser Date.“

Seelenverwandte

Die Schule war einsam. Irgendwie leer. Anna saß in ihrem Stuhl und starrte an die Tafel, während verschiedene Lehrer unterschiedliche Monologe hielten. Es war still. Noch stiller jetzt, da Iori nicht mehr hier war. Das Ticken der Uhr an der Wand gab den Rhythmus zum Einschlafen an. Es schneite nicht mehr, dennoch war der Himmel fast schwarz mit Wolken. Der Wind wehte stürmisch und unnachgiebig. Der Herbst machte sich bemerkbar. Es war der nächste Montag, Anna hatte sich wieder erholt und zeigte ihr Gesicht in der Schule. Yuki war krank geschrieben worden. Er hatte Anna eine Nachricht geschrieben, als er gehört hatte, was passiert war. Doch aufgrund seiner Suche nach Mika schien er vor Erschöpfung umgefallen zu sein. Auch Kiki drückte ihr Bedauern aus. Doch bei aller Liebe, die Anna für die zwei empfand, war es langsam für sie an der Zeit zu gehen.

Die Pause begann. Die sonst so lauten 15 Minuten zwischen zwei Blöcken waren ruhiger als sonst. Anna räumte ihr Buch und ihr Notizheft in ihre Tasche, holte die Sachen für die nächste Stunde heraus und starrte wieder an die Tafel. Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit. Sie wusste nicht, warum sie diese Stimmen immer wieder heimsuchten. Und doch rannte sie dieses Mal nicht. Entgegen dem, was die Schatten ihr zuflüsterten, hatte sie Zeit. Sie NAHM sich die Zeit.

Die Klassentür ging auf, ein schwarzhaariges Püppchen kam herein und sah sich um. Als sie Anna sah, grinste sie und verringerte die Distanz zwischen ihnen. Anna hob den Kopf und grüßte Eve.

„Yo.“ Eve roch nach einer Mischung aus Zederholz und Muskat. Es roch irgendwie männlich.

„Hey, Anna. Wie geht’s dir? Ich hab' gehört, du warst krank.“ lächelte sie süß. Die Blondine schaute wieder an die Tafel.

„Ja, mir geht’s besser. Danke.“ erwiderte sie belanglos. Eve hob die Augenbrauen.

„Sicher? Ist etwas passiert?“ Die Sorge in ihrer Stimme klang fast echt.

„Nein, ich hatte nur eine kleine Erkältung.“ gähnte das Mädchen, streckte sich und fiel wieder in ihre alte Position zurück.

„Oh...“ Eve schien überrascht. Etwas in Annas Herzen blühte auf. Es war ein Funke von Zufriedenheit. Doch ihr Gesicht blieb undurchschaubar. „Sag' mal, hast du Iori gesehen? Er kam seit ein paar Tagen nicht mehr in die Schule.“ fügte Eve hinzu und es war keine Sorge, die in ihrer Stimme mitklang. Es war Verdacht. Anna ließ ihren Blick durch den Raum wandern und musterte Ioris Stuhl.

„Ja, mir ist aufgefallen, dass er heute nicht da ist. Ich wusste aber nicht, dass er schon länger fehlte… Ist was passiert?“ Ihre Augen fixierten die schwarzen der Königin. Diese starrte zurück.

„Wieso kann ich dich nicht lesen?“ flüsterte Eve leise und eine Hand legte sich auf Annas Wange, um die Blondine näher an sich heran zu ziehen. Ihre Hand war kräftig. Es tat weh.

„Willst du sie küssen?“ Ein kurzes, schroffes Lachen ertönte. Eve erhob sich wieder und blickte zur Klassenzimmertür. Akira und Mirai standen im Türbogen und beobachteten die Situation. „Ich wusste nicht, dass du auf Mädchen stehst, Eve.“ grinste der Affenkönig. „Ist aber auch irgendwie heiß.“ Tatsächlich wusste das Mädchen nicht, wie sie reagieren sollte. Der Funke in Anna wurde größer.

„Was gibt’s, Jungs?“ Anna stand auf, um zu Akira und Mirai zu gehen.

„Nichts, wir wollten nur mal nach dir sehen.“ grinste Akira und legte seine Hand auf ihren Kopf, um sie zu streicheln. Anna lächelte.

„Alles gut.“ murmelte sie leise.

„Nach der Schule steht?“ fragte Mirai nun und Anna nickte.

„Was macht ihr denn nach der Schule?“ wollte Eve nun wissen und stellte sich zu den dreien. Akiras Grinsen wurde breiter.

„Anna hat ein Date mit uns.“ lächelte er zufrieden. Auch Mirai konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Nennt es bitte nicht 'Date'.“ murmelte Anna beschämt und zwirbelte eine ihrer Strähnen zwischen ihren Fingern.

„Sei nicht so schüchtern, Anna.“ lachte Mirai und gab dem kleinen Mädchen einen Kuss auf die Wange. Sofort handelte er sich dafür einen tiefsitzenden Hieb in der Magengrube von Anna ein, während Akira ihn wütend anstarrte.

„Okay, genug, genug.“ fauchte Akira und begann, den Blonden wieder aus dem Türrahmen zu schieben. „Also dann, bis später.“

Als die Jungs verschwunden waren musterte Eve Anna, wie diese sich wieder hinsetzte. Das Mädchen hatte ihre Mutter verloren und so wie Eve es verstanden hatte, hat sie die Leiche sogar gefunden. Eve wusste genau: Ihre Leute waren nicht zimperlich gewesen, was das Töten dieser Frau anging. Sie hatte zu gesehen. Das Blut flog bis an die Decke, als man ihr das Herz raus riss. Doch Anna schien es nicht zu wissen. Sie schien nicht zu wissen, dass ihre Mutter getötet worden war.

Eve musterte den geraden, schmalen Rücken, der ihr zugewandt war. Ihre Haare waren im Weg, auch ihre Bluse. Aber Anna hatte eine Reaktion an diesem Abend gezeigt – das Wetter hatte es verdeutlicht. Zwar hatte die Schwarzhaarige gespürt, wie Annas Kräfte langsam nach ließen, doch sie hatte nicht mit so einer starken Reaktion gerechnet. Wieso also tat sie nun so, als würde nichts sein? Sie ging sogar auf ein Date. Und noch schlimmer: Annas Gedanken blieben Eve verschlossen. Was ging da vor sich?

Die Schulglocke läutete und riss Eve wieder aus ihren Gedanken. Der Lehrer kam in die Klasse. Sie konnte nicht anders, als zu gehen. Nach der Schule würde sie vielleicht mehr erfahren. Doch als die letzte Glocke ertönte, waren Anna und ihre Männer schon weg.

„Wohin fahren wir?“ Ioris Stimme klang erstickt, leise. Sie waren in einem schwarzen Van. Mirai saß neben ihm und schwieg. Die grauen Wolken zogen in Schlieren an dem kalten, getönten Fenster vorbei. Das Auto war geräumig, bequem. Es war eines von vielen. Der Affenkönig verharrte in Schweigen. Auch Liam starrte beharrlich still aus dem Fenster.

„Ich hab' Anna seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen...“ Der Tengu klang ein bisschen, als würde er sehnsüchtig auf die Rückkehr seiner Königin warten. Die Motorgeräusche brummten unter dem Treten das Gaspedals auf. Der Fahrer war Iori unbekannt. Es begann zu regnen und wurde kalt.

Seit Tagen war Iori bei Ren untergebracht worden. Sie hatten ihm zu essen und zu trinken gegeben, hatten ihm kein Leid angetan. Er dachte darüber nach, zu fliehen. Oft. Jede Nacht eigentlich wollte er aus dem Fenster springen und seine Flügel ausbreiten, dem Mond zurufen. Doch etwas hielt ihn davon ab – war es nun Shiro, Annas Junge, oder Anna selbst, die nachts über ihn wachte. Sie gab Iori manchmal den Eindruck, als wäre er ein kranker Junge und sie seine Mutter, die ihn pflegte. Während sie neben seinem Bett gesessen und darauf gewartet hatte, dass er einschlief, musterte er das Mädchen. Ihr Haar glänzte fast wie Silber in der Nacht. Sie hatte eine schmale, zierliche Figur, auch wenn sie ziemlich groß war. Man sah ihr nicht an, dass sie sich ihren Weg durch die Welt mit Schlägereien bahnten. Tatsächlich hatte sie die Ausstrahlung einer Königin. Oft hatte er versucht, mit ihr zu sprechen, doch sie schwieg. Jeder, den er in diesem Haus angesprochen hatte, erwiderte seine Worte mit Schweigen. Es war ihm erlaubt worden, in dem Anwesen umher zu gehen, doch die Haustür war immer verschlossen geblieben. Jeder Ausgang, egal, wie viel Kraft der Tengu aufbrachte, würde sich ihm nicht öffnen.

Warum wurde er nicht gefoltert? Warum ging es ihm gut? Der Grund war einfach. Sie mussten nichts tun. Es reichte, wenn Anna jede Nacht neben ihm saß. Er spürte sie in seinem Kopf. Sie suchte sich die Erinnerungen heraus, die ihm am meisten bedeuteten. Sein Zuhause, seine Familie. Egal, wie süß oder wie traurig die Erinnerung war, Annas Gesicht blieb steinhart. Und das war die schlimmste Art von Folter: dieses konsequente Schweigen. Vier Tage lang hatte sie ihn angestarrt und nichts gesagt. Sie wühlte sich durch seine Gedanken, ohne dass er es verhindern konnte.

Das Auto bog in eine Abfahrt ein. Langsam wurden die Straßen unebener, die Gegend war gefüllt mit Bäumen, die ihre Blätter im starken Wind verstreuten. Es begann zu schneien.

„Wo ist Anna?“ fragte Iori erneut, doch Mirai und Liam blieben hart. Sie hatten sehr formale, schwarze Anzüge an. Die Krawatten drückten eng gegen ihre Hälse. Langsam wurde dem Jungen mulmig. Er kannte diese Gegend. Sein Blick wanderte wieder aus dem Fenster. In der Weite erstreckte sich ein Berg. Eine erschreckend bekannte Sicht. Alles in ihm fuhr zusammen, Gänsehaut ließ seine Haut zusammen zucken. Sein Herz beschleunigte auf 130 Schläge pro Minute, als würde er gerade rennen. Schmerz pochte in seinem Handgelenk. Mirais Griff war gewalttätig, stark, bestimmend und unnachgiebig. Würde Iori fliehen wollen, würde er wissen, wie Folter sich anfühlte. Sie waren noch längst nicht an ihrem Ziel angekommen.

Schnee sammelte sich an, je höher Annas Leute kamen. Nach weiteren, wenigen Minuten sah Iori zu, wie Anna aus einem der Vans stieg. Sie hatte ihr Haar offen, ein seltener Anblick. Es war mit Locken gefüllt, die über die Schultern über ihre Brust fielen. Die Locken gingen ihr bis zum Bauch. Sie hatte sich geschminkt. Ihre Augen wirkten kristallblau, nicht fast schwarz wie bei den letzten Male, wo er sie gesehen hatte. Sie trug ein glockenförmiges, schwarzes Kleid, dass durch einen Mantel bedeckt worden war. Eine Hand half dem Mädchen von ihrem Sitz, ließ sie anschließend nicht wieder los. Sie gehörte Akira. Er lächelte sie an. Selbst er trug einen schwarzen Anzug. Er hatte sogar seine Haare gebändigt und nach hinten frisiert. Iori wusste nun, wieso alle so formal angezogen waren. Vor ihnen erhob sich der letzte und höchste Abschnitt des Berges Takao in der Hachioji Präfektur.

Nun öffneten sich auch die Türen ihres Vans. Die eisige, verschneite Luft fuhr wie ein Güterzug durch die Wärme des Autos. Liam stieg aus. Mirai blieb sitzen und hielt Iori weiterhin fest. Die Türen des Vans schlossen sich wieder. Iori starrte Anna an, wie sie und Akira langsam die Treppen zum Schrein hinauf liefen. Der Schnee gab knirschend unter ihrem Gewicht nach. Dann folgten Ren und Liam, dann der Weißhaarige. Dicht hinter Shiro liefen junge Männer. Einige von ihnen sahen wild aus, selbst in ihren Anzügen, als wüssten sie nicht einmal, was „formal“ bedeutete. Sie hatten zerzaustes, wildes Haar, das in alle Richtungen ab stand. Andere hatten von der Sonne gebräunte Haut und helles Haar, ähnlich wie Mirai, und schienen dieser Art von Treffen wohl besser zu kennen. Ihr Blick war nach unten geheftet. In Demut und Gleichschritt liefen sie der Königin hinterher, während sie das Nest der Tengus betrat.

„Wieso gehen wir nicht?“ fragte Iori erstickt. Mit jedem Schritt, den Anna auf den Tempel zu machte, fühlte sich sein Herz schwerer an. Mirai schwieg.

Anna hatte sich bei Akiras Arm eingehakt. Es war kalt, der Schnee flog ihr ins Gesicht und drohte, die Frisur zu zerstören. Akiras Hand ruhte auf Annas Arm, schenkte ihr Wärme. Langsam kam die Parade an den großen Türen an, die immer noch verschlossen blieben.

„Alles okay?“ flüsterte Akira dem Mädchen leise zu. Dieses nickte. „Okay. Dann bis später.“ Er ließ sie los und trat zur Seite. Ren und Liam folgten ihm. Anna drehte sich noch einmal um. Die Masse an Leuten, die hinter ihr stand, war überwältigend. Zehn junge Männer von Silver, circa 50 aus dem Affenreich. Ihr Blick fiel auf Tristan, der Marlo gerade die Krawatte richtete. Sie waren gewachsen. Die Affen-Zwillinge waren heute nicht hier. Anna sah es genau so, wie Mirai und Silverback: Die Mädchen sollten Zuhause bleiben. Im Fall der Fälle, dass nicht alles so lief wie geplant, wäre es besser so. Sasahira schaute Anna musternd an. Sie war die einzige Frau, die neben Anna heute hier sein durfte und das auch nur, um sich um Anna zu kümmern. Die braunen, harten Augen starrten erwartungsvoll ihre Königin an. Diese nickte.

Mit einem Schlag ertönten Glöckchen. Die Affen hatten ihre Stäbe heraus geholt, hielten sie hoch in die Luft, ließen sie auf dem Boden aufstampfen und ließen erneut Glöckchen klingeln. Mit einem weiteren Schlag, der die kalten Steintreppen zum Tempeln erbeben ließ, hörte man abermals den süßen Klang. Er schien den Schnee von ihnen wegzublasen, als würden sie den Frühling bringen. Eine der Tannen, die den Weg zierten, ließ einen Brocken Schnee von seinen Zweigen fallen. Anna wandte sich nun den großen Tempeltüren zu. Langsam wurden diese geöffnet. Männer standen vor ihnen. Die meisten trugen eine weiße Kutte, hatten schwarze Haare und fast alle von ihnen starrten mit blauen Augen auf die Königin, in Ehrfurcht… und Angst. Sie verbeugten sich und entblößten die von Federn gezierten Nacken.

„Willkommen...“ sagte eine alte, bebende Stimme. Ein kleiner Mann mit kleinen, schwarzen Flügeln kniete sich vor Anna hin und legte seine Stirn auf den Schnee. „Wir sind Eures Besuches nicht würdig.“ Aber doch. Dieser Besuch war das mindeste, was Anna für angebracht hielt.

„Wir sind froh, eure Bekanntschaft machen zu dürfen.“ erwiderte das Mädchen mit einem Lächeln. Der alte Mann erhob sich. „Mein Name ist Fujisaki. Ich bin das Oberhaupt dieses Clans.“ Er verbeugte sich abermals.

„Mein Name ist Anna.“ Auch Anna senkte kurz den Kopf, um sich vorzustellen.

„Bitte, kommt rein.“ Der Mann breitete seine Hände aus und zeigte auf das Haus. Die alten Arme zitterten. Die Männer, die ihnen die Tore geöffnet hatten, verharrten in Position. Auch sie schienen Angst zu haben. Mit kleinen Schritten führte Fujisaki die Gäste in seinen Tempel.

Große, rote Säulen gaben dem Gebäude Halt. Weiße Mauern erhoben sich und ragten empor, wie riesige Schneehaufen. Unter dem Schnee blitzten rote Ziegel hervor. Das Innere des Tempels war gefüllt von Wärme und einem angenehmen Duft, als würde gerade gekocht werden.

„Entschuldigt bitte. Euer Kommen ist uns sehr wichtig, doch war es zu spontan, um alles rechtzeitig fertig zu kriegen...“ murmelte der älteste Tengu demütig. Aus den Augenwinkeln beobachtete Anna, wie Tristan und Marlo die Fährte von frischem Fleisch aufnahmen. Sie handelten sich einen bösen Blick ihres großen Bruders ein.

„Das ist nicht weiter wichtig. Wir sind nicht hier um zu essen.“ erwiderte Anna schnell.

„Natürlich, natürlich. Verzeiht.“ Der Mann schien sich unter seiner Schuld zu krümmen und immer kleiner zu werden.

Die Gänge des Tempels waren breit und geschmückt mit Zweigen. Kerzen waren auf großen Haltern angebracht und beleuchteten den braunen Dielenboden, der sich bis in die Tiefen des Gebäudes erstreckten, die Anna jedoch nicht erkunden würde. Denn die große Halle, zu der sie geführt wurden, war bereits kurz nach dem Haupteingang zu sehen. Riesige, lange Tische erstreckten sich hier und erinnerten Anna ein bisschen an Sun Wukongs Palasthallen. Die Tische waren verziert mit Tannenzweigen, Nüssen und Beeren. Die Wände waren gefüllt mit schwarzhaarigen Männern und Frauen, die kerzengerade da standen und auf das Eintreten der Königin warteten. Die Masse begann sich hinzusetzen. Nur Anna und Shiro wurden weiter in die Halle gefüllt und an einen Tisch gesetzt, der waagerecht zu den anderen stand und so einen Blick über die ganze Halle bot. Die Mäntel wurden ihnen abgenommen.

„Möchtet Ihr etwas trinken?“ fragte Fujisaki mit einem leichten Lächeln und Anna nahm das Angebot an. Shiro wich ihr nicht von der Seite. Selbst hier, an diesem Tisch, an dem nur Autoritätspersonen sitzen durften, hielt er die Distanz nur auf wenige Zentimeter. Einige Frauen, die an den Wänden bereit standen, begannen, die Gläser der Gäste zu füllen. Es war Honigwein. Annas Blick schweifte über ihre Leute. Sie rührten den Wein nicht an. Ihr Blick war auf Anna geheftet, erwiderten ihn in Bereitschaft. Anna nahm das Glas in die Hand und starrte auf die goldgelbe Flüssigkeit. Sie erinnerte an Akiras Augen.

„Meine Königin, womit haben wir Euer Kommen verdient?“ erhob sich nun eine andere, tiefere und um einiges ruhigere Stimme. Annas Augen richteten sich auf einen großen, durchtrainierten Mann. Seine Statur glich der Mirais, allerdings war seine Haut aschfahl und seine Haare rabenschwarz. Seine dunkelblauen Augen scheuten sich nicht, die Annas aufzusuchen.

„Wir haben bereits angekündigt, warum wir hier sind.“ Shiros Stimme brummte durch den Raum und ließ jeden einzelnen hier, bis auf Anna, erzittern. Diese musste lächeln. Es gab niemanden außer ihr, der bei dieser Stimme nicht zusammen zuckte. Der Mann schluckte.

„Verzeiht, wenn ich unhöflich war. Mein Name ist Makkuro, ich bin der älteste Sohn und Bruder von Iori.“ Er war bemüht, die Ruhe in seiner Stimme zu bewahren. „Der Grund ist mir klar, allerdings wüsste ich gerne die ganze Geschichte.“

Anna stellte ihr Glas wieder ab. Ihr Blick ruhte auf dem ältesten Sohn. Dem nächsten Oberhaupt. Wo sollte sie anfangen? Das Licht in dem Raum flackerte für einen Moment, dann löste das Mädchen ihren Blick wieder.

„Dein Bruder hat mir etwas gestohlen, wie du vielleicht schon gehört hast.“ begann die klare Stimme des Mädchens zu erzählen. „Er hat seine Dienste der anderen Königin angeboten und durch ihn habe ich meine Mutter verloren.“ Stille trat ein. Kalte, herzlose Stille. Man spürte die Anspannung der Tengus, aber auch die der Affen und Wölfe. Keiner rührte sich. Keiner hatte etwas getrunken. Nie hatten Annas Leute den Blick auch nur für eine Sekunde von ihr abgewandt. Sie warteten auf ein Zeichen für den Kampf.

Makkuro senkte seinen Blick. „Iori ist keine schlechte Person.“ fuhr Anna nun fort und schwenkte den Met in ihrem Glas, während sie gedankenversunken auf ihn blickte. „Ich weiß es. Jede Nacht habe ich gesehen, woran er dachte. Seine Gedankengänge sind naiv und unschuldig, irgendwie.“

„Ja, mein Sohn hat leider nicht viel Tiefgang.“ gab der Älteste beschämt zu, woraufhin Anna lächeln musste.

„Das ist wahr. Aber er hat etwas, das für Ausgleich sorgen würde. Und deshalb bin ich hier.“ Der Älteste schien überrascht, fast schon verwirrt.

„Alles. Alles, meine Königin.“ lächelte er nervös und rieb sich die Hände. „Alles, um mich für meinen Sohn bei Euch zu entschuldigen.“

Die junge Frau spürte, wie ihr die Galle hoch kam. Vor wenigen Monaten noch waren die Tengus ein Teil von Eves Privatarmee gewesen. Sie hatten sich ihr verschworen, sich ihr gebeugt. Und jetzt musste Anna ihnen nur einen kurzen Besuch abstatten und schon hatten sie eine neue Königin. Ihre Loyalität war einen Dreck wert.

„Gut. Ich sehe aber, dass dieses 'Etwas' gerade nicht hier ist.“ Anna setzte das Glas an ihre Lippen und trank. Der süße Geschmack von Honig glitt ihre Kehle hinunter. Toki hätte das Getränk gefallen. Nun nahm auch der Rest des Saales einen Schluck. Es war gruselig zu sehen, wie sie alle im Einklang das Glas erhoben und tranken.

„Was ist es, meine Königin?“ fragte Fujisaki sofort.

„Sho.“ Anna musterte den Ältesten bei ihrer Antwort und seine Reaktion gab ihr ein perverses Gefühl von Befriedigung. Der alte Mann wurde leichenblass, riss seine Augen auf. Seine Lippen bebten in Angst. Seine Zunge fuhr in seinem Mund herum, versuchte die Trockenheit zu bekämpfen. Makkuro war derjenige, der antworten musste.

„Das ist das einzige, was wir Euch nicht geben können.“ sagte der Mann ruhig, aber Anna hörte, wie sein Puls raste. Anspannung machte sich in seiner Brust breit. Sein Zeigefinger tippte nervös gegen seinen Wein. Das Mädchen stellte ihr Glas ab und so taten es auch die Wölfe und Affen. Die Königin musterte die Tengus, die immer noch an den Wänden aufgereiht waren und versuchten, ihrem Blick auszuweichen. Jeder Muskel ihrer Körper war spannte sich gegen die Atmosphäre an, die Annas Erscheinen hier verursachte.

„Das ist das einzige, was ich von euch gebrauchen kann.“ Ihre Antwort war rau, ohne Lächeln, und ließ keine Widerworte zu.

„Nein.“ flüsterte Fujisaki trocken und starrte auf seine Knie. „Köpft Iori, mich oder irgendjemanden hier. Aber wir können Euch Sho nicht geben.“ Er bebte vor Angst vor seinen eigenen Worten. Schweiß sammelte sich in seinem Nacken. Makkuro verschloss seine Augen.

„Euch ist klar, dass ich aufgrund von Iori meine einzige Mutter verloren habe.“ begann Anna und ihr Gefolge wandte den Blick ab. „Euch ist klar, dass eure Loyalität, die ihr Eve gegeben habt, mir hätte gelten sollen. Euch ist auch klar, dass das hier keine Verhandlungen sind.“ Körper bewegten sich. Leute begannen, sich zu erheben. Shiro kratzte mit einem seiner langen Fingernägel über den Holztisch und musterte die Kerben, die er in ihn hinein schnitzte. „Das ist eure Chance, eure Fehler gerade zu biegen. Die einzige Chance, die ich euch geben werde.“ Das Licht einer Kerze erlosch. Eine Frau japste kurz erschrocken auf, als der kalte Windzug die Flammen neben ihr ausblies. Eine weitere Kerze begann gefährlich zu flackern.

„Das… ist uns bewusst. Aber Sho...“ stotterte der Älteste. Eine Schweißperle versenkte sich in seinem Augenwinkel. Er schluckte abermals, versuchte, die Angst in sich zu behalten.

„Ich will Sho.“ hisste Anna scharf und kaltherzig. Der Rest des Raumes füllte sich mit Dunkelheit. Kerzen erloschen. Man hörte, wie die Männer sich umdrehten und ihren Körper Anna und dem Ältesten zuwandten. Augen von Bestien waren nun auf den Tisch gerichtet, an dem die Führer saßen. Sie glitzerten in der Dunkelheit. Es waren lauernde Jäger, auf den richtigen Moment wartend, ihre Beute zu attackieren. Makkuro bebte. Er spürte, wie sich die Königin einige Plätze weiter bewegte. Seine Augen wanderten über den Tisch zu der Blondine. Da saß sie, unverändert. Doch es schien kein Licht in diesen Augen. Das Weiß darin erlag einem Schwarz. Das, was sich um sie bewegte, war nicht ihr Körper. Feine schwarze Linien hoben sich von ihrer Haut ab und schienen in der Dunkelheit zu glühen. Das war es – die Macht einer Königin. Sie war überwältigend. Angsteinflößend. Der Körper des jungen Tengus zuckte automatisch zusammen, wollte von ihr weg. Sein Vater saß stocksteif da, schien in dem Terror nicht einmal daran zu denken, zu fliehen.

„Papa...“ Es war eine zarte, unschuldige Stimme, die an den Tisch drang. „Papa, es ist okay.“ Ein kleiner Junge trat hervor. Er hatte sich in einen der Seitenräume aufgehalten und hielt sich an einem der Wandteppiche fest. Auch er hatte Angst, doch nahm allen Mut zusammen, den sein kleines Herz hergab.

„Sho...“ Die Stimme Fujisakis war so rau und heiser, als würde er bald einer Lungenentzündung erliegen. Die Schritte des kleinen Tengus führten ihn an dem langen Tisch entlang bis zu Anna. Das Licht kehrte in den Raum zurück, als würde Sho den Frieden mit sich bringen. Langsam erhellte sich der Raum wieder.

Der Junge fiel vor Anna auf die Knie, legte seine Stirn auf den Boden. Er war nicht viel älter als vielleicht fünf. Das glänzende, schwarze Haar fiel auf den Boden. Seine Stimme war zart und leise.

„Wenn ich mit meinem Leben für die Fehler meines Bruders bezahlen soll, werde ich mich den Forderungen der Königin beugen.“ Trotz seiner jungen Stimme konnte man absolute Entschlossenheit aus seinen Worten hören. Er wirkte erschreckend erwachsen. Shiro, der aufgestanden war, setzte sich wieder mit einem Lächeln. Auch der Rest des Raumes setzte sich wieder hin und starrte den kleinen Tengu an. Als dieser seinen Kopf wieder hob, sah Anna in die tiefblauen Augen, die vor Willenskraft und Wissen nur so zu trotzen schienen. Sie musste lächeln bei dem Gedanken, dass er Adam unglaublich ähnelte, als dieser noch jünger gewesen war. Wahrscheinlich sogar mehr als Iori.

„Du bist Sho?“ fragte die Königin leise und konnte nicht umhin, das weiche Haar zu berühren. Der Junge nickte und senkte seinen Blick wieder. „Du willst dein Leben also für deinen Bruder opfern?“ fügte sie mit einem Grinsen hinzu. Der Junge zögerte ein bisschen, nickte dann aber erneut. „Shiro.“ Shiro erhob sich wieder und so taten es auch die anderen. Sie gingen Richtung Türen.

„Meine Königin, was...“ begann Fujisaki wieder, doch nun erhob sich auch Anna. Mit einer Handbewegung brachte die Königin den Ältesten zum Schweigen.

„Du hast ihn gehört. Er will für die Sünde deines Sohnes bezahlen. Wir brauchen etwas Ruhe. Ich will mit ihm alleine reden.“ Makkuros Hand zog an der Schulter seines Vaters, als dieser widersprechen wollte, doch das hielt ihn nicht davon ab, es tatsächlich zu tun.

„Meine Königin, bitte. Er ist der letzte, der geboren wurde. Seit Jahrzehnten warteten wir auf Nachwuchs...“

„Ich will es nicht hören.“ unterbrach Anna ihn. Sie schritt an ihm vorbei und ging das kleine Podest hinunter, auf dem der Tisch stand, um ebenfalls Richtung Tür zu laufen. Das glockenförmige Kleid, das sie trug, offenbarte das riesige, schwarze Mal auf ihrem Rücken. Linien wanderten durch die Haut wie kleine Schlangen. „Sho, führe uns dahin, wo wir in Ruhe reden können.“

Der jüngste Tengu tat, wie ihm geheißen. Als er die große Halle verließ, sah er, dass sich Annas Leute an den Wänden aufgereiht hatten. Sie standen Schulter an Schulter, sahen auf den Knirps hinab. Ihre Augen lechzten nach Blut. Sho war sich nicht sicher, ob es Hass oder Wut war, die in ihnen schlummerte, aber es war definitiv nichts freundliches.

„Sind das deine Untertanen?“ fragte er die Königin leise und musterte die Männer, an denen er vorbei lief. Dann blieb sein Blick kurz an Shiro hängen, der Anna dicht auf den Fersen war.

„Meine Untertanen. Meine Freunde. Meine Kinder.“ erwiderte das Mädchen. Sho blickte die ruhigen, tiefblauen Augen der Königin an, wandte seinen Blick dann wieder ab und ging den Gang entlang. Die Anzahl der Füße, die ihm folgten, wurden mehr. Die Männer, die sich wie Wachen aufgereiht hatten, begannen ihnen zu folgen.

„Hier.“ sagte der Junge leise und öffnete die Tür zu einem großen Raum. Er war nicht so groß wie die Halle, dennoch bot er genügend Platz für ein Gespräch. Anna folgte Sho und setzte sich ihm gegenüber.

„Shiro, hol' ihn.“ wies sie den Weißhaarigen an, der in der Tür auf dem Absatz kehrt machte, sie schloss und verschwand. Nun war der Tengu alleine mit der Königin. Stille trat ein. Sho wusste nicht, wo er anfangen sollte. Er konnte Anna nicht ansehen.

„Hab' keine Angst.“ Sie war ihm ungeheuerlich nah. Ihre Hand fuhr über seine Wange. Sie war weich, warm und angenehm. Furchtbar angenehm. „Ich tu' dir nichts.“ Mit diesen Worten hob der Junge seinen Blick. Anna war schön. Ihr langes, goldenes Haar wippte in seinen Locken leicht über ihre Brust, die zum Anlehnen einlud. Sie roch nach Vanille, ein ungewöhnlicher und süßer Duft für einen Winddämon. Ihre Augen glitzerten nun hellblau, als hätte sich die Dunkelheit in ihrem Herzen geklärt. Dort, wo sie ihn berührt hatte, glühte die Haut nun.

„Dein Bruder hat Eve erzählt, dass ich nicht da sein würde. Weißt du, was sie daraufhin getan hat?“ flüsterte das Mädchen und ihre Hand glitt von seiner Wange zu seinem Kopf. Sie streichelte ihn. Der Junge nickte.

„Sie hat meine Mutter getötet, Sho. Weißt du, wie sich das anfühlt, wenn man seine Mutter so sieht?“ Sie klang nicht herzlos, als sie das sagte. Tatsächlich spürte Sho, wie sie bei diesen Worten litt. Ihre Stimme klang kratzig, als könnte sie die Worte kaum aussprechen. Sein Herz verkrampfte schmerzhaft.

„Nein. Ich habe meine Mutter nie kennen gelernt. Sie ist bei meiner Geburt gestorben.“ erwiderte er und senkte seinen Blick wieder. Sie schwieg, als wollte sie hören, was er noch zu sagen hatte. Also fuhr der Fünfjährige fort: „Der Grund dafür, dass unser Clan so klein geworden ist, ist unsere Schwäche. Wir können keine Nachfahren mehr zeugen. Die Kinder sind Totgeburten und die Frauen sterben bei dem Versuch, sie zu gebären. Deshalb… bin ich der Letzte.“ murmelte er. Die Hand auf seinem Kopf stoppte und entfernte sich wieder. Sie fand sich in Annas Schoß wieder, ruhte auf ihrem Oberschenkel. Er fixierte die weiße Haut der Königin.

„Du hast es nicht leicht oder?“ sagte die sanfte Stimme. Sho wollte nicken, konnte aber nicht. Etwas hielt ihn davon ab. Die Tür öffnete sich erneut. Akira, Liam, Ren, Shiro und Mirai traten ein. Mirais Hand war um das Handgelenk eines alten Bekannten gewickelt. Shos Blick war auf Annas Schoß geheftet, doch er konnte Ioris Geruch vernehmen.

„Sho…!“ keuchte er entsetzt und lief auf die beiden zu, wurde jedoch festgehalten.

„Dankeschön. Ist schon okay, lasst uns alleine.“ Als Sho Annas Stimme vernahm, bekam er eine kleine Gänsehaut. Er senkte seinen Blick wieder auf seine Knie. Das Geräusch der schließenden Tür war fast wie ein Todesurteil. Annas Hand, die bisher geruht hatte, wanderte die paar Zentimeter, die Abstand zu ihm bildeten, über den Holzboden und griff nach seinen Fingern. Sie war wirklich warm. Die zarten Finger drückten das kleine Händchen kurz, dann erhob sich die Königin wieder.

„Iori.“ Es war, als würde ein plötzlicher Sturm die Sommerhitze durchbrechen. Ihre Stimme war kalt und tat weh. Sie ging ein paar Schritte auf Shos großen Bruder zu.

„Anna, bitte. Lass es nicht an Sho aus.“ Er klang verängstigt. Scham stach wie ein Messer auf Shos Magengrube ein.

„Sht.“ Anna bedeutete ihm mit einem Zischen zu schweigen. „Iori. Du hast mir nie erzählt, was für eine liebreizende Familie du hast.“ fuhr sie fort. Ihre Schritte stoppten vor dem Mann, der ihrem Bruder so ähnlich sah.

„Er kann nichts dafür. Bitte...“ fuhr er fort, doch auch er wurde von sanften Fingerkuppen auf seinen Lippen zum Schweigen gebracht, wie einst Kai.

„Es gibt einen Zauber… Eher einen Fluch.“ hauchte ihm die Königin zu und er erschauderte. Es war die Stimme, die er ab und zu in seinen Träumen hörte. „Er ist für die Liebenden. Indem sie sich ewige Treue schwören, brennen sie sich auf dem Herzen ein. Sobald einer von ihnen stirbt, tut es auch der andere.“ erklärte die Königin leise. „Aber das brauchen wir im Moment nicht … Jedenfalls nicht in dieser Form.“

„Ich tu's. Ich schwöre dir ewige Treue, Anna.“ erwiderte Iori sofort verzweifelt, doch der Finger drückte sich noch tiefer in seinen Mund.

„Tut mir Leid. Mein Bruder ist wirklich dumm.“ Sho erhob sich und lief zu Iori. Er starrte seinen Bruder an. In diesem Moment wünschte er sich für einige, kurze Sekunden, er hätte ihn nicht „Bruder“ nennen müssen. Annas Lippen formten ein Lächeln, als sie sich wieder erhob. Der kleine Junge stellte sich neben seine Königin.

„Du weißt nicht, wie es ist, jemanden zu verlieren oder vielleicht hast du hast es bereits vergessen, nicht wahr?“ fragte Anna ihren einstigen Klassenkameraden. Pures Entsetzen machte sich in Ioris Gesicht breit, er wurde blass. „Nicht du wirst diesen Zauber erhalten, Iori.“ Annas Hand legte sich auf das weiche Haar seines kleinen Bruders.

„Bitte, tu das nicht, Anna.“ Tränen formten sich in seinen Augenwinkeln. Seine Hände wickelten sich in Verzweiflung um sein Gesicht. Er hatte Angst. Er hatte Panik, dass sein kleiner Bruder sterben würde.

„Wir haben die Möglichkeit, den Zauber so auszusprechen, dass nur einer stirbt, sobald der andere das Zeitliche gesegnet hat.“ fuhr das Mädchen unbeeindruckt fort und musterte den Haufen Elend vor sich.

„Anna...“ flüsterte Iori entsetzt. Sein Kopf fiel auf den Boden. Er kauerte in Demut vor ihr zusammen. „Bitte.“

Die Königin kniete sich wieder vor ihren Gefangenen. Abermals fassten die Finger nach seinem Kinn, damit er ihr in die Augen schauen würde.

„Du würdest alles für ihn tun oder?“ zischte ihre Stimme leise. Sie war so eindringlich wie ein Nagel, der sich in eine Wand bohrte.

„Alles.“ gab Iori erstickt zurück und versuchte, seine Tränen im Zaum zu halten.

„Dann schwör' mir – hier und jetzt – deine ewige Treue, deine unsterbliche Liebe und das Leben von dir und deiner ganzen Familie.“

„Ich schwöre dir, wir werden dich nie verraten. Ich werde dir dienen, für immer.“ gab Iori erstickt und ohne nachzudenken zurück. Annas Finger verließen seine Haut und sein Kopf sackte wieder zu Boden. Er keuchte, schnappte nach Luft und heiße Tränen flossen wieder still über sein Gesicht. Shiro stellte sich neben Iori. Seine Hände waren wie Klauen, die sich in seine Schulter und seinen Nacken gruben.

„Dann fangen wir an.“ Rens Stimme hallte durch den gefüllten Raum. Hinter Iori traten nun Makkuro und Fujisaki hervor. Ihr Blick ruhte leidend und beschämt auf den mittleren Sohn.

„Setzt euch.“ wies Liam Sho und Anna an und Ioris Kopf hob sich erneut.

„Was?“ flüsterte er geschockt, als er sah, wie Anna und Sho sich die Hände reichten. „Ich dachte, du würdest...“ begann er, doch Annas Lächeln gebot ihm Einhalt.

„Dein Leben ist dir nichts wert, wie ich fürchte. Die würdest sofort ins offene Messer rennen, wenn Eve dich dazu anweisen würde.“ Ihre Stimme war so hell und klar, dass sie sich einen Weg durch die angespannte Luft zu Ioris Hörgang schnitt. „Doch ist es das Leben deines Bruders überlegst du dir vielleicht noch einmal, wem du wirklich dienen solltest.“

Iori starrte Anna an. Sein Körper bewegte sich von alleine, doch Shiros Nägel drangen in sein Fleisch ein und hielten ihn zurück.

„Iori. Lass es.“ fauchte Makkuro leise. „Das ist deine Schuld. Das ist dein Urteil.“ Er senkte seinen Blick und seine Hand fuhr vor seine Augen, als wollte er nicht sehen, wie sich der Jüngste für die Familie opferte. Liams Stimme ertönte und sprach fremdartige Wörter. Seine Hände schwebten über die von Anna und Shos, die ihre Finger ineinander verschlungen hatten. Der Raum wurde heller, als würde Licht von der Decke herab fallen, die aber immer noch im Schatten verborgen blieb. Iori schaffte es nicht mehr, etwas zu sagen oder sich zu bewegen. Sein ganzer Körper und sein Herz waren gefüllt mit Bedauern und Versagen. Als Sho keuchte, zuckte er kurz zusammen. Sein kleiner Bruder schien Schmerzen zu haben. Liams Stimme erstarb wieder, dennoch hielt Anna die kleinen Hände des Jungen fest.

„Alles okay?“ fragte sie leise, ehe Sho nickte. „Es tut ein bisschen weh...“ murmelte er. Annas Hände zogen an ihm, führten ihn an ihre Brust und legten sich auf seinen Rücken und Hinterkopf. Die sanften Streicheleinheiten kehrten zurück.

„Ihr habt eine neue Königin.“ Akira hatte seine Stimme erhoben. Er ging ein, zwei Schritte auf den Ältesten zu. Er überragte ihn. Sein Gesicht war in Schatten gehüllt, als er mit einem Grinsen fortfuhr: „Ihr werdet ihr und nur ihr gehorchen. Ihr werdet Eve nichts sagen. Ihr werdet jeden Kontakt mit ihr unterbinden. Ihr seid nun ein Teil von Anna und wenn sie nach euch ruft, werdet ihr kommen. Wenn sie sagt, ihr sollt kämpfen, werdet ihr für sie kämpfen. Wenn sie will, dass ihr für sie sterbt, werdet ihr sterben.“ Seine Stimme war so angsteinflößend tief und gefährlich, dass Fujisaki nichts anderes tun konnte, als zu nicken.

„Wir werden Iori wieder mitnehmen. Er wird unser Kontakt zu euch sein.“ sagte Ren nun ruhig und half dem besiegten Tengu auf die Füße.

„Was sollen wir tun, wenn Eve uns nicht gehen lässt ? Uns für unseren Verrat töten will?“ heischte Makkuro nun aufgebracht.

„Wir werden da sein.“ Erneut trat beklommene Stille ein, als Shiro sprach. „Sie wird nicht viel tun können. Ein Teil von uns bleibt hier und passt auf.“ Das war der Plan. Während Tristan und Marlo zuständig für die Hälfte der Wölfe waren, würden sie auch einen Teil der Affen hier befehligen. Das war nicht nur zum Schutz, sondern auch noch eine offenbar friedliche Kontrolle der Tengus durch Anna. Kein Schritt, den sie gegen die neue Königin unternehmen würden, würde nicht an Annas Ohren gelangen.

„Ich will bei ihr bleiben.“ Shos zarte, junge Stimme vibrierte an Annas Brustkorb. Überrascht fiel ihr Blick auf den Tengu, der sich in ihren Armen einkugelte. Er drückte seine Wange an ihre Brüste. Seine Hände legten sich an ihre Seiten. Er hatte die Augen geschlossen. Das war nicht geplant gewesen.

„Es ist gefährlich für ein Kind.“ fauchte Shiro sofort. Er klang immer noch ruhig, dennoch konnte er eine gewisse Aufregung in seiner Stimme nicht unterdrücken. Sho öffnete die Augen und starrte den Wolfsdämon an. Ren seufzte. Tatsächlich würde es schwierig sein, Sho bei ihnen Zuhause unterzubringen. Eve würde früher oder später wissen, wo sie wohnten, und würde sie einen der Verräter vorfinden, würde sie sich auch bei einem kleinen Jungen nicht zurück halten.

„Ich werde nicht im Weg sein...“ flüsterte Sho leise. Seine Hand vergrub sich im Kragen seiner Königin.

„Ich glaube kaum, dass wir ihm das aus dem Kopf schlagen können.“ lächelte das Mädchen.

„Sho...“ Iori klang, als könnte er kaum atmen. Doch sein kleiner Bruder würdigte ihn mit keinem Blick. Anna sah sich den flehenden Blick Ioris einige Sekunden lang an, stand dann auf und setzte den Kleinen auf dem Boden ab. Mirai seufzte. Auch die anderen Männer schauten resigniert drein.

„Bringt Sho und Iori zu den Wagen. Wir sind hier fertig.“ Ren klatschte in die Hände und die Leute setzten sich langsam in Bewegung. „Mirai, wie besprochen bleibst du erst einmal hier und klärst die anfallenden Details. Ich zähl' auf dich.“ Ren hatte eine Hand auf die Schulter des Affengottes gelegt, welcher genervt nickte. Die Tengus folgten Annas Leuten aus dem Raum.

Erneut ging Anna die langen Flure des Tempels entlang und fand sich nach wenigen Minuten in der eisigen Kälte wieder. Es schneite nicht mehr. Die Wölfe und Affen teilten sich in zwei Gruppen – einmal die Heimkehrer und einmal die Bleibenden.

„Passt auf euch auf.“ Annas Hand fuhr über Tristans braunes, wildes Haar und der Junge nickte emotionslos. Marlo schnüffelte an Annas Hand, die dann auch seinen Kopf streichelte. Sie waren ihr fast schon über den Kopf gewachsen. „Wenn etwas ist, sagt Shiro Bescheid.“

„Sie werden es schon schaffen. Auch wenn sie dumm sind.“ brummte Shiro und lief an Anna vorbei zum Wagen.

„Ich glaube, er ist wieder eifersüchtig.“ grinste Akira, der nun ebenfalls bei Anna stehen blieb. Die Schritte der jungen Wölfe knarzten und knirschten im Schnee, als sie wieder ins Haus gingen.

„Ja, er schmollt.“ lachte die Blondine. Shiro fand es nie gut, wenn jemand anderes mehr Aufmerksamkeit von Anna bekam, als er.

„Das hast du gut gemacht.“ lächelte Akira und fuhr mit seiner Hand über Annas Kopf.

„Ich hatte das Gefühl, es lief ein bisschen zu einfach.“ erwiderte das Mädchen nachdenklich.

„Ich hab's gespürt. Du hast deine Macht ausgedrückt.“ grinste Akira nun und seine Hand glitt über die zarte Wange der Königin. Sie lächelte triumphierend. „Das Kleid steht dir gut. Sie hatten einen perfekten Blick auf deinen Rücken.“ Seine Augen waren auf Annas Oberkörper fixiert, während diese begann, sich die Haare in einen Zopf zu binden. Ihr Mantel war noch offen und erlaubte den Einblick auf ihr Dekolleté. Sie grinste.

„Das war der Sinn der Sache.“ erwiderte sie neunmalklug. Plötzlich wanderte Akiras Hand über ihr Schlüsselbein. Seine Finger tasteten den Knochen ab, glitten einige Millimeter hinab und blieben an der Opalhalskette hängen, ehe sie sich komplett zurück zogen.

„Du solltest deine Jacke zu machen, sonst wirst du wieder krank.“ Er vergrub seine Hände in seinen Jackentaschen.

„Zu Befehl.“ gab das Mädchen lächelnd zurück und knöpfte den Mantel zu.

Der 29. Oktober

Es klopfte. Der Raum war still. Man hörte nur das Prasseln des Regens am Fenster. Das veilchenblaue Zimmer wirkte fast dunkelblau in dem Schatten der Wolken. Anna starrte in den Spiegel und fuhr mit ihren Händen über ihr Haar. Sie wusste nicht, ob sie es hochstecken sollte oder nicht. So gefiel es ihr auf jeden Fall nicht. Es schien nicht angebracht. Erneut klopfte es, dann öffnete sich die Tür. Die Augen des Mädchen wanderten zu Akira, der die Tür hinter sich schloss und auf sie zuging. Er trug wieder seinen schwarzen Anzug.

„Wie geht’s Sho und Iori?“ fragte Anna nun und schaute wieder in den Spiegel. Ihr Mund war trocken, die Lippen spröde und ihre Haut blass. Sie fühlte sich nicht bereit. Sie sah nicht gut aus.

„Sie sind gerade in der Bibliothek. Anscheinend hat es Iori geschafft, dass Sho wieder mit ihm redet.“ Akira stellte sich hinter Anna und sie betrachtete sein Spiegelbild. Er lächelte nicht. Das weiße Hemd, dass er beim Besuch der Tengus getragen hatte, hatte er heute mit einem schwarzen getauscht. Er hob seine Hände und griff nach Annas Haaren, die sie begutachtete.

„Soll ich dir einen Zopf machen?“ fragte er ruhig und Anna nickte. Erneut füllte sich der Raum mit dem Geräusch des Regens. Anna sah im Spiegel zu, wie Akira mit seinen Fingern durch ihre Haare kämmte. Sie sah, wie die beiden im Spiegel beieinander standen. Akira überragte Anna mit einer Kopflänge. Er hatte breite Schultern, die sich senkten und wieder hoben, während er sich um ihre Frisur kümmerte. Er sah so erwachsen aus. Er trug das selbe Schwarz wie sie.

„Gefällt dir, was du siehst?“ grinste der Rotschopf leicht. Anna wand den Blick von ihm ab. Der Gedanke, dass sie gut zusammen passten, huschte durch ihren Kopf. Sie nickte.

„Du siehst auch gut aus.“ fügte der Junge hinzu und wickelte ihre Haare in einen Dutt. Als er fertig war, ließ er seine Hände auf Annas Schultern ruhen. Sie trug ein schwarzes, schlichtes Kleid, das eng anlag, schwarze Strümpfe und Schuhe. Akiras warme Finger glitten über die Haut an ihrem Nacken. Er beugte sich vor, küsste ihre Schulter und die feinen Linien, die darin verborgen waren. Ein angenehmes Prickeln lief in einer Gänsehaut über die Stellen, die seine Lippen berührten. Anna schloss die Augen und legte ihren Nacken intuitiv frei. Seine Hände fuhren ihre Arme hinunter, führten ihre Hände an ihren Körper und blieben auf ihrem Bauch liegen. Seine Lippen lösten sich von ihr und wanderten zu ihrem Ohr.

„Es ist okay, wenn du heute weinst.“ flüsterte er ihr leise zu. Annas Augen blieben verschlossen. Erneut nickte sie. „Du weißt, dass ich für dich da sein werde.“ Seine Worte waren wie Feuer auf ihren Wange, die er nun küsste. Sie öffnete wieder die Augen und blickte auf ihre Füße. Ihre Hände wurden mit Wärme gefüllt, als sie unter Akiras Fingern ruhten. Es war ihr schon vorher aufgefallen, doch nun, wo sie es länger betrachtete, fiel ihr auf, dass Akira wirklich große Hände hatte. Mit sanfter Führung begannen diese, an ihrem Körper zu drehen, damit Anna nicht mehr den Spiegel anblickte, sondern ihn. Er löste seinen Griff von ihr, legte seine Hände wieder auf ihre Wangen und zog das kleine Gesicht an sich heran. Annas Lippen fingen Feuer, als er sie berührte. Ihr Daumen fuhr über die trockene Haut, spreizte ihren Mund etwas, als er an ihrer Unterlippe hängen blieb. Anna wurde warm. Ihr Herz pochte aufgeregt gegen ihre Rippen. Heute wollte Akira sie nicht ärgern, das wusste die Königin sofort. Er beugte sich vor. Seine Zunge war sanft, als sie ihre Lippen befeuchtete. Er versiegelte ihren Mund mit einem Kuss. Wieder schmeckte er nach Pfefferminze. Wieder schloss Anna die Augen. Ihre Hände legten sich an seine Brust. Sie war warm und stark. Er brauchte sie nicht an sich zu ziehen – wie von automatisch lehnte sie sich an den großen, festen Körper. Akiras Hände wanderten. Eine legte sich in ihren Nacken, gaben dem Kopf Halt. Die andere ruhte über ihrem Po und drückten ihren Körper noch mehr zu ihm, als wolle er jeden Zentimeter von ihr an sich spüren. Es kribbelte in Annas Magen, als seine Hand über ihren Po fuhr. Sein Mund löste sich kurz für einige Millimeter, nur um erneut anzusetzen. Sie schmeckte seinen Atem. Sie schmeckte seine sanften Lippen. Die Hand, die ihren Nacken so fest hielt, glitt ihren Rücken hinab und fand ebenfalls seinen Weg auf Annas Gesäß. Plötzlich lösten sich ihre Füße vom Boden. Akira hob das Mädchen hoch, ging einige Schritte zurück und ließ sich auf dem Bett nieder, ehe er Anna auf seinem Schoß platzierte. Seine Küsse ließen kein Sprechen zu. Er hielt sie fest, drückte ihre Brust an seine, ehe er erneut seine Lippen in ihre versenkte. Seine Zunge streichelte über ihre Lippen, forderte ihre Zunge zum einen Tanz auf. Es dauerte nicht lang, bis Anna nach gab und sich den zärtlichen Bewegungen beugte. Hitze stieg in ihrem Gesicht auf. Sein Zeigefinger fuhr über ihren Hals, über ihr Dekolleté, spielte mit der Kette. Dann wanderten die Finger über den Rand des Kleides, öffneten die Knöpfe. Seine Hand tauchte unter den schwarzen Stoff und legte sich über ihr Herz, fühlte, wie es gegen ihre Brust sprang. Sie war angenehm kühl und schien den pochenden Muskel zu beruhigen. Seine Lippen lösten sich von ihren, nur um woanders weiter zu machen. Ihre Wange, ihr Ohrläppchen, ihren Hals. Anna konnte sich ein stummes Keuchen nicht verkneifen, als er sein Gesicht in ihrem Nacken vergrub und ihn mit Küssen überhäufte.

„Seid ihr fertig?“ murrte eine Stimme. Akira und Anna öffneten die Augen. Akiras Mund ruhte immer noch auf der zarten Haut seiner Königin, doch seine Augen erspähten Mirai, der im Türrahmen stand. Auch Anna sah zu ihm hin. Seit wann stand er da?

„Wir wollen gleich los.“ erklärte Mirai sich und drehte sich wieder um. „Anna sollte sich fertig machen.“

„Natürlich.“ seufzte Akira leise. Seine Hände fuhren unter die Achseln des Mädchens und hoben sie von seinem Schoß. „Wir warten draußen.“ Seine letzten Worten benetzten ihre Wange, die noch mal den leichten Druck seiner Lippen auf sich spürte. Dann schloss sich die Zimmertür wieder.

Mirai wartete vor der Tür auf Akira. Als er diese schloss, richtete er sich erst einmal seine Krawatte, die Anna irgendwie gelockert hatte und fing sich den musternden Blick des Affenkönigs ein. Ihm war heiß.

„Was?“ fragte Akira ahnungslos. Er erhielt keine Antwort. Mirai sah genervt aus.

„Schätze, es ist besser, wenn sie dich nimmt, anstatt Ren.“ knurrte er resigniert und durchaus unbefriedigt. Akira lächelte.

„Tut mir Leid.“ Er kratzte sich an seiner Wange.

„Tut's dir nicht.“ schnauzte Mirai genervt. „Du hast von Anfang an gesagt, dass sie nur dich wählen würde. Wieso?“ fügte er skeptisch hinzu.

„Geheimnis.“ grinste der Junge charmant. Bei dieser Antwort landete eine unsanfte Faust in seiner Seite, ehe Mirai Akira den Arm um die Schultern legte und ihn zu den Treppen führte.

„Heute ist kein guter Tag...“ seufzte der Blonde und starrte beim Runtergehen aus ein Fenster.

Es war der 29. Oktober, ein Samstag. Es hatte die ganze Nacht geregnet und schien auch den Tag über nicht aufhören zu wollen. Der Wind wehte nicht und konnte deshalb auch nicht die dunklen Gewitterwolken weiterschieben. Alles war grau und leblos, ertränkt durch den Regen. Die Bäume verloren Blätter und mit ihnen an Glanz, vor allem hier. Anna ging über den Friedhof. Der Boden war matschig und verewigte das Muster ihrer Schuhsohlen in sich.Viele Gräber standen hier, viele Menschen waren hier begraben, um die einst getrauert wurde. Doch nur einer von ihnen interessierte das Mädchen heute. Es war der Tag der Beerdigung ihrer Mutter.

An der Grabstätte angekommen empfingen sie schon viele Arme. Nachbarn, die sich um sie sorgten. Alte Freunde, die sich jahrelang nicht mehr bei ihrer Mutter gemeldet hatten. Arbeitskollegen und Geschäftspartner ihres Vaters, die Anna nicht wieder erkannte. Yuki und Kiki, sowie deren Eltern. Selbst Mikas Mutter war hier. Sie war blass und abgemagert, ihre Gedanken streiften umher und Anna hörte, wie sie sich Sorgen machte, bald ein leeres Grab für ihre Tochter reservieren zu müssen. Ein anderes, bekanntes Gesicht glänzte zwischen den Regenschirmen hervor. Inspektor Kobayashi hatte sich Zutritt zu diesem Abschied gewährt. Ihr Vater war nicht zu sehen.

Shiros lange Finger wickelten sich um Annas Hand, als er sie zum Grab führte. Er sah sie nicht an. Auch er war ein Teil des Kurosawa Haushalts gewesen und wie immer, wenn er traurig war, wollte er sich verstecken. Sein Gesicht war gesenkt, doch sah seine Mutter sofort, wie die Tränen von seinen Wangen fielen. Sie machten Halt. Ein großer Sarg mit schönem, hellen Holz war vor ihnen aufgebahrt worden. Weiße Rosen zierten ihn. Unter dem Regen schienen sie, als würden sie weinen.

„Wir haben uns heute hier versammelt…“ Ein Mann begann zu sprechen. Shiros Stirn lehnte auf Annas Schulter, sein Arm war fest an ihren geklammert. Zu ihrer Rechten stand Akira, der seine Hand um ihre Hüfte gelegt hatte und sie an sich zog. Obwohl es kalt war, spürte Anna die ausgehende Hitze von den beiden. Ihr Blick war auf den Sarg geheftet. Dort drin lag der Rest der Frau, die sie geboren hatte. Annas Lippen bebten. Sie machten merkwürdige Bewegungen, ihr Kinn wackelte auf und ab. Sie durfte nicht nach unten schauen, sonst würden die Tränen heraus kommen.

„Ich hab' gesagt: Es ist okay heute zu weinen.“ flüsterte Akira ihr sanft ins Ohr. Wie aufs Stichwort purzelten die Tränen Annas Wangen entlang. Liams beruhigende Hand fuhr über ihren Rücken. Sie machte Anna schwach. Ihr Rücken knickte an, ihr Kopf fiel fast auf ihre Brust, als sie sich unter ihren Tränen krümmte. Sie musste sich selbst fest halten, um nicht umzufallen. Ihre Hände verkrampften sich auf ihrer Brust. Sie versuchten gegen den Schmerz in ihrem Herzen zu drücken, doch half es nicht. Erinnerungen schwappten hoch. Jeden Sommer würde ihre Mutter für sie den Pool aufblasen, damit sie Erfrischung fand. Als sie sich geprügelt hatten, hatte sie Anna und Adam so lange angeschrien, bis die Kinder weinten und musste dann ihrer Umarmung nachgeben. Wenn Anna krank im Bett lag, würden sie und Adam sich abwechseln, um sich um Anna zu kümmern. Sie würde ihre berühmte Suppe machen, damit es ihrer Tochter bald besser gehen würde. Wenn Anna im Frühling aufwachte, hörte man bereits ihre Mutter im Garten arbeiten. Wenn sie von der Schule kam, war das Essen schon fertig. Oft backte sie kleine, süße Zaubereien, wenn Anna traurig war. Als Shiro in ihr Haus kam, musste sie mit ihm kämpfen, damit er baden gehen würde, und landete schließlich selbst in der Wanne. Dann wusch sie ihm mit Annas Shampoo, das sie immer für ihre Tochter aussuchte, die Haare. Himbeeren und Vanille. Doch der Geruch von frisch gemachten Abendessen würde nie wieder durchs Haus ziehen. Die Geräusche vom Harken der Erde würden nie wieder an Annas Fenster dringen. Es würde keine kleine, süßen Zaubereien mehr geben. Es würde kein geflutetes Badezimmer mehr geben. Keine aufregenden Rufe mehr, wenn der Nachrichtensprecher etwas unfassbares erzählte. Es würde keine Gute-Nacht Geschichten mehr geben. Keine Lektionen aus Büchern. Keine Hilfe mehr bei ihren Hausaufgaben. Es würden keine nächtlichen Gespräche mehr folgen. Es würde kein Geschrei, keine Tadelungen, keine Umarmungen mehr geben. Anna würde nie wieder spüren, wie sie an die Brust ihrer Mutter gedrückt werden würde. Sie würde sie niemals wieder weinen sehen. Niemals wieder lächeln. Das Mädchen würde nie wieder hören, wie sie sagte „Ich hab' dich lieb“ oder „Pass auf dich auf“. Sie würde nie wieder Küsse ihrer Mutter bekommen. Sie würde nicht sehen, wie ihre Mutter vor Freude platzte, wenn sie mal heiraten würde. Sie würde nie ihre Enkelkinder sehen. Sie würde nie sehen, wie Anna aufwuchs, die Schule abschloss. Sie würden sich nie wieder streiten. Und sie würden sich nie wieder sehen.

Anna musste das laute Schluchzen unterdrücken, um nicht die Rede des Pfarrers zu unterbrechen. Liams Hand fuhr weiterhin über ihren Rücken. Mirais legte sich auf ihren Kopf. Leise Stimmen von Klagen und Weinen erhoben sich langsam unter den Gästen. Sie starrten Anna an und wurden mitgerissen. Sie weinten auch. Man hörte, wie sie begannen, die Nasen hoch zu ziehen oder laut nach Luft schnappten. Der Regen trommelte mitleidlos auf den Sarg. Die Stimme des Mannes verstummte, er war fertig. Menschen begannen, Blumen auf den Sarg zu legen. Sie verharrten kurz, einige fuhren mit ihrer Hand über das Holz, aber alle wandten sich letztendlich ab um zu gehen.

Anna wusste nicht, wie lange sie da stand. Doch irgendwann hielt auch Shiro ihr eine Rose entgegen. Er weinte nicht mehr. Er sagte ihr, es sei Zeit, Abschied zu nehmen. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Erstickt von den Tränen rang sie nach Luft. Shiro löste sich von ihrer Seite und legte seine Rose auf dem Sarg ab. Ren und Liam taten es ihm gleich. Dann gingen sie. Mirai nahm Shiros Platz ein und legte einen Arm um die kleine, zitternde Schulter. Er drückte sie, dann legte auch er eine Blume auf dem Holz ab und verließ den Friedhof. Nun standen Akira und Anna alleine da. Eine weiße Rose drehte sich zwischen seinen Fingern, während Anna sich die Tränen aus dem Gesicht wischte.

„Akira… Du hast mir etwas versprochen.“ flüsterte das Mädchen nun erstickt. Die Hand um ihre Hüfte zog etwas fester an ihr. Der Junge nickte.

„Bis dieses Versprechen eingelöst ist… Bis ich denjenigen, der das getan hat, gefunden und ihm seine gerechte Strafe zugeteilt habe… Bis dahin werde ich keine Blume auf dieses Grab legen.“

Sie löste sich von dem Mann an ihrer Seite und ging auf den Sarg zu. Ihre Hand berührte das kalte, nasse und harte Holz, streichelte es kurz. Keine Blume würde mit diesem Tod abschließen können. Keine Worte. Nicht so lange, bis Eve dafür bezahlt hatte, was sie ihr angetan hat. Nicht bevor Eve nicht genau diesen Schmerz in ihrem Herzen fühlen würde. Nicht bevor Anna sah, wie das Leben aus ihren Augen wich.

„Ich schwör's dir, Mama. Bis dahin werde ich mich nicht von dir verabschieden.“ flüsterte sie unter den Tränen. Die letzte Rose legte sich, als Akira neben Anna trat und nach ihrer Hand griff.

„Lass uns nach Hause gehen.“

Anna zog die Nase hoch. Das Bad hatte ihr gut getan. Tatsächlich war die Badewanne in Rens Villa so groß, dass sie dreimal rein gepasst hätte. Seufzend erhob sich das Mädchen aus der Wanne und ließ das Wasser ab, ehe sie sich dem Spiegel zudrehte. Es war die Art von Spiegel, die einem den kompletten Blick auf seinen eigenen Körper ermöglichten. Ihre Haut war gerötet von der Hitze. Anna drehte dem Spiegel den Rücken zu und musterte ihren Rücken. Dort, unterhalb ihrer Schultern, war ein schwarzer Kreis. Er hatte zackige Auswucherungen, war nicht größer als ihre eigene Hand. Es erinnerte Anna an eine Sonne oder ein Zahnrad. Von ihm aus gingen feine Linien in Schnörkeln über ihren Rücken. Hier und da endeten sie und formten abstrakte Gestalten und dicke Balken. Einige wanderten ihren Rücken hinauf bis zu den Schulterblättern und verloren sich. Wenige schafften es über den Nacken auf ihre Schlüsselbeine und die Arme hinunter, wo sie immer noch Pfeile formten, die ins Nichts zeigten.

Anna griff sich eins der warmen Frotteehandtücher und begann sich abzutrocknen. Ihre Augen waren immer noch gerötet. Sie taten selbst bei der Berührung mit dem weichen Stoff weh. Erschöpft ließ sie das Handtuch fallen und griff sich die frische Wäsche. Die Nacht war herein gebrochen und der Mond beschien das Bad durch die milchigen Fenster. Es war kalt draußen.

Müden Schrittes ging das Mädchen aus dem Bad heraus, als sie sich angezogen hatte, und trabte über den Flur. Man konnte laute Stimmen aus einem der Wohnzimmer vernehmen. Die Jungs hatten sich zusammen gesetzt und fingen an zu trinken. Anna legte ihre Sachen in ihrem Zimmer ab und ging nun ebenfalls zu der trinkwütigen Meute. Von weitem hörte man schon ihr Gespräch.

„Wie weit wärst du gegangen?“ Es war Mirai. Er klang, als hätte er Spaß.

„Das geht dich nichts an.“ fauchte Akira. Eine ungewohnte Unruhe lag in seiner Stimme. Anna betrat den Raum und ließ sich neben Shiro aufs Sofa fallen. Irgendwie erinnerte sie die Einrichtung hier an den Raum vom Schülerrat – ein rechteckiger Tisch, aus dunklem polierten Holz, formte die Mitte des Raumes. Um ihm herum standen Sessel und zwei sich gegenüber stehenden Sofas mit rotem Lederbezug. An der Decke hingen Lampen aus feinem Glas, die eine angenehmen Atmosphäre schafften. Im Kamin brannte ein Feuer.

Als Shiro seinen Arm um das Mädchen legte, setzte dieses ihren Kopf auf seiner Schulter ab.

„Hat das Bad geholfen?“ fragte Akira lächelnd nach und Anna nickte. Gewicht fiel zu ihrer Seite aufs Sofa, als Sho sich neben ihr fallen ließ. Seine Hände wanderten auf Annas Schoß und er lehnte sich bei ihr an. Shiro schnaufte genervt auf, doch seine Mutter legte trotzdem einen Arm um den Fünfjährigen. Selbst Iori war hier. Er saß etwas von der Gruppe entfernt und beobachtete die Situation. Immer noch fühlte Anna, wie sein Herz Schuld ausstrahlte.

„Die Frage ist, was wir jetzt machen.“ seufzte Mirai und goss sich etwas Whiskey nach. „Wir haben die Tengus jetzt auf unserer Seite, doch irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass das reicht.“ Ren nickte.

„Haben wir noch andere Leute, die uns helfen könnten?“ überlegte Mirai dann laut und musterte den Drachengott.

„Ich kann finanzielle Unterstützung anbieten, mehr aber auch nicht.“ erwiderte Ren sofort und führte sein Weinglas an die Lippen. „Was Liam und Toki angeht, glaube ich nicht, dass wir viel auf sie bauen können.“ fügte er mit einem arroganten Lächeln hinzu.

„Ich werde auf Anna aufpassen.“ murrte Liam daraufhin und wandte sich genervt von Ren ab. Dieser grinste – was ziemlich ungewöhnlich war. Bei seinem Anblick musste Anna lächeln.

„Was ist denn mit deiner Familie, Akira?“ wollte Mirai nun wissen und handelte sich einen strafenden Blick vom Rotschopf ein.

„Was soll schon sein. Wäre mein Vater klar genug im Kopf, um zu denken, würde er erst mal die Scheiße gerade biegen, die er selbtst verzapft hat.“ fauchte er genervt und trank etwas von der dunkelbraunen Flüssigkeit, die sich in seinem Glas befand. Rum-Cola? Anna musterte ihn neugierig. Das war das erste Mal, dass sie etwas von seiner Familie hörte. Akira entging das nicht – er erwiderte ihren Blick mit einer Art, die ihr bedeuten sollte, dass sie das nichts anginge.

„Wir könnten die Dämonen fragen...“ murmelte Ren nachdenklich, doch mit einem „Pah“ von Akira wurde auch dieser Vorschlag abgewiesen.

„Ich hätte noch jemanden, aber ich hab lange nichts von ihr gehört...“ überlegte Mirai laut.

„Wieso versuchst du nicht, mit ihr in Kontakt zu treten?“ wollte Liam nun wissen. „Sie würde eine große Unterstützung sein.“

„Mal sehen. Wie gesagt, hab lange nichts von ihr gehört.“ wiederholte sich der Affenkönig.

„Was ist mit dir Liam? Irgendwen im Auge?“ fragte Akira nun, doch Liam schüttelte den Kopf. Er hatte nie einen anderen Waldgott kennen gelernt und die Feen und Nymphen waren zu weit weg, um her zu kommen.

„Ich könnte eventuell meine Brüder fragen...“ murmelte Akira schließlich und Mirai grinste.

„Na also.“

„Doch sie sind jung und dumm. Glaube nicht, dass sie viel ausrichten könnten.“ fügte Akira schnell hinzu.

„Ich glaube auch nicht, dass die Tengus viel helfen können. Sie wären nur Kanonenfutter.“ sagte Sho dann laut. Er stand auf und krabbelte auf Annas Schoß, um seinen Hinterkopf in ihre Brust zu legen. „Sie sind geschwächt. Das einzige, was sie noch tun können, ist Fliegen. Die Zeiten, wo sie den Wind und die Blitze beherrschten, sind längst vorbei. Würden sie das Blut einer Königin erhalten, könnte sich das vielleicht ändern, aber...“ Seine Augen wanderten von den Gesprächsteilnehmern weg und er brach ab. Doch Anna hörte, was er dachte. Er wollte einfach nicht, dass Anna für sie blutete.

„Du bist ganz schön kaltherzig für dein Alter.“ stellte Mirai argwöhnisch fest. Akira nickte.

„Du bist zu erwachsen.“ befürwortete er die vorangegangene Aussage. Sho zog eine Schnute.

„Er hat Recht. Die Tengus können nicht viel helfen.“ sagte Ren nun und stand auf. Er griff nach einem Glas aus dem Sekretär und füllte ihn mit einem roten, dickflüssigen Alkohol.

„Was ist mit Kai und den Vampiren?“ fragte Mirai als nächstes und sah zu, wie Ren Anna das Glas reichte. Das Mädchen roch daran und atmete den lieblichen Duft von Beeren ein.

„Kai...“ murmelte Liam nun und seufzte. „Wir haben immer noch keine Spur von ihm. Ohne ihn können wir auch nicht mit den Vampiren verhandeln.“

„Kai ist bei Eve.“ Das lockere Gespräch wurde von diesen Worten erschlagen. Iori, der sie ausgesprochen hatte, zog sämtliche Blicke auf sich. Selbst Anna starrte ihn an und setzte sich auf.

„Wie meinst du das?“ fragte Akira sofort und drehte sich auf dem Sofa um, um Iori anzusehen. Der Blick des Tengus, der aus dem Fenster gerichtet war, fiel nun auf Akira.

„Sie hat ihn.“

„Du meinst er lebt noch?“ fragte Mirai verblüfft und Iori nickte.

„Wahrscheinlich.“ murmelte er.

„Iori… Ich wollte dich sowieso schon längst mal fragen, was du alles weißt.“ Anna stellte ihr Glas auf dem Tisch ab und musterte es. Sie hatte seine Gedanken gelesen, doch die meisten Dinge von Eve und ihren Taten waren ihr verborgen geblieben. Es musste ein Trick gewesen sein, den sie angewandt hatte, um andere davon abzuhalten, ihre Geheimnisse heraus zu finden. Iori schluckte. Es wäre längst an der Zeit gewesen, Informationen preis zu geben, doch hatte er sie aus Angst zurück gehalten.

„Sie… hat ihn vor einigen Monaten aufgesucht. Ich glaube es war im Juli oder August, als sie ihn das erste mal angesprochen hat.“ fing er an. Man sah, wie ihm beim Erzählen unwohl wurde. „Sie wollte ihn auf ihrer Seite haben.“

„Und was hat dieser Bastard getan…?“ fauchte Mirai sofort.

„Er hat sie abgewiesen.“ Erneut trat Stille ein. Ioris Blick war auf Anna geheftet. Er war dabei gewesen, als Kai auf der Straße beteuert hatte, dass er keine Loyalität gegenüber Anna empfand. Doch wusste der Tengu nun, dass es eine Lüge gewesen war.

„Sie hat kurzerhand seine Gefolgsleute umgedreht und die Vampirfraktion auf ihre Seite gezogen.“ Anna schluckte. Ihre Oberschenkel bebten. Shos Hände griffen nach ihren Fingern und drückten sie.

„Die Vampire...“ flüsterte sie leise. Akira stand auf.

„Wo ist Kai jetzt?“ fragte er sofort, doch Iori zuckte nur mit den Achseln.

„Ich hab Eve fast einen Monat lang nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich weiß sie, dass ich sie verraten habe oder sie denkt, mir wäre etwas zugestoßen. So oder so hat sie ihn wahrscheinlich woanders untergebracht.“

Mit einem lauten Stampfen knallte Mirai sein Glas auf den Tisch. Der Gedanke, dass Kai sie betrogen hätte, fühlte sich wie ein schweres Gewicht auf seinem Herzen an. Er erinnerte sich an Akiras Worte von damals – Kai sei Hals über Kopf in Anna verliebt gewesen. Wie hätte er sie also jemals verraten können?

„Meint ihr… die Vampire haben Mama…?“ flüsterte Anna nun leise und drückte die sanften Hände des Jungens auf ihrem Schoß.

„Wahrscheinlich.“ gab Ren seufzend hinzu. „Es sind Bestien. Für Blut tun sie alles, vor allem wenn es Blut einer Königin ist.“

„Kai hatte erzählt, dass sie ungeduldig wurden...“ erinnerte sich die Blondine und schloss die Augen. Die Dunkelheit ihrer Lider katapultierten sie zurück in die Gespräche, in denen Kai zugegeben hatte, wie viel Spannung zwischen ihm und seinen Leuten war. Sie schluckte. Hätte sie es verhindern können? Hätte sie Kais Verschwinden und den Tod ihrer Mutter verhindern können?

„Übrigens… Adam hat sie auch.“ Kalter Schweiß brach auf Annas Körper aus. Ihr Herz setzte für eine Sekunde aus. Sho griff sich japsend an seine Brust. Er rang nach Luft. Eine Berührung ihrer Schulter ließ Anna wieder atmen. Shiros Hand berührte sie, sagte ihr, sie solle sich beruhigen.

„Wo ist Adam...“ keuchte Anna nun. Sie traute sich nicht, Iori anzusehen. Jeder Blick von ihm könnte einer sein, der Mitleid ausdrückte. Es könnte ein Blick sein, der Anna verriet, dass Adam bereits tot war.

„Ich weiß es nicht. Er ist bei seinen Leuten.“ murmelte Iori und unterschwellige Angst brachte seine Stimme zum Zittern. „Wir haben seit den Sommerferien keinen Kontakt mehr zu ihnen.“

Bevor Anna aufspringen konnte, stand bereits Akira vor ihr und drückte sie zurück ins Sofa. Er war so unglaublich stark, egal wie sehr sie versuchte, sich gegen ihn aufzubäumen, er schaffte es Anna im Sofa zu behalten. Während er sie fest hielt drehte er sich wieder Iori zu, der nun stocksteif in seinem Stuhl saß und Anna anstarrte.

„Was meinst du mit 'seit den Sommerferien'?“ fauchte der Rotschopf. Ren und Liam waren aufgestanden und gingen zu Iori hinüber, welcher sich in kompletter Ehrfurcht wieder zusammen kauerte.

„Eve war bei den Schattenmenschen und hat nach Adam gefragt. Sie wollte, dass er ihr Shiki wird.“

Geh. Geh. Geh. Geh. Keine Zeit. Keine Zeit. Keine Zeit. Keine Zeit. Keine Zeit. Die Worte hallten in Annas Kopf wieder, als würden sie ausbrechen wollen. Die Schatten ihrer Gedanken suchten sie heim. Alles vor Annas Augen wurde schwarz. Ihre Hände griffen nach ihrem Kopf, sie vergrub ihre Finger in ihren Haaren. War es das gewesen? War der Grund dafür, dass sie fliehen musste, Eve gewesen?

„Was… Was ist dann passiert?“ fragte Anna angsterfüllt. Sie durfte die Beherrschung nicht verlieren. Sie durfte ihrer Panik nicht nach geben.

„Als sie erfahren hat, dass du weggerannt bist, ist sie wütend geworden. Sie hat die Schattenmenschen angewiesen, Adam einzufangen und ...“ er brach ab.

„Wie? Was hatte Eve mit Anna vor?“ fragte Mirai sofort.

„Sie wollte Anna da schon beseitigen.“ gab Iori leise zu und hob schützend seine Hände über seinen Kopf. Schweigen trat ein. Annas Hände zitterten. Dröhnende Stille rauschte durch ihren Körper, lähmte sie. Sho stieg von ihrem Schoß herunter. Er hatte Angst. Akiras Finger bohrten sich in ihr Fleisch, wollte sie immer noch zurück halten.

„Sie haben Adam dann versteckt. Seitdem hab' ich nichts mehr von ihm gehört.“

„Das reicht.“ heischte Ren und schlug mit seiner Faust auf den Tisch. Gläser erzitterten. Shiro seufzte, stand auf und hielt Anna eine Hand hin. „Lass uns schlafen gehen.“ murmelte er seiner Mutter zu. Akiras Hände lockerten sich, ließen Anna jedoch nicht los.

„Shiro, ist es okay, wenn ich sie ins Bett bringe?“ flüsterte er leise, damit die anderen ihn nicht hören konnten. Der junge Mann betrachtete Akira eingehend.

„Wenn du ihr etwas antust, fresse ich dich heute Nacht.“ brummte die Stimme leise und Shiro ließ sich wieder aufs Sofa fallen. Nach diesem Satz würde Akira ganz bestimmt nichts versuchen. Er zog Anna an den Händen hoch und führte sie zur Zimmertür. Er konnte spüren, wie sich jede Zelle ihres Körpers dagegen sträubte, den Raum und das Gespräch zu verlassen. Doch ihr Bewusstsein war müde. Es war zu viel für einen Tag. Schließlich gab sie dem milden Druck nach und verließ mit Akira das Zimmer. Sho wurde von Shiro aufgehalten.
 

Mit einem Schwung zog Akira die Decke zur Seite, damit Anna sich hinlegen konnte, ehe er sie wieder zudeckte.

„Ich hab' mir noch nicht die Zähne geputzt...“ murmelte das Mädchen ungeduldig. Jede Ausrede war ihr recht, um zurück zu diesem Gespräch gehen zu können. Irgendwie hatte Akira sie beruhigt.

„Das ist nicht schlimm. Schlimmer wäre es, wenn du weiterhin dein Miasma im Raum versprühst.“ seufzte Akira und ließ sich ans Bettende fallen. Er starrte die Tür an. Sollte er gehen?

„Du hast dem Kleinen ganz schön Angst gemacht. Und ich glaube, der Fluch, der auf ihm lastet, hat sich auch bemerkbar gemacht. Geht's dir gut?“ Anna erinnerte sich an den kleinen Moment, wo ihr Herz ausgesetzt hatte. Sie nickte.

„Ich war nur geschockt, das ist alles...“ flüsterte sie sich zu. Akiras Hand glitt über den weichen Deckenbezug. Er lehnte sich etwas zurück.

„Ich denke, es ist gut. Wir haben endlich Spuren zu Kai und deinem Bruder. Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir sie finden.“ lächelte er. Anna nickte erneut. Akira hatte Recht. Jetzt hatten sie Ansätze, wo sie mit der Suche beginnen könnten. Dennoch…

„Adam wird schwächer.“ gab Anna zu. Ihr Herz tat weh, als sie ihre Worte hörte. Akira musterte das Mädchen. „Manchmal, wenn ich schlafe und träume...“ fuhr Anna fort, doch es war schwer, das Gefühl in Worte zu fassen. „Ich habe das Gefühl, dass er jeden Tag ein bisschen stirbt.“

Ein erschreckender Gedanke fuhr durch ihre Sinne. Wann würde der Tag kommen, an dem sie Adam beerdigen musste? Das Gewicht auf dem Bett löste sich. Akira wanderte an der Seite entlang und beugte sich zu Anna. Seine Hand tätschelte ihren Kopf.

„Bevor das passiert, finden wir ihn.“ Ein Lächeln lag auf seinen Lippen. Erleichterung machte sich in dem Mädchen breit. Wenn er das sagte, hatte er wahrscheinlich Recht. Finger fuhren durch Annas nasses Haar, kämmten sie liebevoll.

„Du wirst wieder krank, wenn du so rumläufst.“ murmelte er mit einem Lächeln. Dann setzte er sich wieder. Seine Finger verblieben in ihrem Haar, die andere Hand griff nach ihrer. Anna lehnte sich vor. Ein kurzer, süßer Kuss legte sich auf ihre Lippen. Er war noch erleichternder als die Worte, die Akira sprach. Annas Stirn fand Platz auf seiner Schulter und das Mädchen schloss die Augen. In aller Ruhe fuhr seine Hand weiterhin durch ihre Haare, während die andere ihre Schulter wärmte. Ab und zu fanden sich weitere Küsse auf ihrer Haut wieder. Mal auf der Wange, mal auf der Schulter, mal am Hals. Beim letzteren bekam Anna unweigerlich Gänsehaut und zuckte zusammen.

„Da ist es nicht gut.“ murmelte sie beschämt und hielt schützend eine Hand über ihren Nacken.

„Du bist eine schlechte Lügnerin.“ lachte Akira leise und zog ihre Hand wieder weg. Seine Zunge hinterließ warme Spuren an ihrem Schlüsselbein, wanderte langsam hoch zu ihrem Hals. Er küsste ihn. Sofort zog sich Annas Brust unter einem angenehmen, starken Druck zusammen. Gänsehaut erschauderte ihren Nacken. Er küsste ihren Hals erneut.

„Akira...“ flüsterte sie leise. Ihre Hände versuchten, ihn von sich wegzudrücken. Doch sie waren schwach, nicht mit ganzem Herzen bei der Sache. Die Hand, mit der sich der junge Mann abgestützt hatte, wanderte nun über Annas Schenkel zu ihrer Seite, um dort Platz auf der Matratze zu finden. Allein mit dieser kleinen Bewegung hatte die Königin das Gefühl, dass er sie komplett einnehmen würde. Er lehnte sich vor und ihr Körper gab unter seinem Gewicht nach. Der weiche Stoff des Kissens legte sich unter Annas Kopf. Ihr Hals streckte sich, als seine Lippen zu wandern begannen. Es war schwer geworden, zu atmen. Jeder Atemzug schien von Nervosität gefüllt zu sein und zu offensichtlich. Akiras Finger glitten über Annas Arm. Es kitzelte. Dann wanderten sie zu ihrem Schlüsselbein. Es hinterließ eine Gänsehaut. Schließlich fanden sie ihre Brust. Anna stockte der Atem. Seine Küsse hörten nicht auf. Seine Finger glitten über das weiche Fleisch, blieben zwischen den Brüsten liegen und fühlten den Herzschlag. Hitze breitete sich in Annas Brust aus. Akira setzte sich auf und sah das Gesicht der feuerroten Königin, dann musste er lächeln.

„Ich sag' doch, du bist eine schlechte Lügnerin.“ Seine Stimme war ruhig, leise, fast ein Flüstern. Es war gefährlich. Erneut lehnte er sich vor, um sie zu küssen. Ihre Lippen waren weich. Viel weicher als vorher am Tag. Sie schmeckten nach Beeren und Cassis. Er konnte spüren, wie ihre Haut unter seinen Fingerspitzen zu zittern begann. Jede seiner Berührungen erregten die kleinen Härchen, die sich auf ihrer Haut aufstellten. Sie hatte ihre Augen vor Scham geschlossen und lag da wie ein wehrloses Tier, das gleich gefressen werden würde. Wie weit würde sie ihn gehen lassen? Wie weit würde er gehen wollen? Sie merkte nicht, wie er sich auf ihren Schoß setzte, wie seine Beine neben ihren Platz fanden. Sie war zu sehr in den Berührungen vertieft. Ihre Hände waren auf seiner, die immer noch auf ihrer Brust lag, gefaltet. Langsam zog er sie weg und führte Annas Hand auf seine Schulter. Sie war süß, wenn sie so wehrlos war. Seine Hand glitt wieder zu ihrer Seite, kitzelte sie ein bisschen, als er mit seinen Fingern unter ihr Shirt glitt. Akira war sich nicht sicher, wer in diesem Moment aufgeregter war. Das Gefühl ihres Shirts, wie es langsam unter seiner Führung nach oben krabbelte, löste fast ein Erdbeben in seiner Brust aus. Ihre Hand lag auf seiner Schulter, dennoch traute sie sich nicht, ihn fest zu halten. Sie war zahm. Würde er sie weiter ansehen, würde er nicht aufhören können. Doch er mochte ihren Geschmack und das Gefühl, wie ihre Haut unter seinen Fingern zu schmelzen drohte. Seufzend versenkte er seinen Mund in ihrem Nacken und leckte über die süße Haut. Sofort spürte er, wie Annas Muskeln sich anspannten. Liebevoll biss er in ihren Hals, saugte daran. Ihre Hand war von der Schulter auf seinen Arm gerutscht, langsam hielt sie sich an ihm fest. Akiras Hand ruhte nun nicht mehr über ihrem Herz, ohne Ziel wanderte sie Millimeter um Millimeter über ihre Brust. Sie trug einen BH. Dennoch fühlte er, wie ihr Nippel sich seiner Hand entgegen streckte. Ihm wurde warm. Es tat gut, an ihrem Hals zu saugen, tat gut, sie so zu berühren. Er wollte sie stöhnen hören. Er wollte sehen, wie sie sich unter seinen Bewegungen wand und seufzte. Ihr Herz schlug so stark, dass ihr Brustkorb im Takt mit hüpfte. Sein Arm fand sich neben ihr wieder, gab ihm Halt um sich auf der Matratze abzustützen. Langsam wurde es schwer, sich nicht komplett auf sie zu legen. Liebevoll führten ihn seine Lippen zu ihrem Ohrläppchen, küssten es zärtlich und ließen es nicht mehr los. Anna keuchte. Bei diesem Geräusch bekam Akira Gänsehaut und er musste unweigerlich stoppen.

Seufzend ließ er sich an ihre Seite fallen und holte tief Luft. Das war nicht gut. Es war nicht gut, wie sie aussah, wie sie roch, wie sie sich anhörte und schmeckte. Es war nicht gut, wie weich sie war. Sein Herz tobte. Ächzend zog er die Decke unter seinem Körper hervor und legte sich zu Anna. Sein Arm umfasste den Bauch des Mädchens und zog ihren Körper auf die Seite an seine Brust.

„Tut mir Leid.“ flüsterte er und schloss die Augen. Er musste sich beruhigen. Ihr Körper war heiß, dennoch zitterte er leicht. Ihm war heiß. Er bekam schwer Luft. Sein Herz tobte. Ihr Shampoo drang in seine Nase. Er schluckte.

Anna war ihm dankbar, dass er aufgehört hatte. Ihre Zehen kribbelten, ihre Beine, ihre Oberschenkel. Es fühlte sich an, als wäre seine Hand immer noch auf ihrer Brustwarze. Sie konnte das Gefühl nicht vergessen. Ihre Hände lagen auf Akiras Brust. Sein Herz schlug genau so schnell wie ihres. Erleichterung machte sich in Anna breit. Es war nicht nur einseitige Aufregung. Sie schloss die Augen bei dem sanften Druck, den seine Lippen auf ihrem Kopf hinterließen. Seine Hände widmeten sich erneut ihren Haaren. Dann schwiegen sie. Dieses Gefühl in ihrer Brust, das, was so schmerzhaft gegen ihre Rippen drückte, ihr das Atmen schwer machte und ihren Kopf nebelig machte, was war das? War das Liebe? Bei dem Gedanken bekam Anna Angst. Sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Ob sie überhaupt etwas sagen sollte. Akiras Duft stieg in ihre Nase. Er war angenehm und ungewohnt männlich. Ab wann machte man eine Unterscheidung zwischen „Freund“ und „Mann“ ?

„Du sahst echt süß aus. So unschuldig.“ flüsterte Akira plötzlich mit einem Grinsen und Anna wurde schlagartig aus ihren Gedanken gerissen. Ohne groß nachzudenken versenkte sie ihre Faust in seiner Schulter und er musste unter einem Husten auflachen. „Findest du es schlecht, wenn ich dich süß finde?“ fragte er mit einem Lächeln. Anna hob ihr Gesicht an, das in seinem Arm lag, doch konnte sie seine Augen unter seinen Haaren nicht sehen, nur sein Kinn und sein Lächeln. Sie hob ihr Kinn noch mehr an und küsste vorsichtig das Gesicht über ihr. Bei ihrer Berührung neigte sich sein Kopf zu ihrem. Als würde er ihr antworten, küsste er ihre Lippen ein letztes Mal für diese Nacht.

Zweiter Abschied

Irgendetwas war faul. Inspektor Kobayashi lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und zog genervt an seiner Zigarette. Die Jalousien seines Büros waren herunter gelassen, draußen tobte ein Unwetter. Der Wind klatschte den Regen an sein Fenster, als wollte er in das Büro einbrechen. Mit aller Kraft hielten die Glasscheiben dagegen und knarzten gelegentlich unter dem Druck. Herr Kobayashi war der letzte der Menschen gewesen, die jetzt noch arbeiteten. Es war schon normal für den Inspektor geworden, als letzter das Büro zu verlassen. Zuhause wartete niemand auf ihn – Seine Frau und seine Tochter hatten ihn verlassen. Er würde seine Tochter ab und zu sehen und sie würde schon wieder gewachsen sein. Sie war kurz davor, die High School zu besuchen. Ihre Mutter hatte bereits einen neuen Mann gefunden. Bei diesen Gedanken widmete sich Kobayashi seufzend seinen Notizen. Heute war die Beerdigung von Misaki Kurosawa gewesen. Die Tochter der Verstorbenen war 16 Jahre alt und hatte bereits einige Vermerke in ihrer Akte. Gewalttätigkeit, Gangverbindungen … Dennoch wurde sie nie verurteilt, geschweige denn angeklagt. Sie war auch ungewöhnlich jung für ihre Straftaten, weshalb man es wahrscheinlich nur als „Zankerei zwischen Kindern“ abgestempelt hatte. Die Lungen des Inspektors füllten sich mit rauem Nikotin, ehe er es wieder ausatmete und seine Nasenflügel bebten. Der Ex-Mann der Verstorbenen führte ein erfolgreiches, internationales Unternehmen, verließ Frau und Kind jedoch, als Anna gerade 3 Jahre alt war. Trotz der Trennung bezahlte der Mann weiterhin den Unterhalt und die Lebenserhaltungskosten, sowie Taschengeld und eine stattliche Summe zu jedem Geburtstag seiner Tochter. War es vielleicht der Fall, dass ihm die Frau egal war und nur die Tochter ihn kümmerte? War er deshalb nicht zur Beerdigung gekommen? Aber wenn er sich wirklich um sein Kind sorgte, würde er sich wenigstens ab und zu mal blicken lassen… Zumindest würde Kobayashi es so tun. Auch, wenn er nicht einverstanden mit der Art war, wie seine Ex ihr gemeinsames Kind erzog, würde er dennoch zu ihrer Beerdigung kommen. Doch nichts. Kein Kontakt, kein Anruf, kein Treffen innerhalb der letzten fünf bis zehn Jahre.

Der Inspektor griff sich genervt ins Gesicht und rieb seine müden Augenlider. Der Rauch hing in dichten Schwaden in dem kleinen Büro und vernebelte seine Sinne. Er ließ das Notizbuch aus seinen Händen auf den voll gestellten und unordentlichen Schreibtisch fallen, legte sich die Hände in den Nacken und drehte in seinem Stuhl hin und her, während er die Decke anstarrte.

Das Mädchen war komplett aufgelöst gewesen, als er sie das erste Mal gesehen hatte. An diesem Tag hatte man neben der Leiche einen merkwürdigen Fleck gefunden, als hätte man eine Wanne mit Wasser neben ihr ausgekippt. Dennoch war an der Leiche selbst kein Wasser zu finden. Vielleicht hatte Anna aus dem Schock ihre Blase nicht mehr halten können? Allerdings ergab die chemische Untersuchung des Flecks, dass es nur Salzwasser war. Man fand keinerlei menschliche DNA in den Spuren, welche man normalerweise finden müsste, wenn man Urin oder Schweiß untersuchte. Außerdem schien Frau Kurosawa bereits am Samstagmittag getötet worden zu sein und ihre Leiche war komplett ausgetrocknet, als hätte man ihm jegliche Flüssigkeit entzogen. Tatsächlich war es erschreckend, wie man ihren Körper zerfetzt hatte. In den zwanzig Jahren, die Kobayashi nun bereits bei der Polizei war, hatte er noch nie so eine stark verstümmelte Leiche gesehen. Seine Kollegen vom Rettungsdienst sind bei dem Anblick fast umgekippt und die Neulinge von der Polizeiakademie versuchten, sich nicht an Ort und Stelle zu übergeben. Wieso hatte man Frau Kurosawa das Herz heraus gerissen? Anhand der Faserreste im umliegenden Gebiet der Wunde konnte man feststellen, dass die Frau noch gelebt hatte, als es geschah. Man hatte ihr beim lebendigen Leibe den Brustkorb geöffnet. Man hat keinerlei Spuren von Waffen oder Werkzeug an den Rippen gefunden, womit man sie vielleicht hätte aufzwingen können. Ein dunkler Gedanke ließ Kobayashi erschaudern: Was, wenn diese Tat mit bloßer Hand verübt worden war? Das Brustbein, der Brustkörper und der Brustfortsatz waren an merkwürdigen Stellen gebrochen worden, als hätte man nicht diese zuerst entfernt, sondern einfach nur die Rippen auseinander gezogen. Aber Kobayashi erwartete auch keine professionellen, medizinischen Kenntnisse bei dem Täter.

Beim zweiten Mal, als er Anna sah, hatte sie aus ihrem Rücken geblutet und schien nicht ansprechbar zu sein. Tatsächlich hatte Inspektor Kobayashi die Alibis aller Anwesenden überprüfen lassen und tatsächlich sah man auf den Videoaufzeichnungen der Bahngesellschaft, wie die drei Jugendlichen vor einigen Wochen über die Bahnhöfe gehastet waren, um die Anschlusszüge rechtzeitig erreichen zu können. Dennoch: Die Aussagen von Ren Ou haben geklungen, als hätte man sie vorbereitet und auswendig gelernt. Irgendwie hatte Kobayashi auch nicht das Gefühl gehabt, Anna hätte wirklich geschlafen. Und überhaupt: Wieso ließ sie sich einfach so von fremden Jungs anfassen? Immerhin hat der eine große ihr den nackten Rücken abgewischt. Vielleicht war es ihr nicht bewusst, aber das waren alle Männer, die ihre Triebe ausleben wollten, oder? Oder es war ihr bewusst und sie genoss die Aufmerksamkeit von so vielen Kerlen? Was ihm auch noch Sorge bereitete war der weißhaarige Junge gewesen, der am Fenster gesessen und zugehört hatte. Er schien nicht mal ansatzweise zu versuchen, sich in das Gespräch einzumischen. Er saß da und seine blauen Augen musterten den Inspektor eindringlich. Im Nachhinein fiel Kobayashi auch noch auf, dass viele der Anwesenden wahrscheinlich Ausländer gewesen waren. Viele hatten ungewöhnliche Haar- und Augenfarben. Der Blonde sah aus wie ein Yakuza, er war groß, durchtrainiert und hatte sich seine Haare gefärbt. Der Rotschopf schien nicht so stark zu sein, dennoch hatte er kein gutes Gefühl bei ihm. Und der Riese, der das Mädchen betuddelte, war definitiv nicht von hier. Vielleicht also hatte ihr Vater weniger mit der Sache zu tun, als die fremdartigen Männer und deren Verbindungen zu irgendeinem Syndikat? Ein schräges Grinsen fiel auf Kobayashis Gesicht, als er daran dachte. Es waren nur Teenager. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in einem Syndikat waren, war relativ gering.

Beim dritten und letzten Mal, wo er Anna gesehen hatte, hatte sie sich zum ersten Mal wie eine Tochter verhalten. Sie weinte bitterlich und konnte ihre Verzweiflung und Trauer kaum noch unterdrücken. Erst da wurde ihm das erste Mal der Fakt bewusst, dass Anna vielleicht nichts mit dem Tod ihrer Mutter zu tun hatte. Ihr Vater hatte sehr viel offensichtlichere Verbindungen zu einem möglichen Mord: Die Beschwerden ehemaliger Mitarbeiter waren noch das geringere Übel. Es gingen Gerüchte um, dass ihr Vater im Waffengeschäft eingestiegen war, sogar Drähte zu der chinesischen Mafia hatte. Man munkelte, dass er sich langsam seine eigene Gangster-Stadt in China aufbaute. Falls er irgendjemandem dort auf den Fuß getreten ist, könnte es schnell zu solchen Ausschreitungen führen.

Doch das war nicht das einzige Problem, dass um das Mädchen herum auftrat. Drei Schüler wurden in den letzten Monaten als vermisst gemeldet: Ein Mädchen namens Mika, das jahrelang mit Anna befreundet gewesen war, wurde seit Juli vermisst. Kai, ein Transferschüler, Mitglied im Schülerrat, der anscheinend oft Kontakt mit Anna hatte, wurde seit August nicht mehr gesehen. Außerdem schien der Junge auch mit Ren, Mirai, Liam und Akira eng in Kontakt gestanden zu haben. Nun, kurz nach dem Tod von Frau Kurosawa, wurde ein weiterer Transferschüler und gleichzeitiger Klassenkamerad von Anna vermisst: Iori. Zu allen drei hatte Anna Kurosawa eine Verbindung. Nicht zu vergessen: ihr eigener Bruder. Seit Beginn der Sommerferien ist er bei der Schule als „krank gemeldet“ vermerkt, doch hat er es nicht einmal geschafft, zur Beerdigung seiner eigenen Mutter aufzutauchen. Tatsächlich haben nicht einmal die Nachbarn ihn gesehen. Auch er hatte sich komplett in Luft aufgelöst.

Es half nichts. Egal, wie sehr die Lage in die Richtung von Herrn Kurosawa deutete, bekam der Inspektor nicht das Bild aus dem Kopf, wie Anna in ihrem Bett gelegen und geblutet hatte. Und all die „Freunde“, die sich um sie sorgten – sie waren nicht normal. Das war wohl der sechste Sinn eines Polizisten. Dennoch musste er aufpassen, dass er seine Befugnisse nicht überschreiten würde. Als er sich Zutritt zu Ren Ous Haus verschafft hatte war das schon fast zu viel gewesen und hätte für eine Verwarnung von seinem Chef gereicht. Wenn er also weiterhin Anna im Auge behalten wollte, musste er es vorsichtig angehen und sich nicht dabei erwischen lassen.

In der Nacht vom 14. zum 15. parkte Kobayashi seinen Wagen in einer kleinen Gasse, die von der Hauptstraße abging und lief dann im eisigen Herbstwind über die menschenleere Straße. Es war jetzt die achte Nacht in Folge, dass er das Haus observieren würde. Immerhin war es nicht verboten, auf der Straße zu stehen und die Architektur einer europäischen Schönheit zu studieren. Doch die Nächte waren zum Großteil ziemlich ruhig gewesen. Ab und zu hatte Kobayashi den Eindruck bekommen, dass niemand in diesem Haus wohnte. Manchmal sah man die Gestalten der Männer an die Fenster treten und die Vorhänge zu ziehen. In den seltensten Fällen hatte er tatsächlich etwas interessantes gesehen: In den ersten drei Nächten sah man, wie drei Kinder sich dem Haus Zutritt verschafften. Es war spät in der Nacht gewesen, sicherlich keine richtige Uhrzeit für die drei, um durch die Gegend zu streifen. Nach einer Stunde verließen sie das Haus wieder, als hätten sie nur etwas abgeholt.

In einer Nacht, die genau so dunkel war, wie heute, hatte man ein Knurren gehört. Es war nicht das Knurren eines Chihuahas gewesen, es ähnelte mehr dem Zähnefletschen eines Wolfes. Bei der Erinnerung an das Geräusch erschauderte der Inspektor. Dann, es war die gestrige Nacht gewesen, sah man etwas, das sich ins Gehirn des Inspektors gebrannt hatte: Der Wind war relativ ruhig gewesen. In Annas Zimmer leuchtete eine kleine Lampe, die ein weißes, fahles Licht von sich gab und nicht viel von dem Raum beleuchtete. Im anderen Ende des Hauses hatten sich ein paar Leute versammelt und schienen angeregt über etwas zu diskutieren – immer wieder sah man, wie einer der jungen Männer aufstand und durchs Zimmer tigerte. Kobayashi hatte den Blick wieder zurück auf Annas Fenster geschwenkt und sah etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Eine Gestalt – weder die von Anna, noch die der Jungs – stand am Fenster. Der kleine Schreibtisch davor schien ihn nicht einmal zu stören – die Holzplatte ging durch ihn hindurch, als wäre er nichts als Rauch. Man konnte nichts erkennen. Die Silhouette war komplett in Schatten getaucht, als wäre er selbst einer. Als könnte es nicht besser kommen, hob der Fremde langsam seine Hand. Kobayashi kriegte das Gefühl nicht los, dass der Mann im Fenster ihn ansah und erkannte, dass der Inspektor ihn beobachtete. Die Hand, die er hob, begann zu schwenken. Der Schatten wunk ihm zu. Mit einem Schaudern spürte der Inspektor, wie er angegrinst wurde. Er blinzelte nur einmal mit den Augen und der Schatten war wieder verschwunden.

Heute spürte man wieder deutlich, dass der November da war. Die Bäume klammerten sich an ihre letzten Blätter und mussten sie irgendwann wegen der starken Böen los lassen. Der Mann zog den Kragen seines Trenchcoats höher ins Gesicht, um seine ohnehin trockene Haut von den Peitschenhieben des Novembers zu beschützen. Er war am Tor der Villa angekommen. Auf jedes Detail achtend suchte der Inspektor die Fenster nach Licht ab. Das eine Zimmer, das Anna gehörte, flackerte im fahlen, weißen Licht, als würde ein kleiner Mond im Fenster sitzen. Ihm war klar, dass es nicht der Mond sein konnte – immerhin ließen die Wolken keinen Funken Licht hindurch. Anna war also noch wach. Sein Blick wanderte weiter. Auch in anderen Zimmern brannte Licht. Ein Schatten lief durch den Garten und zog den Blick des Polizisten auf sich. Es war riesig. Selbst, wenn der Mond nicht schien, konnte man helles, glänzendes Fell erkennen. Der Hund überragte die Rosenhecken, sogar kleine Bäumchen. Nein, das war kein Hund. Das war die Quelle des Knurrens, das Kobayashi vor einigen Tagen gehört hatte. Wieso war so ein riesiger Wolf hier auf dem Anwesen? Sollte er Verstärkung rufen?

„Wer sind Sie?“ Eine junge Stimme erklang vor dem Mann und ließ ihn zusammen schrecken. Sofort richtete er seinen Blick auf die Mauer, die sich vor ihm auftürmte, und sah, wie ein kleiner Junge mit schwarzem Haar und wunderschönen, blauen Augen ihn musterte.

„Hey, Kleiner.“ grinste Kobayashi erleichtert. Es war nur ein Kind. „Ich bin von der Polizei. Kann ich mit deiner Mama oder deinem Papa reden?“ fragte er freundlich. Er konnte nicht gut mit Kindern.

„Mein Papa ist nicht hier und meine Mama ist tot.“ Die Kaltherzigkeit in diesen Worten wurde nur noch bestärkt durch diese ausdruckslose Miene, die der Junge trug. Kobayashi wusste nicht, wie er reagieren sollte, also behielt er das schiefe Grinsen auf seinem Gesicht. In absehbarer Ferne lauerte ein Wolf. Wieso war ein Kind hier? Kobayashi musste sich schnell etwas einfallen lassen, um das Kind wieder ins Haus zu kriegen.

„Dann vielleicht mit Ren Ou? Oder Anna?“ Beim letzten Namen zuckten die Augenbrauen des Jungens kurz zusammen und er zeigte eine Emotion: Argwohn. Er musterte den Polizisten eindringlich, schien abzuwägen, was er nun tun sollte. Plötzlich veränderte sich sein Gesicht. Wüsste Kobayashi es nicht besser, hätte er gesagt, es verlor an Menschlichkeit.

„Menschen sollten zu dieser Zeit nicht hier sein.“ hauchte die eisige Stimme des Fünfjährigen und er begann, vollends über die Mauer klettern zu wollen. Er wollte zu Kobayashi. Sofort spürte der Polizist, wie sein Körper ihm befahl, sich von dem Jungen zu entfernen. Doch etwas hielt den Kleinen im Kragen fest.

„Sho. Ich hab' dir gesagt, du sollst nicht nachts durch den Garten rennen.“ Es war die tiefste Stimme, die der Inspektor je in seinem Leben gehört hatte. Obwohl sie so leise war, drang der Bass bis an seine Brust und ließ seinen Brustkorb erbeben. Der Junge sprach wieder, erzählte von dem Inspektor. Kobayashi sollte schnell gehen.

„Inspektor?“ Ein hübsches, elegantes, männliches Gesicht zeigte sich durch die Eisenstäbe des Tores. Die blauen Augen fixierten den Mann, der gerade fliehen wollte. Der Junge schien älter zu sein, vielleicht um die 16 oder 17, und hatte schneeweißes Haar. Es war der Junge, der beim Besuch von Anna am Fenster gesessen und ihn beobachtet hatte.

„Oh, guten Abend. Ich wollte eigentlich mit Anna sprechen. Ist sie noch wach?“ lachte der Inspektor nervös, verängstigt die tiefe Stimme antworten zu hören.

„Anna schläft bereits. Sie muss sich morgen um die Angelegenheiten ihrer Mutter kümmern.“ Auch diesem Jungen entwich die Menschlichkeit, als Kobayashi Annas Namen ausgesprochen hatte.

„Das kann nicht sein. Ich habe gerade noch Licht in ihrem Fenster gesehen.“ erwiderte der Inspektor entrüstet. Kein Kind würde ihm zum Narren halten. Automatisch huschten seine Augen wieder über das Fenster, um sich erneut zu vergewissern, dass dort Licht brannte, doch nichts. Das Zimmer war in komplette Dunkelheit getaucht, als hätte nie je ein Licht in ihm gebrannt. Der Inspektor schluckte.

„Belästigen Sie Anna bitte nicht weiter.“ Die tiefe Stimme klang nicht mehr so gefährlich, wie vorher, sondern eher gelassen und erschöpft, als der junge Mann die Worte sprach.

„Auch wenn Sie ihn wahrscheinlich nicht befolgen werden, gebe ich Ihnen einen gut gemeinten Rat: Ermitteln Sie nicht weiter in diesem Fall. Sie werden es wahrscheinlich nicht überleben.“ Kobayashi hatte sich geirrt. Die Stimme war durch die Gelassenheit nicht weniger gefährlicher geworden, wohl eher mehr. Er bekam Gänsehaut, als er hörte, wie Shiro mit ihm sprach. Seine Art ließ keine Widerworte zu. Der Junge wandte sich ab und schulterte seinen kleinen Bruder.

„Was ist mit dem Wolf? Sie haben einen Wolf im Garten!“ erwiderte Kobayashi aufgebracht und verfluchte sich für den Ausbruch an Worten. Shiros kalten, blauen Augen musterten den Mann. Es erinnerte den Inspektor daran, wie er einfach nur da saß und zuschaute. Als würde er den geeigneten Zeitpunkt abwarten, Anlauf nehmen und …

„Hier gibt es keine Wölfe.“ haute der junge Mann raus und musste sich das höhnische Lächeln verkneifen. Dann ging er, mit dem kleinen, zappelnden Jungen auf seiner Schulter, zurück Richtung Haus. Als wäre er aus den Fängen eines wilden Tieres befreit worden, schaffte der Inspektor es endlich, sich vom Haus weg zu drehen. Zähneknirschend ging er wieder Richtung Auto. Er würde weiter ermitteln, komme, was wolle.

„Alles okay draußen?“ fragte Mirai und nahm Shiro den kleinen Tengu ab.

„Der Inspektor stand vor der Tür und hat rum geschnüffelt. Schon wieder.“ antwortete Sho für den Wolfsjungen.

„Anna hat dir doch gesagt, du sollst nachts nicht umher streifen.“ murrte Ren nun und faltete das Buch zusammen, das er gerade gelesen hatte. Alle waren im Wohnzimmer versammelt und waren in einem Gespräch vertieft, nur Anna lag bereits in ihrem Bett und versuchte zu schlafen. Sho zog erneut eine Schnute, als würde er schmollen. Seit Kobayashi hier das erste Mal vor dem Haus aufgetaucht war, hatte Shiro seine Fährte aufgenommen. Er behinderte die Nachforschungen, die die Anwohner dieses Hauses angestellt hatten.

Shiro hielt des nachts Wache und achtete darauf, dass keiner das Gelände betrat. Unter den Wolken des Herbst geschützt schaffte es nicht einmal mehr der Mond, das Anwesen zu sehen, was gut war – Immerhin hatte Eve einen Mondgott auf ihrer Seite. Während Tristan, Marlo und Rose, die wieder zu Besuch waren, nach Kai und Mika suchten, versuchte Ren seine Leute nach Japan zu bringen. Mirai hatte engen Kontakt mit Sasahira, die bei den Tengus war. Sie mussten auf Abruf bereit stehen, falls sie zum Kampf gerufen wurden. Wenn Liam gerade nicht mit den Aufgaben des Haushaltes beschäftigte, telefonierte er. Er rief alte Bekannte und Freunde an, die er in Skandinavien noch hatte. Sein kleines Arbeitszimmer war meistens gefüllt durch ein Murmeln von fremden Sprachen. Mirai saß ab und zu daneben, setzte sich dann zu seinem Stein und starrte in den Himmel, als würde er die Sonne suchen. Akira tat nichts. Er weigerte sich, seine Familie zu kontaktieren. Stattdessen widmete er fast seine ganze Aufmerksamkeit Anna. Diese versuchte, die Sachen in ihrem Haus in ihrem Kopf auszusortieren. Was weg sollte, was sie behalten wollte, was stehen bleiben wollte. Nichts wollte sie verkaufen oder weg schmeißen, andererseits wollte sie auch nichts von den Gegenständen wieder sehen. Sho und Iori redeten über Eves Handlungen und ihre Taktiken und wie diese zu bekämpfen waren.

„Wenn ich nicht bei Anna schlafen kann, ist mir langweilig.“ murmelte Sho plötzlich genervt und handelte sich sogleich eine Kopfnuss von Shiro ein. Unter Tränen begann der kleine Tengu zu fluchen und zu schreien.

„Dass du bei Anna schläfst, hat uns gerade noch gefehlt.“ zischte Shiro nun wütend und bäumte sich vor dem kleinen Jungen auf. „Wenn du einsam bist, schlaf' bei deinem Bruder.“

„Ich will nicht! Wieso darfst nur du bei ihr schlafen? Es ist nicht fair! Ich will nicht zu meinem Bruder!“ keifte der Junge aufgebracht. Iori knickte unter dem Gefühl seines gebrochenen Herzens zusammen, als er diese Bemerkung hörte. Shiro knirschte wütend mit den Zähnen. Auch er schlief in letzter Zeit nicht so oft bei Anna, wie er es gerne tun würde. Funkelnd starrte er Akira an, der sein Grinsen in einem der Bücher versteckte.

„Ich bin ihr Sohn, natürlich kann ich bei ihr schlafen.“ fauchte Shiro nun genervt und setzte sich neben Liam ins Sofa.

„Du hast einen Mutterkomplex!“ raunte Sho gehässig. Dann lief er auf Shiro zu, holte mit dem Bein aus und trat dem Wolfsjungen gegen das Knie. Sofort sprang Shiro wieder auf die Beine, doch Shos Füße wetzten bereits über den Boden Richtung Tür, als gäbe es kein Halten mehr. Die Kinder verschwanden aus dem Raum. Je öfter man die Streithähne bei dem Kampf um die Liebe ihrer Mutter beobachtete, desto älter fühlte sich der Rest der männlichen Belegschaft. Aber es war erstaunlich: Die einzige Zeit, in der Sho tatsächlich wütend wurde, war, wenn er mit Shiro zusammen war.

Seufzend und müde stand Akira auf, streckte sich und schmiss sein Buch aufs Sofa. Ren verfolgte seine Bewegungen.

„Wohin gehst du?“ fragte er argwöhnisch.

„Ich guck', ob Anna durch den Radau hier aufgewacht ist.“ erwiderte der Rotschopf gelassen.

„Ich wette, er will sie im Schlaf befummeln.“ murmelte Mirai nun und nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche.

Die Gänge waren still. Irgendwo weit entfernt in der Villa hörte man ein Jammern und ein rhythmisches Klatschen. Anscheinend versohlte Shiro dem kleinen Tengu gerade den Hintern. Er hatte es irgendwie verdient, fand Akira. Die Lichter waren fast alle ausgeschaltet, nur ein paar Lampen hingen noch gedimmt an den Wänden, um den Weg zu Annas Zimmer zu beleuchten. Mit jedem Schritt spürte Akira, wie Anna näher rückte.
 

Ein letztes Mal wollte er sie sehen. Er wollte sehen, wie es ihr ging. Ihr sagen, dass er sie liebte. Die Sonne quälte ihn. Jeden Tag würde er auf einem Kreuz in der Sonne liegen und darunter leiden. Jede Nacht würde er in ein Zimmer gesperrt werden, in dem die Schatten herrschten. Schatten, die ihm seiner Mächte beraubten und Nacht für Nacht schwächten. Langsam verlor er an Form. Zuerst war es nur wenig – sein Fettgewebe verschwand, seine Muskeln degenerierten. Dann spürte er, wie die ersten Knochen unter seinem Gewicht nach gaben und brachen. Dann begann seine Haut zu bröckeln. In Fetzen fiel sie zu Boden. Jeden Morgen würde er da sitzen und zusehen, wie sein Körper verfaulte, bevor eine Stimme ihn fragte: „Hast du deine Meinung geändert?“ und er würde wieder den Kopf schütteln und wieder auf dem Kreuz landen. Die Sonne zehrte an ihm – es war ein Ort, wo sie so prall auf den schrecklichen Rest seines Körpers schien, dass sie die Überbleibsel fast wegzubrennen schien. Wenn sie dann endlich weg war, würde man ihn ins Zimmer tragen und die Stunden in der Dunkelheit verbringen. Als würde das Zimmer sich von seinem Geist ernähren wachte er jeden Morgen auf und fand weniger von sich vor. „Hast du deine Meinung geändert?“ Und wieder schüttelte er den Kopf. Er würde nicht aufgeben. Nie im Leben würde er sie aufgeben. Jeder Morgen erinnerte ihn daran, wie er sie nicht aufgeben könnte. Und erneut würde er den Tag überstehen. Doch seine Extremitäten begannen zu faulen. Langsam blätterten sich seine Nägel von Zehen und Fingern. Dann folgte der Rest an Fleisch, den die Haut an den Knochen fest hielt. Seine Fingerknöchel zerbröselten wie alter Putz. Es ging langsam in die Arme und Beine über. Als er nichts weiter als ein Torso war, begannen die Schatten, ihn nachts durchs Zimmer zu rollen. Schlaf war nicht mehr möglich. „Hast du deine Meinung geändert?“ Und wieder schüttelte er den Kopf. Als nächstes folgten die Haare. Die Sicht wurde schwammig, unklar, als würde man durch eine nicht geputzte Sonnenbrille sehen. Seine Gedärme lösten sich auf. Sie hinterließen stinkende, schleimige Spuren, wenn er herum gerollt wurde. Doch dann verschwand auch der Geruch – mit seiner Nase. Mit seinen Lippen. Mit seinen Augen. Er war nicht mehr als ein schwarzer Ball, komplett degeneriert zu dem, was er einst war. „Hast du deine Meinung geändert?“ Er hatte keinen Kopf mehr, den er schütteln konnte. Er starrte in die Dunkelheit. Nein. Er würde sie immer noch nicht aufgeben. Danach dauerte es nicht mehr lange, bis sein Bewusstsein den Schatten völlig wich und die Existenz mit dem Namen „Adam“ starb.
 

Annas Augen waren geöffnet. Mit einem leisen „Klick“ fiel die Zimmertür ins Schloss. Das einzige, was diesem Raum Licht spendete, war die Blume am Fensterbrett. Sie ließ die violette Farbe des Raumes kalt und leblos wirken. Allmählich erblühte die Pflanze. Die äußeren Blätter hatten sich bereits ausgebreitet und gaben den Blick auf die letzte Schicht der kleinen Blüte frei, die immer noch eng verschlossen blieb. Jedes Mal, wenn Akira diese Blume sah, fragte er Anna, wie viel Energie sie noch von ihr abverlangte.

Leise Schritte näherten sich zum Bett. Als Akira sein Knie auf der Matratze bettete, um sich zu ihr zu legen, gab sie unter seinem Gewicht nach und zog Annas Körper leicht mit sich. Er führte auch das zweite Knie auf die Matratze und beugte sich über Anna. Diese bewegte sich nicht, anscheinend schlief sie. Seine Finger berührten das nasse, blonde Haar. Sie sollte sich echt die Haare föhnen, bevor sie ins Bett ging. Er führte eine Strähne an sein Gesicht und roch daran. Der Duft beruhigte ihn. Vorsichtig legte er sich hin und legte einen Arm um ihren Bauch, ehe er die Augen schloss.

Es war merkwürdig, wie ruhig und zufrieden man neben ihr schlafen konnte. Es war das dritte Mal, dass er in ihrem Bett lag und einfach nur schlief. Ihr ruhiges Atmen steckte an, automatisch fiel jede Last und Sorge von seinem Herzen. Die Außenwelt schien ausgeblendet zu werden. Man konnte einfach seine Augen schließen und wurde mit den sanften Bewegungen des sich hebenden und senkenden Brustkorb mit gerissen. Ihr schien es gut zu gehen, Shiro und Sho hatten sie nicht geweckt. Ein Teil von Akira bedauerte es. Seit der Beerdigung von Annas Mutter hatte sie ihn nicht noch einmal geküsst. Irgendwie tat es weh, aber gleichzeitig wollte Akira es dadurch nur noch mehr. Ihm fehlte der Geschmack ihrer Haut. Vorsichtig glitten seine Finger wieder unter ihr Shirt und streichelten über ihren Bauchnabel. Sie war so weich, dass es ihm fast weh tat.

„Anna...“ Er konnte nicht anders, als ihren Namen zu flüstern. Ein leiser Versuch, sie zu wecken.

„Ja?“ Die Antwort kam so unerwartet und leise, dass Akira für eine Sekunde dachte, er würde träumen. Vorsichtig hob er den Kopf an, um zu sehen, ob Anna schlief oder nicht. Diese wandte ihm langsam das Gesicht zu.

„Du schläfst noch nicht?“ fragte der Junge verblüfft und versuchte, seine Stimme gesenkt zu halten.

„Wärst du über mich hergefallen, wenn ich es getan hätte?“ fragte die Königin, ebenfalls ziemlich leise, als würde sie niemanden wecken wollen. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Akira musste lächeln. Vielleicht hätte er das getan. „Was machst du hier?“ wollte Anna nun wissen und legte ihre Wange wieder auf ihrem Arm ab.

„Ich wollte gucken, wie es dir geht. Shiro und Sho waren ziemlich laut.“ Ihr Nacken war ihm so nah, dass er einfach rein beißen könnte.

„Mir geht’s gut.“ erwiderte Anna und Stille trat ein. Akiras Finger ruhten immer noch bewegungslos auf ihrem Bauch.

„Kann ich dich anfassen?“. Er wollte sie nicht danach fragen, nicht um Erlaubnis bitten müssen und vor allem nicht wie ein Weichei rüber kommen. Das Mädchen nickte. Erleichtert ließ Akira sich wieder in die Matratze sinken und fuhr fort, ihren Bauchnabel mit seinen Fingerkuppen zu umrunden. Doch etwas stimmte nicht.

„Sicher, dass es dir gut geht?“ hakte der Junge leise nach. Erneut nickte Anna.

„Ich hab's mir bereits gedacht, deswegen...“ murmelte sie leise. Ihr Herz zog sich zusammen. Die Atmosphäre kippte langsam um. Weinte sie? Akiras Hand zog sich von ihrem Bauch zurück und hastete zu ihren Wangen. Sie war warm, weinte jedoch nicht. Mürrisch drehte er Anna um, sodass sie ihn ansehen würde.

„Deine Augen...“ flüsterte Akira überrascht. Das Weiß ihrer Augen war komplett schwarz. Ihre blauen Pupillen waren noch dunkler als das. Sie erweckten den Eindruck, als wäre das Tattoo, das kein Licht hindurch ließ, direkt in ihre Augen gewandert. „Was ist passiert?“ fragte Akira sofort. Sein Daumen fuhr unter ihre Auge, tastete die Region des oberen Wangenknochens ab. Sie weinte nicht, doch sah man ihr ihre Trauer an. Wortlos legte sie ihren Arm an Akira und legte ihre Wange an seine Brust.

„Adam ist gestorben.“ Die Worte waren nur ein Flüstern gewesen, doch schlugen sie in Akira ein wie Kanonenschüsse. Zögernd legte auch er ihren Arm um ihn.

„Wann?“ fragte er leise nach. Die nassen Haarsträhnen klebten an seiner Haut, während er diesen kleinen Rücken streichelten.

„Heute.“

„Woher weißt du das?“ Der Junge war überrascht, dass sie so schnell von dem Ableben ihres Bruders erfuhr.

„Ich hab' es gespürt.“ Anna schloss die Augen wieder und atmete den süßen Duft Akiras ein. Es war ihr von Anfang an klar gewesen, dass sie Adam verlieren würde. Wäre sie umgedreht, hätte sie sich durch die Schattenmenschen gekämpft und hätte ihn mit sich genommen, wäre das nicht passiert. Manchmal, in ihren Träumen, konnte sie ihn sehen. Sehen, wie er litt. Es war ihre Schuld gewesen, dass er diese Qualen erleiden musste. Es war ihre Schuld gewesen, dass er überhaupt lebte. Und heute Nacht wurde die Energie, die sie ihm damals geschenkt hatte, zurück gegeben. Als wäre es an der Zeit für ihn gewesen, etwas geliehenes zurück zu seinem Besitzer zu bringen.

„Manchmal dachte ich, er ist hier, während ich schlafe.“, ertönte Annas Stimme plötzlich wieder. „Als würde er beim Bett stehen und sehen, ob es mir gut ginge.“ Akiras Augen wanderten unweigerlich zur Bettkante, doch es stand niemand da. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Auch, wenn er sich mit Adam einigermaßen gut verstand, hätte Adam wohl nicht gezögert, ihm für seine nächtlichen Besuche bei seiner Schwester eine rein zu hauen.

„Manchmal habe ich das Gefühl, dass er mit mir redet. Dann schlaf ich immer wieder ein.“ fuhr das Mädchen fort. Sie zog Akira noch fester an sich, vergrub ihre Nase in seine Brust und er spürte, wie sie seufzte. „Sie hat ihn getötet, Akira. Sie tötet jeden aus meiner Familie.“ Ihre Stimme brach. Sie klang, als würde sie an der Situation verzweifeln. Ihr Herz verkrampfte sich schmerzhaft unter dieser Last. Vorsichtig drückte der Junge ihr einen Kuss auf die Stirn, streichelte über ihren Nacken. „Was, wenn sie sich Shiro als nächstes holt? Was, wenn sie ihn tötet? Er ist der letzte meiner Familie, Akira. Er ist mein Sohn. Was, wenn sie meinen Sohn töten will?“ flüsterte sie angsterfüllt. Und da waren sie – die Tränen, die sie vorher nicht weinen konnte.

„Sie wird Shiro nicht bekommen. Das werden wir verhindern.“ Akiras Worte klangen wie leere Versprechungen für ihn. Man konnte nicht sagen, was Eve als nächstes vor haben würde. Er spürte, dass auch Anna ihm nicht glaubte.

„Du hast mir etwas versprochen.“ erinnerte sie ihn leise und erneut nickte Akira. Stille trat ein. Langsam und stetig flaute der Schmerz in Anna wieder ab. Akira konnte spüren, wie sie sich wieder entspannte. Die Reaktion auf Adams Tod war merkwürdig klein gewesen. Der Schock, als sie ihre Mutter gefunden hatte, hatte einen Ausbruch an Macht zu folge. Wieso jetzt nicht?

„Wieso sind deine Augen eigentlich schwarz?“ fragte er sie leicht neugierig.

„Adams Leben…“ murmelte das Mädchen. „Ich hab' ihm etwas von meiner Energie gegeben. Er hat sie zurück gebracht.“ schloss sie ab.

„Du hast ihn geküsst?“ Man hörte die Verblüffung aus seinen Worten.

„Als ich drei oder vier war, ja. Es hat gereicht, damit er überleben konnte. Er war nicht mehr als ein kleiner, flauschiger Ball.“ Lebhafte Erinnerungen spielten sich vor dem inneren Auge der Königin ab. „Ich schätze, der Grund dafür, dass ich nicht so traurig bin ist… Dass er jetzt wieder bei mir ist.“ Dieses Argument erwischte Akira eiskalt. Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Ja, wenn Adam Annas Energie zum Leben verwendet hatte, war es verständlich, dass sie zurückkehrte, sobald er starb. Die Macht von Anna war wie ein Paar von Magneten. Teilte man sie, zerrten die einzelnen Stücke immer noch aneinander und wollten zueinander zurück, doch wurden sie durch Körper oder andere Kräfte zurück gehalten, so wie bei Adam und Anna jetzt. Verschwindet der Widerstand aber würde die Macht wie ein losgelassenes Gummi wieder zurückfliegen. Jetzt, wo die Portion an Macht von Adams Wesen getränkt war, konnte man durchaus davon ausgehen, dass „er wieder bei ihr“ war. Diese Überlegungen fühlten sich dennoch merkwürdig an. Würde Anna sich verändern? Wie ist es, wenn sie sich verliebt und ihre Macht mit ihrem Partner teilen würde – würde er dann auch wie ein Magnet auf sie wirken? Als Akira das dachte, drückte er das schmale Mädchen eng an sich.

„Was ist los?“ Anna klang etwas besorgt aufgrund der festen Umarmung.

„Nichts.“ erwiderte Akira beschämt. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um Eifersucht für jemanden zu entwickeln, der noch nicht einmal existierte. „Das mit Adam tut mir Leid.“ Er löste sich von ihr und wischte Anna die letzte, glitzernde Träne vom Gesicht. Sie lächelte.

„Wie gesagt, ich hab' das Gefühl, er ist noch bei mir. Irgendwie ist er nicht tot.“ Es klang, als hätte sie seinen Tod noch nicht einmal akzeptiert. Es war traurig, sie so zu sehen, wie sie sich vor der Realität verschloss und sie nicht annehmen wollte.

„Darf ich dich küssen?“ Bei seinen Worten wurde Anna etwas rot. Man sah, wie sie weg sehen wollte, sich aber zwang, Akira anzuschauen. Dann nickte sie. Der Junge hob ihr Gesicht etwas an und drückte seine Lippen auf ihre Wange. Auf ihre Nase. Auf ihren Mund. Der Geschmack ihrer Küsse machten ihn süchtig. Seufzend löste er sich von ihr, drückte ihren Körper wieder an seinen. Genau so, wie es kein Zeitpunkt war, um eifersüchtig zu werden, war es auch keiner, um jetzt in Sehnsucht zu ertrinken. Für heute würde es dabei bleiben.

Dem Vermissten auf der Spur

Es war der 21.11.2016. Das Wetter war angenehm mild für November – Die Stürme legten sich langsam. Dennoch sollte es ab nächster Woche schneien. Seufzend rollte der Inspektor in seinem Bürostuhl herum. Die Luft im Büro war wie immer stickig und belastet mit dem Kippengeruch. Kobayashi rauchte zur Zeit eine Zigarette nach der anderen. Nach dem Rückschlag von vor ein paar Tagen hatte sich der Polizist wieder aufgerappelt, Anna Kurosawa und ihre Umgebung genauer zu untersuchen. Die erste Frage, die er klären wollte, war: Wo waren Anna, Mirai und Akira hin gegangen, als Misaki Kurosawa gestorben ist? Sie hatten einen weiten Weg zurück gelegt, tatsächlich ließ sich ihre Spur bis in die Berge zurück verfolgen. Allerdings war in diesem Gebiet kaum etwas: Ein kleines Dorf, eine Gastherberge in den Bergen und ein großflächiger Wald. Mehr nicht. Die Polizei vor Ort hat von nichts gehört und auch keine Fremden im Dorf gesehen, welche sofort ins Auge gefallen wären, so meinte ein Polizist, als er die Beschreibungen der drei Fremden gehört hatte. Also keine Spur.

Das nächste, was Kobayashi klären wollte waren die Hintergründe der Kinder. Von Anna wusste er schon viel, doch war es zum Beispiel der weißhaarige Junge mit dem kleinen Bruder, der ihn zur Zeit am meisten interessierte. Der Junge, so erzählten die Nachbarn von Frau Kurosawa, hieß Shiro und hatte wohl schon seit einigen Wochen bei den Kurosawas gewohnt. Er sei wohl ein Cousin, deshalb auch die selben blauen Augen wie Anna. Dennoch war nicht viel über ihn bekannt: Er ging nicht zur Schule, hatte keine Freunde und war die ganze Zeit mit den Kurosawa Kindern unterwegs. Der kleinere von den beiden, der schwarzhaarige Junge, der so frech war, war noch unbekannter. Niemand in der Nachbarschaft kannte ihn. Also war es für Kobayashi wieder an der Zeit, Ren Ous Haus aufzusuchen.

Er parkte seinen roten Beetle wie immer in der kleinen Seitenstraße, die etwas entfernt von dem großen Anwesen war. Es war wirklich kalt geworden. Als er vor dem Haus angekommen war, stellte er sich abseits einer Laterne in die gegenüberliegende Seitenstraße und zückte sein Fernglas, das er extra für diese Observation Zuhause heraus gekramt hatte. Diese Nacht brachte einige Veränderungen: Der Wolf, den Kobayashi ab und an in der windigen Dunkelheit hörte oder sah, tauchte nicht wieder auf. Tatsächlich sah man nur Shiro ab und zu durch den Garten laufen, als würde er einen mitternächtlichen Spaziergang machen. Der kleine Junge blieb aber anscheinend im Haus.In diesem brannten nicht besonders viele Lichter, gegen zwei Uhr nachts war es komplett in Dunkelheit gehüllt. Nichts besonderes also.

In der darauffolgenden Nacht wurde es noch kälter. Dieses Mal sah man wieder den Schatten in Annas Fenster. Er winkte Kobayashi erneut zu, drehte sich dann um und starrte in das Zimmer. Wen oder was er so beobachtete, konnte man nicht erkennen, obwohl das Licht im Zimmer stärker schien als früher. Es war merkwürdig – selbst durch das Fernglas konnte man nichts als eine schwarze Silhouette erkennen, als wäre sie die personifizierte Dunkelheit, die ihm da immer breit grinsend zuwinkte. Gegen 03:30 Uhr verschwand der Schatten.

Ab der nächsten Nacht hatte sich noch etwas verändert: Kobayashi hatte das Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Obwohl der Wind sich in den letzten Tagen gelegt hatte, war der Himmel immer noch Wolken verhangen und ließ kein Licht auf das Anwesen zu. Es war bitterkalt. Langsam aber sicher erreichte das Wetter Minustemperaturen. Obwohl kein Blättchen sich im Wind regte, raschelten die Äste der Bäume, als würde der Wind toben. Das machte Kobayashi Sorgen – Irgendwie lauerte die Befürchtung in ihm, beobachtet zu werden. Als wäre nicht er derjenige, der jemanden observiert. Shiro lief nun weniger oft durch den Garten, manchmal schaute er sogar nur aus dem Fenster, anstatt raus zu gehen. Vielleicht wurde ihm allmählich zu kalt?

Dann, in der Nacht vom 24. zum 25. November, sah Kobayashi etwas, das er im Büro erst einmal nachschlagen musste, um sicher zu gehen. Man könnte es nicht mehr „Zufall“ nennen, wenn es stimmte, doch am nächsten Tag im Büro war der Inspektor sich sicher: Er hielt das Bild in den Händen und musterte es. Es war Iori, der auf dem Foto neben einem hübschen, schwarzhaarigen Mädchen stand und grinste. Und ausgerechnet dieses Gesicht hatte Kobayashi letzte Nacht im Fenster gesehen, als Shiro den Garten begutachtet hatte. Wieso war Iori bei den Kindern? Er wurde seit Wochen vermisst, hat sich bei niemanden gemeldet, und jetzt es geht ihm gut?

„Ich bin mal weg.“, schnauzte der Inspektor seinem Kollegen zu und warf sich den Trenchcoat um. Er hatte endlich einen Anhaltspunkt für die Ermittlungen. Wäre Iori in dem Haus von Ren Ou, hatte Kobayashi allen Grund eine offizielle Untersuchung einzuleiten – immerhin wurde der Junge schon so lange vermisst, dass sein Vermisstenblatt in die Kategorie „Ungeklärte Fälle“ abgelegt werden sollte. Der Mann stieg in seinen roten Beetle, zog unsanft die Handbremse zurück und legte den ersten Gang ein. Die Kinder waren heute alle in der Schule, vielleicht wäre es langsam mal an der Zeit, Ren Ous Haus bei Tageslicht zu sehen.

Wie bereits prognostiziert, begann das Wetter ab dieser Woche noch schlechter zu werden. Es war kalt, windstill und bewölkt. Die ganze Stadt schien durch das Novemberwetter in einen schlieriges Grau getaucht zu werden. Menschen begannen, unglücklich und besorgt auszusehen. Ihnen war kalt und die Erschöpfung stand ihnen ins Gesicht geschrieben, während Kobayashi an einer Ampel wartete. Beinahe wäre er dieses Mal an der Gasse vorbei gefahren, in der er immer parkte. Im Licht war sie kaum wieder zu erkennen – relativ hell und freundlich. Der Mann parkte und zog seine Tasche aus dem Wagen, schloss ab und steckte sich eine Zigarette an. Heute würde er das erste Mal Fortschritte machen. Er hatte seit Tagen wegen diesem Fall nicht geschlafen – Die tägliche Büroarbeit durch andere Fälle füllten seinen Tag komplett aus, bis er abends schließlich herfahren und die Kinder observieren würde. Doch ab heute würde er von seinem Chef die Erlaubnis erhalten, diesen Fall wieder aufzunehmen.

Seine Schritte führten ihn durch die Straße, auf der Ren Ous Haus lag. Vertrocknete Blätter in Rot und Braun knirschten unter seinen Füßen, während er die anderen Häuser begutachtete. Jedes von ihnen war im europäischem Stil, als sei es ein Viertel für Ausländer – reiche Ausländer. Der Wind war heute etwas stärker als in den letzten Tagen. Knurrend zog der Inspektor den Kragen seines Mantels hoch und versuchte so sein Gesicht und die Glut der Zigarette zu schützen. Er war angekommen.

Tatsächlich regte sich keine Menschenseele in dem Garten. Er war hell und immer noch blühten die Rosen in ihm, als wäre der Herbst noch gar nicht auf Ren Ous Anwesen angekommen. Es war ruhig. Heute hatte Kobayashi das erste Mal seit einer halben Woche nicht mehr das Gefühl, beobachtet zu werden. Er musterte die Bäume um sich herum – Gestern Nacht hatte er noch das Gefühl gehabt, sie wären mit Blättern gefüllt gewesen, doch heute sah er, dass kaum einer von ihnen überhaupt noch Blätter trug. Abermals kam das mulmige Gefühl in seiner Magengrube zurück. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Sein Blick fiel wieder auf den Garten. Mit einem Griff in seine Tasche holte der Inspektor das Fernglas heraus und suchte Annas Fenster. Es war hell, man konnte tatsächlich die Wandfarbe erkennen (ein lilafarbener Pastellton) und einige Möbel, die nahe dem Fenster standen. Die Blume auf dem Fenster war weiß, die Blütenblätter gingen Richtung Stiel ins Violette über. Sie war fast komplett erblüht. Doch das Zimmer war menschenleer – kein Schatten, keine Anna.

Das Fernglas schwenkte zu dem Fenster, von dem Kobayashi dachte, es gehöre dem Wohnzimmer, und suchte da die Räume ab. Jemand lief durch das Zimmer, doch konnte der Polizist nicht erkennen, wer. Plötzlich öffnete sich die Haustür. Kobayashis Herz blieb für eine Sekunde lang stehen, doch dort stand er: Der vermisste Iori.

Sofort zwängte sich der Inspektor durch das Haupttor und lief auf den jungen Mann zu. „Iori?“ fragte er laut nach, als er in Hörweite war, und der Junge wandte sich ihm zu. Er war groß, hatte schwarze Haare und blaue Augen, doch sein Gesicht war blass und besorgt.

„Kann ich Ihnen helfen?“ erwiderte er entnervt. Sein Blick war nur für eine Millisekunde dem Inspektor gewidmet – sofort hasteten seine Augen wieder durch den Garten und schienen etwas zu suchen.

„Ich bin Inspektor Kobayashi von der Polizei. Ich ermittle in dem Mordfall von Anna Kurosawas Mutter.“, erklärte sich der Mann und beobachtete Ioris Mimik: Sofort legte sich seine Stirn in Falten und er knirschte leicht mit den Zähnen.

„Sorry, darüber weiß ich nichts. Anna ist gerade in der Schule.“ Der Junge wandte sich ab und ging wieder Richtung Haustür.

„Moment!“ Der Inspektor hielt den 17-Jährigen an der Schulter fest. „Wieso bist DU nicht in der Schule?“. Der Junge blieb auf der Fußmatte stehen, ihm schien es nicht besonders gut zu gehen. Schnell flüchteten seine Fäuste in seine Jackentaschen. Waren ihm Kobayashis Fragen unwohl?

„Vielleicht kommen Sie besser rein, es ist zu kalt, um draußen zu reden.“ murmelte er schließlich und öffnete Kobayashi die Tür.

Das Innere des Hauses war noch prachtvoller, als seine Fassade. An den Wänden hingen große Gemälde. Die Möbel, die darunter standen, schienen aus edlem Holz zu sein. Jedes von ihnen trug eine Blume auf sich, als würden die Besitzer darauf achten, dass es hier genug Natur im Haus gab. Es gab eine leichte, angenehm nach Essen duftende Note in der Luft, die wahrscheinlich aus der Küche kam. In einem Zimmer weiter im Inneren des Hauses hörte man, wie etwas bewegt wurde.

„Bist du alleine hier?“ fragte Kobayashi verdächtig, der Junge nickte. Er führte den Inspektor in das Zimmer, das er öfter schon beobachtet hatte und heute das erste Mal von innen sehen würde: Das Wohnzimmer. Es hatte zwei große Sofas, die um einen dunkelbraunen Tisch aufgestellt waren. Die Sessel und Sofas hatten einen roten Lederbezug. An den Wänden standen Regale und Tische aus dem selben Holz, wie der Kaffeetisch. Etwas verblüfft von der extravaganten, aber schicken Einrichtung ließ sich der Inspektor auf einer der Couches nieder.

„Also, noch mal: Wieso bist du nicht in der Schule? Du wirst vermisst.“ Der Mann zückte sein Notizbuch. Iori ließ sich ihm gegenüber ins Sofa fallen, stützte sein Gesicht auf seiner Hand ab und schaute missmutig weg.

„Wieso bist du verschwunden?“ hakte der Inspektor nach, als er nur ein Schweigen als Antwort bekam. „Deine Freunde in der Schule machen sich doch bestimmt Sorgen.“

„Ich habe keine Freunde dort.“ entgegnete Iori nun mit einem gehässigen Grinsen und das war die erste Antwort, die Kobayashi seit Tagen bekommen hatte. Aufregung pochte in seinem Herzen.

„Und wieso bist du hier und nicht Zuhause? Ich meine, von dem was ich gehört habe, waren du und Anna nie sehr gute Freunde. Du schienst ja eher mit einer gewissen Eve Kontakt zu haben...“ Bei diesen Worten schien man tatsächlich zu erkennen, wie sich das Gehässige in seinem Blick in Wut verwandelte. Der Junge lehnte sich genervt zurück und schloss die Augen.

„Meine Familie und die der Kurosawas sind entfernte Verwandte, deshalb bin ich hier. Spart die Miete.“ zischte er. Der Inspektor schluckte. Anscheinend war dieses Thema nicht der beste Einstieg für das Gespräch.

„Weißt du dann vielleicht, wo Adam Kurosawa ist?“, fragte der Inspektor vorsichtig nach. Erneut sah man, wie Ioris Gesicht sich veränderte: Auch wenn er versuchte, eine nachdenkliche Miene aufzusetzen, sah man die Sorge in seinem Blick.

„Er ist bei meiner Familie. Wir haben gewissermaßen die Plätze getauscht.“, murmelte er vor sich hin und musterte ein Spinnennetz in der Ecke des Raumes. Der Inspektor konnte ihm diese Aussage nicht ganz abkaufen.

„So, so...“, brummte Kobayashi und fixierte den Schüler mit einem inspizierenden Blick, während er sich Notizen auf seinem Block machte. „Kann ich diese Familie mal anrufen?“

Stille trat ein. Es war das erste Mal seit dieses Gespräch angefangen hatte, dass Iori dem Inspektor in die Augen schaute. Erst jetzt wurde dem Polizisten bewusst, wie blau die Augen des Jungens eigentlich waren – und wie erwachsen er aussehen konnte, wenn es ernst wurde. Langsam kehrte das flaue Gefühl in seinen Magen zurück – Die Augen, die ihn musterten, waren so auf den Polizisten fixiert, dass er den Eindruck bekam, selbst observiert zu werden.

„Natürlich können Sie das.“ Ioris Stimme war kühl und steif. Der Junge stand auf und ging zu einem der Schreibtische, zog ein Blatt Briefpapier hervor und begann eine Nummer und einen Namen darauf zu schreiben. Dann ging er zum Inspektor und reichte ihm das Blatt Papier. „Sonst noch was?“.

Kobayashi musterte das Papier, faltete es schließlich und steckte es in seine Manteltasche, ehe er seinen Notizblock musterte.

„Du solltest wirklich wieder zurück in die Schule gehen. Es gibt eine Schulpflicht für Jugendliche. Du willst doch nicht, dass das Jugendamt beauftragt wird, hier mal nach zu schauen oder?“, schnauzte der Inspektor schließlich, steckte seinen Block weg und erhob sich.

„Ja, okay.“, gab der Schwarzhaarige steif zurück, dann brachte er den Mann zurück zur Haustür. Die kalte Novemberluft riss an dem 3-Tage-Bart des Inspektors. Frierend zog er sich seinen Kragen wieder ins Gesicht und drehte sich auf den Türabsatz noch mal um. Iori starrte ihn an.

„Sie sollten wirklich nicht noch einmal herkommen. Und die nächtlichen Observationen sollten Sie auch sein lassen. Es ist nicht sicher für Menschen wie Sie.“. Die Augen, die so blau gewesen waren, waren nun eiskalt und fast grau, als würde das Eis selbst in ihnen hausen. Der Inspektor schluckte, doch bevor er etwas entgegnen konnte, war die Tür ins Schloss gefallen und er war ausgesperrt worden. Schon wieder diese Aussage, dass er aufhören solle zu ermitteln. Was bildeten sich diese Punks eigentlich ein?

Unzufrieden ging er zu seinem Auto, warf sich in den Beetle und fuhr zurück zur Polizeidirektion.

Er konnte jetzt nicht aufgeben, jetzt wurde die Spur langsam heiß. Irgendetwas ging in diesem Haus vor sich und er würde heraus finden. was.

Im Büro angekommen, griff der Inspektor sofort zum Telefon und wählte die angegebene Nummer. Es klingelte eine Weile. War es vielleicht eine falsche Nummer? War niemand Zuhause? Doch plötzlich:

„Hallo?“ Eine strenge, weibliche Stimme nahm den Anruf entgegen.

Etwas überrascht von der lauten Antwort sammelte Kobayashi seine Worte: „Guten Tag. Mein Name ist Kobayashi, ich bin von der Polizei. Spreche ich da mit Ioris Mutter?“, fragte er höflich.

„Nein.“, die Antwort führte zu einigen Sekunden der Stille, doch dann fuhr die Frau fort: „Ich bin die Haushälterin.“.

Erleichtert entgegnete der Polizist: „Ah, gut. Wie heißen Sie, bitte?“.

„Mein Name ist Sasahira. Was kann ich für Sie tun?“. Auch wenn die Worte der Frau vielleicht gewählt waren, um höflich zu klingen, klang sie eher abgeneigt von dem Gespräch.

„Es geht um Iori und Adam. Iori sagte mir, das sei die Nummer seiner Familie und Adam sei bei Ihnen. Wenn es geht, würde ich gerne einen Elternteil des Jungens sprechen.“, erklärte sich Kobayashi.

„Das geht nicht.“, die Stimme wurde immer schroffer. „Der Hausherr steht zur Zeit nicht zu Verfügung.“.

„Was ist mit Adam Kurosawa? Ist er gerade zu sprechen?“, hakte der Inspektor nach.

„Nein.“ Keine Erklärung, nicht mal der Versuch, den Inspektor freundlich abzuwimmeln. Nur ein „Nein“. Langsam wurde Kobayashi ungeduldig.

„Ist irgendjemand da, der vielleicht weiß, wann Ioris Eltern oder Adam wieder zu sprechen sind?“, fragte er genervt und trappelte mit seinen Fingerkuppen auf dem Schreibtisch herum.

„Ioris Vater hat zur Zeit Gäste. Seine Mutter ist tot. Ich kann Ihnen also nicht sagen, wann der Hausherr wieder Zeit hat. Wenn das alles ist...“. Diese Worte waren schlecht. Sasahira wollte auflegen.

„Moment!“ Erneut war Kobayashis Stimme lauter, als er eigentlich wollte.

„… Was?“, Sasahira klang nun deutlich genervt. „Ich habe keine Zeit, Ihre lächerlichen Fragen zu beantworten. Wie bereits gesagt: Wir haben Gäste.“.

„Ist es wahr, dass Iori mit den Kurosawas verwandt ist? Ist Adam wirklich bei Ihnen?“. Es nutzte nichts: Kobayashi musste zum Punkt kommen.

„Wenn der Junge es Ihnen so gesagt hat, ist es wahr. Guten Tag.“. Und damit war das Telefonat beendet worden.
 

„Kobayashi!“ Eine wütende Stimme hallte durch das Büro. Kobayashi, der immer noch verdattert den Hörer in der Hand hielt, drehte sich nun um und legte ihn auf. Sein Chef stand vor ihm. Sein breites Gesicht war rot vor Wut.

„In mein Büro, sofort.“, fauchte der alte Mann und deutete mit einer schroffen Bewegung auf eine Tür, die an den großen Raum angrenzte. Es führte in das Büro des Chefs. Mürrisch stand der Inspektor auf und trottete seinem Boss hinterher. Die Tür öffnete sich und als er sah, wer dort gerade an einer Teetasse nippte, sackte ihm das Herz in die Hose.

„Ren Ou...“, murmelte der Inspektor überrascht. Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht. Neben dem Schwarzhaarigen saß der große Ausländer. Liam hieß er wohl.

„Guten Tag, Herr Kobayashi. Es ist schön, endlich mal mit Ihnen sprechen zu können.“, lächelte Ren und setzte seine Teetasse wieder ab. Der Hauptkommissar ließ sich genervt in seinen Bürostuhl fallen, seufzte und faltete die Hände unter seinem Kinn zusammen.

„Dieser Herr ist Ren Ou.“, begann sein Chef zu erklären. „Aber vermutlich wissen Sie das schon, Kobayashi. Immerhin haben Sie ihn und sein Haus die letzten Wochen observiert, nicht wahr?“. Man konnte die Wut heraus hören.

„Ich...“, begann Kobayashi, doch wusste er keine Worte, um sich zu verteidigen. Das war die schlimmste mögliche Folge seiner Observation gewesen. Aber woher wussten die Jungs überhaupt, dass es Kobayashi gewesen war?

Ren Ou hob beschwichtigend die Hand: „Ich verstehe, dass Inspektor Kobayashi seine Polizeiarbeit sehr ernst nimmt und jeder in meinem Haus findet das sehr ehrenhaft von ihm. Auch wir wollen, dass der Tod der Mutter unserer geliebten Freundin so schnell wie möglich aufgeklärt wird. Allerdings geht es Anna nicht besonders gut und Tag und Nacht beobachtet zu werden, macht ihr Angst.“, erklärte Ren und nahm erneut einen Schluck von dem Tee. „Falls wir also nicht unter Verdacht stehen und keine offizielle Untersuchung gegen uns läuft, möchten wir bitte, dass die Observationen ein Ende finden.“.

Da war es. Der Grund dafür, dass Kobayashi gerade so klamm wurde. Die Augen seines Chefs wanderten zum Inspektor und funkelten ihn wutentbrannt an, dann wandte er sich wieder seinem Gast zu:

„Natürlich, Herr Ou. Wir schämen uns sehr für die eigenständige Untersuchung unseres Mitarbeiters. Ich hoffe, Sie können das entschuldigen. Er wird Sie nicht weiter belästigen.“. Der Kommissar knickte unter Ren Ou ein. Die Gäste erhoben sich.

„Sehr schön, das ist auch schon alles.“. Erneut lächelte Ren. Die beiden Gäste gingen an Kobayashi vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und verließen das Büro.

„Was fällt Ihnen eigentlich ein, Kobayashi?“. Der Hauptkommissar versuchte, so gut es ging, nicht zu schreien. Doch sein ganzer Körper bebte vor Wut. Kobayashi schloss die Tür hinter den Gästen und setzte sich seinem Chef gegenüber.

„Chef, ich hab' wirklich Hinweise darauf, dass etwas in diesem Haus vor sich geht!“, begann Kobayashi zu erklären.

„Ich will es nicht hören!“, schnauzte der Kommissar wutentbrannt und schlug mit einer Faust auf seinen Tisch. „Wissen Sie, wer das ist? Das ist Ren Ou, der Nachfolger von Ou Inc.! Wir können uns nicht einfach mit einem Konzern dieser Größe anlegen!“.

„Ich habe Iori gesehen.“, erklärte Kobayashi kühl. Die Wut des Kommissars wich Verwirrung.

„Wen?“, fragte er genervt und erschöpft nach und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken.

„Iori, einen der vermissten Schüler. Er ist bei Ren Ou Zuhause untergetaucht. Angeblich ist er verwandt mit Anna Kurosawa. Chef, sie haben eine Verbindung zu allen Schülern, die verschwunden sind!“. Nun war es Kobayashi, der seine Stimme kontrollieren musste.

„Ist das alles?“, seufzte der ältere Mann nun. „Und wenn schon, wenn der vermisste Schüler dort ist. Wir behandeln hier Mordfälle, nicht Vermisstenfälle. Oder meinen Sie, dass Iori etwas mit dem Tod der Mutter zu tun hat?“, fügte er ungläubig hinzu.

„Finden Sie es nicht merkwürdig, dass der Junge nur wenige Tage nach dem Mord an Frau Kurosawa verschwunden ist? Nicht nur das – er ist auch noch ausgerechnet bei Anna im Haus untergebracht worden. Ich finde das sehr verdächtig.“, schnauzte Kobayashi nun. Wieso teilte der Kommissar seine Neugierde nicht?

„Hören Sie zu, Kobayashi. Sie sind fleißiger als sonst irgendjemand hier. Aber wenn Sie Ihre Nase zu tief in Angelegenheiten stecken, die Sie nichts angeht, wird sie irgendwann abgeschnitten.“, mahnte der Kommissar, griff nach einer Zeitung und lehnte sich zurück. Ungläubig starrte Kobayashi seinen Chef an. Dieser musterte seinen Angestellten über den Zeitungsrand hinweg an, seufzte schließlich und fügte hinzu: „Wenn Sie meinen, da ist was dran, bitte. Aber seien Sie vorsichtig und lassen Sie sich ab sofort nicht mehr erwischen.“.

Das war das OK gewesen, um mit den Ermittlungen fortzufahren, auch wenn Kobayashi sich wirklich mit seinen Auftritten zurückhalten sollte. Doch etwas war da noch, dass er klären musste. Am 27. November ging Kobayashi zu der Adresse, die ihm die Schule genannt hatte. Die Gegend war okay, hier und da standen merkwürdig verdächtige Leute, doch an sich hörte man aus diesem Viertel eigentlich kaum was schlechtes. Es gab viele Apartmentblöcke hier – richtige Plattenbauten. Die Menschen versuchten, die Gegend mit Blumenkästen und kleinen, angelegten Gärten aufzufrischen und schöner zu gestalten, doch im späten November konnte man kaum noch etwas davon erkennen. Tatsächlich waren die Skelette der Pflanzen ein großer Grund dafür, dass es hier so trist aussah.

Kobayashi lief die Außentreppen eines Apartmentgebäudes hoch, bis er schließlich im zweiten Stock ankam. Das Apartment, das er suchte, hatte die Nummer 218. Er klingelte. Auf dem Klingelschild stand ein ausländischer Name.

„Moment!“. Eine fröhliche, helle Person schien gerade noch zu beschäftigt zu sein, um die Tür zu öffnen. Es dauerte einige Sekunden, bis die Tür mit Enthusiasmus aufgeschwungen wurde und ein hübsches, schwarzhaariges Mädchen den Inspektor hinein ließ.

„Inspektor Kobayashi, nehme ich an? Wir hatten telefoniert. Ich bin Eve.“, lächelte die junge Frau und bat den Inspektor in die kleine Wohnung.

„Wollen Sie etwas trinken? Wir haben gerade Tee gemacht.“. Während der Inspektor sich die Schuhe auszog, folgten seine Augen dem Mädchen ins Wohnzimmer. Wer war 'wir'?

„Ja, bitte.“, erwiderte der Inspektor und folgte dem Mädchen in die Wohnung. Im Wohnzimmer saß ein großer, gut gebauter Mann mit langen, schwarzen Haaren. Er trug eine dunkle Jeans und einen Rollkragenpullover, dennoch sah er leicht angsteinflößend aus. Er blätterte eine Zeitung.

„Oh, beachten Sie Dei gar nicht. Er ist nicht besonders sozial.“, lachte Eve, reichte dem Inspektor eine Tasse und ließ sich auf das dunkelbraune Sofa fallen. Kobayashi setzte sich ihr gegenüber und nippte an dem Tee. „Wie kann ich Ihnen helfen, Inspektor?“. Eve klang merkwürdig motiviert und hibbelig, so wie ihre Stimme trällerte.

„Ich bin wegen Iori hier. Ich habe den Eindruck, dass Sie zwei sehr gute Freunde sind. Tatsächlich habe ich hier ein Foto...“. Der Mann zog das Foto aus der Tasche, das er zum Identifizieren von Iori benutzt hatte, und reichte es Eve. Diese lächelte noch breiter.

„Oh, ja. Ich erinnere mich an diesen Tag. Ja, wir waren gute Freunde.“, säuselte sie und schien in Erinnerungen zu schwelgen. „Tatsächlich waren wir alle drei das, oder Dei?“, sie blickte den schwarzhaarigen Riesen an, der jedoch nichts erwiderte.

„Dann wissen Sie also über Iori Bescheid?“, hakte der Inspektor nach. Eve blickte auf.

„Was ist denn mit Iori?“, sie klang naiv, unwissend.

„Er wird vermisst.“, erwiderte der Inspektor verwirrt.

„Oh, ja.“ Eve klang, als hätte sie diese kleine Tatsache vergessen. „Gibt es etwas neues? Ich habe gehört, er ist bei seinen Verwandten.“, fügte sie nachdenklich hinzu.

„Ähm...“, irgendwie irritierte das Mädchen den Inspektor. „Wie war Ihre Beziehung zu Iori?“.

„Wir waren Freunde. Haben uns im Ausland kennen gelernt.“ erklärte Eve und trank nun ebenfalls etwas von ihrem Tee. Der Inspektor wurde hellhörig.

„Nicht mehr? Keine Liebesgeschichte oder so?“, irgendwie konnte er ihr nicht ganz glauben. Eve lachte kurz hell auf.

„Nein, nein, nein. Niemals. Ich habe Dei. Aber wieso interessiert Sie das?“, die Schwarzhaarige begann zu grinsen.

„Nun...“, fing Kobayashi an, war sich jedoch nicht ganz sicher, ob er ihr die Wahrheit erzählen sollte. „Ich suche für einen Grund, der ihm Anlass gegeben haben könnte, nicht mehr zur Schule zu kommen. Ich dachte, vielleicht wäre es eine verschmähte Liebe.“, murmelte der Mann. Eve lachte. „Wie ist denn die Beziehung zwischen Anna Kurosawa und Iori?“, fragte der Inspektor dann und das Kichern samt Lächeln verschwand. Eve schaute kurz zu Dei, der das erste Mal von der Zeitung weg sah.

„Soweit ich weiß sind sie nur Klassenkameraden.“, murmelte Eve.

„Haben die beiden vielleicht gemeinsame Bekannte oder sind sie sogar verwandt?“, wollte der Polizist nun wissen. Plötzlich schien der Luftdruck im Raum zu fallen. Es wurde kalt, unangenehm. Eves Lächeln kehrte zurück. Dei legte seine Zeitung aus der Hand und schien nun am Gespräch teilnehmen zu wollen. Eves Augen starrten in die des Inspektors – erst jetzt fiel ihm auf, dass sie pechschwarz waren.

„Sie sind nur Klassenkameraden, soweit ich weiß.“, wiederholte sich die 17-Jährige und stellte ihre Teetasse ab. Wieso sagte die eine Seite, Iori und Anna seien verwandt, während Ioris besten Freunde behaupteten, das sei nicht der Fall? Wieso war Iori denn nun bei Anna Kurosawa? Hatte er Angst, dass er gefunden werden könnte? War er vielleicht eine Geisel? Aber falls er wirklich eine wäre, wieso haute er dann nicht einfach ab? Er konnte sich frei im Haus und im Garten bewegen…. Stockholm-Syndrom? Der Inspektor seufzte und rieb sich die Schläfe. Irgendetwas sah er hier nicht, wie ein Puzzleteil, das vom Tisch gefallen war und Kobayashi gerade nicht fand. Und Eve konnte ihm nicht weiter helfen.

„Herr Kobayashi, ich glaube es wäre eine gute Idee, wenn Sie heute Nacht noch einmal zu Anna gehen.“. Die glockenhelle Stimme weckte Kobayashi aus seinen Gedanken. Der Mann blickte Eve verwirrt an.

„Wieso?“, fragte er verwundert.

„Ich weiß nicht, ich hab' so ein Gefühl, dass Sie heute ein paar Antworten bekommen werden. Ich kann in die Zukunft gucken, wissen Sie.“, das Mädchen lachte und stand auf. Wie auf Kommando erhob sich nun auch der Inspektor und wurde von Eve zur Tür geleitet. Nachdem sich der Mann die Schuhe ausgezogen und die beiden sich verabschiedet hatten, ging er aus dem Apartment raus und wollte gerade die Treppen hinunter, als Eve ihm nochmal hinterher rief: „Und wenn Sie Anna sehen, schauen Sie sich ihren Rücken an!“. Die Tür fiel wieder ins Schloss und Herr Kobayashi lief zurück zu seinem roten Beetle.

Weiß gegen Schwarz (Shiro vs. Kuro)

Kobayashi wusste nicht genau wieso, aber gegen neun Uhr abends fand er sich erneut in Ren Ous Gegend wieder. Wie von einer fremden Macht getrieben hatte er sich heute einfach in sein Auto gesetzt und war hierher gefahren. Er hatte seinen Wagen dieses Mal woanders geparkt, aus Sorge, man könne ihn wieder erkennen, und lief den Rest der Strecke zu Fuß. Außerdem hatte er sich einen anderen Mantel angezogen und einen schwarzen Hut tief in sein Gesicht gezogen, um nicht wieder erkannt zu werden. Es war merkwürdig – Heute sauste der Wind ihm um die Ohren und der Himmel klarte zum ersten Mal seit Wochen auf. Ein großer Mond hing am Himmelszelt und beschien die Welt mit seinem Glanz. Das war das erste Mal seit einigen Wochen, dass die Nacht tatsächlich so hell gewesen war. Es war bitterkalt, als würde es heute noch anfangen zu schneien. Die Kälte klammerte sich an den Mann wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm.

Kein Blatt hing mehr an den Bäumen. Auf den Straßen bildete das Laub im Wind immer wieder kleine Wirbelstürme, die dann plötzlich zum Erliegen kamen. Es raschelte immer wieder hier und da. Irgendwie war die Nacht bedrückend. Eine unangenehme Gänsehaut ließ die Nackenhaare des Inspektors kräuseln, je näher er dem Haus kam. Das Anwesen lag in kompletter Dunkelheit. Obwohl es gerade erst früher Abend war, war kein Licht weit und breit zu erkennen – nur ein leichtes, fahles, weißes Licht schien in Annas Zimmer zu brennen. Die Bäume in dem Garten hatten nun endlich begriffen, dass es November war, und hatten all ihre Blätter abgelegt. Auch die Rosen schienen langsam zu erkennen, dass es Zeit war, aufzuhören zu blühen. Der Garten sah erschreckend kahl aus. Kobayashi konnte diese Nacht nicht wie immer am Haupteingang stehen – er ging um das Anwesen, das von einer hohen Betonmauer geschützt war, herum und suchte nach einer Möglichkeit, sie zu überwinden. An einem der Mauer nahe stehenden Baum griff der Inspektor nach einer Mülltonne und benutzte diese als Aufstiegsmöglichkeit, um auf den Baum zu klettern. Dieser verschaffte ihm Zutritt zu der Mauer. Mit einem Schnaufen landete der Inspektor auf dem Privatgelände und schaute sich um. Es war still. Unglaublich still. Als würde nicht einmal der Wind hier sprechen dürfen. Es war beunruhigend, wenn man daran dachte, dass vor der Mauer der Wind noch so stark blies. Der Mann begann über das Gelände zu schleichen. Wieso sollte er heute hierher kommen? Wieso war er Eves Rat überhaupt gefolgt?

Der Blick des Polizisten wanderte über die Fenster. Wirklich nichts rührte sich. Waren die Kinder nicht Zuhause? Seine Augen hefteten sich auf Annas Zimmer. Dort stand eine kleine Lichtquelle, die ab und zu flackerte. Dann, wie aus dem Nichts, wurde das Zimmer dunkler. Etwas formte sich. Etwas aus der Dunkelheit. Langsam gab es der Gestalt Arme, Beine, Hände und ein Gesicht. Es war der Schatten, den Kobayashi schon öfter gesehen hatte. Wie immer spürte er sofort den musternden Blick auf sich, als der Schatten die Hand hob und begann, dem Inspektor zuzuwinken. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, während er beobachtete, wie dieses Etwas die Hand schwenkte. Er hatte gedacht, dass es eine Person gewesen war. Ein Mensch, der ins Zimmer gekommen war und sich ans Fenster stellte. Doch das, was er gerade beobachtet hatte, verriet ihm, dass es kein Mensch sein konnte.

Plötzlich änderte sich die Handbewegung. Sie hörte auf zu schwenken, kam zum Stillstand und dann zeigte der Zeigefinger aus dem Fenster hinaus zum Haupteingang. Dort, wo ein Gesicht hätte sein sollen, war nichts. Dennoch formten sich die Linien eines Lächelns bei dieser Person. Kobayashi konnte nicht sagen, woher er das wusste, doch er spürte es jedes Mal, wenn der Schatten begann zu grinsen, als würde er die Angst des Inspektors genießen. Sein Blick folgte dem Fingerzeig des Fremden zum Garten. Was er dort sah, schockierte ihn noch mehr. Weitere schwarze Gestalten kletterten über die Mauer. Zuerst waren es zwei, drei, dann wurden es mehr. Irgendwann betraten 12 Fremde das Anwesen und begannen, über das Gras zu rennen. Ihre Schritte machten keine Geräusche, als wären es Ninjas in geheimer Mission. Sofort suchte Kobayashi Blickschutz hinter einer der großen Rosenhecken. Der Inspektor dankte dem Herren, dass die Rosen noch genug Blätter besaßen, um ihn zu verstecken. Durch die Zweige hindurch beobachtete er, wie die Eindringlinge den Garten absuchten. Wer waren diese Leute? Was wollten sie hier? Beim näheren Hingucken erkannte der Mann, dass es keineswegs solche Wesen waren, wie der Schatten in Annas Fenster. Es waren Männer, die Kleidung trugen. Sie waren schmächtig und lang, schienen alle zwischen 20 und 30 Jahre alt zu sein und waren sehr agil. Ihre Kleidung war in schwarz gehalten und fast alle trugen Masken oder Hüte, um ihr Gesicht zu verdecken. Plötzlich blieben sie stehen. Es war ruhig. Die Stille tat fast weh, denn das einzige, was Kobayashi noch hören konnte, war das Trommeln seines eigenen Herzschlages. Sollte er seine Waffe ziehen? Sollte er Anna und die Kinder verteidigen? Vielleicht waren das ja die Mörder von Frau Kurosawa! Aber seine Waffe hätte nicht genügend Schuss für die ganzen Eindringlinge. Sollte er Verstärkung rufen?

Es brauchte nur diese eine Sache, um den Herzschlag von Kobayashi zum Aussetzen zu bringen. Ein Stampfen. Es erschütterte den Boden so sehr, dass der Inspektor das Gefühl bekam, zu vibrieren. Es war ein markerschütterndes Gefühl, als würde eine riesige, blutdürstige Bestie auf ihn zu laufen. Man hörte wie schwere Pfoten über das Gras stampften. Dann Zähnefletschen. Knurren. Es war so tief und angsteinflößend, dass der erwachsene Mann sofort erstarrte. Sein Kopf neigte sich zum Hauseingang um die Quelle dieser angsteinflößenden Geräusche auszumachen. Die Haustür stand offen. Ein großer, weißer Wolf badete im Mondlicht und entblößte die Zähne gegenüber seinen Feinden. Er war viel zu groß, um überhaupt durch die Haustür passen zu können. Tatsächlich reichte seine Größe bis zum ersten Stock. Sein Fell war weiß, leuchtete silbern unter dem Mond auf, als wäre er dieser selbst. Er bellte. Drei weitere Wölfe stellten sich an seine Seite, ein fast schwarzer und zwei rotbraune, die um einiges kleiner waren, als der Anführer. Dennoch hatten sie die Größe eines ausgewachsenen Mannes. Auch sie begannen zu knurren. Man hörte Lachen. Einer der Eindringlinge begann wie verrückt zu kichern. Die anderen stimmten langsam mit ein. Wie konnte man in Anbetracht solcher Bestien anfangen zu lachen? Kobayashi verstand es nicht. Es war ihm völlig unverständlich. Sein Blick war weiterhin auf den Anführer der Wölfe geheftet. Die schweren Pfoten ließen den Boden erzittern, während der riesige Wolf weiterhin auf die Eindringlinge zu lief. Die zwei kleineren Wölfe fingen angriffslustig an zu bellen, der schwarze war ruhig. Kobayashi war wie festgefroren. Etwas in dieser Situation ließ seine Muskeln erstarren. Angst hockte ihm im Nacken und er kauerte sich zusammen. Würde man ihn sehen, würde er getötet werden. Das war ihm sofort klar. Dann begann man, Stimmen zu hören.

„Gib' sie uns.“ Das waren die Worte. Jeder von den Eindringlingen sagte sie. Es wurde zu einem Kanon von Verrückten. Das Knurren des Wolfes wurde noch lauter. Der weiße begann, seinen Oberkörper zu senken und seinen Hintern zu heben, als würde er sich für den Sprung bereit machen.

„Gib' sie uns. Gib' sie uns. Gib' sie uns. Gib' sie uns.“, die Eindringlinge hörten nicht auf. Die Worte bissen sich in die Ohren des Inspektors wie kleine Flüche. Das Bellen wurde lauter. Nun stimmte auch der schwarze Wolf mit ein und alle begannen, sich bereit zu machen. Sie bellten als würden sie die Worte der Fremden tatsächlich verstehen und dagegen protestieren. Es war irrwitzig, wenn Kobayashi so darüber nach dachte. Einfach unwirklich. Plötzlich fing einer der schwarzen Gestalten an, auf die Wölfe zu zu sprinten. Blitzschnell hatte eines der Tiere reagiert reagiert – es war einer der rotbraunen, der los gehastet war und mit einem Sprung auf den Oberkörper den Eindringling auf den Boden pinnte. Und so begann es.

Die zwei Fraktionen rasten aufeinander zu und prallten aneinander – die Wölfe waren um einiges schneller. Der weiße Wolf hatte bereits den ersten der Fremden zwischen seinen Zähnen, riss mit hastigen Kopfbewegungen an ihm und ließ ihn schließlich zu Boden fallen. Man hörte das Zerbrechen menschlicher Knochen und ein wehleidiges Jammern. Sofort teilten die Fremden sich auf – jeweils zwei kümmerten sich um die kleineren Wölfe, während der Anführer der Hunde sich um 6 der Gegner kümmern musste. Es war unmenschlich, wie hoch die Fremden springen konnten – wie Zecken bissen sie sich dann in das weiße Fell und ließen nicht mehr los, egal wie sehr sich der Wolf schüttelte. Man hörte wie die Kiefer knackten, als die Angreifer sie sich ausrenkten um noch tiefer in den Nacken des weißen Wolfes beißen zu können. Man hörte, wie das Knacken ihrer Gelenke gefolgt wurde von dem Reißen von Fleisch. Dann hörte man hörte ein Jaulen. Kobayashis Augen wandten sich vom weißen Wolf ab, nur um zu erkennen, dass einer der rotbraunen wimmernd am Boden lag. Einer der Eindringlinge biss in den Nacken des Tieres und schien so stark daran zu zerren, dass das Fleisch bereits unter seinen Zähnen nach gab. Blut spritzte. Kobayashi wurde übel. Seit wann verhielten sich Menschen so? Es wurde schwierig, weiter zu atmen. Die Luft wurde gefüllt mit dem Geruch von Blut und Fleisch. Schwer wie Blei lastete sie auf seiner Brust. Sofort lief der andere rotbraune auf den verletzten Kameraden zu, schnappte nach dem Hals des Gegners und biss zu. Es dauerte einige Sekunden, bis der zweite Wolf den Hals durchtrennt hatte. Ein Kopf fiel zu Boden. Eine Blutfontäne schoss aus dem Hals des Angreifers heraus und der Körper sackte leblos auf dem verletzten Wolf zusammen. Dieser versuchte sich unter dem Gewicht des Toten zu befreien, versuchte, darunter hervor zu kriechen, bevor die anderen Gegner ihn weiterhin angreifen konnte. Es geschah so schnell, dass Kobayashi überhaupt nicht in Worte fassen konnte, was passierte: Vier der schwarzen Männer hatten sich um den verletzten Wolf gestellt und während einer sich wieder dem Nacken des Tieres widmete, hielten die drei anderen den zweiten rotbraunen Wolf fest, damit dieser nicht helfen konnte. Er sollte zusehen, wie sie seinen Kameraden zerfleischten. Es war unmenschlich, barbarisch, gnadenlos. Der Wolf am Boden jaulte einen markerschütternden Schrei, während der andere wie verrückt bellte. Das Jaulen wurde lauter, je mehr an dem Hals des Biestes gerissen wurde. Blut begann das rotbraune Fell zu tränken. Das schlimmste war das Bellen. Aufgebrachtes, lautes Bellen, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Mit einem Knacken fing der Angreifer plötzlich Feuer. Wie verrückt begann er zu schreien, zu klagen, während er vom Wolf abließ und sich auf den Boden schmiss, um auf dem Gras herum zu rollen und das Feuer an seiner Kleidung zu löschen. Es ging nicht aus. Er schrie und schrie, während die Flammen langsam über sein Gesicht züngelten und dort verharrten. Sie brannten sich ein, fraßen das Fleisch darunter und begannen, die Knochen im Gesicht freizulegen. Der Geruch von verbranntem Fleisch kroch in Kobayashis Nase und gab seinem Magen den Rest: Er drehte sich vom Geschehenen weg und begann zu brechen. Während er da hockte und den Boden anstarrte, schweißgebadet und zitternd, hörte er weiteres Knacken. Dann noch eins. Mit jedem einzelnen dieser Geräusche begann ein weiterer Angreifer zu schreien. Schnell war der ganze Garten erfüllt von dem Geschrei, während brennende Menschen über den Rasen auf das Tor zu rannten und versuchten zu fliehen. Funmen und Glut zuckten durch die tiefe Nachtluft. Kobayashi versuchte auf seinen wackeligen Knien Halt zu finden und stand auf. Er griff zu seiner Waffe. Das kalte Eisen ließ gab ihm den Anflug von Sicherheit zurück. Er konnte hier nicht weiterhin tatenlos herumsitzen wie ein weinerlicher Frischling und zusehen wie Menschen starben. Der Inspektor kam aus seinem Versteck hervor und sah, dass alle der Hausbewohner nun im Garten vor der Haustür standen und ihren Blick auf das Leid und die Qualen richteten, die ein einziger von ihnen verursachte: Ein junger Mann mit feuerrotem Haar stand in der Mitte des Gartens, umgeben von seinen Opfern, mit einem sadistischen, unbeschreiblich grauenhaften Grinsen im Gesicht, während seine Arme verschlungen wurden von dem Feuer, das bereits die Fremden zur Strecke gebracht hatte. Der erste, der von dem Feuer getroffen worden war, lag in einem Aschehaufen neben dem verletzten Wolf, bei dem nun auch die drei anderen Tiere standen. Der weiße Anführer hatte einen der Gegner unter seiner Pfote zerquetscht. Die Gedärme quollen wie Hackfleisch unter seinen Klauen hervor, wenn man es zu stark drückte. Der Mann hatte noch Blut gespuckt, ehe er wohl gestorben war. Es hatte keinerlei Gnade gegeben. Ein Kampf war noch nie so einseitig gewesen. Das Schreien erlosch allmählich. Weitere Aschehaufen legten sich zu Boden.

Langsam setzte sich die Gruppe in Bewegung und machte Schritte auf den letzten Überlebenden zu. Es war ein Todesmarsch. Ein Gang, als würde man eine geliebte Person in ihr Grab tragen. Langsam, im Gleichschritt, schweigend. Die Füße der Kinder hinterließen feste Abdrücke in dem brennenden Gras, während sie auf Shiro und den Gefangenen zugingen.

„Ist das der letzte?“, Ren Ous bekannte Stimme drang wieder an Kobayashis Ohr und erneut bekam der Inspektor eine Gänsehaut. Sie war noch tiefer als sonst, brummiger. Der riesige, weiße Wolf nickte. Der letzte der Eindringlinge klappte vor Angst zusammen. Kobayashi hätte es ihm am liebsten gleich getan. Die Hände des Überlebenden fühlten das feuchte, von Blut getränkte Gras, ehe er sich umdrehte und versuchte, wie ein Käfer weg zu krabbeln.

Plötzlich hörte man das Geräusch einer kleinen Explosion, ein „Poof“ könnte man meinen, und Nebelschwaden legten sich über das Schlachtfeld. Aus ihnen heraus trat Shiro, Annas Cousin. Kobayashi konnte seinen Augen nicht trauen. Der Junge war getränkt in Blut, sein weißes Haar schien nun so rot, wie das des anderen Jungen. Sein Nacken zeigte eine klaffende Wunde, als könnte der Kopf jeden Moment abfallen. Das Licht im Garten erlosch wieder, als die Flammen an Akira erstarben. Dieser drehte sich nun ebenfalls um und ging auf den Angreifer zu, um ihn festzuhalten. Anna widmete ihre Aufmerksamkeit zuerst dem Wolf.

„Können wir Rose helfen, Liam?“, fragte sie unsicher. Ihre Fingerspitzen schwebten über den verletzten Nacken, trauten sich aber nicht ihn zu berühren. Der riesige Braunhaarige nickte leicht. Er beugte sich nun ebenfalls zu dem Wolf hinunter. Anna stand wieder auf und ging zu Akira, Shiro folgte ihr. Auch Ren und Mirai gingen auf den letzten Überlebenden zu.

„Ich hab' Kai gerochen.“, brummte Shiros tiefe, bassbetonte Stimme und er griff nach der Maske, die der Fremde trug. Akira hielt seinen Arm fest.

„Bist du dir sicher? Was, wenn es wirklich Kai ist?“, fragte er und er spähte aus den Augenwinkeln zu Anna.

„Ist er nicht.“, erwiderte diese gelassen und Shiro hob die Maske ab. Sie entblößte ein von Sucht zerfressendes Gesicht. Schwarze, kranke Augen, die sich tief unter Augenringen versteckten und irgendwie wie in den Kopf hineingedrückt aussahen. Seine Haut war leichenblass, trocken und fahl. Akira griff nach dem Kiefer des Angreifers und öffnete seinen Mund, während dieser vor Angst aufjapste.

„Vampire.“, schnauzte der Rotschopf und ließ den Fremden wieder los. Anna seufzte.

„Wo ist Kai?“, fragte sie sofort, doch der Angreifer schüttelte wie wild den Kopf. Ein weiteres, lautes Knurren folgte auf die Reaktion des Fremden.

„Willst du wirklich, dass Shiro dich tötet?“, lachte Akira und stemmte die Hände in die Hüfte.

„Ihr tötet mich sowieso.“, brachte der Vampir angsterfüllt hervor. Sein Körper lehnte sich weg von den anderen, in Hoffnung immer noch fliehen zu können. Mirai hockte sich neben Anna vor den Angreifer und musterte ihn.

„Und wie möchtest du sterben?“, fragte er kühl. „Willst du brennen? Willst du gefressen werden? Zerstampft? Vergraben? In die Sonne gehängt werden? Ertrinken? Verzweifeln, bis du dich selbst tötest?“. Es war kaum möglich, aber der Fremde wurde noch blasser.

„Halt!“, Kobayashi hatte endlich seinen Mut wieder gefunden. Er richtete seine Waffe auf die Blondine im Garten, während er einige Schritte auf sie zu machte. „Hört sofort auf damit!“. Verstärkung war schon unterwegs. Am liebsten hätte der Inspektor gewartet, bis sie da gewesen wäre, aber die Kinder machten gerade ernsthafte Morddrohungen gegenüber dem letzten Überlebenden und sie hatten schon elf andere Personen hier getötet. Shiro und Mirai richteten sich auf und drehten sich dem Polizisten zu. Er war zehn Meter von Anna entfernt. Aus dieser Entfernung war es unmöglich, das Mädchen zu verfehlen. Auch wenn er sie niemals erschießen würde – er musste jetzt einen Punkt setzen. 'Schauen Sie sich ihren Rücken an' – Diese Worte hatte Eve Inspektor Kobayashi noch hinterher gerufen. Sein Blick wanderte den schmalen Rücken hinab, doch der Pullover, den das Mädchen trug, ließ nichts erkennen. Der Inspektor schluckte.

„Anna Kurosawa, ich hätte nie gedacht, dass du zu so etwas fähig bist. Vor kurzem erst hast du deine Mutter verloren, deswegen hätte ich vermutet, dass du weißt wie es sich anfühlt, wenn Menschen sterben. Und nun...“, begann der Inspektor, doch brach ab. Jeder. Jeder einzelne von ihnen begann ein wehleidiges Lächeln zu zeigen, bis auf Anna. Diese wandte ihren Kopf dem Inspektor zu. „Was ist so witzig?“, fauchte der Mann sofort.

„Nichts.“, grinste Akira. „Das hier ist alles andere als witzig.“.

„Oh man, wie ich Menschen manchmal hasse.“, Mirai stand auf und streckte sich, ehe er seine Hand um einen Stab legte, der im Boden steckte.

„Nichts, was wir tun können. Er gehört zur Polizei.“. Ren seufzte.

„Er hat bereits Verstärkung gerufen.“, erklärte Anna nun und sah wieder den Vampir an. „Wo ist Kai?“.

Dieser keuchte. Er schien unter dem Druck von Annas Augen zu zerbrechen.

„Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht...“, jammerte der Fremde. Akiras Hand umfasste die Kehle des Fremden und drückte zu.

„Ich brauch' keine Gedanken lesen, um zu erkennen, dass du lügst.“, zischte der Rotschopf leise. „Sag' uns, wo er ist. Hat er euch dabei geholfen?“.

„Ich habe gesagt, ihr sollt aufhören!“. Ein Knall ertönte. Der Geruch von Schießpulver lag in der Luft. Anna erstarrte, als sie das Einschussloch im Gras neben Akira sah. Auch dieser war für eine kurze Sekunde zusammen gezuckt, wandte sich um und starrte den Inspektor an. „Das war ein Warnschuss. Der nächste trifft. Lass' ihn los.“, brummte der Inspektor ungeduldig. Liam und Mirai machten einige Schritte auf den Inspektor zu, doch dieser richtete abwechselnd die Waffe auf die beiden Jugendlichen.

„Keinen Schritt näher.“. Er war in einer absurden Situation.

„Wissen Sie, was dieser Typ getan hat? Sie sind schon eine Weile hier und wollen mir erklären, dass dieser Kerl ein unschuldiger Mensch ist?“, fauchte Mirai genervt.

„Das tut nichts zur Sache. Jeder Mensch hat das Recht zu leben und wenn er etwas verbrochen hat, wird die Polizei darum kümmern. Aber Selbstjustiz ist nichts anderes als sinnloser Mord!“, erklärte sich der Inspektor aufgebracht.

„Sag' mir, wo er ist.“, flüsterte Anna dem Vampir zu und beugte sich vor. Sie hatte gerade keine Zeit, sich um Kobayashi zu kümmern. Akira stand auf und stellte sich hinter seine Königin. Der Vampir japste erneut. Die jungen Männer schwiegen. Langsam liefen sie alle zu Akira und stellten sich neben ihn, um Anna Schutz vor dem Inspektor zu geben.

„Sie wissen wirklich nicht, was Sie hier tun.“, seufzte Mirai, stieß den Stab wieder in den Boden und lehnte sich an diesen an.

„Sag' mir, wo er ist.“.

„Was tut sie da mit ihm?“, fragte der Inspektor nervös und versuchte, einen Blick auf das Mädchen zu erhaschen. Der Mann bekam keine Antwort. Das Jammern des Angreifers wurde lauter. Langsam aber sicher wurde es noch wehleidiger, begann sich in ein Schreien zu wandeln. Sirenen erklangen in der Ferne.

„Sie soll da weg gehen!“, Kobayashi richtete die Waffe auf Ren. Dieser verharrte in seiner Position, als würde ihn die Waffe nicht eine Sekunde lang beeindrucken. Man hörte Bewegungen hinter den Männern. Was war das? Es schien, als würde jegliches Mondlicht hinter diesen Männern von Dunkelheit verschlungen werden. Und dort, hinter ihren Schultern, erhob sich etwas. Sie sahen aus wie kleine, schwarze Schlangen, die sich langsam über den Körpern der Jugendlichen erhoben.

„Sag' mir, wo er ist. Das ist deine letzte Chance.“. Annas Stimme war so eindringlich, dass Kobayashi am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam. Sie war so klar, als würde das Mädchen diese Worte Kobayashi ins Ohr hauchen, nicht dem Gefangenen. Der Fremde schrie. Er schrie so sehr, wie der Mensch, der vorhin bei lebendigem Leibe verbrannt wurde, vielleicht sogar noch schlimmer.

„Sie wollen sehen, was sie macht?“, Akiras sadistisches Grinsen kam zurück. Seine Augen leuchteten in einem kalten, metallenen Gold. Er wich zur Seite. Die Reihen der jungen Männer lichteten sich und gaben Sicht auf eine sich erhebende Königin, die umschlungen wurde von Finsternis. Ihr Rücken, der so schmal war und vorher noch verdeckt von einem weißen, plüschigen Pullover, war nun getaucht in schwarzen Linien, die keinerlei Licht reflektierten. Sie tanzten auf der Haut des Mädchens und schienen Spaß zu haben.

„Was zum...“, Kobayashi traute seinen Augen nicht. Die Töne der Sirenen drangen näher. Gleich war die Verstärkung da. Annas Gesicht wandte sich von dem Fremden ab und dem Inspektor zu: Ihre Augen waren pechschwarz. Alles darin. Ihr Gesicht war durchzogen von schwarzen, Narben ähnlichen Linien.

„Er weiß nichts.“, jegliche Freundlichkeit in ihrer Stimme schien kaltblütig ermordet worden zu sein. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Angst, Sorge oder Mitleid. Ein Knacken. Mit einem rauschenden Geräusch fing der Fremde hinter den Kindern Feuer. Akira hatte nur seine Hand gehoben – das hatte gereicht.

„Was zum Teufel seid ihr…?“, die Hand des Inspektors zitterte. Schnell umfasste auch seine zweite den Griff der Waffe, um diese stabil zu halten.

„Inspektor, ich schätze es ist höchste Zeit, dass wir mal miteinander reden.“. Das Schwarz in ihren Augen verblasste wie Tinte, die sich in einem Glas Wasser auflöste.

„Wir reden auf der Wache.“, fauchte der Inspektor und richtete seine Waffe wieder auf das Mädchen. Der weiße Pullover hing nur noch in Fetzen über ihrem Oberkörper. Mirai reichte Anna seine Sweatshirtjacke.

„Nein, werden wir nicht.“, brummte Ren Ou nun. Die Autorität in seiner Stimme war angsteinflößend. Blaulicht flackerte in der Straße auf. Die Sirenen verstummten. Auch von der anderen Straßenseite sah man das blaue Licht die Häuserwände bestrahlen. Die Polizei umstellte das Haus. Inspektor Kobayashi spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Doch die Kinder bewegten sich nicht.

„Gebt auf, das Haus ist umstellt.“, schluckte der Inspektor und zielte mit seiner Waffe weiterhin auf Anna.

„Ich kann nicht glauben, dass Sie ein Mädchen bedrohen.“, lachte Mirai kurz. „Und selbst, wenn Sie hier mit einer Armee auftauchen, was können Sie schon tun?“. Wie aufs Stichwort hörte man Knurren. Die Nackenhaare des Inspektors kräuselten sich. Heißer Atem legte sich auf seine Haut und ließ sie erzittern. Ein Schnaufen. Ein schwarzer Wolf, so groß wie er, stand hinter ihm. Seine weißen, scharfen Fänge waren getränkt von Blut und Fleisch.

„Gehen Sie ins Haus.“. Annas Stimme war so klar und deutlich zu vernehmen, dass Kobayashi erneut zusammen zuckte. Das Licht des Mondes verschwand. Wolken verhangen den Himmel wieder. Die Wärme in der Luft, die durch die Flammen entstanden war, erlosch. Die Dunkelheit der Nacht kehrte zurück und in ihr begannen die Büsche und Bäume am Rand des Anwesens zu wachsen – in einer surrealen Geschwindigkeit. Es wurde noch dunkler, als die Nacht eigentlich war. Es wurde kalt. Kobayashi konnte seinen eigenen Atem sehen. Annas Augen erstrahlten in einem Blau, das ungleich jedem anderen war. Auch die Augen der Männer waren merkwürdig erleuchtet, bis sie fast die einzige Lichtquelle zu sein schienen. Man konnte fast nur die Paare der Augen erkennen, die ihn anstarrten. Als wären sie Bestien, die ihre Beute sahen. Das Atmen in seinem Nacken war immer noch erschreckend nahe. Eine Hand packte den Arm des Inspektors, so stark, dass sie fast seinen Knochen zu brechen drohte.

„Wie gesagt, es ist höchste Zeit, dass wir miteinander reden.“. Die Waffe glitt aus seinen Händen und fiel auf den dampfenden Boden. Jemand hob sie auf.

Das Haus war erhellt im strahlenden Licht. Es blendete den Inspektor. Er saß auf einer Couch mit rotem Lederbezug in dem Wohnzimmer, das er öfters schon observiert hatte. Eine feine Porzellantasse mit Tee stand auf dem kleinen, dunkelbraunen, polierten Tisch. Es roch nach Pfefferminze.

„Pfefferminze beruhigt den Magen.“, erklärte Iori, der die Tasse dort abgestellt hatte. Er stand neben Kobayashi. Wieso war er und der kleine Knirps, der es sich gerade auf Annas Schoß gemütlich gemacht hatte, eigentlich nicht draußen gewesen? Und wieso beredeten sie plötzlich alles wie zivilisierte Menschen bei einer Tasse Tee?

Akira und Mirai standen vor den Fenstern und beobachteten die Mauer. Polizisten standen vor dem Tor und holten ein Megafon heraus, um Warnungen auszurufen.

„Wir haben nicht viel Zeit.“, brummte Mirai genervt.

„Was zum Teufel geht hier vor, Anna?“, fauchte der Inspektor nun aufgebracht.

„Beruhigen Sie sich.“, ermahnte Ren ihn sofort und setzte sich neben Anna auf die Couch. Er nahm sich ebenfalls eine Tasse und begann daraus zu trinken.

„Wir haben Ihnen gesagt, Sie sollen aufhören zu ermitteln. Menschen haben hier nichts zu suchen.“. Der kleine Junge erhob wieder seine Stimme, starrte auf den Tee vor sich und beobachtete, wie er kleine Dampfwolken ausstieß. Anna streichelte ihm behutsam den Kopf.

„Diese Dinger da draußen, das waren keine Menschen. Genau so wenig, wie wir welche sind.“. Der europäische Riese meldete sich zu Wort. „Anna, es wäre einfacher, wenn du es ihm zeigst.“. Das Mädchen nickte.

Unter riesigen Schmerzen fluteten Bilder Kobayashis Kopf. Bilder von Kai, wie er auf Annas Fenster saß und sie anlächelte. Bilder von Mirai, wie er im Wald stand, umzingelt von Affen. Ein kleiner weißer Wolf in einem Käfig. Der Duft von lilafarbenen Blumen. Dann ein riesiger, silberner Wolf, der sprach. Es war eine Reizüberflutung. Kobayashis Kopf schien unter den Schmerzen zu zerbrechen. Das Bild von Adam tauchte auf, wie er mit ihr sprach, in einem Anwesen weit weg von hier. Die Schatten, die nachts mit ihr sprachen. Ein kleiner Junge, wahrscheinlich Toki, der leblos im Bett lag. Liam, der im Schulhof bei Anna saß und mit ihr die Natur genoss. Dann Feuer, Flammen. Schließlich der leblose Körper ihrer Mutter, zerrissen und zerfetzt. Kobayashis Herz setzte aus. Eine Versammlung von Menschen mit Flügeln, Dunkelheit, die den Raum füllte, eine Unterhaltung mit dem kleinen Jungen namens Sho, der sein Schicksal mit Anna teilen wollte. Dann ein Traum. Der Traum, wie Anna im Bett lag, während ihr Rücken zerfleischt wurde. Kobayashi meinte, das Kratzen auf seinem eigenen Rücken spüren zu können. Das Fieber an ihrem Geburtstag. Die Naturkatastrophen. Annas Vergangenheit, Annas Gegenwart, ihr Schmerz, ihre Hoffnung, ihre Macht. Dann kam Eve zum Vorschein. Ein schwarzes, riesiges Tattoo auf dem Rücken der Schwarzhaarigen. Männer, die um sie herum standen, einer gefährlicher als der andere. Kobayashi keuchte. Seine Augen wurden wieder klar, er sah nun wieder den Tee an, der vor ihm stand. All diese Bilder und Eindrücke aus Annas unmittelbarer Vergangenheit… Die Wesen, die sich hier als Menschen tarnten und sie beschützten. Annas Macht. Er verstand nichts von alledem.

„Was… soll das bedeuten?“. Der Inspektor schwitzte. Es war schwierig zu atmen, geschweige denn zu reden. Seine Kehle fühlte sich trocken an.

„Es bedeutet, dass wir bereits wissen, wer Misaki Kurosawa ermordet hat und dass die Polizei sich raushalten sollte. Wenn wir Menschen involvieren, hat die Person, die wir suchen, unnötige Geiseln. Wir wollen ihr nicht mehr Macht geben, als sie schon hat.“, erklärte Ren ruhig und setzte seine Tasse ab.

„Aber… ich verstehe nicht – “, begann der Inspektor. Er starrte Anna an. Der kleine Junge auf ihrem Schoß erwiderte Inspektor Kobayashis Blick, doch Anna schaute zum Fenster. Dort, wo der Rothaarige stand. Ja, er hatte ihr ein Versprechen gegeben. Das wusste Kobayashi nun. Aber er konnte ihre Erinnerungen nicht zuordnen.

„Anna kann… gewisse Sachen. Zum Beispiel Gedankenlesen.“, erklärte Ren, der Kobayashis Blick deuten konnte. „Es ist ein Krieg, den Menschen nicht kämpfen sollten.“, fügte er hinzu.

„Was zum Teufel seid ihr?“, fragte Kobayashi entsetzt.

„Dämonen, Götter, Fabelwesen… Alles mögliche.“, antwortete Iori gelassen und ließ sich neben dem Inspektor aufs Sofa fallen. Doch bei dem Gedanken, dass „es sowas gar nicht geben kann“, fühlte sich sein Herz schwer an. Selbst wenn er Annas Erinnerungen nicht traute, was gerade im Garten geschehen war, war nicht mehr menschlich.

„Denken Sie, dass Ihre Kameraden Sie retten können?“, Annas Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Sie starrte immer noch aus dem Fenster. „Denken Sie, dass sie heil hier raus kommen, wenn sie uns angreifen?“.

Der Inspektor schluckte. Er konnte nicht „Ja“ sagen. Es ging einfach nicht. Seine Urtriebe, seine Angst, sein Überlebenssinn sagten ihm alle: Nein, das würden normale Menschen nicht heil überstehen.

„Inspektor, ich will das klarstellen.“, Anna heftete ihre Augen endlich auf den Inspektor, als würde sie ihn anerkennen, doch im selben Moment wünschte sich Kobayashi, sie hätte es nicht getan. Angst trieb ihm Adrenalin durch seine Adern. „Wir werden das alleine auskämpfen, ohne die Menschen. Und wir werden diejenigen töten, die uns Unrecht angetan haben. Mir, Iori, Mika, Kai, Adam und meiner Mutter. Wir werden sie finden und töten. Nichts wird uns davon abhalten.“. Sie sagte das, ohne mit der Wimper zu zucken. „Wenn Sie das verstanden haben, gehen Sie nun bitte und nehmen Sie Ihre Kollegen mit.“.

„Verarschen kannst du dich alleine.“, fauchte der Inspektor und stand auf. „Ich weiß nicht, in was für einer Fantasiewelt ihr lebt, aber denkt ihr wirklich, es ist okay, andere Menschen oder was auch immer zu töten – für Rache? Wisst ihr, wie viel Leid ihr damit auslösen werdet? Und denkt ihr echt, ich würde ein paar Kids wie euch hier einfach frei rumlaufen und morden lassen?“. Seine Stimme erhob sich zu einem Schreien. Anna stand auf – so taten es die anderen.

„Das ist nicht nur für Rache.“, nun war Anna diejenige, die die Stimme erhob. Sie sah wirklich wütend aus, fast als würde sie schmollen. Kobayashi hatte also ins Schwarze getroffen. „Gehen Sie nun.“, fauchte das Mädchen und wandte sich ab.

„Ich werde hier warten, bis ihr in Handschellen gelegt worden seid.“, keifte der Inspektor zurück.

„Es wird niemand kommen.“, brummte Anna gehässig und ging zur Tür. Sie öffnete den Weg zum Flur und deutete dem Inspektor an, zu gehen. „Schauen Sie selbst.“.

Der Mann wurde durch den Flur zum Garten geführt. Vor dem Tor zum Anwesen flackerten immer noch die Blaulichter. Sie beschienen die riesigen Bäume und Büsche, die am Mauerrand wucherten. Der Rasen glühte hier und da immer noch neben den Aschehaufen auf. Es war ruhig. Männer in Uniformen standen im Garten und starrten auf das Anwesen. Sie rührten sich kein Stück.

„Was...“, Kobayashi stockte der Atem. Er ging auf seine Kollegen zu, doch diese rührten sich nicht, selbst bei seinem Anblick. Er wedelte mit den Händen vor den Augen der Polizisten, doch sie schienen Kobayashi einfach nicht zu sehen.

„Was habt ihr mit ihnen gemacht?“, der Inspektor drehte sich schlagartig um und funkelte Anna an, doch erneut blieb ihm das Herz stehen. Es waren die Augen von Bestien, die seinen Blick erwiderten.

„Sie träumen.“, flüsterte Liam leise und lehnte sich an einen der Pfeiler des Hauses. Kobayashi drehte sich wieder zu seinen Kollegen um und musterte die Gesichter. Sie schienen keine Schmerzen zu haben. Plötzlich machten sie auf den Absatz kehrt und wankten zurück zum Ausgang.

„Wir wollen keinen Stress.“, murrte Mirai nun und setzte sich auf den Treppenabsatz. „Deswegen haben wir beschlossen, mit der Polizei mehr oder weniger zu kooperieren. Wir werden Sie informieren, wenn es etwas weltbewegendes gibt. Solange halten Sie bitte die Füße still.“.

Trotz Verstärkung war Kobayashi alleine. Er wusste nicht wie, aber alle seine Kollegen waren wie hypnotisiert. Widerwillig folgte er seinen Kameraden. Alleine konnte er hier nichts bewirken, aber „Aufgeben“ war ein Wort, das ihm fremd war.
 

Mirai seufzte erschöpft. „Ich hab Hunger, lasst uns was essen.“, murmelte er und stand vom Treppenabsatz wieder auf. Die anderen drehten sich wieder der Haustür zu.

„Der Typ wird nicht aufgeben...“, murmelte Akira nachdenklich. Erneut spürte er Annas Blick im Nacken und musste ungewollt grinsen. Sie schöpfte Verdacht, er konnte es spüren.

„Ich hab' was zu essen vorbereitet, während ihr hier beschäftigt wart.“, erklärte Iori und öffnete die Haustür wieder. Die Gruppe betrat das Haus und ging schnurstracks Richtung Esszimmer.

„Shiro, du hast Kai gerochen, hast du gesagt?“, fragte Ren nun und musterte den weißhaarigen Mann. Dieser nickte.

„Ja, er war an allen Vampiren zu riechen.“, erklärte der Wolfsjunge ruhig.

„Es sind seine Gefolgsleute. Vielleicht deshalb.“, vermutete Akira, doch Mirai hatte Einwände:

„Es kann auch sein, dass er sie geschickt hat und gemeinsame Sache mit Eve macht.“. Der Affenkönig ließ sich auf einen der Stühle der gedeckten Tafel fallen.

„Sag' sowas nicht.“, murrte Anna erschöpft und setzte sich neben ihn. „Das würde er nicht tun. Nicht Kai.“.

„Ich weiß nicht, wieso du dich immer noch für ihn einsetzt.“, entgegnete Mirai genervt und musterte die Blondine aus den Augenwinkeln. „Du hast dich doch nicht etwa in ihn verknallt?“.

„Kai war immer für sie da und hat nachts aufgepasst, dass ihr nichts geschieht. Sei nicht so blöd.“, antwortete Akira für sie und setzte sich Anna gegenüber, welche Shiro gerade bedeutete, duschen zu gehen und seine Kleidung zu ändern.

„Ist die Wunde an deinem Nacken schlimm?“, fragte sie noch besorgt, doch ihr Junge wedelte mit der Hand, als sei es nichts gravierendes.

„Wir müssen Toki herholen. Er kann uns helfen. Rose geht es nicht besonders gut.“, seufzte Ren und ließ sich am Kopf des Tisches nieder. Anna nickte. Rose war schwer verletzt in ein Bett gelegt worden, Liam kümmerte sich gerade so gut es ging um sie.

„Vielleicht sollten wir einen Tierarzt rufen.“, grinste Mirai. Das war nicht mal eine schlechte Idee, doch…

„Er würde den Wolf gleich mitnehmen wollen.“, erwiderte Ren. Iori brachte das Essen. Der Raum war gefüllt mit Gerüchen aus Gewürzen und gebratenem Gemüse.

„Ugh, ich will kein gebratenes Fleisch heute sehen.“, schluckte Mirai angeekelt und schob das gebratene Hühnchen von sich weg. „Ist lange her, dass ich dich in Aktion gesehen habe, Aki.“. Der Rotschopf grinste und zog das Fleisch an sich heran.

„Tatsächlich ist es das erste Mal, dass wir dich so gesehen haben.“, ergänzte Ren leicht überrascht und musterte Akira. Auch Sho, der neben dem Rotschopf saß, behielt seine Augen auf den Jungen.

„Tja, es gibt noch viel, das ihr über mich wissen müsst.“, lachte Akira im Gegenzug und begann zu essen. Sho wandte sich nun Anna zu.

„Kann ich heute bei dir schlafen?“, fragte er unverhohlen und Anna musste lachen, schüttelte aber den Kopf.

„Heute Nacht ist schlecht, sorry. Ich bin etwas erschöpft.“, sie führte ihre Stäbchen zu ihrem Mund und biss auf einer gebratenen Zuckerschote herum. Die Erinnerungen, die sie Kobayashi gezeigt hatte, hatte sie genau so gesehen, wie er. Alles kam wieder hoch. Außerdem ist es schwierig, die Kräfte zu kontrollieren – trotz Liams Training. Manchmal hatte sie das Gefühl, die Kraft würde sie übermannen, als gäbe es etwas in ihr, das sie beherrschen wollte. Es war kein schönes Gefühl.

„War es wirklich eine gute Idee, Kobayashi einzuweihen?“, fragte Iori nun erschöpft und begann ebenfalls zu essen, als er neben Sho Platz nahm.

„Hätten wir es nicht getan, hätte er uns weiterhin beschattet und wäre irgendwann ins Kreuzfeuer geraten. Das haben wir doch geklärt.“, erwiderte Anna.

„Ich würde es nicht schlimm finden. Er ist nur ein Mensch.“, erwiderte Iori gelassen und trank etwas Wein. „Außerdem wird er jetzt die ganze Polizei mobilisieren um uns aufzuhalten.“.

„Ich glaube kaum, dass er so etwas tun wird.“, mischte sich Ren nun ein. „Es ist eine Sache, seine ganze Mannschaft als Verstärkung zu rufen an einen Ort, an dem nichts passiert ist, und noch mal eine ganz andere Sache, ihr erklären zu wollen, hier seien Dämonen und Götter. Niemand wird ihm glauben und er wird ordentlich Ärger bekommen.“. Mirai lachte bei seinen Worten auf.

„Ich hoffe's. Der Typ hat echt auf Anna geschossen.“, Tränen bildeten sich in seinen Augenwinkeln.

„Hat er nicht auf Akira geschossen?“, fragte das Mädchen verblüfft und griff nach ihrem Glas. Mirai hörte auf zu lachen und sah zu Anna. Hatte sie es nicht mitbekommen?

„Seine Waffe war die ganze Zeit auf dich gerichtet. Hattest du keine Angst?“, Mirai klang, als würde er Anna für dumm halten. Diese schüttelte den Kopf.

„Nicht wirklich. Ich hab' mich in dem Moment unsterblich gefühlt.“, lächelte diese. Auch Mirai musste lächeln.

„Das bist du aber nicht.“, Ren klang etwas böse, als er diese Worte sagte. Er widmete sich Anna.

„Du solltest wirklich nicht in diese Kämpfe involviert sein. Was, wenn die Vampire dich angegriffen hätten? Sobald sie dein Blut trinken würden, hätten sie einen enormen Power-Boost bekommen. Dann wäre es nicht mehr so einfach gewesen, sie zu besiegen, und wir hätten mehr Schwerverletzte wie Rose. Vielleicht sogar Tote. Und wenn die zukünftige Königin durch einen Polizisten sterben würde, wäre es noch lächerlicher. Also pass' gefälligst besser auf dich auf.“, fauchte der Drachengott. Mirai legte beruhigend eine Hand auf Annas Schulter.

„Mach' dir nichts draus. Er macht sich nur Sorgen.“, grinste der Affenkönig und handelte sich sogleich einen funkelnden Blick von Ren ein. Akira grinste.

„Ich glaube, ihr wisst genau, dass Anna nicht so ein Mensch ist, der andere für sich kämpfen lässt.“, lächelte er gelassen und widmete sich einem Hähnchenschenkel. „Immerhin ist sie die Queen, Anführerin einer ganzen Gang und vermöbelt Leute, wo sie geht und steht.“.

Anna wurde leicht rot. „Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht.“, schnauzte sie peinlich berührt. Akira und Mirai lachten sofort. Die Atmosphäre entspannte sich langsam wieder. Doch Iori schien immer noch mit etwas zu kämpfen.

„Iori, hör' auf zu schmollen.“, schimpfte Anna schließlich, die beobachtet hatte, wie Iori seinen Teller musterte und im Essen herum stocherte.

„Ich hätte kämpfen sollen.“, schnauzte der Tengu nun, doch Anna schüttelte den Kopf.

„Hätte Eve bestätigen können, dass du wirklich hier bist, hätten wir ein Problem mehr am Hals. Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee gewesen wäre.“, erklärte Mirai und hob sein Weinglas zum Trinken an.

„War es denn eine gute Idee, den Mond durch zu lassen?“, wollte Iori nun im Gegenzug wissen. „Eve wusste nicht, was Akira ist. Nun kennt sie seine Kräfte.“.

Akira schnaubte höhnisch auf. „Oh bitte.“, grinste er selbstzufrieden und trank ebenfalls. „Das ist nicht mal der Ansatz meiner Kräfte.“.

„Sei nicht so arrogant.“, lachte Mirai.

„Trotzdem...“, Iori schien nicht zufrieden mit dem Argument zu sein.

„Iori, reiß dich zusammen. Eve sollte es sehen.“, murrte Sho nun und griff nach dem Gemüse. „Sie will, dass Anna isoliert wird von der Außenwelt. Sie hat ihr das Zuhause genommen, ihre Familie und ihre Freunde. Sie sollte erfahren, dass Anna trotzdem nicht verletzlich ist, sondern eine reelle Chance gegen Eve hat. Die wird sich erstmal vorsehen, hier noch einmal einen Trupp tollwütiger Blutsauger rein zu schicken.“, erklärte der kleine Bruder genervt. Anna war immer wieder überrascht, wie intelligent und berechnend der kleine Sho eigentlich war. Er war es auch gewesen, der Inspektor Kobayashi beschattet hatte und des nachts im Baum lauerte, um zu sehen was er tat. Er war derjenige gewesen, der ihm in Form eines Raben bis zu Eves Haus gefolgt war.

„Es wird nicht mehr lange dauern...“, die Worte weckten Anna aus ihren Gedanken, als sie Sho musterte. Sie drehte sich dem Besitzer der Stimme zu. Es war Mirai gewesen. Stille trat ein – jeder schien zu wissen, was er meinte.

Nasses Haar kitzelte Annas Haut am Nacken. Erschrocken zuckte das Mädchen zusammen und fuhr herum. Shiro hatte seinen Kopf auf ihrer Schulter abgelegt und verharrte dort für einen Moment, ehe seine strahlend blauen Augen sich auf Annas richteten.

„Rose schläft. Ich bin auch müde.“, murmelte er gedankenversunken. Anna wusste sofort, dass der Junge heute bei seiner Schwester schlafen würde.

„Ey, geh' weg von Anna!“, Sho warf eins seiner Stäbchen in Shiros Gesicht. Dieser funkelte den kleinen Tengu genervt an.

„Ich habe keine Energie für deine Eifersuchtstiraden.“, knurrte der Wolfsdämon, hob das Stäbchen auf und zerbrach es in der Mitte. Dann drehte er sich von den Anwesenden weg und lief wieder Richtung Tür.

„Ich soll von Liam ausrichten, dass Toki morgen Abend kommt. Solange kümmert sich Liam wohl um Rose. Nacht.“. Die Tür fiel wieder ins Schloss.

„Iori, Sho sollte auch langsam ins Bett.“, seufzte Anna nun und legte ihre Stäbchen auf dem Teller ab. Iori nickte, doch Sho machte Anstalten zu widersprechen.

„Bitte achte darauf, dass er in SEINEM Bett schläft.“, fügte Mirai grinsend hinzu und Sho lief puterrot an. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Sho nachts aus dem Bett gekrabbelt war, um bei Anna zu schlafen.

„Ich bin noch nicht fertig mit essen!“, argumentierte der kleine aufgebracht.

„Nimm das Essen mit auf dein Zimmer.“, schnauzte Ren und erstaunlicherweise gab Sho Ruhe. Er hatte Respekt vor Ren – und ein bisschen Angst. Widerwillig packte sich der kleine Tengu seinen Teller und folgte Iori aus dem Zimmer.

Die Tür fiel erneut ins Schloss. Stille trat ein. Anna faltete ihre Hände unter ihrem Kinn zusammen und starrte auf Akiras Teller, welcher wie sauber geleckt erschien. Es würde nicht mehr lange dauern…

„Wie sieht's bei Fujisaki aus? Sind die Tengus bereit?“, wollte Ren nun wissen. Mirai schüttelte den Kopf.

„Sie sind schwach. Sie wären nur Kanonenfutter.“, seufzte der Affenkönig. „Sie kommen kaum gegen unsere Jüngsten an.“. Anna schloss ihre Augen. Die Blutlinie der Tengus war schwach und dünn geworden. Kaum einer hatte die Kräfte eines richtigen Tengus, wie man sie aus den Büchern kannte. Keiner konnte den Wind oder den Blitz kontrollieren. Sie konnten gerade mal so fliegen.

„Das ist nicht gut… Ich will nicht, dass sie als Kanonenfutter enden.“, seufzte das Mädchen erschöpft.

„Gibt nicht wirklich etwas, was wir dagegen tun können.“, erwiderte Mirai und goss sich Wein nach. „Außer du hast vor, ihnen deine Kraft zu geben. Was du nicht tun wirst.“, fügte er vorsichtshalber hinzu, als könnte er ahnen, dass Anna mit dem Gedanken spielte.

„Wie läuft's bei Silver und deinem Volk?“, wollte Ren als nächstes wissen.

„Alles okay. Die Wölfe haben sich eingelebt.“.

„Ich will wissen, ob sie kämpfen können.“.

Mirai nickte. „Ich schätze, sie sind stärker, denn je. Sie trainieren meine Leute mittlerweile und gehen ziemlich hart an die Sache.“.

„Sicher, dass deine Affen nicht einfach nur schwach sind?“, neckte Ren ihn und Mirai bauschte sich auf.

„Sind sie ganz sicher nicht!“, murrte er gekränkt und griff nach seinem Glas. Anna lächelte.

„Das reicht trotzdem nicht.“. Die Ruhe in Akiras Stimme schlug ein wie ein Komet. Sie offenbarte die traurige Wahrheit.

„Woher willst du das wissen? Ja, okay, vielleicht wird es ein erbitterter Kampf, aber...“, schnauzte Mirai, wurde jedoch von Akira unterbrochen:

„Es wird ein Massaker.“. Anna lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. Sie wusste nicht, was Akira dachte, doch hatte sie eine leichte Vermutung.

„Wen haben sie?“, fragte sie besorgt, in Angst vor der Antwort.

„Es ist Eves Wahl, Dei.“, erklärte Akira und aß den letzten Happen eines Brotes.

„Wer ist das?“, fragte Ren sofort.

„Sein richtiger Name ist Amadei. Ich kenne ihn von früher. Und wenn Eve ihn ausgewählt hat, hat er nun auch die Macht einer Königin.“, seufzte der junge Rotschopf und lehnte sich ebenfalls zurück. Seine Augen ruhten auf Anna. Er schien über etwas nachzudenken. Sein Gesicht strahlte immer noch eine ausgeglichene Ruhe aus, dennoch konnte man sehen, wie sich hinter seinen Augen die Gedanken drehten und versuchten, zu einem Schluss zu kommen. Schließlich seufzte er.

„Es ist spät.“, meinte er und stand auf, griff sich die Weinflasche und drehte sich zur Tür um.

„Wohin gehst du?“, wollte Mirai sofort wissen und stand ebenfalls auf.

„Ins Bett, wohin sonst.“, grinste Akira und öffnete die Tür. „Wir reden morgen weiter, wenn Toki und Liam auch dabei sind. Wir sind alle müde und erschöpft… Jedenfalls die von uns, die tatsächlich gekämpft haben.“, fügte er grinsend hinzu und Mirai knurrte. Anna blieb sitzen und starrte auf ihren Teller. Die Augen der Anwesenden hefteten sich auf die Königin, welche seufzte.

„Geht schon mal. Ich bleib noch ein bisschen.“.

„Sicher? Ich kann auch hier bleiben und...“, begann Mirai, doch Anna wedelte abweisend mit der Hand.

„Ich bin mir sicher. Ich brauch' gerade etwas Ruhe.“, fügte sie hinzu und lächelte entschuldigend.

Nächtliche Offenbarungen

Die zwei Männer erhoben sich und verließen mit Akira den Raum. Stille trat ein. Die Teller mit Essensresten, benutzte Servietten, herumliegendes Besteck und noch halb gefüllte Gläser dekorierten den Tisch. Anna begann, die Sachen zusammen zu räumen. Das Klackern des Geschirrs und Bestecks erfüllte den stillen Raum wieder mit Leben. Es waren Zeiten wie diese, in denen sich das Mädchen wünschte, Adam sei da. Er hätte sie bestärkt, beruhigt und ihr eine Schulter zum Weinen geliehen. Der Tod ihres Bruders war kein Schock gewesen, stattdessen fraß er sich langsam in ihr Herz. Er bohrte sich seinen Weg durch ihren Körper wie Krebs. Auch wenn sie es am Anfang vielleicht verkraftet hatte, zehrte es langsam an ihrer mentalen Stärke. Natürlich hatte sie Unterstützung von allen Anwesenden in diesem Haus, dennoch war es nicht das selbe, wie Adam. Iori ähnelte ihrem Bruder zwar stark, dennoch war er nicht ansatzweise so gut wie Adam. Es gab keinen Ersatz für ihn. Annas Finger umklammerten das kalte Porzellan. Es war glatt, ebenmäßig und hatte kleine Verzierungen an den Rändern. Egal, wie sehr Iori ihrem Bruder glich, er war es nicht. Doch war es nicht so, als würde sie Adam nicht ab und an noch spüren. Das Mädchen setzte die Teller auf dem Tisch ab, musterte eine der Weißweinflaschen und nahm sie an sich.

Als sie das Esszimmer verließ war bereits die Abendbeleuchtung im Haus angeschaltet worden. Das Licht war gedimmt und nur jede dritte Lampe beschien den langen Flur. Der Rest des Hauses war dunkel. Beim Vorbeigehen hörte Anna noch, wie Mirai und Ren im Wohnzimmer sprachen. Sie redeten über Toki. Anna ging die Treppen hinauf und musterte die Zimmertüren im Vorbeigehen. Jede war geschlossen. Sie lief an ihrem Zimmer vorbei, den Flur weiter hinunter. Eine große Standuhr zeigte halb zwölf an. Ihr rhythmisches Ticken versetzte das ganze Haus in eine verschlafene Stimmung.

An der Zimmertür angekommen, die Anna gesucht hatte, klopfte das Mädchen kurz und öffnete sie schließlich. Der Raum war dunkel und still. Das Mädchen trat ein, schloss die Tür hinter sich und ging aufs Bett zu. Auf dem Nachttisch stand eine geleerte Flasche Wein. Mit einem Seufzen setzte sie sich und musterte die Silhouette, die da lag.

„Ich weiß, dass du nicht schläfst.“, murmelte das Mädchen und kniff dem jungen Mann in die Wange.

„Was willst du?“, gähnend setzte er sich auf und schaute Anna an. Er trug kein Shirt. Seine Arme zeigten Male von Feuer. Annas Hand fuhr über Akiras Unterarm, seine Brandnarben.

„Ist das immer so, wenn du deine Kräfte benutzt?“, fragte sie leise. Der Rotschopf nickte.

„Ich habe leider nicht so tolle Regenerationsfähigkeiten, wie du.“, grinste er und sah Anna dabei zu, wie sie seine Haut berührte. Es war ein beruhigendes Gefühl.

„Also würde dich eine Kugel töten?“. Stille trat ein, als Anna diese Worte sprach. Sie meinte, sie hätte ein leichtes Nicken von Akira erkennen können. Schließlich seufzte sie und drückte ihm ihre Weinflasche in die Hand. Sie stand auf, griff nach Akiras Shirt, das auf einer Stuhllehne lag und warf es ihm zu.

„Zieh' dir was an.“.

„Wohin gehen wir?“, fragte Akira überrascht und griff nach dem Shirt, um es sich über den Kopf zu stülpen.

„Du schläfst heute bei mir.“, erklärte das Mädchen und musterte den Kleiderschrank des Jungen. Es war das erste Mal, dass sie so etwas sah – außer bei Adam natürlich. Akira wusste nicht genau, wie er reagieren sollte. Argwöhnisch fragte er: „Wieso?“. Sofort verwarf er den kleinen Funken Hoffnung, dass Anna es aus Interesse an ihm wollte oder dass tatsächlich etwas zwischen den beiden passieren könnte. Nicht, dass Akira es nicht doch versuchen würde, aber dennoch: Der Ton in Annas Stimme verriet ihm, dass es keine Einladung zu einem nächtlichen Tête-à-Tête war.

„Ich ...“, Anna zögerte und schloss die Schranktür. „Ich will dir etwas zeigen.“, murmelte sie schließlich nervös. Akiras Herz machte einen Hüpfer, als er hörte, wie unsicher sie klang. Wortlos stand er auf und ging auf das Mädchen zu. Was wollte sie ihm zeigen? War es etwas, dass sie ihm nicht hier zeigen konnte? Jegliche Hoffnung starb, als ihm bewusst wurde, dass die beiden auch hier hätten rummachen können. Doch da Anna nun wollte, dass er in ihr Zimmer kam, musste es etwas mit diesem Zimmer zu tun haben.

„Ist es wegen der Blume?“, fragte Akira vorsichtshalber, doch Anna schüttelte den Kopf. Es war ein zögerliches, bedrücktes Kopfschütteln. Der Junge verzog das Gesicht. Wieso sagte sie es nicht einfach?

Seufzend ging er aufs Bett zurück und griff nach der Weinflasche.

„Ist das deine Art von Bestechung?“, wollte er nun wissen, musste aber grinsen. Anna nickte stumpf und beobachtete Akira dabei, wie er wieder auf sie zulief.

„Na gut, dann zeig' mir halt dein kleines Geheimnis.“, grinste der junge Mann und öffnete die Tür. Wie auf Zehenspitzen machten die zwei sich zu Annas Zimmer auf, das einige Räume weiter lag. Das Mädchen hatte klar gemacht, dass kein anderer davon wissen sollte. Es war einige Tage, wenn nicht sogar wenige Wochen, her, dass Akira in Annas Zimmer gewesen war. Das Licht war ausgeschaltet und der angenehme Duft von Lavendel wurde von einer Note Vanille begleitet. Am Fenster stand – wie immer – die weiße, lebensraubende Blume, die nun die Größe eines Babys hatte. Etwas erschrocken über diese Entwicklung blieb der Rotschopf im Türrahmen stehen, doch Anna zog ihn herein und schloss die Tür hinter ihm ab.

„Das...“, begann er, schluckte und fuhr fort: „Das wolltest du mir zeigen?“. Seine Hand deutete auf die Pflanze.

„Was?“, fragte Anna überrascht, folgte dem Fingerzeig und schüttelte seufzend den Kopf. „Nein. Dreh' dich um, ich will mich umziehen.“. Sie ging zu ihrem Schrank und kramte nach einem von Adams alten T-Shirts. Sie zog ihre Sweatshirtjacke aus und war kurz davor, auch ihren zerrissenen Pullover los zu werden, als sie in ihrer Bewegung verharrte und Akira ansah. Dieser hatte sich immer noch nicht weggedreht.

„Ey.“, schnauzte sie leise und sah ihn genervt an.

„Wieso darf ich's nicht sehen?“, wollte der Rotschopf wissen. Annas Wangen glühten rosa auf.

„Du bist ein Junge, deshalb.“, schnauzte sie und ließ den Pullover wieder hinunter gleiten.

„Ein Junge, den du eingeladen hast, heute bei dir zu schlafen.“, grinste Akira neckisch und lehnte sich mit seiner Weinflasche an die Wand. Er schien sich nicht wegdrehen zu wollen. Das Mädchen schnaufte kurz genervt, zog den Pullover aus und zog Adams T-Shirt wieder an. Den BH würde sie anbehalten, so wie jedes Mal. Doch als Anna begann, ihre Jeans aufzuknöpfen, musste sie erneut kurz anhalten. Sollte sie nun wirklich auch noch ihren Po vor ihm entblößen? Mit einem Seitenblick auf Akira erkannte das Mädchen, dass dieser immer noch grinste. Er genoss die Show. Vielleicht hätte sie ihn nicht herholen sollen…

Genervt zog sich das Mädchen die Hose aus und schmiss sie über die Stuhllehne ihres Schreibtisches. Dann ging sie aufs Bett zu, legte sich unter die Decke und wandte der Tür den Rücken zu.

„Wie, das war's?“, fragte Akira überrascht und ging ebenfalls aufs Bett zu.

„Leg' dich hin.“ Das Mädchen griff nach ihrem Wecker und überprüfte die Uhrzeit. Der Rotschopf ließ sich auf die andere Seite des Bettes nieder und trank einen Schluck Wein aus der Flasche. Sein Nacken lehnte am harten Kopfteil. Vielleicht wollte sie es ja doch, aber wusste nicht, wie sie ihn darauf ansprechen sollte? In diesem Moment fiel Akira wieder ein, was er vorhin gesagt hatte: Dei hatte die Kraft einer Königin. Als er diese Worte gesprochen hatte, hatte er sich überlegt, ob sie noch gegen Dei ankommen würden, wenn keiner von ihnen Annas Macht bekäme. Vielleicht sollte sie sich endlich entscheiden? Vielleicht dachte Anna über das selbe nach? Akira stellte die Weinflasche auf dem Nachttisch ab, zog die Decke über sich und legte seinen Bauch an Annas Rücken. Seine Hand wanderte wie immer über Annas Bauch. Der Stoff störte. Anna bewegte sich nicht.

„Was machen wir jetzt?“, flüsterte er leise in ihr Ohr und sah aus den Augenwinkeln, wie sich die kleinen Härchen an Annas Nacken aufstellten.

„Wir warten.“, erwiderte das Mädchen kleinlaut. Das Licht der Pflanze flackerte ein bisschen, doch ließ es genau erkennen, wie Annas Wangen immer noch in Rosa getaucht waren. Akira musste lächeln.

„Worauf?“, fragte er leise und küsste eine Stelle ihres Nackens, der besonders viel Gänsehaut offenbarte. Anna antwortete nicht. Langsam fuhr Akiras Hand unter das Shirt des Mädchens und sein Finger umkreiste wieder ihren Bauchnabel. Das war das erste mal, dass Anna keine Hose im Bett anhatte. Ihr weicher Po lag an Akiras Schoß und er verurteilte sich selbst dafür, dass er gerade eine Jogginghose trug, die verhinderte, dass er tatsächlich ihre Haut an sich spürte. Er musterte Annas Gesicht, so gut er von hinten halt konnte, während sein Finger Kreise über ihre Haut zog. Sie starrte zum Fenster. Ab und zu wechselte sie ihren Blick auf die Uhr. Irgendetwas ging hier vor sich, doch Akira wusste nicht, was. Sie wollte auf jeden Fall nicht kuscheln. Sie schien auf etwas zu warten. Innerlich seufzend ließ Akira seine Hand ruhen, gähnte und schloss die Augen. Egal was es war, worauf sie wartete, es hatte anscheinend nicht viel mit ihm zu tun. Oder vielleicht doch? Immerhin hätte sie auch Shiro oder Liam fragen können. Bei dem Gedanken verkrampfte Akiras Herz kurz. Nein, es war schon gut, dass ER derjenige war, der hier liegen durfte. Anna wollte nur IHM etwas zeigen. Es hatte also sehr wohl was mit ihm zu tun… Wahrscheinlich.

Die zarte Haut an seinen Fingern war warm. Ab und zu streichelte Akira über ihren Oberarm. Wie konnte die Haut eines Mädchens so weich sein? Ihre Hände hatte sie unter dem Kopfkissen verstaut, als wäre es ihre übliche Schlafposition. Mittlerweile waren Annas Augen geschlossen, ihre Atmung war ruhig und ebenmäßig und vermittelten Akira den Eindruck, als würde sie schlafen. War sie tatsächlich einfach eingeschlafen, obwohl sie ihn hierher bestellt hatte? Er beobachtete das Gesicht des Mädchens für einige Sekunden, doch konnte nicht erkennen, ob sie wirklich eingeschlafen war oder nur so tat. Erschöpft ließ er ebenfalls die Augen zu fallen und ließ seine Hand ruhen. Es war ein langer Tag gewesen und das Essen hatte ihn müde gemacht. Er konnte also genau so gut schlafen.

Eine Bewegung riss den Jungen aus seinem Halbschlaf. Das Licht des Weckers blendete ihn. Es war 00:26 Uhr. Annas Augen waren aufgerissen, sie starrte erneut zu ihrem Schreibtisch, der vor dem Fenster stand. Ihre Hand hielt Akiras Handgelenk und zog ein bisschen daran, um ihn zu wecken. Akira folgte ihrem Blick zum Fenster. Da war nichts.

Das Licht der Pflanze zitterte kurz, dann begann die Knospe wie eine Babyschaukel hin und her zu schwanken. Es war beunruhigend, wie groß das Ding geworden war. Akira entzog sich Annas Griff und legte seine Hand auf ihren Oberarm. Erneut hatte sie Gänsehaut, doch diesmal war es nicht wegen seiner Berührung. Ihr Blick war auf das Fenster gerichtet. Was war da?

Erneut schaute der verschlafene Junge zum Fenster. Das Licht der Pflanze ließ die Schatten über dem Glas tanzen. Manchmal sah es so aus, als würden sie ineinander übergehen und sich umarmen. Dann wurde das Fenster allmählich dunkler. Vielleicht war der Mond immer noch verhangen, wer weiß? Die Schatten des Zimmers verschwommen mit der Nacht draußen. Er wurde größer, fester. Anna zuckte kurz und schloss die Augen. Wieso schloss sie nun die Augen? Erneut hob und senkte sich ihr Brustkorb wieder, als würde sie schlafen. Was ging hier vor sich?

Verwirrt blickte Akira von Anna zurück zum Fenster. Plötzlich schlug sein Herz so stark gegen seine Brust, dass er fast husten musste. Doch sein Atem gefror in seinen Lungen. Langsam bildeten die Schatten am Fenster einen Umriss. Eine Person. Wie aus dem Nichts formte sich dort ein Mensch am Fenster. Sein Körper glitt durch den Schreibtisch hindurch, als sei er ein Geist. Er machte keine Geräusche. Der Schatten war dem Fenster zugewandt und schaute hinaus. Kein Winken heute. Langsam drehte er sich um. Akira schloss sofort die Augen. Was war dieses Ding?

Durch den Spalt seiner Wimpern sah Akira dabei zu, wie der Schatten einen Finger hob und die Blüte anstupste. Diese fing unter seiner Berührung an zu tanzen. Dann legte er seinen Blick auf Anna. Er stand da am Schreibtisch und beobachtete sie. Jetzt fühlte Akira, wie Annas Herz aufgeregt an seinen Rücken pochte. Ihr Brustkorb war ruhig – als würde sie den Atem anhalten. Ihre Finger klammerten sich an seine Hand. Hatte sie Angst? Plötzlich, als wäre ein Fluch auf ihn los gelassen worden, fühlte sich Akira klamm. Jegliche Wärme entwich seinem Körper. Er öffnete die Augen. Zwei Augen waren auf ihn geheftet, musterten jedes einzelne Haar auf seiner Haut und tasteten ihn quasi ab. Eine Gänsehaut fuhr über seinen Rücken. Es war das erste Mal, dass er dieses Ding sah. Sah Anna es etwa jede Nacht? Sofort rasten Akira Gedanken durch den Kopf: Er konnte seine Kräfte hier nicht einsetzen. Würde er es tun, brachte er Anna in Gefahr. Würde er den Schatten ansprechen, würde er eventuell verschwinden. Es gab einen Grund, warum Anna es nicht schon getan hatte. Sie wusste von ihm, wusste aber nicht wie sie mit dem Schatten umgehen sollte. Jedes Mal tat sie so, als würde sie schlafen. War er ein Geist? War es Adams Geist? Was wollte er von Anna?

„Du bist süß, wenn du so tust.“, flüsterte eine eiskalte Stimme und ließ Akira jegliche Gedanken vergessen, die er gerade hatte. Feine Linien auf dem Gesicht des Schattens formten ein Grinsen. Anna zuckte zusammen.

„Wann redest du endlich?“, fuhr die Stimme fort und die Person wandte ihren Blick der Blume zu. Sprach er zu ihr oder zu Anna?

Akira setzte sich schließlich auf. Er wusste, dass Anna nicht schläft.

„Wer bist du?“, fragte der Rotschopf argwöhnisch. Der Schatten rührte sich nicht. Entgegen der Vermutung, er würde vielleicht verschwinden, tat er es nicht.

„Du weißt, ich könnte dir helfen.“, flüsterte die Stimme unbeeindruckt. Es war erschreckend, wie man die Stimme niemandem zuordnen konnte, denn das Gesicht des Fremden schien sich nicht zu bewegen. „Warum klammerst du dich an ihn? Hast du Angst?“. Annas Finger bohrten sich in Akiras Unterarm.

„Wenn du es sagst, kannst du mich sehen.“. Das feine Lächeln verbog sich in ein ungeheuerliches Grinsen. Es nahm fast das ganze, schwarze Gesicht des Schattens ein. Anna schluckte und setzte sich auf. Ihre Hände zitterten. Wenn sie es sagen würde, wäre Adam endgültig tot.

„Das ist er schon, sei nicht so dumm.“, lachte der Schatten, als hätte Anna ihre Gedanken ausgesprochen. „Du bist nur zur Hälfte du, wenn du keinen hast.“. Ihre Lippen bebten. Ungläubig starrte Akira sie an. Wusste sie, was der Typ von ihr wollte?

„Wie … Wie ist dein Name?“, ihre Stimme war so zart und zebrechlich, dass es fast weh tat.

„Satoshi.“, antwortete die Stimme leise. Sie klang, als wäre sie verzerrt, als würde ein Signal gestört werden und man hätte nur Schnee im Fernsehen.

Annas Hand griff hilfesuchend nach Akiras. Ihre Finger waren kalt. Sie wollte die Worte nicht aussprechen. Doch dafür hatte sie Akira hergebracht – um den Mut zu finden, sie zu sagen: „… Sei mein Shiki, Satoshi.“, schluckte sie erstickt. Das Grinsen des Schattens verschwand. Die Dunkelheit verschwand. Die Blume erzitterte kurz, fing dann aber ruhig an hin und her zu baumeln. Das Schwarz der Silhouette legte langsam die Farbe von Haut frei. Das Gesicht, das unter dem Schatten hervor kam, ähnelte dem von Adam. Graue, eiskalte Augen starrten das Mädchen an. Er hatte keine schwarzen Haare, so wie ihr Bruder, es war aschfahl. Akira kannte diese Farbe – es war die Farbe von verbranntem Holz, das schließlich zu Asche zerfiel. Er war groß, obwohl er an dem Schreibtisch lehnte. Er hatte die Erscheinung eines jungen Mannes in seinen 20ern. Sofort konnte der Rotschopf sagen, dass dieser Mann kein normaler Shiki war – er war ungewöhnlich stark.

„Wer...“, erneut wollte Akira fragen, wer Satoshi war. Dessen Lächeln kam wieder zurück, dieses Mal aber zum Glück nicht so unheimlich, wie in seiner Schattenform. Anna ließ ihr Gesicht sinken. Ihre Haut war eiskalt und sie sah aus, als würde sie jede Sekunde in Tränen ausbrechen.

„Du brauchst nicht zu weinen.“, lächelte der Fremde mitleidig und legte seine Hand auf ihren Kopf. Anna zuckte unter der Berührung zusammen. Akiras Arme legten sich um seine Königin und zogen sie von dem Fremden weg.

„Ich hab' gefragt, wer du bist.“, fauchte er nun beschützend und es war das erste Mal, dass Satoshi Akira tatsächlich anschaute.

„Ich bin ihr neuer Shiki.“, erklärte er gelassen. Anna griff nach den Armen, die um sie lagen, und vergrub ihr Gesicht in ihnen. „Sie weint, weil Adam fort ist.“.

„Woher kennst du ihren Bruder?“, wollte Akira sofort wissen.

„Woher?“, Satoshi schien überrascht von der Frage, musste jedoch kurz überlegen. „Anna kam jeden Sommer zu uns. Sie hat jede Nacht bei uns geschlafen. Jede Nacht haben wir sie gespürt und Adam beneidet, dass nur er bei ihr sein durfte. Aber was passierte? Adam wurde gefangen. Er war schwach, konnte sich nicht wehren.“, seine Stimme war erschreckend sanft. „Und irgendwann, als er im Sterben lag, kam er zu uns zurück. Es war erbärmlich.“.

„Du hast die anderen absorbiert… Adam auch.“, schniefte Anna plötzlich und rieb sich die Augen. Das war der Grund gewesen, dass er sich wie Adam angefühlt hatte. Satoshi lächelte etwas breiter und nickte. Akira konnte nicht glauben, was er da hörte.

„Aus all' den schlechten Gefühlen, die du trägst, aus all den Schwächen von Adam und aus all den schrecklich erbärmlichen Wesen, die deine Macht hervor gebracht hat, wurde ich geboren.“, erklärte er ruhig. Anna erstarrte unter diesen Worten.

„Du hast mich gewarnt, als sie mich holen wollten...“, murmelte sie und Satoshi nickte erneut. „Du hast mich zu Charlotte geführt.“. Wiederum nickte Satoshi. „Wieso?“, fragte Anna keuchend. Satoshis Hand fuhr unter Annas Kinn und hob es an.

„Damit du aufhörst, schwach zu sein.“, flüsterte er ihr zu und ließ sie los. „Du zeigst Schwäche. Überall, wo du hin gehst. Du gehst alleine mit einem Fremden in einen Wald und wirst umzingelt von seiner Armee. Du versteckst dich aus Angst davor, dass Menschen über dich urteilen. Anstatt deine Freunde zu beschützen, versinkst du in Selbstmitleid. Anstatt sie zu retten, versteckst du dich in diesem Haus.“, seine Worte waren wie Messerstiche. Anna schluckte erneut. Es klang, als wäre es die Wahrheit. Und die Wahrheit tat weh.

„Adam war noch schlimmer. Anstatt dich zu beschützen, ließ er dich alleine. Er dachte, wenn er dich nur im Auge behalten würde, würde das reichen. Und was passierte? Eine Hochstaplerin hat ihn gefangen und wollte ihn zu ihrem Shiki machen. Du hättest es sehen müssen, wie er sich jeden Tag wehrte, ihr Eigentum zu werden. Dafür hat er meinen Respekt. Aber er ist Schuld, dass Mama gestorben ist … Genau so wie der Mann, den du hier versteckst.“. Satoshis sanfte Stimme wurde wieder kalt.

„Iori?“, fragte Akira überrascht. Das Grau in Satoshis Augen wurde eisern, als er nickte.

„Wieso hast du ihn noch nicht getötet, Anna?“, wollte der Shiki wissen.

„Wir haben ein Abkommen mit ihm und seinem Volk.“, erwiderte Anna erstickt.

„Reicht das, um deiner Mutter Vergeltung zu bringen?“, wollte er wissen. Anna nickte.

„Sho hat ...“, begann sie, doch nun beugte Satoshi sich erneut vor und schaute Anna in die Augen.

„Ich habe gesagt, du sollst aufhören, schwach zu sein.“, fauchte er leise. Seine Hand griff fest nach Annas Kiefer, welche sie sofort weg schlug. Satoshi seufzte.

„Ich verschwinde für heute Nacht. Ich komme morgen wieder und stelle mich den anderen vor.“. Sein Blick wanderte über die Blume, dann zu Akira.

„Ich find's gut, dass du auf sie aufgepasst hast, während ich nicht da war. Danke.“, murmelte er leise. Sein Körper löste sich langsam auf – feiner, schwarzer Staub setzte sich von seinen Konturen ab und schien ihn in der Luft zu zerteilen. Es dauerte nicht mal drei Sekunden, bis die schwarzen Schwaden mit ihm verschwunden waren.

Stille machte sich in dem Zimmer breit, die nur durch Annas klägliche Versuche unterbrochen wurden, ihre Tränen zu stoppen. Sie drehte sich vom Fenster weg und lehnte ihren Kopf an Akiras Brust an. Dieser wusste weder, was er tun, noch was er sagen sollte.

„Er… Er ist wie Adam.“, schniefte Anna kurze Zeit darauf und rieb sich die letzten Tränen weg. Akira konnte dieses Urteil kaum nachvollziehen.

„Anna… Erklär' mir, was los ist.“.

Und so erklärte sie: In dem Raum, in dem Anna jeden Tag im Sommer geschlafen hatte, sammelte sich Miasma. Er war wie ein Magnet für schlechte Energie. Diese manifestierte sich als schwarze Materie in den Ecken und an den Wänden, was dem Raum die Dunkelheit brachte. Jedes Jahr würde Anna einen Teil ihrer Energie in diesem Raum lassen und damit den Fortbestand des Schattenvolkes sichern. Diese hatten sich von Charlottes Schicksal so bedroht gefühlt, dass es zur Bedingung wurde, einen Shiki in seine Dienste stellen zu können. Anna musste sich diesem Schicksal mehr oder weniger unbewusst beugen. Doch womit die Leute der Schatten nicht gerechnet hatten, war, dass diese Energie komplett Anna gehörte: Keine andere Königin hatte diese Nachfahren im Zimmer beeinflusst. Mit jedem Jahr steigerte sich die Macht von Anna und damit auch der Teil, den sie in diesem Zimmer gelassen hatte. Da Shikis normalerweise mit dem letzten bisschen Energie einer Königin entstehen, hatte niemand damit gerechnet, dass die jährliche Sammlung der Macht so schnellen „Nachwuchs“ hervorbringen würde. Früher als gedacht formten sich die ersten, körperlosen Wesen in diesem Zimmer

„Das heißt, dass sie nur auf dich hören?“, fragte Akira verblüfft. Anna nickte.

„Von dem, was ich von Satoshi lesen konnte… Ja.“, murmelte sie und starrte auf ihre Knie, die unter der Bettdecke versteckt waren. „Aber er hat sie alle … gefressen, nehme ich an. Adam auch. Deswegen fühlt er sich so an, wie mein Bruder. Er kennt alles von mir, all unsere Erinnerung, all die Geschichten, die wir zusammen erlebt haben. Er kennt meine … unsere ganze Vergangenheit.“.

Akira schluckte. „Also ist er wirklich dein Bruder?“, er klang überrascht, doch Anna schüttelte den Kopf.

„Er hat es mehr als deutlich gemacht. Adam ist tot.“. Man hörte den Schmerz aus ihrer Stimme. Seufzend schloss sie die Augen.

„Wieso hast du ihn dann zu deinem Shiki gemacht?“. Der Rotschopf verstand die Welt nicht mehr.

„Akira… Er weiß alles von mir. Er kennt meine Gefühle – er hat sie aufgesogen, wie ein trockener Schwamm. Er versteht mich. Er versteht Adam. Er versteht die Situation. Außerdem...“. Außerdem hatte Anna das Gefühl, dass Satoshi Recht hatte. Sie war nicht ganz sie selbst ohne Shiki. Irgendwie klammerte sie sich auch an die kleine Hoffnung, dass sie wieder mit Adam zusammen sein könnte. Der Junge neben ihr seufzte und drückte sie an sich. Ein kleiner, sanfter Kuss legte sich auf ihr Haar. Schlagartig spürte Anna, wie der Druck auf ihrem Herzen nach ließ.

„Wenn er dir was tut, bring ich ihn um.“, murmelte er wütend und legte seinen Kopf an ihren. Anna musste lächeln. Es fiel ihr wieder ein:

„Du hast dein Versprechen gehalten.“, flüsterte sie leise und ihre Finger glitten über Akiras Hand.

„Noch nicht ganz.“, erwiderte er ruhig und griff nach den Fingern. Sie legten sich zwischen Annas Fingerlücken. Für einen Moment herrschte Stille.

„Wann erzählst du mir, was du bist?“, fragte Anna schließlich. Sie löste die Berührung ihrer Körper und setzte sich wieder auf, um Akira in die Augen sehen zu können. Die goldenen Augen des Jungen erwiderten ihren Blick, doch wandten sie sich schnell wieder ab.

„Bald.“, murmelte er leise. „Ich glaub', du hast mittlerweile eh eine Vermutung.“. Etwas schien ihn unzufrieden zu machen. Anna konnte es spüren.

„Wovor hast du Angst?“, fragte sie ihn leise und zog sein Gesicht wieder zu ihr, damit er sie ansehen würde. Ihre Wimpern waren noch nass von ihren Tränen, sie glitzerten leicht. Ihre Wangen waren gerötet vom Reiben ihrer Hände. Ihre Haare waren leicht zerzaust und glitzerten golden im Licht der Blume. Akira konnte es nicht verhindern, in ihre Augen zu blicken.

„Ich weiß nicht, ob es dir gefällt, weißt du.“, gab er bedrückt zu. Etwas schmerzhaftes lag in seiner Stimme. Annas Herz zog sich zusammen. Was konnte so schlimm sein, dass es sie tatsächlich beeinflussen würde? Hatte er Angst, sie würde ihn nicht mehr wählen wollen, wenn sie es tatsächlich wüsste?

„Ich … Ich kann mich aber auch nicht für dich entscheiden, wenn ich es nicht weiß.“, erneut war ihre Stimme so klein und zerbrechlich, dass es fast weh tat. Sie schämte sich dafür, diese Worte sagen zu müssen. Akira musterte das Mädchen einige Sekunden lang. Seine Hände wanderten über ihre Schultern. Eine Hand streichelte über ihre Wange, fühlten die warme Haut.

„Willst du dich denn für mich entscheiden?“, fragte er leise und sie konnte sein Lächeln heraus hören. Anna verstummte und ihr Blick fiel auf die Matratze. Sie war nur wenige Zentimeter von Akira entfernt und sie spürte es. Sie spürte, wie ihr Körper unter seiner Gegenwart erbebte. Sie konnte ihm keine klare Antwort darauf geben.

„Weißt du es nicht?“, seine Stimme wurde noch leiser, rückte noch näher. Anna nickte. „Hmm...“, lächelte Akira nachdenklich. Seine Hände streichelten über ihre Schultern.

„Fühlst du dich wohl bei mir?“. Anna nickte.

„Wenn ich dir so nahe bin, hast du keine Angst?“. Anna schüttelte den Kopf. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Ihre Atmung wurde flacher. Akiras Grinsen wurde breiter.

„Wenn ich dich küsse, fühlt es sich schlecht an?“. Seine Worte prasselten auf ihre Lippen, so nahe war er ihr mittlerweile gekommen. Aus den Augenwinkeln konnte sie das Lächeln nun sehen, es war schwer, weiterhin auf die Matratze zu sehen. Sie konnte nichts sagen, nicht einmal mehr den Kopf schütteln. Es fühlte sich nicht schlecht an, wenn er das tat, ganz im Gegenteil: Es war, als würde sie schweben. Jedes einzelne Mal, wenn er sie küsste, erfüllte sie ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Seine Lippen legten sich auf Annas Mund, berührten sie und gaben ihr eine kleine Gänsehaut. Es war ein kurzer Kuss, kurz und liebevoll.

„Denkst du dir manchmal, dass du mich auch küssen willst?“, grinste der kleine Teufel nun und Anna lief puterrot an. Genervt lehnte sie sich zurück und versuchte, ihre Worte wieder zu finden.

„Sei nicht albern...“, fauchte sie leise, während sie ihn von sich weg drückte. Er lachte kurz und leise, ließ sie jedoch nicht los.

„Ich bin nicht albern, das war eine ernst zu nehmende Frage. Du schämst dich bloß wieder.“, grinste der Rotschopf. „Komm, sag' es.“, fügte er fordernd hinzu. Anna verzog die Mundwinkel und drehte ihr Gesicht von seinem weg, das immer noch gefährlich nahe war.

„Nein.“, schnauzte sie leise und schmollend.

„Ich sehe es sofort, wenn du lügst.“, kicherte Akira und entfernte sich von ihr. Anna drehte sich ihm wieder zu.

„Du bist scheiße.“, murmelte sie beschämt.

„Bin ich nicht.“. Er ließ Anna los und legte sich zurück ins Bett. Immer noch lächelnd schloss er die Augen. Diese Antwort reichte für den Moment. Er wusste, dass sie ziemlich schüchtern in der Hinsicht war, deshalb konnte man das wohl als kleinen Erfolg abstempeln. Anna saß immer noch da und musterte Akira, wie er gedankenversunken vor sich hin lächelte.

„Was ist los?“, fragte er schließlich, als er die bohrenden Blicke des Mädchens auf sich spürte. Sie antwortete nicht. Das Gewicht auf der Matratze verlagerte sich, als Anna sich bewegte. Sie kniete. Ihre Hände suchten Halt auf der Matratze. Eine wanderte über seinen Körper hinweg. Akira öffnete die Augen wieder, als er ein sanftes Gewicht auf seinem Schoß fühlte. Annas Augen schienen noch blauer zu leuchten unter dem Rot ihres Gesichtes. Sie beugte sich vor. Es kam Akira vor, als würde alles in Zeitlupe geschehen. Trotzdem ging es viel zu schnell. Goldene Haarsträhnen kitzelten sein Gesicht. Die Hände, die sich neben ihm abstützen, ließen die Matratze leicht zittern. Ihr Gesicht war ihm so schnell so nah, dass er ihren Atem bereits schmecken konnte. Ihre Lippen waren weich und warm, doch zitterten sie genau so sehr, wie ihre Hände, als sie ihn küsste. Es dauerte keine Sekunde, da entfernte sie sich schon wieder von ihm. Ohne groß darüber nach zu denken hielt er Annas Hinterkopf fest und drückte sie erneut zu sich. Er setzte sich auf und führte seine Lippen zurück zu ihren. Kein Gedanke, keine Skepsis, keine Sorgen hatten gerade Platz in seinem Kopf. Ihre Beine glitten an seinen vorbei, während er sie an sich drückte. Ihre Hände legten sich in seinen Nacken, genau so, wie es seine bei ihrem taten. Akira spürte ihr Zögern aus ihren Lippen, während er mit seiner Zungenspitze darüber fuhr. Er wusste nicht mehr, wie oft er sie küsste. Jeder einzelne löste ein Erdbeben in seiner Brust aus. Es war nicht nur das Gefühl ihrer Haut, es war tiefgründiger. Sie hatte es von sich aus getan. Es war ihr Wille gewesen. Sie hatte ihn geküsst, das erste Mal, dass es nicht andersherum geschehen ist. Als sie endlich ihre Lippen öffnete, um seiner Zunge Einlass zu gewähren, war es schwierig, sich noch weiter zurück zu halten. Ihre Oberschenkel begannen zu zittern. Sofort wanderte seine Hand über ihren linken Oberschenkel. Er war unglaublich zart. Ohne es direkt zu kontrollieren umfasste er ihren Po und drückte ihn fest unter seinem Griff. Anna machte ein Geräusch, dass er nicht so recht deuten könnte. War es Scham? War es Lust? Seufzend löste er den Kuss und versenkte seine Lippen in ihrem Nacken. Sie hörte nicht auf zu zittern, so nervös wie sie war. Sie seufzte leise. Erneut spürte Akira, wie sein Herz sich vor Aufregung zusammen zog. Ihre Stimme war so leise – dennoch schlug sie ein, wie ein Raketenwerfer. Als er ihre Lippen an seinem Hals spürte, bekam er am ganzen Körper eine Gänsehaut. Die gute Art von Gänsehaut. Sie küsste ihn tatsächlich an so einer Stelle. Seine Brust bebte, drohte, zu explodieren. Für eine Sekunde hielt Akira den Atem an, dann hörte er, wie sie seinen Namen flüsterte. Es war wie ein Weckruf. Er ließ den Nacken, in den er gerade gebissen hatte, los und löste sich von Anna. Beschämt und komplett errötet blickte sie auf seine Brust. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Rücken seines Fingers berührte die glühende Haut ihrer Wange und zeichnete ihre Konturen nach. Vielleicht war er zu weit gegangen. Ihre Hände ruhten auf seiner Brust, stocksteif, als könnte sie sich nicht bewegen.

„Ähm...“, ihre Stimme schien zu brechen, während sie zur Seite schaute. Sie versuchte, ihre Worte zu finden. Seufzend lehnte sich Akira vor und küsste die warme Wange.

„Was denn?“, fragte er leise und schloss die Augen, um sich darauf vorzubereiten, abgewiesen zu werden. Doch Anna schwieg. Sie schaute zum Fenster. Eine Bewegung an seiner Brust ließ Akira wieder die Augen öffnen. Ihre Hand deutete auf seinen Schoß.

„Ich … Ähm.“, stotterte sie mit einer zitternden Stimme. Ihre zweite Hand huschte in ihr Gesicht und verbarg ihre Augen. „Ich kann das nicht.“, quiekte sie erstickt. Sie versank quasi in Scham. Es war unglaublich süß. Akira schmunzelte. Anscheinend hatte er sich etwas zu sehr aufgeregt.

„Tut mir Leid.“. Ihre Scham steckte ihn an. Seufzend legte er seine Arme um die kleine Person auf seinem Schoß und ruhte seinen Kopf auf ihrer Schulter aus. „Es ist schwer, sich zurück zu halten.“ Eine Hand legte sich auf seinen Rücken und tätschelte ihn beruhigend, als wäre er ein kleines Kind. Anscheinend wusste Anna nicht genau, wie man 'damit' umgehen sollte. Seine Arme zogen sich zusammen und drückten sie wieder etwas fester an sich. Der süße Duft von Vanille und Himbeere drang an seine Nase und er atmete ihn ein wie die frische Luft am Morgen. Nun türmten sich wieder Fragen in ihm auf. Was dachte sie von ihm? War sie jemals so weit mit jemanden gegangen, wie jetzt? Hatte sie jemals jemanden geküsst, weil sie es wollte? Hatte sie es überhaupt gewollt? Die tätschelnde Hand auf seinem Rücken begann, beruhigend auf und ab zu streicheln. Ihre Finger glitten über sein Rückgrat, während sie weiterhin den Blick auf das Fenster gerichtet hatte. Irgendwann legte auch sie ihren Kopf auf seiner Schulter ab. Es war fast erschreckend, wie warm sie war. Wie weich sie war. Wie klein und zerbrechlich sie eigentlich war. Stets sorgte sie sich um die Menschen um sich herum. Die Angst, jeden und alles zu verlieren, der ihr auch nur ein bisschen bedeutete, kroch immer noch in den Ecken ihres Herzens herum, selbst jetzt. Wann hatte sie jemals Zeit, über sich selbst nach zu denken und sich ihrer Gefühle bewusst zu werden, wenn sie immer an Eve und den aufkommenden Krieg dachte? Wenn sie sich darüber sorgte, wo Mika und Kai waren und ob die beiden überhaupt noch lebten? Wenn Rose im Sterben lag? Wenn ein neuer Shiki ihr sagte, wie schwach sie eigentlich wäre? Wenn die Jungs ihr verdeutlichten, dass ihre Verbündeten nicht den Hauch einer Chance gegenüber Eves Armee hatten? Akiras Hände umfassten den schmalen Rücken, während er sich vorsichtig zurück lehnte und sie an sich zog. Seine Hand streichelte über ihren Hinterkopf. Anna streckte die Beine lang und legte ihren Kopf auf seine Brust, während sie an seiner Seite lag. Sie hatte keine Zeit, um über Akira nach zu denken. Sie hatte keine Zeit darüber zu grübeln, was Liebe nun eigentlich war, und was nicht. Das wurde ihm gerade schmerzhaft bewusst. Vielleicht war es ganz gut gewesen, dass er sie vorhin so ausgefragt hatte. Vielleicht brauchte sie diesen kleinen Denkanstoß. Aber gerade er sollte diese Situation nicht ausnutzen. Gerade er sollte wissen, dass wenn Anna sich jetzt in ihn verliebte, er sie betrügen würde. Sie kannte ihn nicht gut genug. Sie wusste nicht, was er war und was er tat, um zu überleben. Das bebende Herz in ihrer Brust beruhigte sich langsam. Ihre Atmung wurde leiser und ausgeglichener. Immer noch fuhren Akiras Finger durch das weiche Haar, während er an die Decke starrte. Vielleicht war er ihr zu schnell zu nahe gekommen. Vielleicht sollte er Abstand nehmen.

Melancholie

Als Anna am nächsten Tag aufwachte, war sie alleine. Sie lag immer noch in der selben Position, in der sie eingeschlafen war. Ihre Augen suchten die leere Matratze nach Akira ab, aber er war nicht da. Ihre Hand fuhr über die Stelle, auf der er geschlafen hatte – so dachte sie zumindest. Der Stoff war kalt. Er musste schon vor einer Weile gegangen sein. Wollte er doch lieber in seinem eigenen Bett schlafen?

Gähnend richtete sich das Mädchen auf und sah auf den Wecker. Es war kurz nach sieben, montags. Es war also Zeit, wieder in die Schule zu gehen. Ein Blick aus dem Fenster verriet Anna schon, dass der Tag kalt werden würde. In der Nacht war der erste Schnee gefallen und klebte an den Ästen und Zweigen der großen Büsche und Bäume. Anscheinend hatte Liam sich nicht mehr die Mühe gemacht, die Pflanzen wieder schrumpfen zu lassen.

Bei diesem Gedanken fiel Annas Blick auf ihre Blume. Verschlafen ließ sie ihre Blüte sinken. Diese war mittlerweile so groß geworden, dass es kein Wunder mehr war, dass der Stiel sie nicht mehr tragen konnte. Das Mädchen ging auf die Blume zu und hielt ihre Hand unter die Blüte, um sie etwas aufzurichten. Sie war schwer und warm. Tatsächlich schien sie unter ihrer Berührung aufzuwachen – es dauerte nicht lange, da zuckte sie schon munter hin und her. Sie begann zu glühen, wie in der Nacht zuvor. Mit einem Kuss auf die Blüte wandte sich Anna ihrer Schuluniform zu, packte diese und ging in das Bad zwei Zimmer weiter.

Gestern hatte sie sehr viel geschwitzt und obwohl sie so viel Energie aufgewandt hatte, fühlte sie sich merkwürdig fit. Das Wasser der Dusche tat ihr gut. Während sie unter dem warmen Regen aus dem Duschkopf stand, wanderten ihre Gedanken durch die Geschehnisse der gestrigen Nacht. Satoshi war ihr Shiki geworden. Sie konnte ihn nicht ganz deuten, nicht einmal seine Gedanken klar erfassen. Sie konnte nur sehen, dass er die selben Erinnerungen wie Adam hatte. Dennoch gab er eine merkwürdig gefährliche Ausstrahlung von sich. War Iori in Gefahr? Dann noch Akira… Er hatte sie gefragt, ob sie ihn nicht küssen wollen würde. Und sie hatte es tatsächlich getan. Beschämt massierte Anna das Shampoo in Haare und Kopfhaut, während sie an die Decke starrte. Und dann … Er hatte sich entschuldigt. Wieso hatte er sich entschuldigt? Ja, natürlich – Anna hatte in diesem Moment den Eindruck vermittelt, dass sie das nicht könnte (sie hat es sogar gesagt), aber war das Grund genug, um sich zu entschuldigen? War er vielleicht sogar so beleidigt gewesen, dass er gegangen war, als sie eingeschlafen ist? Das warme Wasser spülte ihre Haare aus, während das Mädchen mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf da stand. Ihre Finger kämmten durch das nasse Haare, während das Wasser die Schaumreste wegspülte. Sie seufzte. Wenn es wirklich so war, sollte sie ihm vielleicht sagen, dass es nicht so gemeint war. Er kannte sie doch – wieso würde er so reagieren? Er wusste doch bestimmt, was in ihr diesen Moment vor gegangen war, wieso würde er sie einfach alleine lassen?

„Entschuldigen?“, dachte sich Anna kurz und griff nach dem Gesichtsgel. Nein. Sie müsste sich nicht entschuldigen. Wenn sie nicht bereit wäre, so weit zu gehen, war sie es halt nicht und dafür müsste sie sich auch nicht schämen. Genervt rieb sich das Mädchen mit dem heißen Wasser den Schaum aus dem Gesicht. Nein, es war nicht ihre Schuld. Außerdem hatte sie eine andere Priorität: Rose.

Nachdem Anna vollends gewaschen war, rubbelte sich die 16-Jährige trocken und zog ihre Schuluniform über. Noch immer Haare kämmend ging sie schnurstracks auf das Zimmer von Rose und Shiro zu. Ohne anzuklopfen schlüpfte sie durch den Türspalt, schloss die Tür hinter sich und ging auf das Bett zu. Beide Kinder schliefen noch – Shiro hatte sich an Roses Seite gelegt, diese schien sich aber nicht bei ihm angekuschelt zu haben. Anscheinend hat die Verletzung so starke Auswirkungen gehabt, dass sie ohnmächtig geworden ist.

„Wenn nicht sogar querschnittsgelähmt...“, seufzte Liam leise. Anna fuhr herum – der Waldgott saß auf einem Stuhl an der Wand des Ende des Raumes und musterte die noch tropfende Anna. Das Mädchen seufzte leise und ließ sich neben Shiro sinken. Ihre Hand ruhte auf seiner Hüfte, ehe sie ihn vorsichtig wach rüttelte.

„Shiro...“, flüsterte das Mädchen und beugte sich leicht vor. Der Junge öffnete langsam die Augen und sah sich um. Als er Anna erblickte setzte er sich auf und gähnte großmäulig, ehe er seine Arme um sie legte.

„Morgen.“, knurrte die tiefe Stimme leise, dann schloss er die Augen wieder. Das Mädchen streichelte behutsam über den breiten, großen Rücken.

„Wie geht’s ihr?“, fragte sie leise, doch Shiro seufzte nur.

„Sie ist nicht wieder aufgewacht.“, murmelte Liam aus seiner Ecke. „Ich kann nicht viel für sie tun. Wir können nur hoffen, dass sie überlebt, bis Toki ankommt.“.

„Wir hätten alle kämpfen sollen...“, seufzte Anna schuldig. Dass die anderen ihre Kräfte nicht eingesetzt hatten, war um zu verhindern, dass Eve einen Eindruck von ihren Mächten erhaschte. Aber Anna hatte nicht damit gerechnet, dass Rose tatsächlich so stark verletzt werden würde. Sie fühlte sich dumm… naiv. Shiro löste die leichte Umarmung und legte seine Hand auf den Kopf seiner Mutter.

„Es ist nicht deine Schuld. Sie war schwach. Wenn sie es übersteht, wird sie trainieren. Wenn nicht, haben wir keine Verwendung für sie.“. Seine Stimme war leise und auch wenn seine Worte hart klingen mochten, so sah sie es in seinen Augen: Er wollte auf keinen Fall, dass Rose stirbt. Er glaubte an sie. Anna schaffte es, ein schiefes Schmunzeln aufzusetzen und stand vom Bett auf.

„Toki kommt heute Abend. Bis dahin hält sie es sicherlich noch durch.“, lächelte sie unsicher. Beide Männer nickten. Die Tür platzte auf und Sho sprang auf Anna zu. Seine Arme umfassten die schmale Hüfte des Mädchens und sein Kopf rieb sich in ihre Bluse.

„Anna...“, seufzte er sehnsüchtig. Shiro stand auf und packte den kleinen Tengu am Kragen.

„Lass sie los. Wir sind hier in einem Krankenzimmer.“, fauchte der Wolfsdämon und trug Sho zurück zur Tür.

„Ich weiß.“, schnauzte Sho zurück und riss an dem Griff herum, bis er sich schließlich von Shiro loseisen konnte. „Ich komme, um Anna zu sagen, dass sie Besuch hat.“, er setzte eine zutiefst ernste und hochnäsige Miene auf.

„Wen denn?“, fragte das Mädchen nun überrascht. Hoffentlich war es nicht Inspektor Kobayashi.

„Er sagt, sein Name sei Satoshi. Er wartet im Flur.“.

Sofort stürmte Anna zur Tür hinaus, dicht gefolgt von Shiro und Sho. Er hatte zwar gesagt, dass er wieder kommen würde, aber wieso ausgerechnet so früh? Ihre Füße trugen sie zum Flur. Dort stand er – ein großer, grauhaariger Mann am Ende des Flures. Er musterte aus dem breiten Fenster heraus den Garten und ließ jegliche Fragen der umstehenden Männer an sich abprallen. Mirai und Ren waren dementsprechend genervt. Anna blieb stehen und so taten es die beiden Jungs – kurz darauf kam auch Liam.

„Satoshi...“, murmelte die Blondine leicht geschockt. Sofort sah sie sich um. Akira lehnte an einer der Wände. Alle waren da.

„Yo, Anna.“, lächelte der junge Mann und wandte sich ihr zu. „Gut geschlafen? Ich sehe, du bist nicht sehr weit gegangen...“, seine Augen huschten zum Rotschopf hinüber, der genervt mit der Zunge schnalzte.

„Anna, wer ist der Typ?“, keifte Mirai verärgert und deutete auf Satoshi.

„Er ist mein neuer Shiki...“, erwiderte diese sofort.

„Was? Seit wann?“.

„Seit… gestern Nacht.“, gab sie widerwillig zu und blickte zu Boden. Mirai war so überrascht, er konnte überhaupt nichts entgegnen.

„Wäre schön gewesen, wenn du uns vorher aufgeklärt hättest.“, schnauzte Ren, wurde jedoch von Liam durch eine Handbewegung angehalten:

„Es ist wirklich in tiefer Nacht passiert. Es ist kaum sechs Stunden her.“, erklärte der Waldgott und Anna war glücklich, dass er Gedanken lesen konnte.

„Also… Wie sie schon sagte, ich bin ihr Shiki. Ich bin hier um Adam zu ersetzen.“, erklärte sich Satoshi und ging einen Schritt auf Mirai und Ren zu. Als er vor Mirai stand musste der Schatten grinsen. Es war ein höhnisches, gemeines Lächeln, das er Mirai zeigte. Gespielt enttäuscht schüttelte er den Kopf.

„Niemand kann Adam ersetzen.“, brummte Shiro sofort und heimste sich damit den Blick von Satoshi ein. Er ging auf den Wolfsdämon zu – er war etwas größer als Shiro und schaffte es einfach, ihm in die Augen zu sehen.

„Es ist lange her, dass ich dich gesehen habe.“, murmelte der Shiki melancholisch.

„Ich kenne dich nicht.“, fauchte Shiro im Gegenzug. Satoshi grinste etwas breiter.

„Ich bin hier um zwei Dinge zu tun: Erstens, ich wollte mich vorstellen. Das habe ich jetzt getan. Ich werde ab sofort auf Anna aufpassen. Ich werde darauf achten, dass keiner ihr in die Quere kommt. Das gilt für Eve und das gilt für euch. Natürlich müssen wir die Sache etwas beschleunigen...“, sein Blick fiel auf Akira und Anna wunderte sich für eine Sekunde, warum. „Sie braucht einen Mann, am besten noch innerhalb des nächsten Jahres. Ich hoffe also, ihr verstärkt eure Anstrengungen. Es ist nicht mehr viel Zeit.“. Das waren Worte, die Anna in letzter Zeit unweigerlich oft hörte: Es ist nicht mehr viel Zeit. Genervt sah sie zu Boden. Die Stille, die sich nach Satoshis Ansprache eingefunden hatte, wurde durch Sho unterbrochen:

„Was ist die zweite Sache, für die du hier bist?“. Satoshis Blick wanderte zum kleinen Tengu, ehe er auf diesen zuging und ihn musterte.

„Du bist also Sho. Ganz schön klein, um in der Auswahl mitzuspielen, oder? Aber eins A Fluch, der da auf dich gelegt wurde. Respekt, Liam.“, Satoshi hob einen Daumen Richtung Waldgott, ehe er sich wieder Sho zuwandte: „Die zweite Sache, für die ich da bin, ist dein Bruder.“. Sämtliche Farbe wich aus Shos Gesicht – und auch aus Annas.

„Satoshi, ich hab' dir doch gesagt...“, fing sie an, doch Satoshi lachte nur.

„Ja, dass sein Bruder sich für ihn opfert. Toll. Hat nichts mit ihm zu tun. Also wo ist er?“, der Grauhaarige sah sich um. Sofort versperrten Mirai und Akira den Zugang in Ioris Richtung. Das Lächeln auf Satoshis Lippen starb.

„Geht aus dem Weg. Ihr wisst nicht, was ihr da tut.“, fauchte der Shiki. Mirai begann zu grinsen.

„Sollte ein Shiki nicht auf das hören, was seine Königin ihm befiehlt?“, erwiderte der Affenkönig im Gegenzug.

„Sie ist schwach. Sie weiß nicht, was sie tut. Iori ist Schuld, dass Mama gestorben ist.“. Sho blickte Anna angsterfüllt an. Sie hatte ihn noch nie so erschrocken gesehen, doch jetzt sah sie das Kind in ihm: Das Kind, das Angst um seinen großen Bruder hatte. Sein Blick bedeutete ihr: Tu' etwas. Anna schrat ein. Sie legte ihre Hand auf Satoshis Schulter.

„Komm' runter. Ich hab' dir schon gestern gesagt, dass die Sache geklärt ist.“, befahl sie verärgert.

„Die Sache ist geklärt?“, fragte Satoshi sie unglaubwürdig und schaute sie erzürnt an. „Du hast mit dem Tod von deiner Mutter also abgeschlossen, ja? Keine harten Gefühle mehr?“, seine Worte bissen sich in Anna fest wie Bärenfallen. Sie konnte nicht sagen, dass alles gut war. Der Schmerz um den Verlust ihrer Mutter saß einfach noch zu tief. Geknickt blickte sie auf die Hand, die sich auf Satoshis Schulter befand, und zog sie weg.

„Es ist nicht so, als wäre ich nicht mehr wütend… Aber Iori ist jetzt auf unserer Seite. Er gehört zu mir. Und ich beschütze, was mir gehört.“, fauchte sie leise. Satoshi drehte sich nun vollends zu Anna um.

„Ist das dein Ernst?“, fragte er sie ernst und seufzte, als die Blondine nickte.

„Gut. Dann lass ich's vorerst.“.

Er wandte sich von den Anwesenden ab und ging auf die Treppen zu.

„Wohin gehst du?“, Mirai klang immer noch genervt.

„Ich leg' mich in Annas Bett und schlaf 'ne Runde, während ihr in der Schule seid. Viel Spaß, bis später.“, Satoshi klang furchtbar gelassen.

„Was für ein Arschloch...“, und es war nicht Mirai, der diese Worte sprach, sondern Akira. Überrascht und leicht verwirrt schaute Anna ihn an. Er fing ihren Blick kurz ab, drehte sich dann jedoch weg um zur Küche zu gehen und mit Iori das Frühstück vorzubereiten.

„Habt ihr euch gestritten?“, fragte der Affenkönig überrascht und Anna seufzte.

„Nicht wirklich. Keine Ahnung, was los ist.“.

Das Frühstück war nur schwer unter der angespannten Stimmung runter zu kriegen. Gebeutelt stand Anna als erste auf und ließ sich von Shiro zur Tür begleiten, nachdem sie ihre Schultasche eingesammelt hatte.

„Bis heute Abend.“, lächelte der junge Mann liebevoll und Anna drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Dann seufzte sie.

„Egal, wie groß du noch werden willst, du bist und bleibst mein kleiner Junge. Ich hab' dich lieb.“, murmelte sie ihm zu, umarmte den Wolfsdämon und wandte sich der Tür zu. Shiro hielt ihre Hand fest.

„Ich dich auch. Pass' auf dich auf.“. Es war so süß, wenn er rot anlief. Grinsend ging Anna aus der Haustür.

Der Schulweg war einsam ohne Adam und Akira. Anna wusste nicht wieso, aber Akira ging ihr deutlich aus dem Weg. Auch in der Schule bekam sie ihn nicht zu Gesicht, doch er war nicht der einzige, den sie nicht sah: Auch Eve tauchte heute nicht in der Schule auf. Gelangweilt saß das Mädchen in ihrem Klassenzimmer und ließ die zahlreichen Informationen über sich ergehen. Hatte Eve nach dem Rückschlag gestern den Schwanz eingezogen? Oder hatte sie sich nur zurück gezogen, um ihre Pläne auszufeilen? Hatte sie damit gerechnet, dass sie besiegt werden würde?

Wahrscheinlich. Es war ein schmerzhafter Schluss, zu dem Anna gekommen war, doch höchst wahrscheinlich hatte Eve geahnt, dass diese handvoll Vampire nichts hätten ausrichten können. Sie waren entbehrlich, um Annas Stärke zu testen. Seufzend lehnte sich Anna zurück und kaute an dem Ende ihres Stiftes herum. Es war die kleine Pause – Kiki hatte sie zum Essen in der Cafeteria zur Mittagspause eingeladen. Wahrscheinlich würde sie dieser Einladung nachkommen. Doch ansonsten war nicht viel los: Yuki antwortete nicht mehr auf ihre Nachrichten, erst als Anna ihn vor einigen Tagen angerufen hatte, um sicher zu gehen, dass er nicht auch noch verschwunden war, hatte ihr seine Mutter gebeichtet, dass Yuki mit einer starken Erkältung im Bett lag. Es würde wohl noch die ganze Woche dauern, bis er sich erholen würde.

Der Tag war unglaublich ruhig. Keine Unterbrechungen, keine Geschehnisse, nichts. Kiki kam in der Mittagspause vorbei, um Anna zum Essen abzuholen, aber ansonsten sah das Mädchen keiner ihrer Freunde. Weder Akira, noch Mirai. Niemand schien sich die Mühe zu machen, aufzutauchen. Vielleicht hatte die Sache mit Satoshi sie verärgert? Genervt packte die Blondine ihre Sachen zusammen, verstaute sie in ihrer Tasche und warf sie sich über die Schulter. Akira wusste doch, dass sie nichts für Satoshis Verhalten konnte – Wieso verhielt er sich dann trotzdem so abweisend ihr gegenüber? Lag es doch an gestern Nacht?

Das Wetter war schlecht. Es hatte angefangen zu schneien, war bitterkalt und windig. Doch nach Hause gehen wollte Anna noch nicht – Tatsächlich wollte sie den Problemen in dem Haus erst einmal aus dem Weg gehen. Es war lange her, dass sie mal wieder alleine unterwegs war. Ihre Füße trugen sie wie automatisch in eine bestimmte Richtung. Der Schnee, der sich nun eine handbreit auf dem Boden nieder gelassen hatte, knirschte leicht unter den Sneakern, die Anna trug. Der Wind schüttelte an ihren Armen und Beinen und ließ das Mädchen für kurze Zeit erschaudern. In letzter Zeit, wenn Akira bei ihr war, fühlte sie sich sicher. Sie fühlte sich geborgen, leichtfüßig. Seine Küsse waren wie ein sanftes Feuer. Es war ein schönes Gefühl, wenn er bei ihr war. Letzte Nacht, wo sie zum ersten Mal ihn geküsst hatte – was war das gewesen? Sie hatte das ein bisschen aus Trotz gemacht, andererseits war es schwierig gewesen, sich zu überwinden. Ihr Herz hatte bis zum Hals geschlagen, ihr das Atmen schwer gemacht. Er war immer so gelassen, dass es fast schon nervte. Doch als Anna ihn geküsst hatte, hatte sich was geändert – er war nicht mehr der ruhige, coole Akira gewesen. Es war, als hätte man ein Feuer in ihm geschürt. Hätte sie ihn davon abhalten können, weiter zu gehen? Gewissermaßen hatte sie es ja geschafft, aber warum hat sie ihn überhaupt gestoppt? Annas Herz machte einen Hüpfer. Wollte sie, dass er aufhören würde? Und wieso hatte sie heute die ganze Zeit das Verlangen, bei ihm zu sein? Das Mädchen blieb stehen.

Ein eisernes Gartentor versperrte ihr den Weg. Schnee legte sich darauf ab, wie leichter Puderzucker auf einem Kuchen. Die Blumen waren zum Teil verwelkt, die Winterharten kauerten sich unter dem Schnee zusammen. Annas Blick richtete sich auf das Fenster über der Haustür. Seufzend öffnete sie das eiskalte Tor und lief den steinernen Weg entlang. Dieses Mal war die Tür geschlossen, aber der Schlüssel passte immer noch. Der Briefkasten quoll über mit Briefen und Zeitungen. Traurig nahm sie die Briefe in die Hand und betrat den Flur ihres alten Hauses. Es roch nicht nach Essen, sondern nach chemischen Putzmitteln. Sofort wanderte Annas Blick zur offenen Wohnzimmertür, ehe sie eintrat. Es war alles sauber. Kein Blut, keine Gedärme, keine abgerissenen Gesichter ihrer Mutter. Als würde sie etwas suchen, wanderten ihre Augen durch den großen Raum und blieb hier und da an Möbeln oder Bildern hängen. Hinter dem Sofa war nichts außer einem bleichen Fleck auf dem Parkett. Das Mädchen ließ sich in einen der Sessel fallen und ging die Post durch. Mietnachzahlungen? Eigentlich sollte sich ihr Vater darum kümmern… Beileidsbekundigungen für Anna. Ein schiefes Schmunzeln legte sich auf ihre Lippen. Ja, man konnte sie bemitleiden. Sie war eine traurige Erscheinung. Dann noch ein Brief von ihrem Vater – er sprach „persönlich“ seine Trauer aus. Es war ein maschinell getippter Brief mit einer krakeligen Unterschrift, die Anna nicht einmal identifizieren konnte. Verärgert schmiss sie die Briefe zur Seite. Der Rest war Werbung.

Das Mädchen schloss die Augen und versank in dem weichen, gewohnten Stoff ihres Sessels. Hier saß Adam gerne, während er Mama beim Ferngucken oder Anna beim Lesen zuschaute. Annas Hand fuhr über ihre Stirn. „Nicht sentimental werden.“, flüsterte sie sich selbst zu und rappelte sich auf.

In der Küche war alles sauber. Anscheinend hatte ihre Mutter an jenem Tag nicht gekocht. Die Spülmaschine blinkte noch. Anna schaltete ihn ab und ging die Treppen hinauf in ihr Zimmer. Es war fast, wie sie es verlassen hatte. Der Fenstersims war leicht verstaubt, genau so wie ihr Schreibtisch. Die Schranktüren standen offen, anscheinend hatten die Jungs sie nicht geschlossen. Ihre Hände glitten durch die Schubladen und Kleider, die sich darin befanden. Das rot-schwarze Kleid, das sie von ihrer Mutter zum Geburtstag bekommen hatte, zog sie heraus. Das Mädchen begann sich auszuziehen. Wahrscheinlich sollte sie den Rest ihrer Sachen mitnehmen, wenn sie nicht vor hatte, hier wieder einzuziehen. Aber vielleicht wäre das ja eine gute Idee? Der Stoff des Kleides war weich und angenehm warm. Er roch ein bisschen nach den Mottenkugeln, die ihre Mutter vorsichtshalber im Schrank platziert hatte. Die Rüschen waren genau so bauschig, wie Anna in Erinnerung hatte. Seufzend ließ die Blondine sich auf ihr Bett fallen und löste damit einen Tornado von Staubpartikeln aus. Hustend blieb sie liegen, schloss aber die Augen und genoss die alte Atmosphäre ihres Zimmers. Es war angenehm bei Ren, aber nichts schlug dieses Zimmer und das Gefühl, „Zuhause“ zu sein. Nachdem sich der Staub gelegt hatte wanderte Annas Blick zum Fenstersims. Kai hätte da sitzen und lächeln sollen. Hatte er es wirklich getan? Sie verraten? Für ihn war sie keine Königin, er hatte ihr nie irgendetwas versprochen oder geschworen. Er hatte keinen Grund ihr gegenüber loyal zu sein. Hatte Eve ihm etwas angeboten, was er nicht abschlagen konnte? War es so toll, um ihm den Grund zu geben, Annas Mutter zu töten?

„Vampire… sind keine Menschen.“, murmelte das Mädchen traurig vor sich hin. Auch Affenkönige, Götter und Dämonen waren keine Menschen. Menschen sind die einzigen Lebewesen, die die Vorstellungen von Moral und Mitleid teilen. Sie waren die einzigen, die wussten, wie man verzeiht. Aber auch Anna war kein Mensch – wie ihr erneut schmerzlich bewusst wurde. Wenn sie kein Mensch war und trotzdem diese Gefühle von Bedauern und Schmerz hatte, konnten die anderen das dann auch fühlen? Bedauerte Kai es, dass ihre Mutter gestorben war? Dass Adam gestorben war? Bedauerte Shiro den Zustand von Rose? Bedauerte Satoshi den Tod seines Bruders? Bedauerte Sho sein Schicksal? Bedauerte Akira irgendetwas?

Unwohl rollte Anna in ihrem Bett herum. Seit wann drehte sich ihre Welt nur um diese Leute? Seit wann war sie so machtlos? Sie wollte Kai und Mika finden. Sie wollte sie wieder haben. Sie wollte Adam und ihre Mutter wieder haben. Diesen Staub wollte sie nicht. Diesen Schnee wollte sie nicht. Sie wollte nicht das Gefühl kriegen, von Akira gemieden zu werden. Sie wollte nicht das Gefühl haben, von ihm abhängig zu sein. Sie wollte nicht, dass ihre Freunde einer nach dem anderen für ihren Kampf sterben musste. Anna wollte ihren Sommer zurück.

Das Mädchen erhob sich und ging Richtung Bad, um sich einen Lappen und einige Putzsachen zu holen. Sie zog ihr Bett ab und begann, die Oberflächen der Einrichtung abzustauben. Dann machte sie das selbe in Adams Zimmer. Adam hatte nie viel Wert auf Einrichtung gelegt – Ein Regal stand neben der Kommode, gleich daneben der Schreibtisch und am Ende des Raumes sein Bett. Mehr nicht. Keine Poster, Bilder, CDs, Spiele oder ein Fernseher. Nichts. Beim Abziehen seines Bettes wehte ihr der vertraute Geruch ihres toten Bruders in die Nase. „Nicht sentimental werden.“, seufzte Anna, knüllte das Laken zusammen und warf es auf den Boden, gefolgt von den Bezügen für Decke und Kissen. Der Staub lag hier noch dicker auf dem Holz, als in ihrem eigenen Zimmer. Es dauerte eine Weile und der Lappen musste oft ausgewaschen werden, bevor das Zimmer wieder in seinem vorherigen Glanz erstrahlen konnte. Gebeutelt packte sich die Blondine die schmutzige Wäsche und ging ins Bad, um die Waschmaschine anzuschmeißen. Das bekannte Rütteln des Schleudergangs weckte Erinnerungen. Wie sah es eigentlich mit dem Kühlschrank aus? Der schaurige Gedanke von verschimmeltem Essen breitete sich in Annas Kopf aus. Das musste wohl oder übel erledigt werden und es war noch ekliger, als sich Anna vorgestellt hatte. Nachdem auch das erledigt war blickte sie aus dem Fenster in den Garten – Der Schnee war nun knöchelhoch, allerdings schneite es nicht mehr. Es war dunkel. Die Straßenlaternen beleuchteten das glitzernde Weiß. Wenn sie hier wieder zurück wollen würde, dann würde sie Shiro mitnehmen. Vielleicht auch Sho, wenn die beiden sich nicht zu sehr streiten würden. Shiro könnte anfangen, in die Schule zu gehen. Anna hatte noch genug Geld auf ihrem Konto, um seine Schulgebühren decken zu können. Apropos: Schnell ging das Mädchen in das Arbeitszimmer ihrer Mutter und begann die Schubladen zu durchwühlen. Ihr Sparbuch – sie sollte es lieber mitnehmen. Auch die anderen Wertgegenstände in diesem Haus: Schmuck, Geld, Sachen von persönlichem Wert… Anna sah sich um. Was hatte für sie persönlichen Wert neben ihrer Familie? Sie hatte nie genau darüber nachgedacht. Unbewusst fuhr ihr Finger um die schwarze Opalkette, die an ihrem Hals baumele. Das hatte persönlichen Wert. Das Essen ihrer Mutter hatte persönlichen Wert. Adam hatte persönlichen Wert. Ihre Mutter. Was gab es hier noch für sie, das Wert hatte?

Es klingelte. Stocksteif starrte Anna in das Treppenhaus. Wer war das? Vorsichtig schlich das Mädchen die Treppen hinab und guckte aus dem Spion, ehe sie seufzend die Tür öffnete.

„Hey.“, murmelte sie leise und blickte weg.

„Hey, ich hab' mir schon Sorgen gemacht. Alles klar? Du siehst erschöpft aus.“, Mirais große, kalte Hand fuhr über Annas Haare.

„Ja. Woher weißt du, dass ich hier bin?“, fragte sie argwöhnisch und machte Platz, damit der junge Mann eintreten konnte.

„Ich hab' dich gesucht und hatte 'ne Vermutung, dann hab' ich hier Licht brennen sehen. Als du um 9 Uhr immer noch nicht Zuhause warst, sind wir alle los gegangen. Wir dachten schon, dir sei was passiert.“, schnaufte der Affenkönig und zog sich die Schuhe aus. Sein Blick wanderte über das Treppenhaus ins Wohnzimmer. Für einige Sekunden verharrte er dort, bis er sich wieder Anna widmete.

„Wie viel Uhr ist es denn gerade?“, fragte diese leicht überrascht.

„Halb elf.“, erwiderte Mirai mit einem schiefen Grinsen. „Lass uns nach Hause gehen.“. Anna drehte sich wieder den Treppen zu.

„Ähm...“, fing sie an, wusste jedoch nicht, wo sie anfangen sollte.

„Was denn?“, fragte Mirai neugierig nach. Er folgte Anna die Treppen hinauf.

„Ich hab' gerade geputzt und … Naja, ich hab' mir überlegt, was ich mitnehmen solle. Und … ob ich vielleicht wieder hier einziehen soll.“, gab das Mädchen zu und führte ihren Gast ins Arbeitszimmer. Die Schubladen des Schreibtisches ihrer Mutter standen noch offen, einige Dokumente lagen auf dem Boden verteilt.

„Hier wieder einziehen? Gefällt's dir nicht bei uns?“. Mirai klang besorgt.

„Das ist es nicht… Aber DAS hier ist mein Zuhause. Nicht bei Ren. Ich weiß es aber nicht… Ich weiß nicht, ob ich hier noch leben kann.“. Alles in diesem Haus war wie Gift. Es dauerte seine Zeit aber Anna spürte jetzt schon, würde sie hier wieder einziehen, würde sie diesen Fleck im Wohnzimmer jeden Tag sehen. Mirai seufze nachdenklich und ließ sich in den Bürostahl fallen, als er Anna dabei zusah, wie sie ihre Dokumente einsammelte. Geburtsurkunde, Pass, Sparbuch… Die Ordnung ihrer Mutter war unschlagbar.

„Ich kann dich nicht aufhalten. Aber wenn du eine Familie haben willst, dann hab' ich eine für dich. Silver auch. Du weißt, dass du bei uns immer herzlich willkommen bist.“. Mirais Hand legte sich auf Annas Schulter, als er aufstand, und streichelte sie. „Aber für heute sollten wir wieder zurück gehen. Shiro ist am Durchdrehen.“, grinste der Affenkönig.

„Ja, okay.“, erwiderte Anna. Sie schaffte es noch, Mirai einige Tüten mit Wäsche und Büchern anzudrehen, damit er diese tragen würde, während sie ihre Dokumente und andere Kleinigkeiten trug. Der Weg zu Ren war dunkel und kalt, aber Mirai schaffte es ihn mit witzigen Geschichten und Sprüchen angenehm und lustig zu gestalten. Mit durchgefrorenen Körpern und erröteten Wangen standen die beiden dann gegen Mitternacht vor Rens Haus und traten ein. Ein bekanntes Gesicht empfing sie im Hausflur.

„Anna!“, rief die liebreizende Stimme Tokis glücklich und fiel dem Mädchen in die Arme. Er war eindeutig gewachsen – im Sommer hatten beide noch die selbe Größe, doch nun überragte Toki das Mädchen mit einer halben Kopflänge.

„Toki!“, stieß die Blondine verwundert, aber glücklich, aus, „Wie geht es dir? Du bist gewachsen!“.

Der Junge grinste und nickte. „Alles gut. Ich danke dir für deine Hilfe.“. Es war, als hätte Toki ein Stück Freude zurück in ihr Leben gebracht. Lächelnd drückte sie den Jungen an sich heran.

„Wie geht’s der Blume?“, fragte der Elf neugierig. Gerade betraten die anderen den Flur. Anscheinend hatte Mirai Ren angerufen und die Suche abgeblasen, nachdem er Anna gefunden hatte.

„Oh, ich schätze gut. Willst du sie sehen?“, entgegnete Anna aufgeregt und Toki nickte begeistert.

„Anna, wo warst du?“, Rens tiefe Stimme hallte wütend durch den Flur. Anna rollte mit den Augen. Seit wann war sie irgendjemandem eine Erklärung schuldig.

„Wir haben uns Sorgen gemacht. Ich konnte dich nicht hören.“, brummte Liam nun. Wie weit reichten seine Kräfte eigentlich? Argwöhnisch blickte Anna Liam an, welcher genau wissen zu schien, was sie dachte. Er schluckte kurz und wandte den Blick ab.

„Wir haben dich alle gesucht.“, schimpfte Ren.

„Anna!“, schrie Sho, den Tränen nahe, und rannte auf die Blondine zu.

„Wer ist das?“, fragte Toki überrascht und hielt den kleinen Tengu von Anna weg. Dieser wehrte sich mit Armen und Beinen, konnte jedoch nichts gegen den Elfen ausrichten. Seit wann war Toki so durchsetzungsfähig?

Ein weiterer junger Mann betrat den Flur. Anna brauchte die feuerroten Haare nicht einmal sehen, um zu wissen, wer es war. Sie konnte es an den Schritten hören. Sie konnte es fast riechen. Sie schaute Akira kurz an.

„Das ist Sho, ein Tengu. Wir haben einen Vertrag.“, erklärte Anna knapp und blickte wieder zu Toki.

„Ich.. das ist nicht alles!“, schnauzte Sho aufgeregt und zog an den Händen, die ihn festhielten.

„Was denn noch?“, fragte Shiro nun genervt und nahm Toki das Nervenbündel ab, ehe er ihm zur Begrüßung zunickte. Toki erwiderte die Begrüßung mit einem „Hi“.

„Ich …“, begann Sho, doch Anna lief bereits die Treppen hinauf.

„Toki und ich sehen uns die Blume an. Bis später.“, erklärte das Mädchen. Irgendwie wollte sie die anderen gerade nicht sehen.

„Alles okay bei euch?“, Toki klang besorgt, als er die Tür zu Annas Zimmer hinter sich schloss und dem Mädchen dabei zusah, wie sie auf das Bett zu ging. Sie seufzte.

„Schau' dir das an.“, Anna deutete auf die Blume auf dem Schreibtisch. Tokis Gesicht entgleiste sofort.

„Wieso ist sie so groß?“, keuchte er entsetzt und begann, die Blütenblätter anzuheben.

„Ist das nicht normal?“, fragte Anna verwundert nach und ließ sich auf die Bettkante fallen. Toki fuhr sich nervös über die Stirn, schüttelte dann aber den Kopf.

„Sie ist fast komplett erblüht, dauert nicht mehr lange...“, flüsterte er sich selbst zu und beugte sich hinunter, um den Übergang von Stiel zu Blüte zu begutachten. Dann seufzte er schwer.

„Was denn?“, nun begann auch Anna sich Sorgen zu machen.

„Nichts… Ich hätte es eigentlich wissen müssen.“. War das Enttäuschung in Tokis Stimme?

„Was?“, hakte Anna genervt nach und stand auf, um der Blume ebenfalls einen genaueren Blick zuzuwerfen.

„Hast du sie angefasst? Geküsst? Irgendwas?“, fragte Toki nachdenklich.

„Ja, jeden Tag ein bisschen.“, gab Anna verwundert zu. „War das falsch?“.

„Nein, nein.“, lachte Toki. „Mach' dir keine Sorgen.“. Doch seine Augen verrieten ihr, dass ER sich sorgte.

„Du weißt, dass ich Gedanken lesen kann, ja? Also sag's mir lieber freiwillig.“, schnauzte die Blondine genervt. Toki lächelte erschöpft.

„Ähm...“, begann er und setzte sich auf Annas Bett. „Die Blume braucht Energie, wie du weißt. Ich konnte ihr nicht genug geben. Deshalb hast du sie genommen. Aber anscheinend fühlte sie sich etwas ZU wohl bei dir… Diese Art von Blumen werden zwar groß, aber nicht so groß wie ein Menschenbaby. Außerdem sollte die Blüte nicht weiß sein – Sie sollte blau, rot oder gelb sein.“, erklärte der Elf.

„Was heißt das?“, fragte Anna besorgt nach. Hatte sie einen Fehler gemacht? Toki schwieg für einige Sekunden.

„Anna.“, begann er dann schließlich und der Ernst in seiner Stimme brachte Anna dazu, sich unwohl zu fühlen. „Du bist eine Königin der Dunkelheit, ja? Was meinst du, passiert, wenn ein Wesen, das Energie zum Leben braucht, deine Energie aufnimmt? Und das auch noch in diesem Ausmaße?“. Anna starrte den blonden Jungen an. Sie wusste es nicht. Hieß das, die Fee in der Blume würde böse werden?

„Es wird eine dunkle Elfe.“, erklärte Toki schließlich, während er nachdenklich auf die Blume starrte.

„Was?“, Anna konnte das Entsetzen in ihrer Stimme nicht verbergen und starrte ebenfalls die Blume an. „Wie gesagt, mach' dir keine Sorgen.“, grinste Toki beruhigend und tätschelte die Blume zärtlich. „Dunkelelfen haben andere Aufgaben als Elfen, wie wir. Wir kümmern uns um das Wachsen der Blume, Dunkelelfen um deren Einsatz und generell… Sind sie halt ein bisschen angriffslustiger.“.

„Also ist es nicht schlimm?“, wollte Anna wissen. Toki schüttelte lachend den Kopf.

„Nein, nein. Sie ist eine Elfe. Alle Elfen sind von Natur aus lieb. Du musst sie nur richtig erziehen.“.

„Ich?“, keuchte die Blondine. Toki nickte. „Willst du das nicht übernehmen? Ich kenn' mich mit Elfen doch gar nicht aus...“. Der Elf lachte.

„Klar, ich kann dir helfen.“, schmunzelte der Blondschopf und Anna ließ sich beruhigt aufs Bett neben ihm sinken. „Hast du schon einen Namen für sie?“, fragte er sie neugierig. Anna schüttelte leicht überrascht den Kopf. „Dann solltest du dir bald einen aussuchen. Es dauert nicht mehr lange, bis sie geboren wird.“.

Hikari

Das Bett war warm. Neben sich hörte Anna ein leises Atmen. Es war noch dunkel draußen an diesem ersten Dezembertag. Leise rieselte Schnee gegen das Fenster. Ein Blick auf die Uhr verriet der Blondine, dass es erst halb sieben war. Auch das Zimmer war in komplette Dunkelheit gehüllt worden. Nur das Licht, das vom Schnee auf dem Boden reflektiert wurde, ließ die Nacht etwas heller erscheinen als sonst. Anna drehte ihren Kopf zur Seite. Shiros Haare lagen wild in seinem Gesicht, während er seine Wange ins Kopfkissen drückte. Es war lange her, dass er bei Anna im Bett geschlafen hatte. Einer seiner Arme lag unter Annas Kopfkissen, die andere ruhte auf seiner Seite. Er lag Anna zugewandt. Annas Blick wanderte wieder zum Fenster. Die Blüte, die dieses Zimmer immer zum Erstrahlen brachte, glühte heute nicht in einer wohligen, weißen Farbe. Anna suchte mit ihren Augen das Zimmer ab. Man hörte kleine Fußschritte, doch woher konnte das Mädchen nicht sagen. Plötzlich war das Getrappel auf der Matratze. Ein Lächeln huschte über die Lippen des Mädchens, ehe sie ihre Hand ausstreckte. Sie wusste sofort, wer es war. Toki hatte es ja gesagt: Bald war es Zeit für sie, geboren zu werden. Also krabbelte ein circa sieben Zentimeter großes, haariges Etwas langsam an ihren Beinen entlang auf sie zu.

„Hallo...“, flüsterte das Mädchen leise. Das Haarmonster erreichte Annas Hand und kletterte auf deren Handteller. Vorsichtig hob das Mädchen die kleine Fee an und führte sie an ihr Gesicht. Man hörte ein süßes Quieken.

„Shiro. Wach auf.“, mit dem Ellenbogen stupste sie den Wolfsjungen an, wandte den Blick aber nicht von der kleinen Fee ab. Shiro grunzte kurz und rieb sich dann die Augen. Das kleine Wesen war bedeckt von violetten, langen und welligen Strähnen. Zu den Füßen hin (so glaubte Anna zumindest) sah man ein weißes Kleid. Shiro öffnete die Augen und legte seinen Kopf auf Annas Schulter ab. Das Wesen kicherte kurz, als sie die weißhaarige, verschlafene Schönheit sah.

„Hast du dir schon einen Namen überlegt?“, brummte die müde Stimme. Anna nickte. Es war eigentlich offensichtlich gewesen. Jede Nacht, egal wie schlimm und dunkel sie war, war diese Blume bei ihr gewesen und hatte ihr Trost und Licht gespendet. Auch wenn es vielleicht kitschig klang, aber sie wollte das Wesen Hikari nennen, wie das Licht, dass sie ihr immer spendete. Anna rappelte sich auf und begann mit einer Fingerspitze über die weichen Locken zu fahren.

„Wie findest du Hikari?“, fragte sie das kleine Mädchen leise. Dieses begann auf ihrem Handteller zufrieden hin und her zu schwanken. „Wir müssen Toki Bescheid sagen. Holst du ihn?“, flüsterte Anna ihrem Sohn zu, welcher eher ungewollt aus dem Bett krabbelte und Richtung Tür lief. Anna musterte die kleine Fee. Vielleicht hatte sie irgendwo eine Spange, um die Haare zurück zu halten – so konnte sie Hikaris Gesicht allerdings nicht erkennen. Aber das hatte Zeit bis später. Im Moment war es noch zu kalt und Anna zu müde um aufzustehen. Auch das kleine Mädchen schien langsam zu frieren. Vorsichtig platzierte Anna die Fee an ihre Brust und die Bettdecke. Die Haare kitzelten sie. Während sich die Fee an das Mädchen schmiegte, konnte die Königin sich nicht verkneifen daran zu denken, dass ihre Familie nun noch mehr gewachsen sei. Sie hatte ihre Familie verloren, ja, aber in Zeiten wie diesen war sie glücklich, dass sie nicht alleine war. Sie hatte Shiro, sogar Satoshi – und jetzt auch Hikari. Die strahlenden Familienmitglieder in ihrem Leben. Die Tür ging leise auf und Toki kam herein. Er sah genau so verschlafen und müde aus wie Shiro, als er um das Bett herum wanderte. Als er Hikari an Annas Brust sah musste er grinsen.

„Wie heißt sie?“, fragte er leise und setzte sich auf den Schreibtischstuhl vor Annas Bett.

„Hikari.“, schmunzelte Anna. Toki streckte seine Hand aus und legte einen Finger auf Hikaris Kopf. Diese drehte sich verschlafen in Annas Brust um und griff nach dem Finger.

„Sie hat so lange Haare.“, lachte der Elf leise und brachte auch Anna damit zum Grinsen.

„Ich muss mal gucken, was ich dagegen machen kann.“, lächelte sie und beobachtete Tokis Finger, wie er allmählich Hikaris Frisur zerzauste. Man hörte ein erneutes Quieken. „Kann sie nicht sprechen?“, fügte Anna leicht verwundert, doch Toki schüttelte den Kopf.

„Sie ist noch ein Baby. Wir müssen es ihr beibringen.“ Dann sah er Annas beunruhigten Blick. „Keine Sorge, sie ist nicht wie ein menschliches Kind. Es wird nicht lange dauern, da ist sie so groß wie du.“, grinste er und Anna atmete erleichtert auf. Sie war noch nicht bereit für ein „wirkliches“ Kind.

„Sollen wir sie den anderen vorstellen?“, fragte Toki leise, aber aufgeregt und Anna richtete sich auf.

„Ja, können wir machen. Ich will nur vorher ihr Gesicht sehen.“.

Es dauerte nicht lange, bis Anna eine Klipphaarspange gefunden hatte und sie vorsichtig die Haare aus dem Gesicht der Neugeborenen anhob, um sie nach hinten zu halten und festzustecken. Was sich unter den Haaren offenbarte war das süßeste, kleine Gesicht, das die Königin jemals gesehen hatte. Sie hatte wunderschöne, dunkelrote Augen, die sehr groß waren. Ihre Wangen waren klein und rund und sie zeigte ein kleines Lächeln, als sie Anna ins blaue Auge blickte. Zufrieden klammerte sie sich an den Finger der Blondine. Diese schaute sich nun das „weiße Etwas“ an, was sie vorhin unter den Haaren gesehen hatte. Es war die Blüte – wie ein Kleid hatte sie sich von Brust an über den Körper der kleinen Fee gelegt. Oben war es lila, dann ging es langsam in das Weiß über. Anna blickte Toki eine Weile lang nachdenklich an. Dann fragte sie schließlich: „Hast du auch mal ein Kleid getragen?“. Der Elf, etwas überrascht von Annas Frage, grinste beschämt.

„Das ist schon lange, lange her, okay?“, lachte er mit der Hand wedelnd und Anna musste grinsen.

„Ein Kleid, ja?“, fragte sie neckisch nach und Toki wurde rot.

„Können wir endlich gehen?“, fauchte er beschämt und stand auf.

„Was füttern wir ihr eigentlich?“. Anna, Toki und Shiro hatten die Küche erreicht. Hikari klammerte sich immer noch an Annas Shirt und sie gab ihr mit ihren Händen Halt.

„Honig ist gut.“, antwortete Toki ihr und begann sogleich die Schränke nach dem süßen Blütennektar zu durchsuchen. Anna erinnerte sich daran, wie Toki so ziemlich alles mit Honig aß. Sie runzelte die Stirn. War das eine ausgewogene Ernährung für ein kleines Kind? Stutzig sah sie Shiro an. Dieser hatte von Anfang an Fleisch gegessen. Dann seufzte das Mädchen und ließ sich in einen der Stühle fallen, während Shiro Kaffee aufsetzte.

„Du kennst dich am besten damit aus...“, murmelte sie Toki zu und spielte mit einer der violetten Locken, die Hikari den Rücken hinab baumelte. Der Elf holte einen Teelöffel mit Honig hervor und reichte ihn Anna. Diese hielt ihn Hikari vor. Sie roch kurz daran und begann dann mit den kleinen Händchen den Honig vom Löffel zu kratzen, ehe sie sich die Tropfen in den Mund schob.

„Sie ist so klein...“, quiekte Anna leise und glücklich, Shiro schnaubte kurz genervt. Er schaute die kleine Fee an und setzte sich neben Anna in den Stuhl.

„Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein, Shiro.“, lachte die Blondine und legte ihren Kopf an seine Schulter.

„Ich weiß.“, schnaubte der Wolfsdämon beschämt und legte sein Kinn auf seiner Hand ab. Toki lachte.

„Scheint als würdet ihr euch besser verstehen, als sonst. Man könnte fast meinen ihr wärt verheiratet.“, lachte der Elf kurz und goss sich heißes Wasser in eine Tasse mit Honig. Anna drehte sich der Magen um, als sie das sah.

„Ich bin ihr Sohn. Ihre Familie.“, entgegnete Shiro mit leicht geröteten Wangen. Anna grinste. Shiro war immer noch süß, genau so, wie als sie ihn kennen gelernt hatte.

„Und sie gehört jetzt dazu. Also sei nett zu ihr, Shiro.“, das Mädchen kniff ihrem Sohn kurz liebevoll in die Wange. Dann ging die Tür auf. Liam kam herein. Es war das erste Mal, dass Anna ihn lächeln sah, als sein Blick auf die kleine Fee fiel. Zufrieden setzte er sich neben Shiro und musterte die kleine Fee.

„Sie ist klein.“, fiel ihm auf, griff nach einer Serviette und reichte sie Anna, um Hikari den honigverklebten Mund abzuwischen.

„Ja, das ist komisch. Die Blüte war sehr viel größer.“, bestätigte Toki und machte Anna damit stutzig.

„Ist es nicht normal, dass sie so klein ist?“, fragte sie besorgt, doch Toki wedelte beruhigend mit der Hand.

„Alles gut. Nur bei der Größe der Blume hätte ich… Naja, mehr erwartet.“, lachte er. Hikari schaute ihn böse an.

„Oh, anscheinend mochte sie das nicht.“, murmelte Anna und streichelte dem kleinen Wesen über die Stirn. Toki entschuldigte sich leise bei seiner Artgenossin. Erneut ging die Tür auf.

„Gibt's Kaffee - Was ist das?“, Mirai blieb vor dem Tisch stehen und beugte sich herunter, um sich Hikari genauer anzuschauen. Diese schien etwas nervös in seiner Gegenwart zu sein.

„Du machst ihr Angst.“, fauchte Shiro genervt und drückte Mirai weg.

„Das ist Hikari.“, erklärte Anna. Mirai hob die Augenbrauen verwundert an und musterte die kleine Fee. Dann schaute er zu Toki:

„Ihr seht euch überhaupt nicht ähnlich.“, stellte er verwundert fest und Toki seufzte.

„Natürlich nicht. Wir sind ja auch nicht verwandt.“.

„Sie sieht eher aus wie Kai.“, murmelte Mirai nonchalant und goss sich und Anna Kaffee ein. Anna begann zu prusten. Toki sah genervt aus.

„Der Vergleich zu einem VAMPIR ist vielleicht etwas überzogen.“, schnauzte der Elf genervt und nahm Hikari auf die Hand, damit Anna den Kaffee entgegen nehmen konnte. Mittlerweile war Toki über Kais Zustand aufgeklärt worden. Auch die Situation um Annas Familie und Freunde war ihm nichts neues mehr. Er war der Ansicht, dass sich letzten Endes alles zum Guten wenden würde. Allein seine Anwesenheit gab Anna das Gefühl der Sicherheit zurück. Bei dem Gedanken musste sie abermals schmunzeln: Toki wäre nie auf die Idee gekommen, dass Kai sie betrogen hätte.

Schon bevor sich die Tür öffnete, verkrampfte sich Annas Herz kurz. Es war, als würde sie genau fühlen, wer als nächstes zur Tür hinein kommen würde. Sie schaute nicht hin.

„Morgen.“, brummte Akira verschlafen und zur Überraschung jedes Anwesenden hier hielt er Sho an der Hand. Iori folgte den beiden verschlafen. Die drei blieben ebenfalls kurz verdattert im Türrahmen stehen, als sie Toki und die kleine Hikari sahen. Shos Augen weiteten sich.

„Sie ist süß...“, murmelte Iori lächelnd. Hikari vergrub sich ängstlich in Tokis Händen.

„Was… ist das?“, fragte Sho nervös. Er sah irgendwie angeekelt aus. Auch Akira musterte das Mädchen, aber wortlos. Er hatte seinen Blick auf die Fee geheftet. Es dauerte bestimmt zehn Sekunden, ehe er seufzte und sich dem Kaffee zuwandte. Annas Herz verkrampfte erneut. Sho hustete kurz.

„Annaaa….“, quengelte er sofort und ging auf die Blondine zu, um sie zu umarmen.

„Sorry.“, murmelte Anna schuldbewusst und legte ihren Arm um den kleinen Tengu. Sie hatte vergessen, dass ihm so etwas anscheinend auch weh tat. Der Fluch der Liebenden halt… Der Junge vergrub sein Gesicht in Annas Brust und blieb einige Sekunden lang so liegen, ehe ein Ziepen an seinem Haar ihn mit einem „Aua“ aufschrecken ließ. Hikari hatte sich in Shos Haaren vergraben und zog wütend daran.

„Nimm' das Ding von mir weg!“, fauchte Sho genervt und begann mit den Händen nach Hikari zu greifen.

„Sho, lass das.“, brummte Shiro und hielt den Jungen fest, damit Anna Hikari aus seinen Haaren befreien konnte.

„Anscheinend steht Eifersucht hier an der Tagesordnung...“, grinste Mirai fröhlich und konnte sich nicht verkneifen, Akira einen kleinen Blick von der Seite zuzuwerfen. Dieser schnaubte leise und verließ die Küche wieder. Liam sah ihm hinterher, dann schaute er zu Anna. Nun seufzte er auch noch.

„Was?“, fragte Anna genervt nach, als sie sah, wie Enttäuschung sich in Liams Gesicht breit machte. Er schüttelte einfach nur den Kopf. Auch Mirai sah, wie Liam sich verhielt, und sein Grinsen wurde noch breiter. Anna wurde rot. Sie verstand nicht, was los war, aber bei dem Gedanken daran, dass Liam in ihren Kopf sehen konnte, wurde ihr unwohl. Was sah er gerade? Woran dachte sie unbewusst die ganze Zeit? Erneut seufzte Liam. Er stand auf und begann, Küchenutensilien heraus zu holen, um das Frühstück vorzubereiten.

„Hikari, jetzt kennst du fast alle. Fehlen nur noch zwei.“, flüsterte die zweifache Mutter nun dem kleinen Mädchen in ihren Händen zu. Hikari schien nicht sonderlich begeistert. Böse funkelnd starrte sie immer noch Sho an, der sich nun neben Iori gesetzt hatte. Er erwiderte ihren bösen Blick.

„Scheint, als würden die beiden sich nicht so gut verstehen...“, lächelte Shiro hämisch. Er schien Gefallen daran zu finden, dass Sho es ab sofort noch schwieriger hatte, sich Anna zu nähern. Dieser schnaubte verärgert.

„Ich sage Ren Bescheid.“, sagte Liam nun deutlich in seiner beruhigenden Stimme. „Satoshi...“, fügte er hinzu, doch Anna schüttelte den Kopf.

„Sorg' dich nicht um ihn. Ich kümmere mich darum.“, unterbrach sie ihn. Shiro seufzte.

„Er ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen.“, brummte der Wolfsjunge. Er schaute immer noch Hikari an und beobachtete sie dabei, wie sie an Annas Haarsträhne herum biss. Auch wenn die Haare vielleicht goldblond waren, waren sie kein Honig.

„Ehrlich? Hmm...“, entgegnete Anna nur und trank ihren Kaffee aus. „Toki, nimmst du sie kurz? Ich geh' duschen.“. Anna überreichte Toki die kleine Fee, wuschelte Shiro und Sho kurz durch die Haare und verließ die Küche wieder.

Als sie in ihrem Raum angekommen war, fiel ihr etwas auf: Das Zimmer war immer noch etwas kalt, vielleicht sollte sie die Heizung anmachen. Müde suchte sie in den Schubladen ihres Schrankes nach Unterwäsche und Schuluniform. Die Zimmertür öffnete sich einen Spalt und es klopfte.

„Yo.“, lächelte Mirai und trat herein.

„Hey, was gibt’s?“, fragte Anna überrascht. Mirai war nicht oft in ihrem Zimmer.

„Nichts, hab' mich nur gewundert, was das gerade in der Küche war.“, schmunzelte der Affenkönig und sah Anna dabei zu, wie sie ihre Wäsche zusammen suchte.

„Ich weiß nicht, was du meinst.“, brummte Anna im Gegenzug. Mirai lachte. Der Gedanke daran, dass Akira ihr seit Tagen nun schon aus dem Weg ging und nicht einmal mit ihr sprach, machte sie wütend.

„Die kleine...“, begann Mirai nun, als würde er ahnen, dass Anna schlechte Laune bekam, „Sie ist echt süß. Eine wahre Schönheit, genau so wie ihre Mutter.“. Dieses Kompliment zauberte ein kleines Grinsen auf Annas Lippen.

„Hör' schön auf.“, schnauzte sie beschämt, konnte das Grinsen aber nicht wieder verstecken. Mirai grinste noch breiter und wuschelte der Königin durch die Haare.

„Lass uns heute zusammen zur Schule gehen. Ist doch blöd so alleine.“. Anna musterte den blonden Muskelmann kurz. Es war lange her, dass sie das gedacht hatte, doch jetzt fiel es ihr wieder ein: Mirai war ein außerordentlich liebevoller und sympathischer Mann. Er schien ab und an ruppig zu sein, doch fiel ihr nie eine Situation ein, in der er mal gemein zu Anna gewesen war.

„Okay.“, erwiderte Anna, irgendwie erleichtert darüber, dass sie heute nicht alleine gehen musste.

Nachdem die Blondine geduscht, angezogen und geföhnt war, ging sie wieder Richtung Esszimmer. Von weitem hörte man schon wütende Stimmen.

„Das geht dich nichts an.“, schnauzte Akira und Anna blieb verwundert im Flur stehen.

„Du stellst dich an wie ein Kleinkind. Lass dir mal ein Paar Eier wachsen.“. Das war Mirai. Worüber stritten sich die beiden gerade?

„Ich sag' es echt ungerne, aber der Affe hat Recht. Du bist gerade ordentlich am Scheiße bauen.“, brummte Shiros tiefe Stimme. Ein genervtes Stöhnen Akira seits dröhnte durch die Hallen. Wieso mussten die drei das so laut besprechen?

„Hört auf. Ihr weckt Hikari.“, knurrte Ren nun und Anna war überrascht, dass er wach war, aber dankbar dafür, dass er den drei Einhalt gebot.

„Hey Anna.“, Anna blickte zu Boden. Sho stand vor ihr und sah sie besorgt an. „Alles… okay?“, fragte er zögerlich. Alleine dieser besorgte Blick rührte etwas in Annas Herzen. Seufzend beugte sie sich zu Sho hinunter und umarmte ihn. Er legte seine Arme um Annas Rücken und seinen Kopf auf ihre Schulter. War es so offensichtlich? Stand es ihr so ins Gesicht geschrieben, dass sie im Hinterkopf immer wieder Sorgen hatte?

„Tut mir Leid, Sho. Alles gut.“, seufzte sie leise und streichelte über das weiche, schwarze Haar. Er drückte sie etwas fester.

„Okay.“, murmelte er in ihre Schulter und ließ sie kurz darauf los. „Wenn du einsam bist, kann ich auch bei dir schlafen, weißt du.“, diese Worte schienen einiges an Überwindung gekostet zu haben. Er wurde wirklich rot. Anna musste lachen.

„Na klar, ich werde mich sofort bei dir melden.“, schmunzelte die Blondine.

„Ich hoffe, dass du das nicht tun wirst.“, brummte Shiro genervt und ging den Flur entlang. „Ich wette, er hat dich heimlich beim Duschen beobachtet.“, fügte er hinzu und packte den kleinen Tengu am Kragen.

„Nein, hab' ich nicht!“, schrie Sho schrill auf und wurde noch roter.

„Und wenn schon… Ist ja nicht so, als hätten wir nicht mal zusammen gebadet, Shiro.“, grinste Anna ärgernd und stupste Shiro in die Seite. Sho zischte erschrocken den Wolfsdämon an.

„Du hast was?!“, fragte er und holte scharf Luft. Shiros Wangen färbten sich rosa, doch er starrte den kleinen Jungen nur böse an.

„Geht dich nichts an.“. Und schon brach ein weiterer Streit aus. Mit den Worten „Wie kannst du es wagen“ im Ohr betrat Anna das Esszimmer. Akira und Mirai saßen genervt am Tisch und schauten demonstrativ voneinander weg. Liam deckte den Tisch und zu Annas Überraschung saß Ren bei Toki und streichelte Hikari, die auf seiner Hand schlief.

„Morgen, Ren.“, murmelte Anna verdattert. Ren nickte ihr wortlos zu. Annas Blick wanderte fragend zu Toki, welcher den Blick genau so verwundert zurück gab und mit den Schultern zuckte. Die Stimmung beim Frühstück war ziemlich angespannt. Tatsächlich war es schwierig, überhaupt ein Gesprächsthema zu finden. Anna wollte zu gerne wissen, worüber die beiden sich gestritten hatten, aber wagte sie es nicht, nach zu fragen. Dementsprechend war es still – so lange, bis Hikari anfing mit ihren kleinen Füßchen über den Tisch zu laufen und Salz zu verstreuen. Sie einzufangen gestaltete sich als schwieriger, als gedacht – schließlich hatte Ren sie sich geschnappt und zu sich auf die Schulter gesetzt.

„Magst du Hikari, Ren?“, fragte Anna grinsend. Ren blickte vom Teller zur Blondine auf und seufzte.

„Sie ist ein Baby. Wir müssen auf sie aufpassen.“, brummte er kühl und biss von seinem Toast ab. Toki schmunzelte. Auch Anna musste lächeln. Dann spürte sie, wie ihr Herz auf einmal fest gegen ihre Brust schlug. Es tat nicht weh, aber es war stark genug, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie warf einen Seitenblick zu Sho herüber, der sich an seinem Orangensaft verschluckt hatte und ihren Blick verwirrt zurück gab.

„Ich geh' dann mal. Bis heute Abend.“, murmelte das Mädchen, erhob sich, nahm von „Mama Liam“ das Mittagessen entgegen und hastete zum Flur. Ihr Blick fiel sofort auf die Treppen, dort, wo Satoshi gerade hoch ging: Der Grund für den Herzschlag.

„Satoshi!“, rief sie ihm entgegen, um ihn zum Anhalten zu bewegen. Der junge Mann blieb genervt und müde aussehend auf der Treppe stehen und schaute Anna an.

„Hey.“, murmelte er leise. Seine grauen Augen schienen dunkler als sonst, er wirkte müde und unausgeschlafen.

„Wo warst du die ganze Nacht?“, wollte Anna wissen und lief ihm entgegen.

„Hab' mich nur umgesehen...“. Man konnte spüren, wie er der Frage auswich. Anna runzelte die Stirn.

„So? Wo denn?“, hakte sie nach. Satoshi seufzte.

„Hab' nach deinen Freunden gesucht.“. Erneut schlug ihr Herz bemerksam.

„Hast du was entdeckt?“, fragte sie hoffnungsvoll, doch Satoshi schüttelte gähnend den Kopf, während Anna ihren sinken ließ. Dann fiel es ihr ein:

„Hikari is geboren worden. Die Fee. Vielleicht willst du ihr ja mal 'Hallo' sagen? Immerhin ist sie jetzt ein Teil unserer Familie.“. Das weckte Satoshi etwas auf. Er ging die paar Stufen auf Anna zu und starrte nachdenklich in ihre Augen.

„'Unsere' Familie?“, wiederholte er dann leise. Eine Hand fuhr durch Annas Haar und löste die Strähnen hinter ihrem Ohr. Seine Worte verwirrten sie.

„Ja, natürlich.“, bestätigte sie und sah Satoshi dabei zu, wie er ihre Haare musterte. Dieser seufzte schließlich.

„Anna, ich habe es dir schon einmal gesagt: Adam ist tot. Dein Bruder ist tot. Und ich bin nicht hier, um seinen Platz einzunehmen. Wir sind keine Familie.“. Bevor Anna es wusste, hörte sie es scheppern. Ihre Hand hatte die seine weggeschlagen. Diese Worte – wie kaltes Metall bohrten sie sich in ihr Herz. Fassungslos starrte sie ihren Shiki an. Am liebsten würde sie ihn noch einmal schlagen. Doch er lächelte einfach nur.

„Ist das so…?“, fauchte sie genervt und machte auf den Absatz kehrt. „Na dann bist du halt 'nur' ein Shiki. Kümmer' dich um Hikari solange ich weg bin und mach' keinen Ärger.“.

„Zu Befehl, meine Königin.“, seufzte Satoshi, immer noch lächelnd, und ging die Treppen wieder hoch auf sein Zimmer. Genervt stieß Anna die Tür auf und begann Richtung Schule zu laufen.

Es war kalt. Der Wind wehte einem gemein ins Gesicht, der Schnee knirschte unangenehm unter den Schuhen und natürlich hatte Anna ihren Schal vergessen. Zähneknirschend trat das Mädchen gegen einen Schneehaufen und verteilte damit das leichte Eis auf dem gekehrten Gehweg.

„Anna, warte!“. Das Mädchen drehte sich um. Ein joggender Affenkönig steuerte direkt auf sie zu. Seufzend blieb sie stehen und wartete auf Mirai.

„Ich dachte, wir wollten heute zusammen zur Schule?“, Mirais Atmung war etwas beschleunigt. Die Strecke war anscheinend kein Problem für ihn gewesen.

„Ja, tut mir Leid.“.

„Irgendetwas passiert?“, fragte Mirai überrascht, als er Annas Gesichtsausdruck sah. Genervt erklärte sie ihm, was gerade passiert war. Mirai lachte und erntete dafür einen fiesen Seitenhieb in die Magengrube.

„Wieso regst du dich denn so auf?“, grinste er und die beiden liefen weiter. „Es war doch von Anfang an klar, dass er nicht Adam ist.“.

„Ja, aber...“, bevor Anna antworten konnte, wurde sie wieder unterbrochen:

„Du hättest lieber eine Familie, als einen Shiki?“. Mirai hatte ins Schwarze getroffen. Anna seufzte bestätigend.

„Vielleicht… Hmm, nein.“, Mirai brach seine eigene Gedanken ab und zog damit Annas Aufmerksamkeit auf sich.

„Was?“, fragte sie genervt, doch Mirai schüttelte den Kopf.

„Sag's mir.“, schnauzte das Mädchen, doch erneut schüttelte der Blondschopf den Kopf.

„Wenn du's wirklich wissen willst, wieso liest du nicht einfach meine Gedanken?“, er legte schmunzelnd seinen Arm um das Mädchen. Er war erstaunlich warm – so wie immer.

„Ich mach' das nicht mehr bei euch. Es ist unhöflich.“, murrte Anna.

„Hat dir das Liam gesagt?“. Anna nickte. „Ja, es ist schon ziemlich unhöflich. Aber vielleicht ab und zu notwendig. Bei einem gewissen, rothaarigen Typen...“, aus den Augenwinkeln spähte er zu Anna, um ihre Reaktion zu beobachten. „Der gerne Fußball spielt… und dessen Name mit „A“ anfängt und mit 'kira' aufhört...“. Er grinste. Anna schnaubte genervt auf.

„Mir ist egal, was mit Akira ist. Ich hab' nichts getan.“, fauchte sie und vergrub ihre Hände in den Jackentaschen.

„Sicher?“, lachte der Affenkönig herzhaft, ihre Reaktion war genau die, die er erwartet hatte. „Ich glaube, es würde dir sehr viel weiter helfen, wenn du's tun würdest. Hast du's noch nie probiert?“.

„Jedes Mal, wenn ich es probiert habe, ist sein Kopf verschlossen. Als würde er sich dagegen wehren. Selbst bei dir konnte ich alles sehen, was ich wissen wollte, nur er scheint irgendwie… Dagegen gewappnet zu sein.“, murmelte Anna genervt.

„Oh.“, tatsächlich klang Mirai überrascht. „Schätze, er ist doch nicht so offenherzig, wie man vielleicht denkt.“. Anna schaute zu ihm auf.

„Was meinst du?“, fragte sie unsicher.

„Naja, du kennst ja Akira. Er hat immer ein offenes Ohr für Probleme, gibt einem immer genug Selbstvertrauen, um etwas zu tun, wozu man sich normalerweise nicht traut.“. Bei diesen Worten fielen Anna schlagartig genug Situationen ein, die darauf zutreffen würden. „Aber, ganz ehrlich Anna – was weißt du schon von ihm?“. Hatten die Jungs heute Spaß daran, Annas Gefühle und Stolz zu verletzen? Erneut wirkten die Worte, die gerade ausgesprochen wurden, wie Attentate auf Anna. Sie schaute Mirai böse funkelnd an. „Was ich meine ist: Du weißt kaum etwas über ihn. Was ist, wenn du seine Umstände heraus findest und ihn dann nicht mehr haben willst? Ich glaube kaum, dass das irgendjemand will.“.

„Warte – was meinst du mit 'haben willst'? Ich habe mich nicht für ihn entschieden.“, verteidigte sich die Königin sofort und Mirai lachte.

„Ist das so?“, er hielt Anna an und beugte sich zu ihr vor. „Wenn du dich wirklich nicht schon entschieden hast, dann kannst du mich ja küssen, oder?“, fragte er kess und seine Hand streichelte an ihrem Kieferknochen entlang. Seine Finger wanderten unter ihr Kinn und zogen es näher.

„Ja, könnte ich.“, entgegnete Anna sofort – Ihr Stolz nahm Überhand. Mirai grinste noch mehr.

„Gleich hier und jetzt?“, sein Gesicht war auf einmal unglaublich nahe. Anna spürte seinen Atem, roch sein Shampoo. Anspannung lag in der Luft. Ehe sie es wusste, hatte sie eine ihrer Hände auf seinen Lippen platziert und drückte ihn von sich weg. Seufzend entfernte sich Mirai von Anna und öffnete seine Tasche.

„Hab' gewusst, dass du es nicht kannst.“.

„Das ist es nicht – Akira – mir wurde gesagt, dass ich einen Kuss wie Sex behandeln soll und nicht jeden küssen soll.“, Anna klang aufgebracht und nervös.

„Das heißt doch nur, dass dieser 'Jemand' die Küsse für sich alleine haben will, oder?“, entgegnete Mirai schroff.

„Das… Das hat damit nichts zu tun.“, schnauzte Anna.

„Anna, hör' auf dir etwas vor zu machen.“. Mirai zog einen großen, weichen Schal aus seiner Tasche und legte ihn Anna um die Schultern. „Das ist von eben jenem 'Jemand'. Geh' heute einfach mal zu ihm und rede mit ihm. Ansonsten leiden die anderen auch unter eurer schlechten Stimmung.“, schnauzte er genervt, griff nach Annas Hand und führte sie weiter Richtung Schule. Anna musterte den dicken Schal, der ihrem Hals und Oberkörper Wärme schenkte. Er war weich, angenehm an der Haut und vor allem: Er roch nach Akira.

Konfrontation

Sollte sie es tun? Nachdenklich saß Anna in ihrem Klassenraum. Sie starrte auf ein Blatt Papier, auf der nur eine halbe Formel stand. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Ihre Aufmerksamkeit sollte weder bei Mathematik, noch bei Akira sein: Sie hatte Mika und Kai, die immer noch verschwunden war, eigentlich als Priorität angesehen. Außerdem musste sie sich jetzt auch noch um Hikari kümmern. Und irgendwo in ihrem Hinterkopf schlummerten noch die Probleme mit Satoshi. Wollte er wirklich nicht dazu gehören? Was war Anna dann für ihn? 'Nur' eine Königin? Wenn dem so ist, warum war er nicht bei Eve? Sie konnte nicht glauben, dass ALLES von Adam verschwunden war, als Satoshi ihn absorbiert hatte. Das war einfach nicht möglich.

Seufzend versank das Mädchen in ihrem Stuhl. Ihr Blick wanderte aus dem Fenster. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Das Wetter war kalt und grau. Und Anna hatte das Gefühl, es spiegelte ihre Gefühle wieder: Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Ihr Herz war gefüllt von Sorgen und letztendlich verblasste alles Schöne. Sie vermisste Mika. Sie vermisste Kai. Sie vermisste ihre Mutter und ihren Bruder. Und sie vermisste Akira. Gebeutelt stand das Mädchen auf.

„Fräulein Kurosawa, wir haben noch Unterricht.“, schnauzte der Lehrer und sah sie mahnend an.

„Achso? Viel Spaß dabei.“, lächelte das Mädchen arrogant, nahm ihre Tasche und ihren Schal und ging aus dem Klassenraum. Ohne Ziel wanderte sie durch die leeren Flure der Schule. Alle braven Schüler saßen gerade in ihren Räumen und lernten. Bald würden die Halbjahresprüfungen bevorstehen. Alle hatten Angst davor. Wieso? Es waren nur dämliche Prüfungen. Ihre Füße trugen sie zum Hinterausgang und Hinterhof. Die große Eiche, die ihr immer Schatten und Schutz gespendet hatte, lag immer noch in Form eines toten Stumpfes im Boden. Anna wischte den Schnee von dem Holz und setzte sich auf den kalten Grabstein ihres einzigen Zufluchtsort. Ein Zementmischer stand da. Doch nicht viel hatte sich verändert – Wann hatten diese Leute endlich vor, etwas aus diesem Ort zu machen? Sie wollte nicht, dass dieser Ort umsonst zerstört wurde. Ihre Füße scharrten ungeduldig im Schnee herum. Langsam wurde ihr kalt. Sie zog den Schal bis über die Nasenspitze und schaute dabei zu, wie ihre Füße kleine Häufchen bildeten. Der Geruch von Akira, den sie manchmal abends in ihrem Bett roch, war beruhigend. Er erinnerte sie daran, wie er seine Arme um sie legte, sie umarmte. Sie vermisste ihn, ja. Vielleicht sollte sie mit ihm reden. Und wenn er nicht reden wollte, dann würde sie in seinem Kopf nach Antworten suchen. Sie wollte wissen, was los war.

„Hey.“, eine leise, zarte Stimme riss Anna aus ihren Gedanken und sie blickte auf. Der weißhaarige, schmale und blasse Kerl von Eve stand vor ihr. Tsuki war wohl sein Name.

„Hallo.“, entgegnete Anna steif und starrte den Jungen an. Er hatte graue Augen. Sie erinnerten irgendwie an Satoshi. Tsuki ging einige Schritte umher. Anscheinend wusste er nicht, was er tun sollte – gehen oder bleiben? Anna sah dabei zu, wie unentschlossen er in alle Richtungen schaute, bis er schließlich auf Anna zuging und vor ihr stehen blieb.

„Was?“, fragte diese skeptisch und musterte den Mondgott.

„Tut mir Leid, wegen … Naja.“, murmelte er monoton. Man sah keinerlei Regung in seinem Gesicht.

„Was?“, jetzt war Anna verwirrt. Der Junge seufzte.

„Ich mag den Schnee.“, murmelte er leise und schaute auf Annas Füße, die vom feinen Eis begraben waren. Diese verstand mittlerweile nicht mehr, was Tsuki eigentlich von ihr wollte.

„Achso?“, gab sie verdattert zurück.

„Du vermisst deinen Bruder, oder?“, fragte er sie plötzlich und Anna spürte, wie Hitze in ihr aufstieg. Erneut seufzte der Junge und ließ sich im Schnee fallen. Er starrte in den Himmel. „Ich vermisse meine Schwester auch.“.

„Wieso gehst du nicht zu ihr zurück?“, hakte Anna nach und beobachtete Tsuki dabei, wie er begann, Schnee zu einem Haufen zu schieben.

„Ich kann nicht. Ich muss bei Eve bleiben.“, murmelte dieser.

„Liebst du sie?“. Tsukis Bewegungen gefroren für einige Sekunden nach Annas Worten. Er sah sie nicht an, er starrte nur auf die Hände, die langsam rot wurden.

„Eve ist meine Königin.“, brachte er schließlich hervor. Anna seufzte. Das war weder ein 'Ja' noch ein 'Nein'. „Hasst du sie?“, wollte er im Gegenzug wissen. Das Mädchen dachte kurz nach. Hasste sie Eve? Nein, eigentlich nicht. Sie hasste die Sachen, die sie getan hatte.

„Nein, nicht wirklich.“, murmelte Anna nachdenklich.

„Das solltest du aber.“, flüsterte Tsuki leise, aber gerade noch laut genug, damit Anna es hören konnte. Er formte einen Schneeball.

„Wieso?“. Anna lehnte sich vor und stützte ihren Kopf auf ihren Händen ab, während sie Tsuki beim Schneemann-Bauen zuschaute.

„Wo ist Mika, wo ist Kai?“, flüsterte Tsuki wie in Trance und Annas Herz gefror für einige Sekunden.

„Was willst du mir damit sagen?“, fauchte sie. Tsuki sah zu der Blondine auf.

„Das ist doch das, woran du die ganze Zeit denkst. Seit Wochen.“, entgegnete er, wieder völlig emotionslos. Anna musterte ihn. „Ich höre es, wenn du schläfst. Auch wenn ich dich nicht sehen kann – In deinen Träumen sieht man es genau.“. Anna wandte ihren Blick ab. Das waren also die Kräfte vom Mann im Mond, dem Mondgott? Es war das erste Mal, dass man Ansätze von einem Lächeln in Tsukis Gesicht sah. Er suchte nach einem kleinen Ast.

„Was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass Kai nun bei Eve ist?“. Anna konnte nicht festlegen, ob es ein Lächeln aus Hohn oder eines aus Mitleid war. Sie schüttelte nur den Kopf.

„Er arbeitet jetzt für sie. Du weißt, dass seine Vampire deine Mutter getötet haben, oder?“, fügte er hinzu. „Er hat sie auf dich angesetzt. Er hat dich betrogen. Er wollte nur einen Tropfen Blut von Eve und dann war er ihr willenloser Sklave. Ein Tropfen Blut hat ihm gereicht, Anna. Verständlich – du hast seine Freundlichkeit ja auch nicht gewürdigt. Er hat es uns erzählt. Er hat uns erzählt, was er alles für dich getan hat und dass du ihn trotzdem keines Blickes gewürdigt hast. Der arme...“, Tsukis Lächeln wurde breiter.

Anna kratzte sich kurz an die Wange. Langsam nahm der Schneemann in Tsukis Händen Form an. Als er endlich fertig wurde, blickte der blasse Junge auf, nur um zu sehen, dass Anna keinerlei Begeisterung für seine Worte fand. Wortlos und nachdenklich starrte sie ihn an.

„Glaubst du mir nicht?“, fragte er leise. Anna antwortete nicht. Ihre blauen Augen bohrten sich in die seine. Das Lächeln verschwand langsam. Allmählich spürte er die Kälte um sich herum.

„Du hast keinen Grund, daran zu glauben, dass er dir gegenüber loyal ist.“, schluckte Tsuki nun und schien tatsächlich etwas von Annas Starren eingeschüchtert zu sein.

„Ich habe auch keinen Grund, daran zu zweifeln.“, entgegnete diese leise. Damit blieben Tsukis Worten ihm im Halse stecken.

„Wieso glaubst du an ihn? Er ist nur ein Vampir.“, murrte er genervt und stand auf. Auch Anna erhob sich. „Reicht es nicht, dass er deine Mutter auf dem Gewissen hat?“, wollte er nun wissen. Er sah in Annas Augen. Das Hellblau wandelte sich langsam. Er biss sich auf die Unterlippe, als er sah, wie tiefblau sie allmählich wurden und schaute genervt zur Seite. „Hast du vor, mit mir zu kämpfen?“, fragte er eingeschüchtert nach. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Anna zeigte ein kleines Schmunzeln.

„Du kannst doch gar nicht kämpfen.“, hauchte sie ihm leise zu und brachte damit etwas Farbe in sein Gesicht. „Es muss demütigend sein, ihr Lakai zu sein, obwohl sie sich schon längst für jemanden entschieden hat. Und zurück nach Hause kannst du auch nicht, ja? Was würde deine Schwester wohl sagen, wenn du dich für sie entschieden hast und mit eingezogenem Schwanz nach Hause zurück kehrst. Ist das der Grund dafür, dass du immer noch ihre Drecksarbeit erledigst? Dass du Angst davor hast, was deine Schwester sagen würde? Wie weit muss Liebe eigentlich gehen, Tsuki? Traut sie dir überhaupt irgendetwas zu?“. Ihre Worte bohrten sich in sein Herz wie rostige Nägel. Bevor Tsuki es wusste, lag ihre Hand bereits auf seiner Wange. Wann war sie ihm so nahe getreten? Erschrocken zuckte er vor ihrer Berührung zurück und entlockte Anna damit ein leises Lachen.

„Du bist bemitleidenswert.“, flüsterte sie ihm leise zu und der Junge holte aus. So etwas war ihm noch nie passiert – er hatte noch nie seine Hand erhoben, gegen niemanden, vor allem nicht gegen eine Frau. Noch während sein Arm durch die Luft schwang, spürte er Widerstand. Als hätte ihn etwas zurück in die Realität geholt schaute der junge Mondgott auf. Die warme, zarte und kleine Hand hatte ihn einfach davon abgehalten. Sie gehörte Anna. Sie tat nicht weh, dennoch war ihr Griff stark genug um jede seiner Bewegungen zu bremsen. Ihr Gesicht war immer noch von einem Schmunzeln geprägt. Ihre Augen schimmerten in einem tiefen Blau.

„Ich glaube, das ist das, wonach ich gesucht habe.“, lächelte das Mädchen und senkte seinen Arm. „Ich habe mich schon lange nicht mehr geprügelt.“.

„Wieso prügeln wir uns dann nicht?“, brummte eine weitere Stimme und lenkte damit Annas Aufmerksamkeit auf sich. Ein großer, braunhaariger und wildaussehender junger Mann stand hinter den beiden.

„Jonathan...“, flüsterte Tsuki überrascht und zum Teil dankbar. Der Engländer schnaufte gehässig auf, als er Tsuki sah.

„Ich wusste nicht, dass du dich mit Frauen prügelst.“, grinste er hämisch. Sofort ließ Tsuki seinen Arm sinken. Er starrte zu Boden. Anna musterte den Jungen eine Weile, ehe Jonathan weiter sprach: „Eve sucht nach dir. Geh.“. Und ohne weitere Worte oder Blicke verließ der blasse Junge die beiden. Nun war Jonathan mit Anna alleine. Er sah zu, wie sich diese wieder auf den Baumstumpf fallen ließ und sich zurück lehnte.

„Du bist erbärmlich.“, schnauzte der Werwolf nun und ging zwei Schritte auf sie zu. „Dir den schwächsten der Gruppe rauszusuchen.“. Die Worte rauschten an Anna vorbei wie ein plötzlicher Regen. „Aber ich brauch' auch nicht viel von einer falschen Königin erwarten, oder? Wie sieht's aus? Hast du überhaupt Kräfte, die du gegen uns einsetzen könntest?“, lachte er hämisch. Er kam immer noch näher. Der Duft, der von Annas Haaren ausging, biss sich in seine Nase. Sie sah ihn immer noch nicht an. Es verschaffte ihm die Lust, seine Zähne in ihren Körper zu versenken. „Ich rede mit dir.“, schnauzte er nun. Der weiche Hals, der vom Schal zum Großteil bedeckt wurde, die schmalen Beine, die unter dem Rock hervor ragten. Ihr Körper sah lecker aus. Erst als Anna aufsah, wanderte sein Blick von ihren Beinen weg.

„Hast du was gesagt?“, fragte sie überrascht und Wut entbrannte in Jonathans Brust. Er stand nun endlich vor ihr und ruckartig griff er nach Annas Kinn, um es an sich heran zu ziehen.

„Ich werde dich fressen. Warte nur ab.“, schnauzte er leise und wütend und erntete sich dafür ein Lächeln von der Blondine.

„Nicht, wenn ich dich davor nicht zu meinem kleinen Schoßhund mache.“, hauchte sie ihm zurück. Nun musste er grinsen.

„Ist das eine Kriegserklärung?“, lächelte er gehässig und vergrub seine Finger in ihren weichen Wangen. Das Gefühl, wie das weiche Fleisch langsam unter seinem Griff nachgab, verschaffte ihm Genugtuung.

„Wir sind schon längst im Krieg. Verpiss' dich.“, brummte eine andere Stimme und Jonathan drehte sich um. Genervt schnalzte er mit der Zunge, als er Mirai dort stehen sah. Diese hatte sich in seiner ganzen Größe vor ihm aufgebäumt. Genervt und unsanft ließ er Anna los, starrte Mirai einige Sekunden lang an und grinste erneut, ehe er verschwand. Mit einem kurzen Seufzen sah der Affenkönig dem Werwolf hinterher, ehe er zu Anna ging und nach ihrem Gesicht sah. Es war leicht gerötet.

„Was machst du für'n Scheiß?“, schnauzte er dann leise und streichelte kurz über die Rötung.

„Was machst du hier?“, wollte Anna im Gegenzug wissen.

„Ich pass' auf dich auf, was sonst.“, brummte Mirai und ließ von ihrem Gesicht ab. „Wieso bist du nicht im Unterricht?“. Anna stand auf und schulterte ihre schneebedeckte Tasche.

„Ich hab' keine Lust.“, entgegnete sie schroff.

„Anna… ist alles okay?“. Als Anna zu Mirai aufsah musste sie leider erkennen, dass er besorgt aussah. Genervt vergrub sie ihr Gesicht wieder im Schal. „Wenn was ist, musst du es mir sagen. Ich kann keine Gedankenlesen, weißt du.“, murmelte der Affenkönig nachdenklich.

„Ich hab' das Gefühl, ich tret' auf der Stelle. Als würde ich mich keinen Funken bewegen. Alles ist festgefroren. Alles um mich herum passiert ohne mein Zutun und ich muss zusehen, wie alles und jeder, den ich liebe, leidet. Ich kann nichts dagegen tun.“, murmelte das Mädchen leise und starrte auf ihre Füße. Wütend und frustriert biss sie sich auf ihre Unterlippe.

„Also willst du kämpfen?“, fragte Mirai überrascht nach. Anna nickte. „Auf dem Schulhof?“, fügte er ungläubig hinzu. Anna verkniff sich eine Antwort. Vielleicht war hier nicht der beste Ort, um einen Krieg auszufechten.

„Wenn du dich nur prügeln willst, stehen wir dir gerne zur Verfügung. Tatsächlich denke ich, dass es mal ganz lustig wäre, zu sehen, wer von uns beiden stärker ist.“, zwinkerte er ihr zu und entlockte Anna damit ein Lächeln.

„Das wäre wirklich interessant.“, gab sie widerwillig zu. Das Mädchen streckte sich kurz. „Ist Akira in der Schule?“, fragte sie dann und Mirai warf ihr einen kurzen, nachdenklichen Blick zu.

„Nein, soweit ich weiß, ist er Zuhause.“, antwortete er argwöhnisch.

„Okay. Dann geh ich jetzt.“

„Was hast du vor?“

Anna sah Mirai ebenfalls kurz an und schmunzelte dann. „Ich rede mit ihm, was sonst. Ansonsten lässt du mich ja nie in Ruhe damit.“. Auch Mirai grinste nun.

„Na dann viel Glück.“.
 

Als Anna Zuhause angekommen war, war das Haus komplett mit Stille gefüllt, die nur durch ein weit entferntes Ticken der Standuhr unterbrochen wurde. Vorsichtig kletterte sie aus ihren Schuhen und hing ihre Jacke auf, ehe sie den Schal vom Hals löste und durch den Flur lief. Vorsichtig spähte sie in die Küche, doch sie war leer. Auch das Esszimmer war leer. Es war komisch – eigentlich sollten Shiro, Hikari, Satoshi, Toki, Iori, Sho und Akira alle Zuhause sein. Wo waren sie?

Nachdenklich betrat Anna das Wohnzimmer. Auch dieses war leer. Nun war das Mädchen langsam genervt. Verärgert ging sie in ihr Zimmer und legte ihre Tasche ab und, was für eine Überraschung, auch ihr Zimmer war leer. Ihre Socken waren noch leicht nass und hinterließen Fußstapfen auf dem braunen Parkett, als sie die Zimmer der Anwohner absuchte. Satoshis Zimmer war leer – anscheinend war er nicht Zuhause geblieben um auf Hikari aufzupassen, entgegen Annas Befehl. Genervt schloss das Mädchen die Tür hinter sich. Dann klopfte sie an Akiras Zimmertür.

„Ja?“, die Antwort überraschte sie. Vorsichtig öffnete sie die große Tür und trat ein. Akira saß am Schreibtisch und las ein Buch. Er schaute nicht auf.

„Was?“, fragte er etwas schroff und Anna fragte sich in diesem Moment, was für eine Antwort sie eigentlich erwartet hatte.

„Wo sind die anderen?“, murmelte sie zurückhaltend und betrachtete Akiras Zimmer. Er zuckte mit den Schultern.

„Sind nach dem Essen gegangen.“, antwortete er karg. Anna seufzte kurz und drehte den Schal in ihren Händen. Missmutig ließ sie ihn aufs Bett fallen.

„Danke für den Schal.“. Akira seufzte und legte das Buch aus der Hand, als sie das sagte. Seine Augen ruhten auf der schüchternen Blondine. Das passte nicht zu ihr.

„Bitteschön.“, brummte er kurz. Er musterte sie noch einige Sekunden lang und widmete sich dann wieder dem Buch. Annas ganzen guten Vorsätze, mit ihm zu reden, drohten zu verschwinden. Entmutigt drehte sie sich um und ging wieder auf die Tür zu. Würde es jetzt immer so sein? Würde er sie immer so kaltherzig behandeln? Ihre Finger strichen über das lackierte Holz der Tür, bis sie die Klinke fanden. Vorsichtig drückte sie diese herunter und schloss die Tür. Nein, sie weigerte sich, es dabei zu belassen. Es war nicht mehr eine Frage der Enttäuschung und ob Anna verletzt werden würde, es war viel mehr eine Sache des Stolzes geworden. Sie konnte nicht zulassen, dass sie diese Geschichte jetzt einfach so begraben würde.

„Was ist eigentlich mit dir los?“, fragte sie genervt und fand ihre Lautstärke wieder. Akira sah wieder vom Buch auf und musterte die Königin.

„Nichts, was soll sein...“, brummte er im Gegenzug. Er legte ein Lesezeichen in die Buchseite und schloss das Buch, anscheinend wusste er, was kommen würde.

„Du gehst mir seit ein paar Tagen aus dem Weg. Wieso?“, Anna klang mehr als genervt. Eigentlich wollte sie das Thema ruhiger angehen, doch würde sie sich jetzt zurückhalten, hatte sie Angst, dass sie ihren Mut wieder verlieren würde. Doch Akira antwortete nicht. Er drehte sich auf seinem Stuhl herum, legte einen Arm über die Lehne und musterte einfach nur, ehe er – leicht bedrückt – ihrem Blick wieder auswich.

„Wieso?“, wiederholte sich Anna nun und ging einige Schritte auf den Rotschopf zu. Dieser schien ihre Nähe nicht besonderlich behaglich zu finden. Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl herum.

„Es ist nichts.“. Seine Antworten nervten Anna. Sie stand nun hinter ihm und betrachtete seinen Hinterkopf. Je näher sie ihm gekommen war, desto mehr hat er sich weggedreht.

„Sieh mich an und sag mir das ins Gesicht.“, schnauzte die Königin nun kalt, doch Akira machte keine Anstalten, sich zu bewegen. „Akira.“, forderte sie ihn erneut auf, doch nichts geschah. Blanke Wut mischte sich mit einem stechenden Schmerz in Annas Magen. Wütend zog sie an Akiras Schulter, um ihn zu sich zu drehen, doch genau in diesem Moment sprang der junge Mann von seinem Stuhl auf. Sie hatte wohl vergessen, wie groß er eigentlich war – als er vor ihr stand überragte er sie mit Leichtigkeit. Seine Hand hatte ihre von seiner Schulter gezogen und hielt sie fest.

„Ich hab' gesagt, dass nichts ist.“, fauchte er leise. Anna hatte Flashbacks von Mirais Haus. Damals, als Akiras Augen sie genau so wütend ansahen, wie jetzt. Seine Augen verfärbten sich in ein eisernes Gold. „Lüg' mich nicht an...“, erwiderte das Mädchen mit bebender Stimme und krallte sich in die Hand, die ihre festhielt. Genervt ließ Akira sie los.

„Ich weiß ganz genau, dass du mir aus dem Weg gehst.“, fuhr Anna wütend fort, „Wenn ich was falsch gemacht habe, dann sag's mir. Wenn's an dem Kuss lag, dann...“

„Du hast nichts falsch gemacht.“, unterbrach Akira sie sofort und wandte seinen Blick wieder von ihr ab. Anna biss sich auf die Unterlippe.

„Wieso gehst du mir dann aus dem Weg?!“, fauchte sie laut.

„Ich hab' meine Gründe.“, die nobelpreisverdächtige Ruhe in seiner Stimme schürte das Feuer der Wut in Annas Brust umso mehr.

„Dann sag' sie mir.“, knirschte sie, kurz davor, die Geduld zu verlieren. Doch wieder schwieg er. „Akira!“, zischte sie und rüttelte kurz an seiner Schulter.

„Lass mich los!“, plötzlich war er derjenige, der laut wurde. Genervt stieß er Annas Hand von sich. „Wieso kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?!“.

„Wieso sollte ich?!“, entgegnete Anna laut. Doch darauf fand Akira auch keine Antwort. Wutentbrannt fuhr Anna nach einigen Sekunden fort: „Weiß du – Wenn es so einfach wäre, jemanden … jemanden zu küssen, dann hätte ich es schon früher getan. Und kaum tu ich es, da gehst du mir aus dem Weg! Wenn ich etwas getan habe, das du nicht wolltest, okay, dann tut's mir Leid, aber dann sag es mir gefälligst auch, anstatt so abweisend zu sein!“, brach sie mit einem puterroten Gesicht hervor und boxte dem Jungen unsanft in die Brust.

„Ich hab' dir bereits gesagt, dass es daran nicht liegt.“, seufzte Akira nun und er klang genervt. Anna wurde flau im Magen. Wenn es nicht daran lag, woran sonst? Ihre Augen waren auf die Faust gerichtet, die sich in seine Brust gebohrt hatte. Dann spürte sie wieder seine Berührung. Es war nicht die schroffe, abweisende Art von Berührung. Seine Hand legte sich behutsam um ihre. Er ließ sie nicht los, stieß sie nicht von sich weg. Anna schaute auf. Akira sah tatsächlich etwas verletzt aus. Aber wieso ausgerechnet er? Wieso war er nun verletzt?

„Ist das wirklich okay für dich?“, flüsterte Anna leise, aber immer noch wutentbrannt.

„Was?“, entgegnete er.

„Mir aus dem Weg zu gehen. Mich aufzugeben. Mich an Mirai abzutreten. Ist das okay für dich, wenn ich jemand anderen küsse?“, Anna wusste genau, dass ihre Worte keinen Sinn ergaben, doch sie sprudelten aus ihr hervor wie heißes Wasser.

„Hast du?“, fragte er leise und ließ seinen Kopf sinken.

„Hab ich was?“, stieß das Mädchen genervt aus.

„Hast du ihn geküsst?“

„Natürlich nicht.“, fauchte Anna und der Griff um ihre Hand zog sich zu, ehe er sie los ließ. Seufzend ließ er sich aufs Bett fallen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Etwas überrascht von der plötzlichen Wandlung der Situation betrachtete Anna Akira.

„Sag' mir doch einfach, was los ist...“, die Wut wich ihrer Stimme, langsam machte sich Enttäuschung in ihr breit, gemischt von Verzweiflung. Sie kniete sich vor Akira und legte ihre Hände auf seine Knie. Er schwieg immer noch.

„Komm' schon.“, bedrängte sie ihn leise. Doch er schwieg. Er schwieg immer noch. Der Kloß in Annas Hals wurde größer. Es wurde schwer zu atmen. Ihre Augen wurden feucht. Wenn sie jetzt anfing zu weinen, würde sie sich das nicht verzeihen. Wenn sie jetzt schwach werden würde, würde er sie wieder wegschicken. Das war ein Kampf um den stärkeren Willen. Doch was konnte sie ihm noch sagen? Wie konnte sie ihn dazu bringen, zu reden? Die Verzweiflung wuchs der Enttäuschung langsam über den Kopf. Sollte sie aufgeben? War es wirklich eine kluge Idee, ihn so zu bedrängen? Stille trat ein. Akira ließ seine Hand sinken und schaute auf Annas Gesicht, das vor seinen Knien ruhte.

„Wieso weinst du?“, fragte er leise.

„Tu' ich nicht.“, entgegnete das Mädchen erstickt. Sein Daumen fuhr über ihre Wange. Sie war trocken.

„Du hast Recht.“, murmelte er.

„Hab' doch gesagt, dass ich nicht weine.“, schnauzte sie leise.

„Das mein ich nicht.“. Seine Hand fuhr über ihren Kopf und streichelte diesen. Wieder verfiel er in Schweigen. Anna musterte ihn.

„Was meinst du dann?“, sie hasste den Ton ihrer brechenden Stimme. Sie klang schwach. Akira beugte sich vor und legte seine Stirn an ihren Kopf.

„Ich würde es hassen, wenn du jemand anderen hättest.“, flüsterte er ihr leise zu. Erneut zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. Akira machte sie schwach. Ihre Augen fingen wieder an zu brennen.

„Wieso gehst du mir dann aus dem Weg?“, keuchte sie leise. Als ihre Wimpern sich für eine Millisekunde zusammen schlossen, spürte sie, wie warme Tränen über ihre Wangen fielen. Sie hatte verloren.

„Ich hab' mir Sorgen gemacht.“, antwortete er. Anna wusste nicht, wieso. „Ich hab' mir Sorgen gemacht, dass du mich nicht mehr willst, wenn du erfährst was ich bin.“.

„Das ist nicht deine Entscheidung, sondern meine.“, brachte Anna gequält hervor. Die süßen Berührungen seiner Finger, als sie Annas Tränen auffingen, waren fast schmerzhaft.

„Ich weiß.“, antwortete er ruhig. „Und als mir das bewusst wurde, war ich einfach nur noch wütend auf mich selbst. Ich wusste nicht, wie ich dir das alles erklären soll.“, fuhr er fort. Anna schnappte kurz nach Luft und stand auf, ehe sie sich mit dem Handrücken über die Augen fuhr. Akiras Blick folgte ihr und beobachtete sie dabei, wie sie so vor ihm stand, weinend. Vorsichtig griff er nach ihren Handgelenken und zog sie zu sich. Sie gab nach.

„Ist es okay für dich?“, fragte er leise, doch anscheinend sprach er eher mit sich selbst, als mit ihr. Sie wusste nicht was er meinte. Seine Hände führten sie auf seinen Schoß, ehe sie um ihre Hüfte wanderten und den schmalen Körper an sich drückten. Sein Gesicht versank in ihrer Bluse und er schloss die Augen. Tief atmete Akira den Geruch von Annas Brust ein, ehe er so verharrte.

„Was ist okay?“, erwiderte Anna erschöpft. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, auch ihre Hände um ihn zu legen.

„Egal, was ich bin.“, antwortete er ihr darauf. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Einerseits wollte sie 'Ja' sagen – Egal, was Akira schlussendlich war, dieses Gefühl würde wahrscheinlich nicht trüben. Andererseits wollte sie keine Versprechen abgeben, die sie nicht halten konnte.

„Sag's mir einfach.“, seufzte sie leise, doch die Antwort blieb aus. Seine Arme zogen sie noch fester an sich. Er wollte es nicht sagen. Vielleicht konnte er es auch einfach nicht sagen. Egal, was es nun war, es schien, als würde Akira seinen blöden Plan Anna zu ignorieren aufgeben zu wollen. Und alleine diese Erkenntnis erleichterte das Mädchen irgendwie. Die Sekunden verstrichen. Der warme Körper in ihren Armen atmete ruhig und wärmte ihre Brust.

„Ich hab' dich vermisst.“, flüsterte sie ihm leise zu und spürte, wie seine Finger auf ihrem Rücken kurz aufzuckten.

„Ich dich auch.“, gab er anscheinend widerwillig zu und seine Stimme vibrierte an ihrem Brustkorb.

„Es war also nicht der Kuss?“, fragte das Mädchen vorsichtig nach und sie hörte, wie Akira kurz lachte.

„Nein.“, antwortete er mit einem Schmunzeln und sah auf. Sein Kinn ruhte auf ihrem Brustbein. Seine Augen leuchteten wieder in einem weichen, sonnengelben Gold auf. „Ich hätte gerne noch einen.“, flüsterte er ihr zu. Das entspannte und erleichterte Lächeln auf Annas Lippen verschwand wieder, als sie leicht rot wurde.

„Eigentlich hast du's nicht verdient...“, murmelte sie beschämt. Man sah genau, wie Akira sich in diesem Moment das selbe dachte. Ein Hauch von Enttäuschung mischte sich in sein Lächeln. Ohne weitere Worte senkte Anna ihren Kopf und legte ihre Lippen auf seine Stirn. Dann auf seine Lippen. Es dauerte keine einzige Sekunde, bis er ihren Kuss erwiderte. Eigentlich hatte er es wirklich nicht verdient, doch diese Art von Berührung löste in Anna wieder eine Welle von Wärme aus. Zufrieden senkte sie sich auf seinen Schoß und versank in dem Kuss. Es war nicht leidenschaftlich. Jeder einzige Kuss trug ein anderes Gefühl in sich: Einer als Entschuldigung, ein weiterer als Dank und der letzte als Zeichen von Zuneigung. Das einzige, was Akira in diesem Moment zu wollen schien war Verzeihung. Und Anna konnte sich nicht dagegen währen. Es tat fast weh, so zärtlich war er. Seine Finger streichelten vorsichtig über ihre Wangen und erschufen damit kleine Erdbeben in ihrem Herzen. In dem Moment wusste die Königin, dass sie dieses Gefühl nie wieder vermissen wollte. Alleine der Gedanke daran, dass Akira sie noch einmal ignorieren würde, tat weh. Mit einem leichten Seufzen löste sie den Kuss und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Als wüsste er, woran sie gedacht hatte, streichelten seine Fingerkuppen über ihren Rücken. Leise flüsterte er: „Es tut mir Leid.“. Und das reichte Anna schon. Sie war von mehr ausgegangen. Ihr altes Ich hätte erwartet, dass er vor ihr kniete und um Verzeihung flehte, dass er von nun an ihr Sklave sein und für immer in ihrer Schuld stehen würde. Doch diese kleine, süße Entschuldigung allein reichte ihr schon.

„Ich weiß.“, entgegnete sie leise und schloss ihre Augen. Daraufhin sagte er nichts mehr. Es war nicht die bedrückte Art von Stille, die in letzter Zeit zwischen den beiden geherrscht hatte. Es war eine angenehme, beruhigende Stille. Die Art, die eintrat, wenn alles sich geklärt hatte und man nichts weiter mehr besprechen musste. Und Anna war froh darüber, dass endlich alles geklärt war – natürlich bis auf eine Sache.

„Wann sagst du es mir?“, wollte sie wissen und löste sich etwas von ihm, um ihm in die Augen sehen zu können. Beklommen wich er ihrem Blick aus.

„Bald.“, seine Stimme war leise. Nicht die normale Art von Ruhe, die er ausstrahlte, nein, eher Zögern.

„Hast du wirklich so viel Angst davor?“, hakte sie nach.

„Es ist nicht so, dass ich Angst habe...“, schnauzte er leicht beschämt und ausgerechnet diese Reaktion verriet Anna, dass er genau das hatte. Sie schmunzelte kurz. Wovor hatte er solche Angst? Egal, was er sagen würde, sie würde trotzdem…

Annas Körper versteifte sich kurz. Automatisch wurde dieser Gedanke abgebrochen. Was würde sie trotzdem?, fragte sie sich selbst und starrte in die goldenen Augen, die sie musterten. Röte legte sich auf ihre Wange. Ihre Hände begannen zu schwitzen.

„Was ist?“, fragte Akira, teils besorgt, teils überrascht. Anna hielt den Atem an. Es wurde plötzlich schwer, ihm zu antworten.

„Nichts.“, sagte sie schnell und ihre Stimme war wieder so leise und zerbrechlich, wie sie es hasste. Doch Akira hakte nicht nach. Stattdessen musste er grinsen, als würde er erneut ahnen, was in Anna vor sich ging.

„Du kannst doch keine Gedanken lesen oder?“, fragte das Mädchen vorsichtshalber und erntete sich dafür ein herzhaftes, kurzes Lachen, ehe Akira verneinte. Gut. Wenn er es könnte, würde sie vor Scham versinken.

„Wenn...“, begann sie dann vorsichtig und es wurde sogar schwer, ihn überhaupt anzusehen, „Wenn du es mir sagst, verrate ich dir auch etwas.“.

„Was denn?“

„Ein Geheimnis.“

„Was für ein Geheimnis?“, grinste Akira neugierig.

„Das wirst du erst erfahren, wenn ich deins erfahre.“, entgegnete die Blondine schüchtern. Akiras Grinsen wurde etwas breiter. Vielleicht war das schon Grund genug für ihn, ihr die Wahrheit zu offenbaren. Zufrieden legte er sein Gesicht erneut in ihre Brust und drückte seine Nase zwischen ihre Brüste. Anna wurde noch röter.

„Was machst du?“, wollte sie beschämt wissen und Akira seufzte lächelnd.

„Es ist lange her, dass ich dir so nahe war.“, erklärte er und schloss seine Augen. „Ich hab' das vermisst. Wie du dich anfühlst, wie du riechst.“. Schlagartig fiel Anna ein, wie sie sofort Akiras Geruch an seinem Schal erkannt hatte. Ja, sie wusste wovon er sprach. Beruhigt ließ sie es über sich ergehen. Ihm wieder so nahe zu sein löste ein kleines Prickeln auf ihrer Haut aus, vor allem, wenn er seine Wange leicht an ihrer Brust rieb. Seine Arme drückten sie noch fester an sich, ehe er sich zurück lehnte und Anna mit sich nahm. Um ihn nicht zu erdrücken hockte sie über ihm und musterte die goldenen Augen, die es ihr gleich taten. Er spielte mit ihren Haaren, löste ihren Zopf, damit die goldenen Strähnen in ihr Gesicht fallen konnte. Sie streichelten über seinen Bauch, seine Brust. Anna wurde noch wärmer. Akiras Hände wanderten wieder über ihren Rücken, kletterten zur Schulter hinauf. Sie fanden ihren Weg unter ihren Blazer und streiften ihn von ihren Schultern. Anna wurde noch röter.

„Was machst du da?“, fragte sie erneut. Akiras Berührungen hörten auf.

„Ich will dein Tattoo sehen.“, erklärte er und warf Anna damit komplett aus dem Konzept.

„Wieso?“

„Mirai hat es auch gesehen. Ich will es noch mal sehen.“. Er löste den Blazer von ihren Armen und setzte sich wieder leicht auf. Aber das war nicht, was Anna meinte – Eigentlich wollte sie wissen, warum er es ausgerechnet jetzt sehen wollte. Während sie darüber nach dachte, was Akira vor hatte, knöpfte er einen Knopf nach dem anderen ihrer Bluse auf. Als ein kühler Luftzug an Annas Brust vorbei wehte schreckte sie schnell zurück. Er hatte die Bluse fast schon bis zum Bauch aufgeknüpft.

„Darf ich nicht?“. Anna starrte ihn bei diesen Worten an. Natürlich durfte er – also, eigentlich durfte er ja nicht, aber … Sie hielt die Bluse an ihrer Brust fest, um nicht ihre Brüste vor ihm zu entblößen. Dann drehte sie sich genervt von ihm weg, wandte ihm den Rücken zu. Die letzten Knöpfe der Bluse lösten sich und Anna streifte sich den weißen, leichten Stoff ab. Sofort spürte sie Akiras Hand auf ihrem Rücken. Sie war warm und unglaublich groß. Ehe sie sich versah spürte sie, wie sich der BH um ihre Taille lockerte. Er hatte einfach den Verschluss aufgemacht.

„Was – Akira?!“, fauchte Anna ungläubig und war drauf und dran, sich wütend umzudrehen, doch Akira hielt sie fest.

„Wenn du nicht willst, dass ich deine Brüste sehe, solltest du besser so bleiben.“, meinte er nur und besiegte Anna damit erneut. Genervt starrte sie an die Wand, während Akira die feinen Linien ihres Mals nachzeichnete.

„Es hat sich wieder verändert.“, murmelte er leise. Sein Finger fuhr über ihr Rückgrat. Dann glitt er zu ihrer Hüfte. Anna wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Kann ich mich wieder anziehen?“, fragte sie leise. Seine Hand hatte den unteren Teil ihres Rückens erreicht und war ihrem Po gefährlich nahe. Doch dann machte sie einen Schlenker. Auch seine zweite Hand berührte Annas Körper nun – sie wanderten über ihre Hüften auf ihren Bauch.

„Nein.“, antwortete er ihr bestimmt und zog sie wieder an sich. Der BH, den Anna noch krampfhaft an ihre Brust drückte, flatterte bedrohlich.

„Wieso nicht?“, fauchte sie beschämt.

„Ich seh' es so oder so irgendwann.“, erklärte er ihr. Sie sah sein Gesicht nicht. Sein Kopf legte sich auf ihre Schulter. Seine Lippen berührten ihren Hals. Wieso war er sich plötzlich so sicher, dass sie ihn doch noch wählen würde? Vorhin hatte er zu viel Angst und war sogar dabei, sie zu ignorieren. Wo nahm er sich das plötzliche Selbstvertrauen her? Seine Hände wanderten langsam den Bauch hoch. Es machte sie nervös. Immer noch klammerten sich ihre Hände an ihre Brüste, um ihn nicht weiter zu lassen. Seine Arme zogen sich zu – zogen ihren Rücken an seinen Bauch. Seine Lippen legten sich auf ihre Wangen.

„Ich weiß es jetzt.“, flüsterte er ihr ins Ohr. Er war sich jetzt sicher. Wenn er es ihr sagen würde, wenn er endlich erklären würde, was er war und wenn sie ihm sagte, dass es okay so sei, dann wusste er ganz genau, dass nur er sie so lieben konnte. Nur er konnte es.

Annas Rücken erschauderte unter einer Gänsehaut, als seine Hand sich auf ihre legte. Es störte ihn nicht, dass ihre Hand auf ihrer Brust lag. Er drückte sanft zu, ließ sie ihr eigenes Fleisch spüren. Selbst durch ihre Hand konnte er fühlen, wie stark ihr Herz schlug. Er konnte außerdem erkennen, dass sie keine kleinen Bruste hatte. Er konnte sich nicht verkneifen daran zu denken, wie süß sie eigentlich war. Die Hand wanderte weiter zu ihrem Gesicht, zogen es zu sich, um sie erneut zu küssen. Sie ließ sich darauf ein. Sie wehrte sich überhaupt nicht. Ihre Zungenspitze erwiderte ängstlich den Kuss, zu dem Akira sie aufforderte. Sie war weich. Alleine der Gedanke daran, diese Zunge auf seiner Haut spüren zu können, löste endloses Verlangen in Akira aus. Mit einem letzten Kuss ließ er Anna los und legte ihr wieder die Bluse über die Schultern. Dann umarmte er sie.

„Ich hoffe, du entscheidest dich bald.“, seufzte Akira.

Anna und Satoshi

Was war passiert? Müde rieb sich Anna über die Augen. Etwas schweres lag auf ihr, das Zimmer war stockfinster. Ein Blick auf den Wecker zeigte ihr den 17. Dezember an, 1:42 Uhr nachts. Es war Samstag. Das Mädchen versuchte sich aufzusetzen. Es tat weh. Man hörte ein genervtes Stöhnen. Schneeweißes Haar lag auf ihrem Schoß, ein weiterer Blick zeigte ihr, dass es Shiro war. Müde streichelte sie seinen Kopf, der sich wohl in ihrem Schoß versenkt hatte. Neben ihr bewegte sich noch etwas: Sho hatte sich an ihren Arm geschmiegt und war durch ihr plötzliches Aufstehen unruhig geworden. In seinem Mund war eine dunkle Locke – er hielt Hikari in seinen Armen, wie einen Teddybär, doch diese schien das momentan nicht zu stören.

„Was ...“, fragte sich Anna leicht verwirrt und rieb sich ihre Stirn. Ihr war schlecht. Ihr war warm. Besorgt sah sich das Mädchen um, ob noch mehr Leute in ihrem Bett lagen, doch anscheinend war das erst mal alles für heute. Mit einem merkwürdigen Knacken in den Beinen stand sie aus dem Bett auf und ging Richtung Tür. Sie wollte auf Toilette gehen. Die Tür öffnete sich tonlos und das Mädchen betrat den dunklen Flur mit der Abendbeleuchtung. Es war leer und kalt. Man hörte keine Stimmen. Der Gang zur Toilette lief ohne Probleme, allerdings wunderte sich Anna, was passiert war. Dass sie keine Jogginghose, war ihr gar nicht aufgefallen. War das das Gefühl eines Katers? Hatte sie gestern Nacht getrunken? Sie konnte sich an nichts erinnern. Irgendwie schmerzten ihre Knochen und Muskeln und bei jedem Schritt hatte sie den Eindruck, unter ihrem Gewicht einklappen zu müssen. Gebeutelt lief sie den Flur entlang und klopfte an eine der Türen, trat ein und sah sich um. Akira lag in seinem Bett und schlief. Seufzend schritt sie auf ihn zu. Sie hatte gehofft, er wäre wach gewesen.

Seit die beiden sich endlich ausgesprochen hatten schien alles wie früher zu sein. Sie redeten und lachten wieder miteinander, obwohl er sich sehr stark zurück hielt was Berührungen und Küsse anging. Seit er ihr Tattoo gesehen hatte, hat er sie nicht mehr in solch einer Art angefasst. Anna fragte sich, warum, aber die Zufriedenheit, dass er überhaupt wieder mit ihr sprach, war schon genug. Sie zog die Bettdecke zur Seite und legte sich zu dem Rotschopf. Sofort öffnete dieser die Augen.

„Anna, was machst du hier?“, fragte er überrascht und setzte sich auf. Auch Anna öffnete ihre Augen wieder.

„Mir geht’s nicht gut.“, murmelte sie leise und legte ihre Hand auf seinen Bauch. Er seufzte und legte sich wieder hin. Beruhigend streichelte seine Hand über ihren Oberarm. „Habt ihr gestern getrunken?“, fragte das Mädchen schließlich schlaftrunken.

„Ne.“, antwortete Akira gähnend und streckte seinen freien Arm kurz, während er sie in ihrem anderen hielt. Eigentlich hatte Anna das Gefühl gehabt, dass alle eine wilde Party gefeiert hatten und die anderen deshalb in ihrem Bett gelegen haben. Aber anscheinend hatte sie Unrecht.

„Du glühst förmlich. Soll ich dir Wasser bringen?“, fragte er leise, doch Anna schüttelte den Kopf. Die Übelkeit und die Kopfschmerzen brachten dröhnende Müdigkeit mit sich. „Willst du hier schlafen?“, fügte er nach einigen Sekunden hinzu.

„Ja.“, antwortete das Mädchen karg und bohrte ihre Wange in seine Brust. Stille trat ein. Akira sagte nichts, aber seine Finger streichelten weiterhin über ihren Arm. Sie waren zart in der Berührung, liebevoll. Sie sagten ihr, dass er immer noch wach war und warten würde, bis sie eingeschlafen war. Doch Anna wusste, dass etwas passiert war. Die Gedanken ließen sie nicht einschlafen.

„Was ist passiert…?“, fragte sie leise und das Streicheln hörte für eine Sekunde lang auf.

„Du hast Fieber bekommen.“, erklärte Akira und er war noch leiser, als Anna. Es war fast nur ein Flüstern. Hatten sich die anderen Sorgen gemacht und hatten deswegen bei ihr im Bett geschlafen? Annas Augen ruhten auf der Brust, auf der sie lag. Sie senkte und hob sich langsam. Deswegen ging es ihr schlecht. Deswegen hatte sie Kopfschmerzen. War das wirklich der Grund? Sie seufzte kurz.

„Schlaf einfach, morgen geht’s dir besser.“, murmelte Akira müde. Er küsste sanft die weichen Haare und Anna schloss ihre Augen wieder. Wenn er das so sagte, würde es wohl stimmen. Die Finger glitten weiterhin über ihre Haut, landeten irgendwann in ihren Haaren und spielten mit einzelnen Strähnen. Die ruhigen Bewegungen seines Brustkorbes, sein leises Atmen, das verträumte Spielen mit ihren Haaren – alles beruhigte Anna wieder. Irgendwann wusste sie nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war und schlief wieder ein.

Eine warme Hand auf ihrer Stirn weckte sie wieder. Brummig öffnete Anna einen Spalt weit die Augen. Die Hand ruhte noch für eine Sekunde dort, ehe sie dem Mädchen Sicht auf ihren Besitzer geben konnte.

„Morgen.“, murmelte eine ruhige und ermüdete Stimme. Akira schloss die Augen wieder. „Du hast immer noch Fieber. Ich geh' Liam holen.“, erklärte er kurz, streckte sich und war drauf und dran aufzustehen, doch Anna hielt ihn fest. Sie wollte nicht, dass er geht. „Was ist los?“, fragte der Junge leicht überrascht. Die Blondine setzte sich auf, legte ihre Arme um Akira und legte sich auf ihn. Es war einfacher ihr Gewicht dazu zu benutzen, um ihn im Bett zu halten. Der Rotschopf seufzte kurz, lehnte sich wieder zurück und begann ihren Rücken zu streicheln. Erst jetzt merkte Anna, dass ihr T-Shirt schweißnass war und an ihrem Körper klebte. Die Finger streichelten gedankenversunken über den feuchten Stoff. Woran dachte Akira gerade? Anna öffnete wieder für einen kurzen Moment die Augen. Ihr Kinn ruhte auf seiner Brust, es war einfach ihm in die Augen zu sehen. Sie waren eher blassgelb an diesem Morgen, als würde das Feuer in ihm noch schlummern. Was verbarg sich hinter diesen Lidern? Was beschäftigte seinen Kopf gerade? Annas Blick bohrte sich in seine Stirn, doch nichts. Nicht einmal das Gefühl, er würde sie davon abhalten wollen, es war einfach eine Menge von Nichts, die sie empfing.

„Willst du wissen, woran ich denke?“, flüsterte Akira, als wüsste er genau, was Anna vorgehabt hatte. Müde nickte sie. „Ich denke, dass wenn du so weiter machst, ich mich vielleicht nicht mehr zurück halten werde, auch wenn du krank bist.“. Ein kleines Grinsen schaffte es auf Akiras Gesicht und auch Anna musste schmunzeln.

„Niemand hat je gesagt, dass du dich zurück halten sollst.“, hustete sie heiser und war erschrocken von dem Kratzen in ihrer Kehle.

„Du solltest am besten was trinken.“, schmunzelte Akira, als er die raue Stimme von Anna gehört hatte. „Und wir sollten dir neue Klamotten anziehen. Du schwitzt ganz schön.“, seine Hände wanderten Annas Rücken hinab und begannen, das Ende des Shirts anzuheben. Ein kurzer Stoß kühle Luft krabbelte über Annas Rücken und ließen sie für einen Moment erschaudern. Ihr Gesicht rollte auf die Wange und sie schloss wieder die Augen.

„Mach was du willst.“, murmelte sie leise. Ihre Hände fühlten den Körper unter sich ab, als wäre ihr das Gefühl etwas fremd. Akira tat wie ihm geheißen und begann, das Shirt hochzuziehen. Sofort zuckte Anna zusammen, als sie schmerzhaft einen seiner Finger auf ihrer Haut spürte. Auch Akira setzte sich sofort auf und legte seinen Kinn auf Annas Schulter ab, ehe er erneut das Shirt hoch hob. Das Mädchen lehnte wie ein nasser Sack Mehl an seiner Brust. Sie konnte sich schlecht aufrecht halten. Dennoch spürte sie, wie seine Augen ihren Rücken musterten.

„Ist etwas passiert? Irgendetwas in der Schule oder so?“, fragte Akira argwöhnisch und Dringlichkeit klang in seiner Stimme mit. Anna schüttelte müde den Kopf.

„Keine Ahnung.“, murmelte sie erschöpft.

„Komm' schon. Irgendetwas?“, hakte er nach, doch Anna rieb sich nur verschlafen die Augen. Sie konnte sich nicht erinnern. Egal, wie sehr sie es versuchte, nichts von den letzten Tagen drang ihr zurück ins Gedächtnis.

„Ich hol' Satoshi. Wir können das nicht so lassen.“, bei diesen Worten stützte Anna sich bei Akira ab und schaffte es, ihren Oberkörper aufzurichten. Sie wollte Satoshi nicht sehen.

„Nein.“

„Anna, dein Tattoo...“, begann Akira, wurde aber durch ihren strengen Blick davon abgehalten, weiter zu sprechen.

„Ich will ihn nicht sehen.“, murrte sie leise, obwohl sie nicht einmal wusste, wieso. Akiras Blick ruhte für einige Sekunden auf ihren Augen, ehe er genervt seufzte und mit einem Ruck Annas T-Shirt hoch hob. Dort hörte es nicht auf – mit einem weiteren Ruck zog er es ihr über den Kopf. Stocksteif saß Anna da und starrte Akira fassungslos an. Sie spürte, wie die kühle Luft ihre Brüste kitzelte. Sie trug keinen BH. Sofort drückte sie sich an Akiras Oberkörper.

„Gib's mir zurück.“, fauchte sie leise. Das war nicht mehr lustig.

„Nein.“, brummte Akira. Auch er lächelte nicht.

„Sofort.“

„Nein. Erst, wenn ich Satoshi geholt habe.“, erklärte sich der Rotschopf und durfte dadurch zum ersten Mal das Gesicht einer schmollenden Anna sehen. Wütend bohrte sich ihre Faust in seine Schulter, doch schnell konnte sie feststellen, dass sie nicht mal annähernd die Kraft hatte, Akira wehzutun. Seufzend ließ sie sich wieder auf seinem Oberkörper sacken und schloss die Augen.

„Dann nicht.“, schnauzte sie nachgiebig und legte ihre Arme um ihn. „Dann müssen wir so bleiben.“. Wenn Akira versuchte, sie mit ihrem Shirt zu erpressen, nur damit er Satoshi holen und Anna eins auswischen konnte, hatte er sich geschnitten. Ihr war es egal, dass er sie so im Moment sah – er sah ja nicht einmal wirklich was. Aber sie würde ihren Willen durchsetzen, komme, was wolle. Sofort wusste sie, dass er mit dieser Reaktion nicht gerechnet hatte. Für einige Sekunden saß er wirklich einfach nur da und musterte sie, im Unklaren darüber, was er tun solle.

„Oh, dir ist es also egal, ob ich dich nackt sehe, ja?“, hörte sie ihn schließlich sagen und ein kurzes Schaudern lief ihren nackten Rücken herab. Starrköpfig nickte sie. „Okay.“, sagte er dann und seine Hände verließen ihren Rücken. Sie legten sich auf ihre Seiten, wanderten langsam hoch Richtung Brust. Sofort klemmte Anna ihre Arme an ihren Körper, damit er nicht weiter gehen konnte.

„Was, ich dachte es wäre dir egal?“, man konnte ein leichtes Lächeln aus seiner Stimme hören.

„Wenn du es siehst, ja. Anfassen ist eine andere Geschichte.“, schnauzte Anna und spürte, wie die Hitze in ihr Gesicht zurück kehrte. Schon hatten seine Hände ihre Schulter erreicht. Akira lehnte sich zurück. Sein Hinterkopf ruhte auf dem weichen Kopfkissen, dass Anna in der Nacht noch gespürt hatte, doch seine Hände hielten immer noch ihre Schultern fest. Ehe sie sich versah lag Akira vor ihr und seine Arme waren Stützen für ihren Oberkörper – gut ein halber Meter trennten Anna nun von ihm. Es war kühl. Ihre ganze Brust war entblößt. Die Wärme seiner Brust hatte sich verflüchtigt, es wurde kalt. Goldene Augen starrten sie an.

„Also ansehen ist okay, ja?“, murmelte er noch einmal leise. Anna fixierte ihren Blick auf Akiras Augen. Wenn er ihr nicht mehr ins Gesicht sehen würde, würde sie es sofort erkennen. Natürlich war ansehen nicht okay – was dachte er sich? Wollte er unbedingt Satoshi hierher holen? Ihre Augenbrauen rückten näher aneinander. Argwöhnisch beobachtete sie Akira und wartete auf seinen nächsten Schritt. Dieser hielt seinen Blick auf Augenhöhe.

„Guck ruhig hin.“, schnauzte sie dann leise, als würde er noch weitere Provokation brauchen. Er erwiderte nichts. Die Stille war erdrückend. Sie mochte das Gefühl nicht, wie ihre Brüste so kurz über ihm in der Luft schwebten. Annas Mundwinkel verzogen sich nach unten. Langsam wurde es anstrengend, so auf seinen Händen gestützt zu liegen.

„Du weißt es lohnt sich nicht, sie anzusehen, wenn man sie nicht auch anfassen kann.“, und da war es wieder – ein kleines, feines, sadistisches Lächeln schimmerte auf Akiras Lippen und sofort wurde Anna rot. Seufzend wandte sie ihren Blick ab.

„Geh' Satoshi holen.“, murmelte sie leise und spürte sofort, wie die Distanz zwischen den beiden geschlossen wurde. Der warme Oberkörper kehrte als Standheizung zurück. Vorsichtig küsste Akira ihre Stirn.

„Ich bin gleich wieder da.“, waren seine süßen Worte, als er Anna zur Seite legte, zudeckte und aufstand um den Raum zu verlassen. Genervt griff Anna nach ihrem Shirt, doch sofort fielen ihr wieder die Augen zu. Es war zu anstrengend gewesen. Warum war sie überhaupt wieder krank? Ja, vielleicht war Dezember die Zeit, in der viele Leute krank wurden – normale Leute. Seufzend rieb sie ihr Gesicht ein wenig im Kopfkissen, das von Akiras Geruch getränkt war. Es dauerte nicht lange und sie war fast wieder eingeschlafen, da öffnete sich die Tür erneut.

„Sie kam einfach so zu dir?“, murmelte Satoshis Stimme argwöhnisch.

„Ja, hab' ich doch gesagt. Und sowieso – was geht dich das an?“, schnauzte Akira genervt zurück. Gewicht setzte sich auf der Matratze ab. Müde drehte Anna ihren Kopf um und sah, wie Satoshi an ihrer Seite kniete. Schroff zog er die Decke zurück und Anna krümmte sich unter der Kälte zusammen.

„Wow.“, eine andere Stimme erhob sich. Sofort suchte das Mädchen aus ihrer Position den Raum ab, doch er war nicht in ihrem Blickfeld.

„Kennst du das, Iori?“, fragte Akira verwundert über dessen Reaktion.

„Nein… Also ja, aber nicht in diesem Ausmaß.“, antwortete der Tengu besorgt und trat näher – nun konnte auch Anna ihn sehen.

„Was macht ihr da?“, fauchte sie leise ins Kopfkissen, doch mit einem kurzen, strengen Blick von Satoshi fragte sie nicht weiter nach.

„Wir müssen sie erst mal waschen. Dann sehen wir weiter.“, seufzte Satoshi und fuhr sich über die Stirn. Warum war er besorgt?

„Ihr nervt. Haut ab.“, schnauzte Anna. Der Anblick dieser besorgten Gesichter machte sie krank. Wütend suchte ihre Hand nach ihrer Decke, doch sofort wurde ihr Handgelenk festgehalten.

„Stell dich nicht so an. Ich bring dich ins Bad.“, murmelte Satoshi.

„Nein, ich will das nicht.“

„Du verhältst dich wie ein kleines Kind.“

„Ist mir egal, geh weg!“, wütend riss Anna ihre Hand von Satoshis Griff frei. Der Shiki starrte sie böse funkelnd an.

„Soll es jemand anderes tun?“, fragte Iori leicht eingeschüchtert.

„Shiro.“, schnauzte Anna und vergrub ihr Gesicht wieder im Kopfkissen. „Verpiss' dich, Toshi.“. Bei diesen Worten sahen alle Anwesenden, wie ein Geduldsfaden in Satoshi riss. Wütend stand er auf und verließ – ohne ein weiteres Wort zu sagen – das Zimmer.

„Wieso hast du plötzlich so'n Hass auf ihn?“, wollte Akira verwundert wissen. Anna atmete tief durch. Wieso eigentlich? Es musste etwas gewesen sein, was in den letzten paar Tagen passiert war. Allerdings konnte sie sich überhaupt nicht daran erinnern, was los war – nichts drang in ihren Kopf. Stille trat ein. Seufzend ließ sich Iori in einen der Stühle fallen.

„Was denkst du, was du hier tust?“, schnauzte Akira nun genervt.

„Was schon – ich pass auf sie auf. Immerhin kenn' ich mich damit besser aus, als du.“

„Ist mir egal. Du darfst sie nicht nackt sehen. Geh.“, murrte der Rotschopf. Iori lächelte hämisch.

„Oh, eifersüchtig?“, kicherte der Tengu bösartig und sofort trat Akira gegen einen der Stuhlbeine, die zu Ioris Stuhl gehörten. Seufzend stand er auf und verließ das Zimmer mit den Worten: „Du brauchst nicht gleich so auszurasten.“.

Akiras Füße trugen ihn wieder zu seinem Bett. Mit einem Seufzen setzte er sich an die Bettkante zu Annas Seite. Vorsichtig führte er seine Hand auf den unteren Teil ihres Rückens.

„Akira… Was ist los?“, fragte Anna leise. Ihr Blick war an die Wand geheftet.

„Du blutest. Anscheinend schon die ganze Nacht.“, antwortete er leise. Es war nicht die typische Ruhe, die er ausstrahlte. Sorge klang in seiner Stimme mit. Sofort spürte Anna, wie Unbehagen sich in ihr breit machte.

„Ist es schlimm?“, fragte sie leise, doch sie brauchte seine Antwort eigentlich nicht zu hören. Das nasse T-Shirt in ihren Armen schien schon Antwort genug zu sein.

„Wenn ich das so sehe … Ich würde sagen, ja. Aber da du noch wach bist und reden kannst wahrscheinlich nicht zu schlimm.“, antwortete er ihr wahrheitsgetreu und seine Finger erreichten ihr Steißbein. „Man, hättest du mir so etwas gesagt, wenn du nicht krank gewesen wärst...“, lächelte er traurig und brachte damit auch Anna zum Schmunzeln.

„Du hast nicht mal hingeguckt, du Feigling.“, grinste sie neckisch und die Rauheit in ihrer Kehle brachte sie kurz zum Husten. Akiras Hand verließ ihren Po und legte sich auf ihren Kopf.

„Ich hab' dir schon mal gesagt, ich werd's noch oft genug sehen.“. Sanft streichelten seine Finger durch ihre Haare. Es war in solchen Momenten, dass Anna über seine Anwesenheit glücklich war. Beruhigt schloss sie wieder die Augen. Es dauerte nicht lange, bis sich leise die Tür öffnete.

Mit besorgtem Blick trat Shiro ein, dicht gefolgt von Satoshi, der jedoch im Türrahmen stehen blieb. Akiras Blick wanderte zur Tür. Er hob einen Finger an die Lippen um zu bedeuten, dass sie leise sein sollen – Anna war gerade wieder eingeschlafen. Shiro nickte kurz und trat zum Bett. In seinen Armen trug er eine kleine Schüssel mit heißem Wasser und Kräutern, die Liam und Toki vorbereitet hatten, sowie einen Waschlappen und neue Klamotten. Vorsichtig stand Akira vom Bett auf und ging zur Tür. Satoshi wandte sich ab, als der Rotschopf die Tür hinter sich schloss, doch bevor er weggehen konnte, hielt Akira ihn an.

Er hatte nie viel mit dem neuen Shiki gesprochen – Adam war um einiges umgänglicher gewesen. Außerdem hatte er eine Ausstrahlung, die es einem nicht leicht machte, ihn anzusprechen.

„Satoshi… Was ist passiert?“, fragte Akira leicht argwöhnisch und musterte den grauen Hinterkopf. Der Shiki drehte sich um, sagte aber nichts. „Hey. Ich rede mit dir.“, brummte Akira nun genervt. In Satoshis Gesicht sah man Enttäuschung und Abneigung – eine komische Kombination.

„Das geht nur Anna und mich etwas an.“, schnauzte er und ging wieder los.

„Ich merke doch, dass dich was stört. Und sie scheint auch nicht sonderlich begeistert zu sein.“, erwiderte Akira nun und folgte dem grauhaarigen Mann. Er war tatsächlich etwas größer als Akira, ein Erwachsener halt. Irgendwie auch leicht einschüchternd.

„Ich hab' dir nichts zu sagen. Ich hab' es ihr bereits gesagt, das sollte reichen.“, murmelte er nur und ging auf sein Zimmer zu. Akira folgte ihm.

„Anscheinend war es schlimm genug, um ein Fieber bei ihr auszulösen.“, erwiderte Akira nun, doch Satoshi musste lächeln.

„Sie hatte das Fieber schon, als ich sie darauf angesprochen habe.“.

„Worauf?“

Satoshi wandte seinen Blick an Akira, ließ sich dann in seinem Stuhl sinken und starrte den Rotschopf an. Man konnte erkennen, wie hinter diesen grauen Augen sich die Gedanken wunden und ineinander verschlangen, als wäre er sich nicht ganz sicher, wie viel er sagen konnte und wie viel er sagen durfte. Seufzend zog er ein Notizbuch aus seiner Schreibtischschublade. Die Seiten flatterten leicht, als er darin blätterte.

„Ich habe ihr gesagt, dass sie nicht mehr viel Zeit hat.“, antwortete er schließlich, als er die Seite gefunden hatte, die er brauchte.

„Was meinst du damit?“, Akira hatte den Schreibtisch erreicht und versuchte einen Blick in das Notizbuch zu erhaschen, in dem Satoshi nun einige Dinge nieder schrieb. Dieser schien es nicht einmal verstecken zu wollen.

„Was ich damit meine ist: Ihr Körper wird schwächer. Wenn es so weiter geht, stirbt sie bald.“, seine Worte waren kalt, ohne Mitleid. Akira starrte ihn an. Hatte er wirklich keinerlei Mitgefühl für seine Königin? „Du brauchst nicht so zu gucken, es ist offensichtlich.“, murrte Satoshi nun, da er Akiras Blick gesehen hatte. „Wenn sie weiterhin so schwach bleibt, dann hat sie nicht mehr viele Optionen. Das hat ihr nicht gefallen.“.

„Schwach?“, entgegnete Akira unglaubwürdig. „Als der Inspektor hier war, hat sie alle Polizisten in ihren Bann gezogen. Sie konnte wochenlang das Wetter beeinflussen, damit der Mondgott uns nicht beobachten konnte. Durch Liams Training hat sie ...“, doch er wurde unterbrochen.

„Ja, schwach. Nicht von ihren Kräften her, sondern von ihrer Mentalität. Sie kann Leute nicht einfach so abschreiben. Die Sorgen, die sie um Kai und Mika hat, beeinflussen sie enorm.“.

„Ist es nicht deine Aufgabe, ihr dabei zu helfen damit fertig zu werden?“, schnauzte Akira sofort, doch erhielt er nur ein höhnisches Grinsen als Antwort.

„Das war Adam.“. Stille trat ein.

„Du siehst sie echt nicht als deine Schwester an, oder?“, fauchte Akira nun leise und das Grinsen auf Satoshis Lippen wurde breiter.

„Nein.“

„Was ist sie dann für dich?“. Der junge Mann erhob sich aus seinem Stuhl und schloss das Notizbuch.

„Sie ist eine heiratsfähige Königin.“. Für eine Sekunde lang wusste Akira nicht, wie er reagieren sollte. War das sein Ernst?

„Bist du in sie verknallt?“, fragte er sofort fassungslos. Dass Satoshi ihm nicht antwortete, sondern ihn einfach nur musterte, machte ihm noch mehr Sorgen.

„Ich habe ihr gesagt, dass sie nicht viele Optionen hat. Aber sie hat welche. Vielleicht kannst du ja helfen, sie dazu zu überreden.“.

„Wieso sollte -“

„Erstens: Sie kann sich töten lassen. Ihre Energie würde im besten Fall einfach zerfallen und sich in kleiner Konzentration wieder über die Welt verteilen. Im schlimmsten Falle würde sie von den Feinden absorbiert werden.“, unterbrach Satoshi ihn und fuhr fort: „Zweitens. Sie kann so weiter machen, wie bisher, und ihre Kraft verteilen. An Shiro, die Tengus, die Wölfe, Hikari. Sie kann jedem von euch ein bisschen Macht abgeben. Aber das wird nicht reichen – sie würde so schwach werden, dass jeder sie einfach umbringen könnte. Und ich persönlich hätte lieber keine schwache Königin. Drittens: Sie sucht sich endlich einen Mann und gibt ihre Macht ab. Ich habe mich übrigens dagegen ausgesprochen, dass sie dich wählt.“ Akira starrte den Shiki fassungslos an. Mit jedem Wort, das er sprach, wurde er wütender, doch das letzte Stück gab ihm den Rest.

„Wieso?“, wollte der Rotschopf wissen. Seine Stimme klang rau und fremd.

„Wieso?“, lächelte Satoshi arrogant und schüttelte den Kopf. „Wegen deiner Umstände, natürlich. Es ist eigentlich egal, wie sehr du zu ihr passt – was mit der Macht passieren würde, wenn du sie einmal hast, ist die viel wichtigere Frage. Man hat schon an deinem Vater erkannt, dass deine Art nicht gut mit zu viel Macht umgehen kann. Ich meine, dein Vater hat es geschafft in der ganzen Hölle einen Krieg anzuzetteln. Er frisst seine eigene Art, um weiter leben zu können. Wie viele Brüder und Schwestern von dir hat dein Vater schon aufgenommen? Es ist abartig, um ehrlich zu sein. Meinst du, Anna wäre sicher, sobald sie dich wählt? Ich bin mir ziemlich sicher, dass sobald die Gier und Sucht in dir zu groß wird, Anna das erste deiner Opfer werden wird. Und damit kommen wir zum nächsten Thema: Dich. Anstatt dort zu bleiben und deiner Familie zu helfen bist du weggerannt. Du bist zu Mirai geflüchtet und hast dich versteckt, wie der kleine Feigling, der du bist. Du hast gemerkt, dass Anna sich in dich verliebt, und du hast immer mehr Angst bekommen, ihr die Wahrheit zu erzählen, bis es so weit war, dass du sie komplett ignorierst. Anstatt also mit deiner Angst klar zu kommen, hast du lieber die Leute um dich herum verletzt. Selbst Shiro konnte es erkennen und er ist weiß Gott nicht die hellste Kerze am Kronleuchter.“, lachte der Shiki entnervt und ging zu einem der Regale, um das Notizbuch wieder einzuordnen. Akiras Gesicht war leichenblass. Das Goldene in seinen Augen hatte sich in ein metallenes Blassgelb gewandelt. Sein Mund wurde trocken.

„Woher weißt du das alles?“, fragte er atemlos und starrte auf den breiten Rücken. Der Shiki hatte sich wieder in seinen Stuhl gesetzt und musterte Akira eindringlich.

„Im Gegensatz zu Anna weiß ich, wie ich meine Kräfte kontrollieren kann.“, antwortete er und sein Lächeln verstarb. „Außerdem bin ich nicht nur Annas Shiki. Tatsächlich bin ich im Moment wahrscheinlich stärker, als meine eigene Königin.“, brummte er und man hörte ein Stück weit Enttäuschung aus seiner Stimme.

„Weiß sie...“, begann Akira, doch Satoshi wedelte genervt mit der Hand.

„Ich hab' ihr nichts gesagt. Immerhin ist es deine Aufgabe, ihr die Wahrheit zu erzählen. Aber je mehr du dich damit zurück hältst, desto mehr bestätigt es mich darin, dass du ein beschissener Feigling bist. Ganz ehrlich, wenn sie so ein Monster wie dich wählen würde, würde ich wahrscheinlich nicht mehr lange hier bleiben. Dich als meinen Meister anzusehen würde mir die Galle hochtreiben.“. Akira wurde heiß. Er spürte wie jeder Fleck Haut seines Körpers mit Schweiß bedeckt wurde. Er starrte Annas Shiki an.

„Du bist überhaupt nicht so wie Adam.“, schluckte er schließlich und wischte sich nervös über die Stirn.

„Natürlich nicht. Adam war schwach, deshalb ist er gestorben. Und wenn Anna weiterhin schwach bleibt, wird sie es auch tun.“, gab er emotionslos von sich und ging zu seinem Schrank, um nach Wäsche zu suchen. Akira verfolgte ihn mit seinem Blick. „Ganz ehrlich, es ist wahrscheinlich besser so, dass Adam gestorben ist. Anna war viel zu abhängig von ihm und wenn er noch hier wäre und die beiden gegen Eve antreten müssten, würden sie sich gegenseitig ins Verderben ziehen.“. Er griff nach einer Hose.

„Ich verstehe jetzt, warum Anna dich gerade nicht sehen will.“, lächelte der Rotschopf entgeistert und sah Satoshi dabei zu, wie er sein Shirt auszog. Dieser lächelte.

„Ja, ich weiß: Die Wahrheit tut weh. Niemand sieht sie gerne. Manchmal muss man die Menschen halt dazu bringen, sie einzusehen.“. Der Shiki wandte Akira den Rücken zu und was er dann sah, gab ihm komplett den Rest: Riesige, schwarze, dicke Linien breiteten sich wie Flügel auf Satoshis Schulterblättern aus. Sie glühten in einem unheimlichen Schwarz. Das bisschen Rest Farbe, das Akira in seinem Gesicht hatte, verschwand komplett. Satoshi lachte leise.

„Wieso hast du…“, fing Akira an, doch schnell bedeckte der Shiki seinen Rücken wieder mit einem Shirt.

„Wieso?“, wiederholte er lächelnd und der Ton in seiner Stimme gefiel Akira gar nicht. „Vielleicht passe ich ja einfach besser zu ihr, als du?“.
 

„Alles okay?“. Shiros tiefe Stimme löste ein Schaudern in Akira aus. Gedankenversunken hatte er auf Annas nackten Rücken gestarrt, während Shiro eine Salbe auf ihrer Haut verteilte. „Du starrst seit einigen Minuten ins Leere. Soll ich euch beide alleine lassen?“, fügte der Wolfsdämon mit leicht roten Wangen hinzu, doch Akira schüttelte den Kopf. Seufzend faltete er seine Hände unter seiner Stirn zusammen und starrte auf seine Knie.

„Was hältst du von Annas Shiki?“. Endlich schaffte er es, die richtigen Worte zu finden, um Shiro darauf anzusprechen.

„Ich mag ihn nicht.“, antwortete der Weißhaarige sofort und bestimmt, ehe er seine Hände an einem Handtuch trocken rieb. Akira war mehr als dankbar für diese Antwort. „Ich mag' nicht, wie er Anna ansieht und wie er mit ihr redet.“, fügte er schließlich hinzu.

„Was meinst du?“, fragte Akira leicht überrascht nach und hob seinen Blick ein bisschen.

„Wenn sie nicht hin sieht, starrt er sie an.“, antwortete er geistesabwesend und streichelte über die wunde, zerschnittene Haut seiner Mutter. „Und wenn sie mit ihm reden will, ist er immer arrogant und überheblich. Als würde er sie nicht leiden können. Aber in Wirklichkeit, denke ich ...“, Shiros Blick wanderte zu Akira und blieb einige Sekunden lang auf ihm liegen.

„Was?“, erwiderte dieser verwirrt, ehe Shiro schließlich seufzte.

„Ich glaube, in Wirklichkeit liebt er sie.“, murmelte er.

„Wie kommst du denn auf sowas?“, entgegnete Akira ungläubig.

„Denk drüber nach. Er sagt die ganze Zeit, er sei nicht ihr Bruder. Nicht ihre Familie. Es ist fast schon auffällig, so oft sagt er das. Anna hat es mir erzählt.“.

„Kann schon sein, aber für mich sieht es eher aus, als könnten die beiden sich überhaupt nicht leiden. Er ärgert sie die ganze Zeit, sagt, wie schwach sie sei und...“, bei diesen Worten entzündete sich erneut eine Flamme der Wut in Akiras Magengrube. Er brach ab. Shiro wandte seinen Blick wieder ab.

„Jede Nacht stand er bei Anna und hat auf sie aufgepasst, als er noch in Schattenform war. Du hast ihn gesehen.“, antwortete Shiro leise.

„Ja, aber ist das nicht seine Aufgabe als Shiki?“

„Zu diesem Zeitpunkt war er noch nicht ihr Shiki. Er hat Adams Gedanken und Gefühle, er hat alle Erinnerungen von Anna, seit sie klein und beim Schattenvolk war, in sich aufgenommen. Er kennt sie fast ihr ganzes Leben.“, erklärte Shiro und man sah, dass Trauer in ihm aufkeimte, als wäre er neidisch darauf, Anna noch nicht so lange gekannt zu haben. Akira musterte den Wolfsdämon und seufzte schließlich. Er wuschelte dem Jungen kurz schroff durch die Haare.

„Du bist wirklich noch ein Kind.“, seufzte er leise.

„Du auch.“, erwiderte Shiro unbeeindruckt und stand vom Bett auf. „Es wäre schön, wenn du endlich mal zum Mann werden würdest und ihr erklärst, was eigentlich los ist. Ich will nicht, dass sie noch länger leidet. Und um ehrlich zu sein...“, Shiro machte am Türrahmen Halt und drehte sich noch einmal zu Akira um: „Ich finde du bist der beste, den sie kriegen könnte. Also versau' es nicht nochmal.“.

Die Tür schloss sich wieder und Shiro ließ einen beklommenen Akira zurück. Dieser musterte den kleinen, zerfetzten Rücken, der vor ihm lag. Er hatte sie nicht angezogen. Vielleicht, damit die Salbe nicht vom Shirt verwischt wurde? Oder damit Akira sah, was vielleicht seine Schuld war? Der Rotschopf erhob sich und zog sein Shirt aus, ehe er in das Bett kletterte. Er legte sich neben Anna auf den Rücken, hob ihren Oberkörper mit einem Griff unter ihren Achseln an und bettete die junge Frau auf seiner Brust. Ihre Brüste waren weich, unglaublich zart. Ihre Haare waren strähnig vom ganzen Schwitzen und schimmerten in einem dunklen Gold. Ihre Augen waren geschlossen, sie schlief wie ein Stein, und ihre Stirn war mit Schweißperlen bedeckt. Sie glühte immer noch. Vorsichtig wanderten seine Hände auf ihre Pobacken. Er traute sich nicht, ihren Rücken zu berühren. Er sah aus, als würde jede einzige Berührung weh tun. Das Bluten hatte gestoppt, dennoch waren noch tiefe Schnitte in der Haut, die bis in das Fleisch reichten. Es erinnerte fast an den Alptraum, den sie einst bei Mirai Zuhause gehabt hatte. Seine Finger umfassten das runde Fleisch und drückten ihren Unterkörper leicht an seinen. Natürlich wollte er ihr nahe sein – er wollte der einzige sein, der ihr so nahe sein durfte. Er würde sie nicht hergeben, vor allem nicht an diesen furchtbaren Shiki. Auch nicht an Sho, Ren, Mirai oder sonst irgendjemanden, der sie wollte. Niemand sollte sie haben.

Akira schloss seine Augen. Die Worte, die Satoshi ihm gesagt hatte, hallten in seinem Gedächtnis wieder. „Sobald die Gier und Sucht in dir zu groß wird, wird Anna dein erstes Opfer sein“. Er hatte genau das angesprochen, wovor Akira am meisten Angst gehabt hatte – der Grund, sich zurück zu halten. Er wusste nicht, was stärker war: Die Angst, Anna los zu lassen oder die Angst, sie zu zerstören. Beide Aussichten sahen nicht rosig aus. Doch musste er sich nicht dafür entscheiden, was für sie am besten war? Der süße Geruch von Vanille und Himbeere drang in seine Nase und Akira holte einmal tief Luft. Sie hatte gesagt, dass es ihre Entscheidung sein würde. Also würde er sich allem fügen, was sie beschloss. Selbst wenn es darauf hinaus lief, sie los zu lassen.

Kleine Geheimnisse

Langsam öffnete Anna ihre Augen. Es war wieder warm. Zuerst wusste sie nicht, wo sie war. Das Zimmer war dunkel, auch draußen war es finstere Nacht. Es schneite heute nicht. Das Mädchen erhob sich ein Stück weit und sah sich um. Das war nicht ihr Zimmer. Als sich etwas unter ihr rührte schaute sie zu dem Mann, der ihr als Matratze gedient hatte. Akira schlief. Wieder war sie hier – oder immer noch? Unbewusst suchte sie nach ihrem Wecker. Welcher Tag war heute? Sie konnte nichts finden. Müde rieb sich das Mädchen über die Augen, gähnte und streckte sich. Sie fühlte sich, als hätte sie Ewigkeiten geschlafen. Einige Minuten lang saß sie im Bett und starrte aus dem Fenster. Nachdem sie von Akira runter geklettert war, legte sie ihre Arme auf ihren angewinkelten Knien ab und fragte sich, was passiert war. Warum war sie hier? Warum hatte sie nichts an? Ihre Brüste pressten sich an die von der Decke verdeckten Knie. Eine kleine Berührung an ihrem Rücken ließ sie zusammen zucken. Erschrocken drehte sie ihr Gesicht nach hinten und sah, dass Akira ihren Rücken musterte. Er sagte nichts. Seine goldenen Augen ruhten auf den feinen, schwarzen Linien, die er vorsichtig nach zeichnete.

„Wie geht’s dir?“, fragte er schließlich leise ohne aufzuhören.

„Gut.“, antwortete Anna knapp und legte ihren Kopf auf ihren Armen ab.

„Kannst du nicht schlafen?“, fügte er hinzu und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Anna schwieg. Langsam dämmerte es ihr wieder – sie hatte Fieber gehabt und wurde von den anderen umsorgt, während sie Akira in seinem Bett genervt hatte. Sie schmunzelte kurz.

„Bin irgendwie aufgewacht.“, erklärte sie.

„Leg' dich wieder hin.“, murmelte der Junge und gähnte erschöpft. „Du klaust mir die Decke.“.

„Sorry.“, sie zog die Decke mit sich, als sie sich in Akiras Arme legte und ihren Kopf auf seine Brust ausruhte. Der Mond schien hell diese Nacht – seit wann hatten sie nicht mehr den Schutz der Wolken? Dabei fiel ihr ein …

„Vor ein paar Wochen habe ich mit Tsuki gesprochen.“

„Ja, Mirai hat es mir schon erzählt. Der Kleine hat echt Nerven.“

„Es war ganz lustig.“, kicherte das Mädchen leise und boshaft. „Er wurde echt wütend. Irgendwie süß.“. Akira sagte nichts dazu. Schließlich sah Anna auf und sah, dass er die Augen wieder geöffnet hatte. Er starrte nachdenklich an die Decke. „Was ist los?“ Sie konnte nicht anders, als sich zu sorgen. Es war schwierig zu ahnen, über was er gerade nach dachte. Es war schon immer so gewesen. Sein Arm, den er um Anna gelegt hatte, zog sie etwas näher an sich. Er drückte sie. Sein anderer Arm wanderte um sie herum und langsam begann er, Annas Hals zu streicheln. Er drehte sich ihr zu. Seine Finger hinterließen warme Spuren auf ihrer Haut, ein leichtes Prickeln. Sie wanderten zu ihrem Gesicht, streichelten über ihre Wange, ihre Stirn.

„Du hast kein Fieber mehr.“, flüsterte er und Anna konnte nichts anderes tun, als zu nicken. Seine Hand fand den Weg zu ihrem Kinn und hob es an, damit er sie küssen konnte. Es war ein kurzer, liebevoller Kuss, nicht mehr als ein Hauch, dennoch spürte das Mädchen sofort, wie eine Gänsehaut ihren Nacken betäubte. Durch den Spalt ihrer Wimpern konnte sie erkennen, wie goldene Augen sie musterten. Es war fast gruselig, wie eindringlich er sie ansah. Anna wurde etwas nervös. Erneut legten sich seine Lippen auf ihre. Ihre Finger berührten die warme Schulter, die sich ihr zuwandte, hielten sich daran fest. Der leichte Druck auf ihrem Mund wurde stärker. Er wusste, wie er sie dazu bringen konnte, ihren Mund zu öffnen. Seine Zunge war weich und warm, als sie in ihren Mund eindrang. Man schmeckte einen Hauch Zahnpasta. Anna schloss die Augen. Die Arme, die um sie herum lagen, zogen sie noch enger an den warmen Körper. Ihre Brüste wurden an den muskulösen Brustkorb gepresst. Dann begannen seine Lippen zu wandern. Er küsste ihre Wange, ihre Nase, ihr Ohr. Sie fanden ihren Nacken und Anna spürte, wie sich vorsichtig Zähne in ihrem Hals versenkten. Er leckte über die Haut, saugte daran. Ein merkwürdiges Prickeln betäubte ihre Zehe, je länger er an ihrem Hals saugte. Ihre Hände verkrampften sich. Seine Hand streichelte nicht mehr ihre Wange, sie wanderte über ihren Rücken, über ihren Po bis hin zu ihrem Oberschenkel, wo sie dann für eine kurze Zeit verharrte, bis sie das Bein anhob und es über Akiras Beine legte. Der plötzliche Freiraum zwischen ihren Beinen machte das Mädchen nur noch nervöser. Seine linke Hand streichelte weiterhin die Unterseite ihres Oberschenkels, während seine rechte ihren Hinterkopf umfasste, als er ihren Hals küsste. Sie wusste nicht einmal, was sie tun sollte – es war zu viel. Sie hatte das Gefühl in seinen Berührungen zu ertrinken. Sie konnte sie nicht ertragen. Andererseits wollte sie auch nicht, dass er aufhörte. Seine Hand wanderte wieder Zentimeter für Zentimeter hoch – sein Zeigefinger zeichnete den Rand ihrer Unterwäsche nach. Vorsichtig lüftete sie kurz den Rand des Stoffes über ihrem Po. Das Gefühl, wie der Stoff sich löste und für eine Millisekunde ihre Schamregion freilegte ließ Anna für einen kurzen Moment den Atem anhalten. Sein Mund tastete ihren Nacken und ihre Schultern ab, bis seine Küsse schließlich auf ihrem Schlüsselbein nieder prasselten.

„Akira...“, seufzte Anna leise, doch ihre Hände waren nicht stark genug, um ihn von sich wegzudrücken. Automatisch lehnte sich das Mädchen zurück, als seine Hand, die bisher nur an ihrem Hinterkopf geruht hatte, nun den Rücken hinab wanderten. Das Gefühl von seinem Mund auf ihrer Brust war unbekannt, angsteinflößend und süchtig machend. Seine Zunge glitt über die Wölbung ihrer Brust, als wollte er die Form nach zeichnen, bis seine Lippen ihren Nippel umfassten und diesen küssten. Sanft biss er hinein und Anna konnte nicht anders, als ein kleines Stöhnen auszustoßen. Sofort drückte Akira sie noch fester an sich. Er vergrub sein Gesicht in ihrer Brust und leckte über die erregte Brustwarze, wie in Trance. Erneut flüsterte sie ihren Namen, wollte, dass er aufhörte, konnte es jedoch nicht sagen. Seine Hand hatte ihren Weg unter den feinen Stoff ihrer Unterwäsche gefunden und massierte ihre Pobacke. Sie war nicht naiv. Es brauchte nur eine Bewegung. Sein Finger glitt unter dem Höschen den Po hinab und strich über die Feuchte, die sich allmählich zwischen ihren Schenkeln breit machte. Anna holte erneut tief Luft. „Akira.. Hör auf.“, flüsterte sie ihm leise zu. Ihre Finger hatten das Stadium des Zitterns erreicht. Seine Küsse waren wie eine furchtbare, süße Qual. Ihr Nippel tat fast weh, so sensibel war er mittlerweile. Er löste seine Lippen von ihm und küsste erneut ihr Schlüsselbein. Seine Hand verließ ihre Unterwäsche und legte sich auf ihre Hüfte, wo sie vorsichtig die zarte Haut streichelte. Anna traute sich nicht, ihn anzusehen. Ihre Hände hatten den Weg zu ihrem Gesicht gefunden und versteckten es vor seinen Blicken. Dann spürte sie seine Lippen auf ihren Fingern. Zuerst den Ringfinger, dann den Mittelfinger, den Handrücken. Die Hand, die auf ihrem Rücken geruht hatte, griff nun nach ihrer und zog sie vorsichtig vom Gesicht.

„Wovor versteckst du dich?“, flüsterte er ihr liebevoll zu. Sie konnte sein Lächeln hören. Sie wusste nicht, wovor sie sich versteckte – es war einfach nur so peinlich. Sie schämte sich. Die Hand, die ihre festhielt, führte sie zu seinem Mund. Er küsste ihre Handfläche, die Fingerkuppe des Ringfingers, dann des kleinen Fingers.

„Wieso machst du das?“, fragte sie schließlich, kurz davor vor Scham zu sterben.

„Weil ich es will.“, antwortete er knapp und küsste die Spitze des Zeigefingers.

„Wieso…?“, fragte sie erneut. Die Küsse stoppten. Akira streichelte mit seinem Daumen über ihren Handrücken und legte seine Stirn an ihre. Vorsichtig küsste er ihre Nase. Er legte seine Wange wieder ins Kissen und schaute sie mit seinen goldenen, leicht leuchtenden Augen an. Seine Finger hielten weiterhin ihre Hände, streichelten sie.

„Ich will, dass du mir gehörst. Mir alleine.“, flüsterte er endlich. Annas Herz hüpfte so stark gegen ihre Kehle, dass es schwierig war zu atmen. Sie starrte ihn an. „Ist das schlimm?“. Nein, es war überhaupt nicht schlimm. Tatsächlich wollte ein Teil von Anna das sogar. Ihr Blick fiel auf die Hände der beiden, die fest ineinander verschlungen waren. Seine Finger hatten sich zwischen die Lücken ihrer geschlängelt und hielten sie fest.

„Nein...“, murmelte sie beschämt und leicht überrascht von ihrer Antwort. Akira lächelte. Es war das süßeste, liebevollste Lächeln, dass sie je auf ihm gesehen hatte.

„Du weißt, was ich dir damit sagen will, ja?“, fragte er sie leise und führte sein Gesicht wieder an ihres. Tatsächlich war es für Anna gerade schwierig, überhaupt zu denken. Seine Lippen, die nur wenige Zentimeter von ihren entfernt waren, stahlen jegliche Aufmerksamkeit von ihr.

„Nein ...“, gab sie wahrheitsgemäß zu. Sie zogen sie magisch an. Vorsichtig beugte sich Anna vor und küsste die sanften Lippen des kleinen Teufels, der sie in ihren Armen hielt. Auch Akira schien sich nicht zurück halten zu wollen. Seine Hände umfassten wieder ihren Rücken, drückten sie an sich, während er ihren Kuss empfing. Dann löste er sich von ihren Lippen und versenkte sein Gesicht wieder in ihrem Nacken. Er holte tief Luft und atmete sie seufzend wieder aus. Seine Finger kraulten ihr liebevoll den Nacken, während seine andere Hand immer noch ihren Körper an sich drückten. Sein Herz schlug so kräftig gegen seine Brust, dass es Anna sogar an ihrer spürte. Sein Blick ruhte auf ihrem Haar, das sich durch sein Kraulen in leichten Bewegungen auf der Matratze verteilte. Ihre Hände fuhren in leichten Bewegungen über seinen Rücken. Es kitzelte fast, wenn sie ihn so berührte. Er wollte sie darauf ansprechen, wusste aber nicht, wie. Er wollte es ihr erklären, doch ihm fehlten die Worte. Wenn er dachte, die richtigen gefunden zu haben, hörte sie bereits alle möglichen Antworten von ihr. Es machte ihn nervös, machte ihm Angst.

„Du weißt, egal, was passiert, ich passe auf dich auf, oder?“, flüsterte er ihr leise zu.

„Ja.“

„Auch wenn du dich nicht für mich entscheidest...“

„Akira...“

„… selbst dann werde ich auf dich aufpassen, okay?“, er ließ sich nicht von ihren Einwänden abhalten. Sie schwieg. Ihre Hände hörten auf, ihn zu streicheln. Sie presste ihr Gesicht an seine Schulter und schloss die Augen. „Jede Sekunde mit dir hier, jeder Moment, jeder Atemzug, jeder Kuss, den ich von dir bekomme, will ich für immer erinnern. Und wenn ich sie irgendwann nicht mehr bekomme, habe ich diesen Moment, wo du bei mir in meinen Armen liegst und nur mir gehörst.“. Ihre Nägel versenkten sich in seiner Schulter. Sie hörte ihm zu und seine Worte taten weh. Wahrscheinlich machte sie sich gerade wieder Sorgen. Sorgen, dass er irgendwann nicht mehr bei ihr war. Dass das eventuell die letzte Nacht wäre, wo er sie so küssen würde. Sie war so durchschaubar und offensichtlich, dass es fast schwierig war, sie nicht dafür zu ärgern.

„Willst du wieder Abstand?“, fragte sie leise, ihre Stimme war wieder dem Brechen nahe. Er hatte es geahnt.

„Nein. Im Gegenteil.“, antwortete er ihr und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Heißer Atem stieß gegen seine Schulter, als würde sie erleichtert aufseufzen.

„Wieso sagst du dann so etwas?“. Seine Finger vergruben sich in ihrem Haar und begannen, ihren Kopf zu kraulen. Wieso eigentlich? Akira schloss die Augen und dachte nach. Wenn er ihr erzählen würde, was er war, was gab ihm die Sicherheit, dass sie nicht das selbe sagen würde, wie Satoshi? Schon als ihr Shiki ihm diese Worte gesagt hat, waren sie verletzend gewesen. Würde Anna das selbe sagen, würde es ihm wahrscheinlich das Herz brechen. Satoshi hatte Recht. Shiro hatte Recht. Er war ein Feigling. Das einzige, was er tat, während Anna da lag und unter ihrem Fieber litt, war sie anzusehen und darauf zu warten, dass es ihr besser gehen würde. Aber er wusste, woran es lag, kannte den Grund, dass es ihr schlecht ging – er wusste, dass ihre Macht ihren Körper langsam aber stetig überragte. Er würde nicht mehr lange stand halten. Und bevor ihr Körper darunter zusammen brechen würde, würde es ihre Persönlichkeit.

„Akira?“ Ihre Stimme war leise, besorgt. Sie brachte ihn zurück in sein Schlafzimmer, ins Bett, an ihre Seite. Sofort fuhr seine Hand auf ihren Oberarm und schoben sie ein bisschen von sich weg. Er wollte ihre Augen sehen. Sie waren strahlend blau, so wie immer, wenn auch etwas besorgt. Es gab ihr einen Hauch von Unschuld, wenn sie ihn so anblickte. Der Sadist in ihm musste schmunzeln. Es war süß, wenn sie so aussah.

„Was ist los?“, fragte sie nun, deutlich wacher und klarer im Kopf. Trotzdem schien sie leicht verwirrt zu sein. Sein Handrücken berührte die warme, weiche Wange. Es war schwierig es auszusprechen, aber noch schwieriger sie dabei anzusehen. Tatsächlich wehrte sich sogar etwas in ihm dagegen – wahrscheinlich die Angst. Sein Herz klopfte so stark gegen seine Rippen, dass es fast weh tat.

„Ich liebe dich.“. Alles setzte aus. Er hatte es einfach gesagt. Seine Atmung, sein Herzschlag, seine Bewegungen. Nichts bewegte sich mehr. Er starrte Anna an und sie starrte zurück. Das Blau in ihren Augen wurde noch heller, als sich ihre Wangen in ein tiefes Rosa tauchten. Was? Was? Was war das für eine Reaktion? War das normal? Ihre Augen wurden immer weiter, je mehr Anna sie aufriss. Angst kroch in Akira wieder hoch, legte sich unter seine Haut und piekste schmerzhaft gegen jede Faser seines Körpers. Plötzlich setzte Anna sich auf. Sie starrte auf die Bettdecke. Anscheinend war ihre nackte Haut gerade kein Problem für sie. Sie hob ihre Handflächen an, starrte auf die feinen Linien, die sich dadurch zogen, als könnte sie nicht glauben, dass sie wirklich hier war. Akira traute sich nicht, sich zu bewegen.

„Ehrlich?“, fragte sie dann und er war sich nicht sicher, mit welchem Grad der Schockiertheit sie das aussprach.

„Ja.“, schluckte er nervös und starrte auf den schmalen, bleichen Rücken. Die Wunden waren verheilt, dennoch zogen sich feine Linien durch ihre Haut. Es sah aus wie ein Nest von Schlangen, das geweckt wurde. Plötzlich drehte sie sich um. Tatsächlich hatte Akira zum ersten Mal das Gefühl, dass sie gar nicht so klein war. Sie zog die Bettdecke von Akira weg.

„Was machst du?“, stieß er sofort überrascht auf und wollte sich umdrehen, doch Anna pinnte ihn mit einer Hand auf der Schulter auf die Matratze. Die Kraft und Bestimmtheit in ihrer Tat ließen keinerlei Gegenmaßnahmen zu. Tatsächlich wusste Akira nicht mal, ob er sich wehren wollte. Dann setzte sie sich auf seinen Po. Die schmalen Oberschenkel von ihr pressten gegen seine Seiten. Er fühlte, wie ihr Becken gegen seinen Körper drückte. Was zum Teufel ging hier vor?

„Das ist der letzte Kuss, den du bekommst.“, flüsterte sie ihm ins Ohr und ein Schaudern fuhr über seinen gesamten Körper. Gänsehaut, so widerlig und gleichzeitig betörend, dass sie Akira einfach nur lähmte, wanderte von seinem Ohr seinen Rücken hinunter. Sofort umklammerte ihn das kalte Gefühl der Angst und Bedauern. Er bedauerte es, dass er ihr seine Liebe gestanden hatte. Er hatte versagt, oder? Der letzte Kuss, den er bekommen würde – wie würde er sich anfühlen? Würde er der schönste sein, den er jemals bekommen hatte? Oder der schlimmste, den er auf immer mit sich herum tragen musste? Es dauerte nicht lange, bis er ihre zarten Lippen auf seinem Rücken fühlte – direkt neben dem linken Schulterflügel, etwa auf Brusthöhe. Es war ein süßes, unbekanntes Kribbeln, als wäre ein Schmetterling auf seiner Haut gelandet, um sich kurz auszuruhen.

„Der letzte, bis du mir gesagt hast, was du bist.“, fügte sie hinzu. Akira öffnete seine Augen wieder. Wann hatte er sie geschlossen? Er starrte auf das Kopfkissen, auf dem Anna vor wenigen Sekunden noch gelegen hatte. So nah war sie ihm gewesen. Doch jetzt verschwand das Gewicht von seinem Körper. Es verlagerte sich kurz auf der Matratze, ehe Anna komplett aus dem Bett gekrabbelt war. Akira richtete sich auf. Er wusste nicht, was er denken sollte, wusste nicht, was er fühlen sollte. Ungläubig starrte er Anna an, während sie zum Schreibtischstuhl ging und sich das frische Shirt überzog, das Shiro am Tag da gelassen hatte. Wie in Zeitlupe sah er, wie das Shirt Zentimeter für Zentimeter über ihren Oberkörper glitt und mit jedem weitern Stück, mit dem der Stoff ihre Haut bedeckte, bekam Akira das Gefühl, dass alles vorbei war.

„Wo gehst du hin?“, fragte er leise. Er konnte immer noch nicht glauben, was sich da gerade abspielte. Als wäre er nicht einmal Teil der Geschichte, die sich hier entwickelte.

„Ich geh' zu Shiro. Ich schlaf' ab sofort bei ihm.“, antwortete sie knapp, fast herzlos, als sie das Ende des Shirts runter zog. Dann sah sie für einige Sekunden noch Akira an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er sah genau, dass sie über etwas nach dachte, doch das war eine der wenigen Male, in dem er nicht erraten konnte, was es war, was sie beschäftigte. Er konnte nicht erkennen, was sie über ihn dachte. Die Unsicherheit erdrückte ihn. Ein Großteil von ihm war auf die Zurückweisung vorbereitet, aber sie traf ihn trotzdem noch wie ein Schlag mit einem Baseballschläger. Als sie so vor dem Fenster stand mit ihrem zerzausten Haar, mit dem Mondschein auf ihrem Rücken, den leuchtend blauen Augen und dem feinen Lächeln, verliebte er sich gleich noch mal in sie. War es das letzte Mal, dass er sie so sehen würde?

„Bis morgen.“, lächelte sie und verschwand.

Mirai starrte ihn an. Er sah noch schockierter aus, als Akira sich fühlte. Die beiden saßen im Wohnzimmer. Es war vier Uhr nachts. Nach zwei Stunden voller Gedanken im Kopf hatte sich der Rotschopf aufgerappelt und Mirai geweckt, um ihn ALLES zu erzählen – Satoshi, Shiro, Anna und das kleine Geständnis. Mirai, der gerade an seinem Sake nippte, war seit zehn Sekunden (mindestens) in seiner Position festgefroren und starrte seinen besten Freund einfach nur an.

„Ich weiß.“, murmelte Akira und griff ebenfalls nach einem Glas. Mirai schluckte.

„Du hast es getan...“, keuchte er und starrte nun in das Glas in seiner Hand, bevor er es in einem Zug leerte. Akira nickte. Er konnte immer noch nicht glauben, dass er es gesagt hatte. Er konnte nicht glauben, dass sie so reagieren würde.

„Aber dass sie gesagt hat, dass es der letzte war, bis du ihr erzählst was du bist, ist doch gut oder nicht?“, murmelte der Affenkönig nun nachdenklich. War es wirklich so gut? „Eigentlich hat sie dir ja dann keinen Korb gegeben.“. Mirai hatte Recht. Akira musterte seinen besten Freund und konnte nicht zu einem anderen Schluss kommen. Trotzdem…

„Wieso fühlt es sich dann so an?“, hörte er sich selbst sagen und dieses Eingeständnis versetzte ihm einen schmerzhaften Stich im Herzen. Es war wie ein Eingeständnis, dass er verloren hatte. Dass er alles verloren hatte. Schweigsam saßen die beiden für einige Minuten in dem großen Wohnzimmer. Akira wurde allmählich kalt. Seufzend zog er die Knie an und legte sein Kinn auf ihnen ab.

„Wieso sagst du ihr eigentlich, dass du sie liebst, aber nicht, was du bist?“, wollte Mirai nun wissen. „Das ist ziemlich dämlich. Oder ist das etwa noch ein größeres Geheimnis als deine Gefühle für sie?“. Akira sah genervt zur Seite. Er wusste nicht mehr, warum er es ihr nicht gleich erklärt hatte. Vielleicht hätte er dann sofort ihre Antwort bekommen. „Ich kenne deine Geschichte und wir sind trotzdem Freunde. Ich glaube du unterschätzt Anna, wenn du wirklich denkt, dass sie sich wegen so etwas zurück hält.“.

„Du lässt es klingen, als wäre es eine Nebensächlichkeit...“, zischte Akira nun verärgert und vergrub sein Gesicht in seinen Knien.

„Ist es auch. Das einzige, was wirklich wichtig ist, sind ihre Gefühle für dich oder? Und wenn sie diese durch so etwas beeinflussen lassen, waren sie eh nur oberflächlich. Falls sie überhaupt welche für dich hat.“, fügte er grinsend als kleinen Seitenhieb hinzu. Doch was als Seitenhieb gemeint war, war in Wirklichkeit ein zielgerichteter Stich in sein Herz – der traf. Geknickt seufzte der Rotschopf, hob seinen Kopf wieder und exte sein Glas. Selbst oberflächliche Gefühle hätten ihm vielleicht schon gereicht. Es wäre besser, als Anna nie wieder in seinen Armen halten zu können.

„Sorry.“, murmelte Mirai, der anscheinend gemerkt hatte, dass die Aussage Akira schwer getroffen hatte. „Wann willst du es ihr sagen?“, fragte er schließlich, doch Akira zuckte nur mit den Schultern.

„Ich weiß nicht. Hier ist immer so viel los – es ist schwierig, sie überhaupt noch alleine zu erwischen. Die ganze Zeit wird sie von Shiro oder Sho belagert und jetzt kommt auch noch Hikari dazu. Ich versteh' schon, dass sie quasi ihre „Kinder“ sind, aber findest du nicht, sie sind zu abhängig von ihr? Und wenn sie Zeit hat, geht sie in die Schule. Und da will ich es ihr ganz sicher nicht erzählen, nicht mit unseren Feinden hinter jeder Ecke.“, genervt goss er sich noch ein Glas ein. „Die einzige Zeit, die wir zusammen haben, ist wenn wir schlafen. Und ich glaub' nicht, dass sie noch einmal in mein Bett kommt, solange ich es ihr nicht erzähle.“. Mirai musste bei dieser Aussage kurz lachen, doch Akira schaffte es nicht einmal, ein Lächeln aufzusetzen. Seufzend trank er das nächste Glas aus.

„Wie findest du Hikari eigentlich?“. Akira sah bei dieser Frage auf.

„Wie kommst du darauf?“, erwiderte er überrascht vom Themawechsel. Mirai zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht. Du sprichst nie wirklich von ihr.“, erwiderte er und goss den beiden nach. Akira lehnte sich genervt zurück.

„Sie ist süß.“, gab er schließlich zu und nippte an dem kühlen Getränk.

„Ach, lüg' doch nicht. Schon als du sie das erste Mal gesehen hast, hab ich gesehen wie du dir dachtest: 'Irgendwann will ich auch so eine süße Tochter haben'. Du warst total hin und weg von ihr.“, grinste der Affenkönig schamlos. Erneut schien er direkt ins Schwarze getroffen zu haben: Ein kurzer Blick auf Akira offenbarte ihm ein Gesicht, das die selbe Farbe trug wie seine Haare. Mirai lachte kurz auf.

„Pass auf. Zum Neujahr hin hab' ich mir überlegt, dass wir alle zu mir fahren. Wir werden ein richtiges Fest haben, Feuerwerk steigen lassen, der ganze romantische Quatsch halt. Shiro wird bei seiner Familie sein und ich rede mit Iori, dass er Sho im Auge behält. Hikari, Liam und Toki werden so begeistert von dem Wald sein, dass sie gar nicht auf die Idee kommen werden, euch beide zu stören.“.

„Stören?“, erwiderte Akira verwirrt, „Wobei?“.

„Wobei schon? Das wird die perfekte Gelegenheit sein, ihr alles zu erklären. Sieh' es als guten Jahresvorsatz an.“, erklärte Mirai schmunzelnd und Akira ließ sich seufzend im Sofa zurück sinken.

„Was denn? Keine gute Idee?“, fragte der Affenkönig überrascht.

„Doch. Schon.“.

„Aber?“

„Nichts aber.“, brummte Akira und trank aus dem Glas. Einen Termin dafür auszumachen machte alles nur noch sehr viel realer. Es waren kaum noch zwei Wochen bis zu Silvester. Bisher hat nicht einmal das dreiviertel Jahr gereicht um Anna zu erzählen, was er war. Wie sollte er in zwei Wochen die richtige Erklärung finden? Für einige Sekunden lang schwiegen die beiden wieder. Akira starrte auf den erloschenen Karmin, ehe es ihm wieder einfiel: „Sie wollte mir auch etwas erzählen, wenn ich es ihr verrate.“, murmelte er gedankenversunken vor sich hin.

„Was denn?“, fragte Mirai überrascht nach.

„Wenn ich es wüsste, wäre es wohl kein Geheimnis mehr, du Iidot.“. Der Blondschopf lachte.

„Ich kann's immer noch nicht glauben, dass du's durchgezogen hast.“, grinste er breit und hob sein Glas, um anzustoßen.

„Es war in dieser Situation irgendwie angebracht.“, erklärte sich Akira stumpf.

„Was für eine Situation?“ Als Akira sich im Schweigen hüllte, setzte sich Mirai auf. „Was für eine Situation?“, wiederholte er eindringlich neugierig. Akira sah leicht beschämt zur Seite, ehe er erzählte, was er mit Annas Körper angestellt hatte. Sofort stand Mirai auf und er war sich anscheinend nicht sicher, ob er seinen besten Freund schlagen oder umarmen sollte. Egal, was er wohl machen würde - Akira würde sich wahrscheinlich nicht wehren. Kraftlos ließ sich der Affenkönig wieder ins Sofa fallen.

„Wenn ihr so weit gegangen seid...“, begann er mutlos und starrte an die Decke, „ist es wohl sehr offensichtlich, was ihr Geheimnis ist.“. Sofort sah Akira auf.

„Was meinst du?“

„Es tut manchmal echt weh, wie dumm du bist.“.

Große Geheimnisse

Die nächsten Tage waren die reine Hölle. Es wäre wahrscheinlich schöner gewesen, wenn Anna ihn komplett ignoriert hätte, doch stattdessen schien alles wie beim Alten zu sein: Morgens aßen alle gemeinsam am Tisch und redeten ausgelassen. Sie ging mit Mirai und Akira zusammen zur Schule. Abends besprachen sie ab und zu noch, was sie machen würden, wenn sie Eve bekämpft hatten. Einmal sprach Iori tatsächlich noch etwas Interessantes an: Eve hatte anscheinend ebenfalls vor ihrem 17. Geburtstag solche Symptome gezeigt. Sie hatte Fieber bekommen und war Tage lang ausgeknockt gewesen, ehe sie zu ihrem 17. Geburtstag mit komplett schwarzen Haaren und schwarzen Augen aufgewacht war.

„Ich will nicht so aussehen, wie sie. Ich mag' meine blonden Haare.“, Anna hatte zu dieser Aussage nur entsetzt die Nase gerümpft. Mirai lachte.

„Ja, und deine Augen sollen auch nicht schwarz werden.“, schimpfte Shiro leise. Für ihn war es ein Zeichen, dass sie Mutter und Sohn waren.

„Für sie war es ein Zeichen, dass sie die Dunkelheit verkörperte. Sie war sehr stolz darauf.“, erklärte Iori und konnte nicht umhin sich daran zu erinnern, dass auch er einen Funken Stolz verspürt hatte. Zu dem Zeitpunkt war Eve noch nicht vergeben gewesen und es sah so aus, als würde er tatsächlich die Chance haben, die Königin der Dunkelheit für sich zu gewinnen. Seufzend hatte er zur Seite geblickt, ehe er sich einige böse Anmerkungen von Sho gefallen lassen musste.

Und so verstrichen die Tage. Ab und zu erwischte Akira Anna dabei, wie sie ihn sekundenlang anstarrte, ehe sie wortlos aufstand und den Raum verließ. Es war komisch, unbehaglich und fast schon zu aufdringlich. War ihr Bedürfnis, sein Geheimnis zu kennen, wirklich so stark? Doch wenn die Nacht kam, war sein Bett kalt und leer. Er wälzte sich auf der weichen Matratze unter der weichen Decke auf dem weichen Kissen, doch nichts war so weich wie ihre Haut, ihren Haaren, ihren Lippen und ihrem Lächeln. Zu diesen Zeitpunkten wünschte er sich, dass sie wieder da wäre und ihn anstarrte. Es dauerte nicht lange, bis Weihnachten vor der Tür stand. Toki hatte eine große Erdbeertorte gekauft, Liam dekorierte das Haus. Anscheinend war er mit der Tradition von Weihnachten vertrauter als alle anderen Anwesenden hier. Rose, Tristan und Marlo waren wieder hergekommen, um ebenfalls Weihnachten mit dem bunt gemischten Haufen aus Dämonen und Göttern zu verbringen, ehe sie die Truppe am 30.12. zum Wald begleiten würden. Alle hatten Geschenke vorbereitet. Akira wollte nicht wissen, wie viele Unmengen an Geld die Leute hier bei den Kaufhäusern gelassen hatten. Hikari hatte zum Großteil nur Puppenspielzeug bekommen – ein kleines Bett, kleine Miniaturkuscheltiere, kleine Miniaturgläser. Eigentlich konnte sie ein ganzes Puppenhaus damit einrichten. Die Wolfskinder waren schon mit rohem Fleisch überglücklich, mehr konnte man ihnen einfach nicht schenken. Genüsslich kauten die Wölfe auf den Knochen herum. Anscheinend war Rose's Wunde schon komplett verheilt. Liam und Toki bekamen zum Großteil nur Pflanzen, außer von Mirai: Dieser schenkte beiden den besten Honigwein, den man hier und außerhalb bekommen konnte. Ren bekam (wie nicht anders zu erwarten) einen wunderschönen Füllfederhalter samt Etui, eine neue Lesebrille und Handcreme, damit seine Hände nicht immer wund vom ganzen Lesen rau wurden. Er fand die Idee nett, mehr aber auch nicht. Mirai bekam neue Hanteln von Akira, ansonsten nur Alkohol, während Sho von Anna eine kleine Schatulle bekam, die er alleine öffnen sollte. Shiro schenkte ihm – zu aller Überraschung – ein kleines, selbstgemacht aussehendes Fotoalbum mit Fotos von Anna und Shiro. Man wusste nicht, ob es eine Art von Triezen war, aber Sho war nicht besonders begeistert, als er Shiro und Anna Arm im Arm in einem Bett schlafen sah. Erst als er zu dem Teil kam, in dem Annas Kinderfotos waren, schien er sich wieder zu freuen („Ich verbrenn' die anderen einfach.“). Akira bekam ebenfalls Geschenke: CDs, ein Buch, einen neuen Fußball, doch nichts von Anna. Er traute sich nicht, sie darauf anzusprechen. Ein kurzer Blick zu ihr war schon Strafe genug: Breit grinsend entgegnete sie ihn und Akira drehte sich der Magen um. Es war aussichtslos. Seufzend ließ er sich in einen der Sessel fallen und drehte den Ball in seinen Händen. In einer Woche würde er ihr alles erklären. Dann würde er ihr auch ihr Geschenk geben. Von den anderen bekam Anna sehr extravagante Geschenke (in einem gewissen Sinne): Ren schenkte ihr ein silbernes Armband mit kleinen, blauen Steinen daran. Es war Aquamarin, vielleicht nicht der edelste Stein, aber es erinnerte ihn an ihre Augen. Liam schenkte ihr ein Buch und eine kleine, hölzerne Schale zum Meditieren – das war ihre einzigartige Verbindung und er wollte, dass, im Fall der Fälle, sie alleine zur Ruhe finden würde. Toki und Hikari überreichten ihr ein kleines Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit, deren Korken sich nicht öffnen ließ. Der Elf erzählte, er hatte die Idee aus einem bekannten Roman, in dem die Flasche in der Dunkelheit anfangen würde zu leuchten. Anna wusste sofort, auf welches Buch er anspielte, doch Toki meinte, bisher würde die Idee nicht funktionieren. Trotzdem solle sie es versuchen. Mirai holte einen kleinen Schlüsselanhänger hervor (zu dem auch ein passender Schlüssel baumelte). Er war in einer süßen Affenform. Akira ahnte schon, wofür der Schlüssel passte, und als er das feiste Grinsen von Mirai sah, wurde er sogar fast wütend. Iori überreichte Anna eine verschlossene Schriftrolle, in der der ausformulierte Vertrag zwischen Tengus und Anna stand. Sho beschenkte sich in gewissermaßen selbst: Er bat Anna, etwas näher zu kommen, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, änderte dann jedoch die Richtung und küsste sie – direkt auf den Mund. Seine Bestrafung war eine schmerzhaft klingende Kopfnuss von Shiro. „Wir müssen uns mal ernsthaft unterhalten.“, knurrte der Wolfsdämon hasserfüllt und jagte den kleinen Tengu durch das ganze Haus. Er hatte seiner Mutter ebenfalls etwas geschenkt. Etwas, das Anna zu Tränen gerührt hatte: Er hatte die wichtigsten, hübschesten und traurigsten Momente ihres Lebens in all den verstaubten Fotos gesucht und in ein Fotoalbum getan. Wie lange war es her gewesen, dass Anna das Gesicht ihrer Mutter gesehen hatte? Wie lange war es her gewesen, dass sie Adams Grinsen gesehen hatte? Immer noch mit Tränen in den Augen empfing sie das letzte Geschenk, wovon niemand wirklich geahnt hatte: Wortlos schmiss Satoshi ihr ein kleines Päckchen zu. Es war sorgfältig in dunkelblauem Papier eingewickelt und hatte eine schwarze Schleife. Es war schon fast zu dunkel verpackt für Weihnachten. Als Anna das Geschenk öffnete, fielen ihr zwei schwarze Opalohrringe in die Hände, passend zu der Kette, die Adam ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Er wusste es – er konnte sich daran erinnern. In diesem Moment konnte das Mädchen nicht anders – Sie stand auf, beugte sich vor und umarmte ihren Shiki.

Weihnachtsmusik spielte in den Hallen. Fremdsprachige Lieder, wahrscheinlich schwedischer Natur, erfüllten die leeren Räume mit Musik. Die Mannschaft hatte sich ins Wohnzimmer verkrümelt, wo sie zum Teil lustige und zum Teil nostalgische Geschichten miteinander austauschten. Jeder hatte Weihnachten bisher anders verbracht, viele von ihnen es gar nicht gefeiert. Das Essen hatte ihre Magen bis zum Bersten gefüllt und langsam entspannten sich alle wieder durch einige Flaschen des Weines, den Ren bereit gestellt hatte.

„Ich wollte euch übrigens noch etwas sagen.“, sagte Anna dann etwas lauter, um die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zu ziehen. Die Gespräche erstarben. Erst jetzt fiel ihr wieder auf, wie groß ihre Gruppe eigentlich gewachsen war: Der ganze Raum war gefüllt mit Personen, die auf ihre Worte warteten.

„Ich will im Januar wieder nach Hause ziehen.“, grinste sie dann schließlich und sofort kippte die Stimmung. Von traurig bis hin zu beleidigt sahen sie einige an, während andere, darunter Mirai und Shiro, schon von ihren Plänen wussten.

„Wieso?“, fragte Iori überrascht, während Sho wissen wollte, ob er mit ihr mit kommen möchte.

„Gefällt es dir nicht bei uns?“, wollte Ren wissen.

„Doch. Sehr. Es hat mir Gelegenheit gegeben, euch alle besser kennen zu lernen. Aber mein Zuhause ist dort. Alle meine Erinnerungen sind dort. Seit ich lebe habe ich dort gewohnt. Und ich kann meine Familie nicht noch mehr im Stich lassen, als ich es schon getan habe.“. Sie hatte das Gefühl, ihre Mutter und Adam komplett abzuschreiben, wenn sie nun auch noch das Haus aufgeben würde. Liam seufzte etwas enttäuscht. Es war klar, dass er wusste, woran sie dachte, und er konnte es nachvollziehen. Mirai hatte seine Wange auf seiner Hand abgestützt und starrte nachdenklich Akira an.

„Jetzt, wo du uns alle besser kennst...“, begann der Affenkönig plötzlich und wechselte schlagartig das Thema, „Haben es ein paar in die engere Auswahl geschafft?“. Anna blickte Mirai an. Sie hatte fast vergessen, wie berechnend er war.

„Ja. Ein paar.“, gab sie schlagartig zu.

„Wer?“, Anna wusste nicht, wer es zuerst ausgesprochen hatte, doch schon hatten sich Sho, Shiro, Satoshi, Ren, Mirai und Iori erhoben und sahen sie erwartungsvoll an. Die Blondine stutzte etwas bei dem Anblick.

„Das kann ich noch nicht sagen...“, murmelte sie argwöhnisch. Warum waren ausgerechnet Iori und Sho so erpicht darauf zu wissen, wen sie heiraten wollte? „Ihr erfahrt es in nächster Zukunft, denke ich.“. Für eine Millisekunde erhaschte sie einen Blick auf Akira. Dieser starrte gedankenversunken aus dem Fenster, anscheinend war er mit seinen Gedanken wieder ganz woanders. Sho und Shiro begannen zu quengeln (eigentlich dachte Anna, Shiro wäre aus dem Alter raus).

„Ich geh' ein bisschen frische Luft schnappen.“, seufzte die Königin schließlich und stand auf, als es ihr mit dem Bombardement von Fragen zu viel wurde. „Alleine.“, fügte sie hinzu, als auch Sho und Shiro Richtung Tür gingen.

Die kühle Luft der Nacht rauschte ihr entgegen, als sie die Eingangstür öffnete und in den knöcheltiefen Schnee trat. Der Himmel war klar und vollkommen ohne Wolken. Anscheinend war heute Neumond, denn man sah nur lauter kleiner, funkelnder Sterne. Zufrieden lief das Mädchen durch den Schnee. Im Kopf ging sie noch die Fotos von sich und ihrer Mutter durch. Es waren schöne Zeiten gewesen. Zu Weihnachten hatte sie immer gebratene Ente gemacht und als Nachttisch gab es Torte. Natürlich war es das beste Weihnachten, wenn sie Schwarzwälderkirschtorte gebacken hatte, doch die gab es nicht immer. Einmal hatte Anna so darauf gepocht, welche zu essen, dass sie abends noch los gegangen sind, um welche zu holen (natürlich gab es keine mehr).

Seufzend betrachtete sie die Fußstapfen, die sie im Schnee hinterließ. Sie war schon mehrmals im Kreis gelaufen und versuchte mit ihren Füßen Figuren zu machen – so, wie Adam es ihr mal beigebracht hatte.

„Bist du betrunken?“, brummte eine schroffe, raue Stimme, die Anna unbekannt war und sie aufblicken ließ. Sie hatte das Tor des Anwesens erreicht. Auf der weißen Steinmauer saß ein Junge mit braunem, wilden Haar und leuchtend grünen Augen. „Hübsch siehst du aus.“, grinste Jonathan, als er Annas Kleid begutachtete. Es war ein weißes Kleid mit einer schlichten, schwarzen Schleife um die Taille, das ihre Mutter ihr einmal geschenkt hatte. Anna konnte nicht umhin zu grinsen.

„Wenn das mal nicht der kleine Jonathan ist...“, lächelte sie süß und ging einige Schritte auf den Werwolf zu. „Was macht denn Eve's Schoßhündchen hier? Darfst du kein Weihnachten mit ihr feiern?“. Ihr Lächeln löste wieder ein Gefühl der Wut in ihm aus. Das Grinsen auf seinem Gesicht wurde zwar breiter, war jedoch geprägt mit einem gewissen Grad an Genervtheit.

„Ich habe doch gesagt, dass ich dich fressen werde...“, brachte er knurrend unter dem Lächeln hervor. „Ich find's schön, dass du sogar mit Schleife kommst.“. Mit Leichtigkeit und der Grazie einer Feder sprang er von der zwei Meter hohen Mauer und landete vor der Blondine im Schnee. Sofort griff er sich eine Strähne ihres Haares und roch daran. Ihm schien der Duft zu gefallen. Anna gefiel es nicht. Blitzschnell nahm sie ihm ihre Haare aus der Hand und kämmte sie sich mit einer Handbewegung hinter das Ohr.

„Wenn du denkst, du könntest mich ausgerechnet hier einfach fressen, hast du dich getäuscht.“, sagte sie in einer klar und deutlich arroganten Stimme. Der Junge grinste immer noch.

„Ich bin heute nicht hier, um zu streiten. Ich bin hier, um dir etwas auszurichten.“, lächelte er. Sein Blick ruhte immer noch auf der goldenen Strähne, die er zuvor zwischen seinen Fingern gehalten hatte.

„Ich will es nicht hören.“, schnauzte Anna und drehte sich von dem Werwolf weg. Ein fester Griff hielt sie vom Gehen ab – sie drehte sich um. Das Grün in Jonathans Augen flackerte kurz gefährlich auf.

„Du denkst, das mit den Vampiren sei vorbei?“, das Grinsen war verschwunden. Er sah ernst aus. „Vielleicht war das ein Rückschlag für Eve, vielleicht war es aber auch so geplant.“.

„Das weiß ich.“

„Wieso machst du dir nicht mehr Sorgen?“, erwiderte er nun und seine Stimme wurde leiser. Mit Leichtigkeit zog er Anna etwas näher an sich heran. „Du weißt nicht, wozu sie fähig ist. Sie hat deinen Vampir in ihrer Gewalt. Er tut fast alles für sie.“.

„Du lügst.“

„Tu ich das?“. Der Werwolf ließ sie los. „Ich sag' dir eins: Dass du Iori und die Tengus auf deiner Seite hast, hat sie viel mehr getroffen, als die Sache mit den Vampiren. Sie und Iori kennen sich seit sie Kinder sind – sein Verrat muss mit Blut bezahlt werden. Es wird keiner mit heiler Haut davon kommen, das verspreche ich dir.“.

„Wieso erzählst du mir das? Glaubst du wirklich, du könntest mich damit einschüchtern?“, keifte Anna genervt und nahm wieder einen Schritt Abstand. Jonathans Lächeln kehrte wieder zurück.

„Ich erzähle es dir, damit du irgendwann unter deinen Sorgen zerbrichst.“, gab er offen und ehrlich zu. „Ich will sehen, wie du schwächer und schwächer wirst, wie du weinst, wie du um Gnade flehst, wenn ich dich irgendwann aufschlitze.“. Jegliche Wärme wich aus seinen Augen. Sein Lächeln wurde zu dem eines blutrünstigen Mörders. Anna starrte ihn eine Weile an, ehe sie prusten musste. Sie musste einfach lachen. Es war so lächerlich. Seufzend legte sie ihren Kopf in den Nacken und wischte sich über ihre Stirn. Wieso machte sie sich überhaupt Gedanken?

„Es ist lustig, dass du das so sagst...“, meinte sie leicht atemlos und schaute den Werwolf wieder an.

„Wieso lachst du?“, fragte dieser genervt. Anscheinend hatte er mit Annas Reaktion nicht gerechnet und vor allem nicht mit dem, was als nächstes folgte – Sie packte seinen Kragen und zog ihn an sich heran. Die dunkelblauen Augen der blonden Königin waren nur Zentimeter von seinen entfernt. Ihr Blick war durchdringend, fast angsteinflößend. Die Worte, die sie sagte, waren kalt und gefüllt mit Kampfgeist:

„Weil du mich jetzt anscheinend noch nicht fressen kannst. Du bist einfach zu schwach.“. Ein kleines Lächeln zauberte sich auf ihr Gesicht und sie ließ ihn los. „Du bist wirklich nichts weiter als ein Hund, der laut bellt.“.

„Glaubst du das wirklich?“, keuchte Jonathan nun, langsam nahm die Wut in ihm Überhand.

„Ja.“, lächelte Anna boshaft. Er sollte es gleich hier tun. Er sollte sie gleich hier aufschlitzen und fressen, wie der böse Wolf es mit Rotkäppchen hätte tun sollen. Keine perfiden Pläne, keine Taktik, einfach pure, blanke Gewalt. Wütend ballte der Werwolf seine Fäuste zusammen.

„Ich würde es nicht tun.“, brummte eine tiefe, basslastige Stimme. Jonathan wandte seinen Blick von Anna ab und heftete ihn an einen großen, weißhaarigen Jungen, der einige Meter von ihnen entfernt stand. Die blauen Augen von ihm waren kalt wie Eis. Jonathan entspannte sich wieder und lachte kurz.

„Naja. Ich dachte mir, ich hole mir zu Weihnachten ein kleines Leckerli ab, aber daraus wird wohl nichts.“, seufzte er schließlich und wischte sich mit seiner Hand die Haare aus dem Gesicht. „Richte bitte Iori aus, dass er kein Zuhause mehr hat.“, murmelte er dann noch mit einem kleinen Lächeln Anna zu, ehe er wieder auf die Mauer sprang. Mit einem kurzen Blick auf Shiro verschwand er.

„Was machst du für Scheiß...“, knurrte der Wolfsdämon und legte seine Arme um den Bauch seiner Mutter, ehe er, mit einem wütenden Blick, sein Kinn auf ihre Schulter legte.

„Ich wusste nicht, dass er da war.“, murmelte Anna und starrte auf den Platz an der Mauer, auf dem der Werwolf vor ein paar Minuten noch gelauert hatte.

„Sicher?“, fragte Shiro argwöhnisch nach und Anna grinste, ehe sie nickte.

„Lass uns wieder reingehen.“.

Die Weihnachtstage verstrichen, doch die Stimmung blieb. Irgendwie waren alle fröhlicher und freundlicher als sonst. Selbst Sho und Shiro stritten sich nicht so viel, wie üblicherweise. Akira ging Anna so gut es ging immer noch aus dem Weg und falls die beiden sich doch mal sehen würden, lief er sofort leicht rosa an. Shiro und Satoshi beobachteten die beiden Turteltäubchen mit einem gewissen Grad an Skepsis.

Schon bald war es an der Zeit, die Sachen zu packen. Es ging zu Mirais Palast, wo sie Silvester verbringen würden. Anna war sich immer noch nicht so ganz sicher, ob das eine gute Idee war und ob die Wölfe überhaupt mit Feuerwerk vertraut waren. Sie wollte nicht, dass es in Silver irgendein Trauma auslösen würde. Doch sie widersprach der Idee nicht: ein letztes Mal mit allen zusammen zu feiern, ehe sie nach Hause ging, war sicherlich eine schöne Erinnerung. Und wer weiß, wie viele sie davon noch haben würde?

Im Hause Wukong wurden sie wieder mit wehenden Fahnen und einem Blütenregen empfangen. Es war überraschend: Am Fuß des Berges an dem Bahngleis lag Schnee, der bis zur Hüfte ging. Nur ein schmaler Weg war von den Affen frei geschaufelt worden. Doch je näher sie der Bergspitze kamen, desto weniger Schnee lag zwischen den Bäumen, bis er schließlich einer Welle von Blumen wich. Es sah fast so aus, wie das erste Mal, als Anna hier angekommen ist: Als würde der Frühling niemals enden. Auch der Pfirsichbaum im Innenhof und der Teich sahen haargenau aus, als wäre sie erst vor wenigen Tagen hier gewesen: Die rosafarbenen Blüten schwebten zufrieden auf den Teich hinunter. Sofort zog dieser Anblick Toki und Hikari in ihren Bann. Manchmal saßen sie stundenlang davor und beobachteten ihn einfach. Es waren auch noch angenehm warme Temperaturen, bestimmt so um die 13-14° Celsisus, was Anna einfach nur erschreckend fand. Während sie ihre Tage mit Shiro bei Silver verbrachte, bereiteten Mirai und seine Kameraden das Feuerwerk und das Festmahl vor. Akira hatte sich meistens in seinem Zimmer eingeschlossen und Ren und Liam saßen oft zusammen mit den Wölfen, die im Palast aushalfen, so wie den Affenzwillingen im Gemeinschaftsraum und gingen alte Folklore durch. Es war kaum Zeit, darüber nach zu denken, was eigentlich in der Silvesternacht passieren würde, doch schon war sie da.

Anna hatte mit Hikari ein Bad genommen. Sofort war Sasahira, die allein aus diesem Anlass wieder zurück nach Hause gekommen war, auf die beiden zu gesprintet und begann die Mädchen in einem hübschen, roten Kimono einzukleiden. Dieser saß nicht so eng wie der letzte, Mirai hatte Sasahira wohl darauf angesprochen, dennoch gab er eine wunderschöne Betonung für Annas Figur. Die Großmeisterin im Anziehen hatte sich allerdings dagegen ausgesprochen, dass Hikari die selbe Farbe trug, da ihre Haare und Augen bereits ins Rötliche gingen, doch die beiden Mädchen wollten lieber im Partner-Look auf das Fest gehen. Also zog sie Hikari vorsichtig einen roten Kimono über, der normalerweise für Puppen verwendet wurden. Danach ging es ans Haarekämmen: Die übliche Schroffheit von Sasahira hatte nicht nach gelassen und dennoch war Anna am Ende froh darüber, dass sie ihr die Frisur gemacht hatte: Es war eine prunkvolle, fast schwere Hochsteckfrisur mit zahlreichen Spangen und glitzernden Steinen, die auch Hikari trug (natürlich im Mini-Format). Als die beiden endlich fertig waren, hatte sich bereits die Nacht gesenkt. Von draußen ertönten Trommeln und Musik. Sie betraten die große Speisehalle, die zu ihrer Verwunderung leer war.

„Wir speisen heute nicht hier, sondern im Garten.“, erklärte ihnen Sasahira sofort. Diese schien merkwürdig aufgeregt zu sein, anscheinend liebte sie Feste. Sie hatte sich sogar etwas heraus geputzt. Frohlockend führte sie den Weg an und führte die beiden Mädchen am Pfirsichbaum vorbei. Anna war gar nicht bewusst, dass es hinter dem Innenhof noch weiter ging, doch als sie einen schmalen Gang am Haus entlang gingen offenbarte sich ihr ein Anblick, den sie nie vergessen würde:

Zu aller erst fiel natürlich der riesige, silberne Wolf ins Auge, der unter den Baumkronen hockte. Die ganzen Girlanden und Lampen, die von Ast zu Ast gehangen worden waren, störten ihn leicht. Dann gab es noch einen riesigen Grill, auf dem bereits dampfendes Gemüse und brutzelndes Fleisch lag und dessen Geruch einem das Wasser im Mund zusammen laufen ließ. Kinder rannten in Masken umher – Die Wölfe mit Affenmasken, die Affen mit Wolfsmasken. Die Erwachsenen hatten kleine Kreise gebildet um Lagerfeuer, die überall im Garten verteilt waren. Tatsächlich war der Garten wahrscheinlich fast so groß, wie Mirais ganzes Anwesen. Neben dem Grill stand ein riesiger, langer Tisch, der sich hier und da bog und sich wie eine Schlange durch das Gras bahnte. Auf ihm standen zahlreiche Getränke, Speisen und Süßigkeiten. Völlig von dem Anblick verdattert ließ Hikari sich auf Annas Schulter fallen.

„Hey.“, grinste ein sehr fröhlicher Wukong und ging auf Anna zu, ehe er sie umarmte und hoch hob. Er roch eindeutig nach Alkohol. „Da bist du ja endlich.“. Sein Grinsen war noch strahlender als das Festmahl.

„Ja, hat etwas gedauert.“, gab Anna leicht eingeschüchtert zu und freute sich, wieder Boden unter ihren Füßen zu spüren, als Mirai sie absetzte. „Wo sind die anderen?“, wollte sie aufgeregt wissen, als sie Mirais prunkvollen Kimono genauer betrachtete. Das war das edelste, was er bisher angezogen hatte.

„Oh, Liam und Ren sind bei Silver. Tatsächlich unterhalten die drei sich sehr angeregt. Der alte Wolf war noch nie so gesprächig, aber vielleicht ist das auch nur der Alkohol. Deswegen sitzt Shiro bei ihnen und passt auf, dass der alte Herr nicht zu viel trinkt. Toki ist mit einigen der Affen verschwunden und sucht etwas im Wald. Ich weiß nicht, worauf er sich da eingelassen hat, aber es könnte sein, dass wir ihn für ein paar Stunden nicht mehr sehen. Sho und Iori sind gerade am Buffet. Aber komm erst mal mit, wir wollen etwas essen. Die Kinder warten auch schon sehnsüchtig auf dich, anscheinend haben sie etwas, was sie dir schenken wollen.“. Mirai griff nach Annas Hand und führte sie durch die Grüppchen von Leuten. Hier und da grüßte sie immer wieder mal einer, ehe zwei kleine Mädchen auf sie zurannten und sie umarmten. Es waren die Zwillinge.

„Oh, hey ihr zwei. Heute mal in Menschenform?“, grinste die Königin überrascht und die Äffchen nickten eifrig.

„Sie können sich zwar verwandeln, aber die Sprache ist ihnen immer noch ein bisschen zu hoch. Ich schwöre bei allem was mir heilig ist, die werden von Generation zu Generation dümmer.“, schnauzte Mirai leicht genervt und entfernte die zwei Kletten von Annas Beinen, ehe die mit ausgestreckter Zunge und merkwürdig, aber beleidigend klingenden Geräuschen wieder verschwanden. Mirai nahm sich wieder Annas Hand und führte sie weiter, bis sie endlich Silver und die anderen erreicht hatten. Mit einer kleinen Verbeugung begrüßte Anna den Alpha.

„Oh, sieh mal einer an. Eine kleine Königin.“, knurrte die tiefe Stimme und er senkte seinen Kopf auf seine Pfoten, damit Anna zu ihm hin gehen und ihm kurz über den Nasenrücken streicheln konnte. „Hübsch siehst du heute aus. Willst du meinen Sohn doch heiraten?“, lachte er trocken und sofort stimmte der Rest der Truppe mit ein – bis auf Shiro. Dieser schlug seinem Vater aus Reflex herzhaft in die Wange. Ein böses Knurren folgte.

„Na, na. Nicht streiten. Wir feiern gleich ein neues Jahr.“, grinste Mirai beschwichtigend und zog die zwei Streithähne auseinander. „Außerdem haben deine Kinder doch was für sie, oder?“. Silver wandte den Blick von seinem undankbaren Sohn ab und schaute wieder zu Anna, ehe er in einem gekünstelt naiven Ton brummte:

„Oh ja, fast vergessen.“. Eine Schar von kleinen Wölfen tauchte hinter seinem Fell auf. Langsam, vorsichtig, schon fast nervös, gingen sie auf Anna zu. Alle hatten ein gesenktes Haupt und blieben einen Meter vor ihr stehen. Es waren bestimmt um die 12 Wölfe, die sich vor ihr verbeugten, ehe einer nach dem anderen etwas aus dem Maul fallen ließ, zum Großteil Blumen und Stöcker.

„Was...“, begann Anna überrascht, doch Silver zeigte mit bedrohlich scharfen Zähnen ein kleines Grinsen.

„Nachwuchs. Dein Blut hat eine neue Generation hervor gebracht.“, knurrte er hämisch und ließ seinen Kopf wieder auf die Pfoten fallen.

„Bin ich jetzt Oma?“, fragte Anna verwirrt und gleichzeitig leicht abgeschreckt nach und forderte damit wohl Silvers Humor heraus, denn dieser begann herzhaft zu lachen.

„Natürlich nicht. Aber ohne die Kraft von deinem Blut wäre es wahrscheinlich nicht dazu gekommen. Frag mich nicht, was in diesen dummen, kleinen Köpfen vor sich geht, aber sie sehen dich fast als eine Göttin an. Sie denken, sie verdanken dir ihr Leben.“, brummte der Wolf und schmatzte kurz. Dann begann er zu trinken.

„Oh.“, entgegnete Anna nur überrascht und betrachtete einen Wolf mit rostbraunen Fell. Er erinnerte sie an irgendwen.

„Der ist von Rose.“, erklärte ihr Shiro wortkarg und Anna lief rot an.

„Was? Sie ist aber noch so jung?“, keuchte sie erschrocken und legte eine Hand auf den kleinen Wolf.

„Bei uns ticken die Uhren halt anders.“, seufzte Shiro nur und kniete sich neben Anna, um den Wolf ebenfalls zu streicheln. Argwöhnisch spähte die Blondine zu dem Wolfsjungen.

„Hast du schon…?“, fragte sie zögerlich und erhielt genau die Reaktion, von der sie gehofft hatte: Blitzschnell wurde Shiro puterrot und schaute verärgert zur Seite.

„Natürlich nicht.“, hustete er beschämt und legte sein Kinn auf seine Knie. Anna grinste.

„Dass du noch nicht hast, wundert mich aber.“, fügte Shiro hinzu und seine Stimme wurde noch leiser, als zuvor, doch seine Worte waren so klar, dass sie Anna eiskalt erwischten. Erschrocken über seine Offenheit haute sie ihm eine runter.

„Das geht dich nichts an.“, fauchte sie sofort und lauter, als gewollt, ehe beide mit knallroten Gesichtern aufstanden und sich anschweigten.

„Was denn, was denn? Streiten die zwei Liebenden sich etwa?“, grinste Mirai sofort. Er hatte alles beobachtet. „Ihr seid echt so süß miteinander.“, lachte er laut und einige der Umstehenden stimmten mit ein – sogar Ren. Liam schmunzelte nur ein bisschen.

„Was ist los?“, fragte eine kleine, hohe Stimme und Anna drehte sich um. Sho klammerte sich an ihr Bein, hinter ihm stand Iori. Beide trugen weiße, lange Roben, wie Anna sie von dem letzten Besuch bei den Tengus kannte.

„Sorry, hat etwas länger gedauert. Sho weiß noch nicht, wie man so etwas anzieht.“, entschuldigte sich Iori leise bei ihr und Anna musste grinsen. Auch Hikari zeigte ein hämisches, überhebliches Grinsen, als sie die Worte des großen Bruders hörte. Mit einem arroganten Gesichtsausdruck ließ sie sich auf Shos Kopf fallen und begann, an seinen Haaren zu ziehen. Dieser schrie kurz verärgert auf und versuchte, sie aus seinem Schopf zu befreien.

„Wie viel Uhr ist es eigentlich?“, fragte Anna nun und wandte sich von den beiden Kindern ab. Ren zog den Ärmel zurück und blickte auf seine Armbanduhr.

„Kurz nach Neun. Noch drei Stunden.“, fügte er hinzu. Plötzlich fiel Anna ein, dass das vielleicht das erste Mal war, dass Ren Feuerwerk sehen würde. Sie blickte zu Liam, welcher kurz unaufällig nickte. Erneut musste Anna lächeln.

„Satoshi wollte wirklich nicht mitkommen?“, fragte Mirai nun nach und Anna nickte.

„Er sagt, ich sei hier sicher. Er mag Feuerwerk nicht.“, antwortete sie knapp. Seit seinem Geschenk hatten die beiden kaum miteinander gesprochen. Nachts hatte er immer noch die Angewohnheit, einfach zu verschwinden.

„Naja, kann man nichts machen. Dann fehlen wohl nur noch Akira und Toki.“, murmelte der Affenkönig gedankenversunken vor sich hin. Anna spürte einen kurzen Seitenblick auf sich. „Ich glaube, ich geh' mal Toki suchen. Holst du Akira?“, fragte er sie nun nonchalant.

„Ich kann ihn holen gehen.“, warf Sho sofort ein, doch Iori hielt ihn fest.

„Ich glaube kaum, dass er mit dir mitkommt. Außerdem löst sich dein Kostüm wieder.“, schnauzte der große Bruder und blickte kurz zu Anna. „Das Feuerwerk fängt eh erst in drei Stunden an. Du hast noch genug Zeit mit ihr.“. Naserümpfend und beleidigt gab Sho nach. Anna begann zu grinsen. In letzter Zeit, wenn sie Akira sah, musste sie jedes Mal an sein Geständnis denken und jedes Mal, wenn sie ihn anschaute, dachte er an das selbe. Sie konnte es einfach spüren und es erfüllte sie mit einer gewissen Genugtuung, dass er sich schämte. Das waren die einzigen Momente, in denen sie sich ihm gegenüber tatsächlich überlegen fühlte. Wieso das Gefühl also nicht ein bisschen ausreizen?

„Ja okay, wenn es sein muss.“, gab sie genervt von sich und drehte sich um, um zurück zum Haus zu laufen. Mirai sah ihr für eine Sekunde lang grinsend hinterher, ehe er ihr noch nach rief:

„Braucht nicht zu lange.“.

Die Musik entfernte sich wieder, je weiter Anna vom Garten weg ging. Im Inneren des Hauses war es tatsächlich wieder still. Nur die stumpfen Schläge der Trommeln schafften es noch durch die Mauern. Kleine Kerzen beleuchteten hier und da den Weg durch den Flur. Akiras Zimmer war weiter von Annas entfernt, als bei Ren im Haus. Tatsächlich hatte sich das Mädchen das erste Mal verlaufen, als sie ihn gesucht hatte. Doch schließlich, nach einer Weile, fand sie seine Tür und klopfte an.

„Ja?“, sagte die bekannte, ruhige Stimme und Anna trat ein. Akira saß auf seinem Bett. Er trug einen braunen Yukata mit Fächer-Muster in Schwarz und Weiß, darunter eine dunkelgrüne Robe. Er drehte etwas nachdenklich in seinen Händen.

„Das Fest hat angefangen, die anderen warten auf dich.“, erklärte Anna sich kurz und ging durch das Zimmer auf Akira zu. Sie waren noch nicht lange hier und doch war der Raum gefüllt mit seinem Duft. Dieser verstaute das kleine Etwas in seiner Tasche.

„Ja, okay.“, murmelte er nach einigen Sekunden und erhob sich. Es war das erste Mal seit einigen Tagen, dass er sich nicht von Annas Lächeln einschüchtern ließ – er sah ihr direkt in die Augen. Irgendetwas war anders. Das Lächeln auf Annas Lippen verblasste und sie sah ihn leicht verdutzt an.

„Alles okay?“, fragte sie und konnte die Sorge in ihrer Stimme nicht verbergen.

„Ja, alles gut.“, antwortete er kurz und ging auf Anna zu. Seine Hand war warm, leicht verschwitzt, als er nach Annas griff. „Lass uns noch ein bisschen rum laufen. Ich fühle mich grad nicht so nach Feiern.“, murmelte er und führte sie aus seinem Zimmer. Der Flur schien noch stiller zu sein, als vorher, obwohl die beiden den selben Weg zurück liefen, den Anna gekommen war. Vor dem Zugang zum Innenhof blieb Akira kurz stehen und sah sich um.

„Moment.“. Seine Stimme war leiser als sonst, nachdenklicher. Das Mädchen starrte ihm hinterher, während er in der anliegenden Küche verschwand und wenig später mit einer großen Flasche Schnaps und zwei kleinen Sake-Schälchen zurück kam.

„So..“, seufzte er erschöpft und ließ sich auf der Holzterrasse vor dem Pfirsichbaum und dem Teich nieder. Seine Hand klopfte kurz einige Male neben sich. „Setz' dich.“. Anna tat wie ihr geheißen. Mit einem „Plopp“ öffnete sich die Flasche und der junge Mann goss beide Schälchen voll. Eines reichte er Anna.

„Du weißt, dass Alkohol nichts bei mir bewirkt?“, fragte sie vorsichtshalber nach und schaffte es dadurch, dass Akira ein schiefes Lächeln auf sein Gesicht brachte.

„Ja.“, gab er leicht enttäuscht zu, „Aber ich will heute nicht alleine trinken.“. Er hob sein Glas, um mit Anna anzustoßen, welche letztendlich darauf einging. Mit einem Ruck trank er das Tonschälchen leer. Überrascht sah ihm die Blondine dabei zu.

„Du willst es wirklich wissen, oder?“, fragte er nach einigen Sekunden der Stille. Sie nickte. Ein Seufzen folgte. Anna blickte auf den Schnaps in ihrer Hand und plötzlich überkam sie das Verlangen, einen Schluck zu nehmen.

„Du kennst doch bestimmt Luzifer, oder?“, begann Akira und Anna nickte erneut.

„Der Teufel.“, bestätigte sie, doch Akira schüttelte nur kurz den Kopf. Sein Blick war auf die fallenden, rosa Blütenblätter gerichtet, die im Licht das Mondes zu Boden tanzten.

„Luzifer war ein Engel. Er war der von Gott am meist geliebte Engel, um genau zu sein. Doch als Gott die Menschen schuf, wurde er vom Neid erfüllt. So sagen sich einige das zumindest.“, er goss die Schale wieder voll, führte sie an seinen Mund, verharrte doch für einige Sekunden in dieser Position und fuhr fort: „Ich denke, es war das Miasma. Wie du vielleicht weißt, sind Menschen simple Kreaturen. Wenn sie etwas wollen, nehmen sie es sich. Dadurch und durch andere Dinge natürlich entstehen die bösen Gefühle, die sie in sich tragen. Gier, Neid, Hass, Angst. Die Gier, von etwas noch mehr zu haben, als man schon hat. Der Neid, etwas zu haben, was ein anderer hat. Den Hass, wenn einem etwas gestohlen wird, was man mal hatte und die Angst, es wieder und wieder zu verlieren.“. Er trank einen Schluck und schien nach Worten zu finden. „Diese Gefühle schüren Miasma. Irgendwann wurde der Neid in Luzifer, der sonst die Aufmerksamkeit seines Vaters für sich alleine hatte, so groß, dass er begann, die Menschen zu hassen. Er hasste sie dafür, dass sie die Liebe von Gott bekamen. Durch seine Verunreinigung war er es nicht mehr wert, „Engel des Herrn“ genannt zu werden und wurde von Gott verstoßen.“. Anna nickte. Auch diese Geschichte war ihm bekannt. Doch Akira fuhr nach einem kurzen Blick auf sie fort: „Von da an beginnt meine Geschichte. Der Fall eines Engels ist lang. Er wird enormen Kräften freigesetzt. Es ist nicht überraschend, dass Luzifers Flügel bei seinem Fall Feuer fingen. Sie brannten und brannten, den ganzen Weg hinunter. Selbst, als er die Erdoberschicht durchschlug, brannten seine Federn weiter. Der Schmerz, die Qual und die Angst, nie wieder fliegen zu können, bohrten sich in seinen Kopf. Damals, in der Unterwelt, hatte er keinen einzigen zum Reden. Er war allein. Die Hölle gab es damals noch nicht. Die ganzen negativen Gefühle mischten sich langsam in seine Gedanken. Das Miasma dort war stark, es versickerte in seinen brennenden Flügeln. Und irgendwann, nach ein paar hundert Jahren, meinte Luzifer, Stimmen zu hören. Stimmen, die ihm zuflüsterten. Manchmal waren es Worte des Ansporns: Töte die Menschen. Töte deinen Gott. Manchmal waren es Worte der Feindseligkeit: Du bist kein Engel mehr. Du bist nicht mehr rein. Du bist eine Schande. Luzifer, der an den reinen Kern seiner Existenz festhielt, ließ sich Jahrzehnte lang nicht von diesem Geflüster beeinflussen. Doch seine Flügel brannten. Sie brannten und brannten, obwohl er längst nicht mehr fiel. Jeder Tag für ihn war eine neue Qual und jeden Tag musste er einsehen, dass er nie wieder zum Himmel empor steigen konnte. Und irgendwann gab er nach.“. Akira trank sein Glas erneut aus und füllte nach. Er lehnte sich nach hinten. Seine Hand lag auf dem Stoff von ihrem Kimono, eine Fingerspitze streichelte nachdenklich darüber. Anna musterte sein Gesicht ganz genau: Er schien so in seine Geschichte versunken zu sein, dass er es nicht schaffte, es zu verbergen: Seine Angst. Sein Zögern. Alles war klar und deutlich auf seinem Gesicht geschrieben.

„Je mehr Luzifer nach gab, desto mehr fraßen die Flammen ihn auf.“, fuhr er plötzlich fort. „Sie begannen, von seinem Fleisch zu zehren. Der Körper eines Engels ist hart und robust, es war nicht einfach für die Flammen, ihn zu verschlingen. Doch das wurde Luzifer zum Verhängnis: Der Schmerz machte ihn allmählich verrückt. Schließlich erschuf er die ersten Dämonen. Da er nicht mehr fähig war, zu fliegen, und durch die Flammen an seinem Platz gebunden war, sollten sie die Menschen quälen. Sie sollten sie töten, fressen und ihre Seelen in die Hölle reißen, damit sie auf ewig brennen würden, genau so wie sie.“. Erneut trat Pause ein. Anna hatte ihren Blick ebenfalls auf den Pfirsichbaum geheftet. Eine zaghafte, kleine Berührung an ihrer Hand sagte ihr, dass er ihre Nähe brauchte. Vorsichtig streichelte sein Zeigefinger über ihren. Er starrte ihre Hand für einige Sekunden lang an, ehe er fortfuhr: „Miasma kommt in allen Formen und Farben. Shikis, Dämonen, Dunkelfeen. Doch das erste Mal, dass es sich wirklich manifestiert hat, war damals. Der Schmerz löste so viel Schlechtes in dem Engel aus, dass er mit seinem Miasma die Umgebung verpestete. Niemand konnte ihm mehr nahe kommen. Das einzige, was stets bei ihm war, war das Feuer. Und das Feuer war hungrig. Es fraß und fraß; Federn, Fleisch, Miasma. Die Stimmen, die Luzifer hörte, wurden lauter und lauter, je stärker das Feuer wurde. Und Luzifer begann, sein Bewusstsein zu verlieren. Zuerst war es nur sporadisch, kurze Momente von Minuten. Irgendwann wurden es Tage. Dann Jahre. Schließlich wachte er gar nicht mehr auf. Und als das Feuer genug Macht von ihm absorbiert hatte, wurde der erste Feuerteufel geboren. Mein Vater.“, schloss er schließlich ab. Seine Hand entfernte sich von ihrer, um seine Schnappsschale anzuheben und etwas zu trinken. „Doch mein Vater war genau so verrückt, wie Luzifer. Er war immer noch hungrig. Er begann, Dämonen zu fressen, die in Ungnade gefallen waren. Menschen. Seelen. Seine Macht stieg exponentiell. Je mehr Miasma er in sich aufnahm, desto mehr neue Feuerteufel entstanden. Es dauerte nicht mehr lange, da gab es mehr von uns als von den Dämonen. Und man, gibt es davon viele.“. Erneut trank er. „Ich glaube, das war zu der Zeit des Mittelalters. Es gab viele Hexenverbrennungen, das hat wahrscheinlich dazu beigetragen. Aber mittlerweile… Jetzt, in der Neuzeit, wird es schwieriger für die Höllenbewohner. Menschen haben zwar nicht verlernt, wie man hasst und neidet, aber sie werden vorsichtiger im Umgang miteinander. Es ist nicht mehr leicht, Zwietracht zu sehen. Die Seelen, die in die Hölle kamen, wurden weniger. Vor allem gegen die 80ger hin. Menschen wollten Frieden. Die Kriege störten sie. Es war in diesen zehn bis zwanzig Jahren, dass mein Vater besonders hungrig wurde. Die Dämonen mieden die Nähe zu ihm, es gab keine neuen Seelen mehr. Es ist kaum noch Fleisch an Luzifers Körper. Was meinst du, hat er getan?“, fragte er sie schließlich. Seine Augen schimmerten in einem tiefen Gold, eine Farbe, die Anna nie so gesehen hatte. Wortlos starrte sie ihn an. „Er begann, seine eigenen zu fressen.“, antwortete er ihr schließlich und führte den Schnaps erneut an seinen Mund. Anna tat es ihm gleich. „Er hat hunderte verschlungen. Ich, einer seiner ersten, konnte ihn davon abhalten. Ich war nicht so schwach und wehrlos, wie die anderen. Sobald wir einen Körper haben, fliehen wir. Ich bin nicht der erste, der weg ist, und bestimmt auch nicht der letzte.“.

Erschlagende, dröhnende Stille trat ein. Akira sah einem Blütenblatt dabei zu, wie es gegen die klebrigen Fäden eines Spinnennetzes kämpfte. Annas Blick war auf ihn geheftet. Er war also ein Feuerteufel. Seine Erklärung war ganz anders als die, die sie im Buch gelesen hatte. Einleuchtender, dennoch unwirklich. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Satoshi hat mir gesagt...“, begann er auf einmal wieder und setzte das Getränk ab, „Dass er es hassen würde, wenn du dich für mich entscheiden würdest. Dass du mein erstes Opfer wärst, sobald ich deine Macht erlange. Und um ehrlich zu sein, kann ich ihm da nicht widersprechen. Wir Feuerteufel sind von sadistischer Natur. Wir ernähren uns von den Schmerzen anderer. An deinem 16. Geburtstag, als du Fieber und Schmerzen hattest, hab' ich dich geküsst, nur um dein Miasma aufzunehmen. Nicht deine Kraft, sondern deine Schmerzen, verstehst du? Seit ich hier oben bin, hab ich so viel gesehen, so viel erlebt. Ich wusste nicht, dass Menschen so ein fröhliches und erfülltes Leben führen können. Sport, Freunde, zur Schule gehen – jeder Tag war wie ein neues Abenteuer. Als mir dein Vater das erste Mal ein Foto von dir gezeigt hatte, dachte ich, dass ich dich niemals lieben könnte. Aber als ich gesehen habe, wie du da standst, inmitten der ganzen Weiber, die du verprügelt hattest...“, Akira schmunzelte kurz bei dem Gedanken. „Man, da war es einfach klar für mich. Ich konnte mich nicht einmal wehren. Ich wusste, dass du dich nie von mir unterkriegen lassen würdest. Du warst so stark und dein Blick war voller Arroganz, es war so lustig, dich so zu sehen. Du sahst aus, als würdest du für immer leben und dass Angst dir ein Fremdwort war.“. Erneut griff er zur Flasche und goss sich ein. „Ich glaube, das war das erste Mal, wo ich dich nicht nur für einen dummen, naiven Menschen gehalten habe. Als du mir dann von deinem Date mit Mirai erzählt hast, sahst du für einen Moment so aus, als würdest du nicht wissen, was du tun solltest. Das war das erste Mal, dass du besorgt aussahst. Irgendwie hat das mein Bild von dir beeinflusst. Ich weiß nicht, wie, aber in diesem Moment sahst du wieder so verführerisch zerbrechlich aus, dass das Feuer in mir dich fressen wollte. Und, ob du es glaubst oder nicht, über die Monate hinweg hab' ich all deine Seiten gesehen. Jedes Mal konnte ich erraten, was du denkst oder vor hattest, und jedes Mal hat es dich erschrocken. Es war so süß. Ich weiß nicht einmal mehr wann, aber irgendwann konnte ich nicht mehr aufhören, dich anzusehen. Als du mich dann angerufen hast in den Sommerferien, war das das erste Mal, dass du vor mir geweint hast. Und anstatt daran zu denken, dass du ein dummer, zerbrechlicher, naiver Mensch bist, dachte ich mir einfach nur, wie schön es wäre, dich wieder zu ärgern und lachen zu sehen. Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen nicht habe leiden sehen wollen.“. Seit einigen Sekunden schon schlug Annas Herz wie wild gegen ihre Brust. Bei den letzten Worten und der darauf folgenden Stille war es schwierig, es noch bei sich zu behalten. Leicht beeindruckt von dem Schwall an Informationen starrte sie auf ihre Knie. Ihre Wangen glühten. Die Trommeln der Musik schlugen zu ihrem Herzschlag. Es war ein wilder, aufregender Takt. „Als dann deine Mutter starb“, fuhr er leise fort und versetzte einen kleinen Stich in ihrem Herzen, „Hab' ich mir gesagt, dass ich dich nie wieder so sehen will. Ich will dich nie wieder leiden sehen, Anna. Und das ist das Schlimmste, was ich tun könnte. Denn auch, wenn ich dich so sehr für mich haben will, wenn ich alles von dir besitzen will; in mir schlummert immer noch der Wille meines Vaters, alles zu fressen, was mir zu nahe kommt. Ich weiß nicht, ob ich gut genug bin. Ich hab' Angst davor, wenn du mir deine Macht gibst, so zu enden wie er und dich mit mir zu reißen.“, schloss er ab. War das der Grund dafür gewesen, dass er sie ignoriert hatte? Anna musste zugeben – sie konnte ihn verstehen. Er traute es sich selbst nicht zu.

„Was denkst du?“, fragte er plötzlich. Erneut schlug ihr Herz schmerzhaft gegen ihre Brust. Er hatte seinen Blick vom Teich abgewandt und schaute sie an, musterte ihr Profil. Anna erwiderte den Blick kurz, ließ ihn dann jedoch sinken.

„Du denkst also, dir würde meine Macht nicht bekommen?“, ihre Stimme war wieder so leise und zerbrechlich, wie Akira es gewohnt war, wenn sie sich sorgte. Er musste lächeln.

„Ja.“, gab er zu und schaute resigniert zum Teich zurück.

„Denkst du wirklich, ich wäre schwach genug, mich von dir fressen zu lassen?“. Die Worte hallten in seinem Ohr wieder, als seien sie ein Lied, dass er nicht kannte. Er traute sich nicht, sie anzusehen. Er traute sich nicht, sie zu fragen, was sie meinte. Machte sie ihm Vorwürfe? Oder Hoffnungen?

„Ich habe dir gesagt, dass ich das entscheide.“, fügte sie nun hinzu und man hörte die Aufregung und Nervosität in ihrer Stimme. Akira konnte nicht anders: Er schaute zu ihr hin. Sie starrte immer noch auf ihre Knie, doch nun waren ihre Wangen leuchtend rosa und sie fummelte nervös an ihren Fingern. Er richtete sich auf.

„Sag' es nochmal.“, flüsterte sie leise. Langsam sackte ihre Haltung ein. Ihr Rücken krümmte sich ein bisschen unter ihrer Scham. Was wollte sie hören? Akiras Herz schlug einen dumpfen, bedrückenden Rhythmus an. Er beugte sich vor. Seine Hand suchte ihre Schulter, doch traute er sich nicht.

„Sag' es.“, wiederholte sich das junge Mädchen und schloss ihre Augen.

„Ich liebe dich.“. Die Worte flogen einfach aus seinem Mund. Sie waren unsicher, nervös. Anna versenkte ihr Gesicht in ihren Händen, holte tief Luft und seufzte sie laut aus. Fast erschreckend laut.

„Ich dich auch.“, flüsterte sie in einer hohen Stimme, die fast kaum wieder zu erkennen war. Langsam stand Akira auf und ließ sich von den erhöhten Holzplatten ins Gras sinken. Langsam ging er auf Anna zu, die ihre Beine noch über die Terrasse baumeln ließ. Sie versteckte sich vor ihm. Seine Hände suchten ihre, zerrten sie mit leichter Gewalt von ihrem Gesicht hinunter.

„Was hast du gesagt?“, fragte er fassungslos und starrte in die kristallblauen Augen. Sie sollte es noch einmal sagen. Er konnte diesen Tränen nicht glauben, die sich in ihren Wimpern verfingen.

„Ich liebe dich auch.“, murmelte sie erneut, fast schon schmollend. Der Rücken seines Zeigefingers fuhr über die glühende Wange und machte an ihren Wimpern Halt, ehe sie eine der kleinen Tränen abfing.

„Obwohl du weißt, was ich bin?“, fragte er nach. Sie nickte einfach. Es schien so einfach für sie zu sein, dass er sich fast lächerlich vor kam, sich überhaupt Sorgen gemacht zu haben. Er beugte sich vor, küsste die heiße Wange. Seine Hände ruhten auf ihren zitternden Knien. Es war nicht zu glauben. Er küsste sie erneut, um sicher zu gehen, dass sie wirklich da war. Ihre Lippen bebten. Ihre Hände suchten Halt an seinen Schultern, als sie sich vorbeugte und einen neuen Kuss wagte. Sofort fuhren seine Arme um sie herum und zogen den schmalen Körper an sich. Er küsste ihre Haare, ihre Wange, ihre Schulter, ihren Hals, alles, was in unmittelbarer Nähe war.

„Akira, ich leide gerade nicht.“, lachte sie kurz zu seiner Überraschung und er ließ sie los.

„Das ist mir egal.“, schnauzte er und konnte nicht umhin, sich für seinen plötzlichen Kuss-Ausbruch zu schämen. „Ich tue das nicht, weil du leidest. Ich tue es, weil ich dich liebe.“. Erneut lief Anna rot an, grinste aber verwegen.

„Du sagst das so oft. Ist dir das nicht peinlich?“, murmelte sie beschämt und löste ihren Blick von ihm.

„Ich sag' es noch so oft es geht. Den ganzen Tag. Das ganze nächste Jahr.“, grinste der Feuerteufel nun und kniff in die weiche, rosa Wange. Anna schmunzelte. Als er etwas aus seiner Tasche heraus zog, sah sie ihn wieder an.

„Was ist das?“, fragte sie überrascht, als er es ihr reichte.

„Dein Weihnachtsgeschenk. Ein weiteres Versprechen. Es hätte nicht viel gebracht, wenn du dich nicht für mich entschieden hättest, also konnte ich es dir nicht vorher geben.“, erklärte der Rotschopf und ließ sich erschöpft ins Gras fallen. Mit einem tiefen Seufzer holte er Luft und starrte in den sternenklaren Himmel. Erleichterung erfasste ihn wie die Flut. Er hörte, wie sie das Geschenkpapier löste.

„Du hast mich doch gewählt, oder?“, fragte er vorsichtshalber nach und erneut grinste Anna.

„Natürlich.“, erwiderte sie und öffnete das kleine Kästchen. Er beugte sich wieder vor, legte seinen Kopf auf ihre Beine und musterte ihre Augen. So schnell würde Anna wahrscheinlich nicht mehr ihre normale Farbe zurück erhalten.

„Du bist so kitschig...“, murmelte sie beschämt, nachdem sie den ersten Schock verarbeitet hatte. Akira konnte nicht anders, als zu grinsen. Kurz huschte ihr Blick über den roten Haarschopf, ehe sie das feine Metall aus der Schatulle zog und sich über ihren Ringfinger streifte.

„Es ist ein Versprechen.“, wiederholte sich Akira und Anna betrachtete den Ring an ihrem Finger. Er schimmerte in dem Gold seiner Augen und trug einen kleinen, weißen Stein in sich. Dann platzierte sie sie die Hand auf seinem Kopf und streichelte über die weichen, roten Haare.

„Ja.“.

Wenn ich ein normales Leben hätte

Das entfernte Geräusch von Trommeln, leise Musik, verblasste Gespräche und schallendes Lachen. Annas Blick war auf den Teich geheftet. Er schien so ruhig wie eh und je zu sein, als würde die Feier ihn nicht einen Funken stören. Wärme breitete sich auf ihrem Schoß aus und kroch langsam in ihre Brust. Das schwere Gefühl auf ihrem Herzen war weg, dennoch schlug es angenehm stark, als würde es pure Energie durch ihre Adern pumpen.

„Was hast du dir für das neue Jahr vorgenommen?“, lächelte Akira nachdenklich. Immer noch lagen seine Arme auf ihrem Schoß, während er Anna musterte. Ihre Hände streichelten durch das rote, sanfte Haar. Sie spielte mit einer Strähne. Für einen kurzen Moment musste sie überlegen.

„Ich will nach Hause zurück.“, antwortete sie ihm schließlich und sah in die goldenen Augen. „Ich will Kai und Mika finden. Und ich will überleben, schätze ich.“, fügte sie mit einem kleinen Grinsen hinzu und auch Akiras Lächeln wurde breiter. „Was hast du vor?“, fragte sie im Gegenzug, was er wohl nicht ganz erwartet hatte. Grübelnd wanderten seine Augen zum Himmel.

„Hmm, ich weiß nicht.“, gab er schließlich zu. „Mal sehen, wie sich die Dinge entwickeln.“. Stille trat ein, die nur von den Geräuschen einer entfernten Feier begleitet wurden. Schließlich beugte sich Anna vor und legte ihre Stirn auf seinen Kopf. Akira schloss für einige Sekunden die Augen. Seine Hand griff nach einer der goldenen Strähnen und führte sie an sein Gesicht, ehe er mit seinen Fingerrücken über ihre Wange streichelte.

„Wollen wir zurück?“, fragte er leise und die Blondine nickte.
 

Kurze Zeit später waren überall im Land leuchtend grelle Blumen am Himmel zu erkennen. Sie stiegen auf, zerplatzten in einer lauten Explosion und glühten für einige Sekunden in der Nacht, ehe sie in einem feinen Ascheregen zu Boden regneten. Er hasste diese Nächte. Sie waren grell, nahmen ihr die Dunkelheit, die Funktion. Satoshi wandte sich von dem hellen Spektakel ab und ging weiter die Straße hinunter. Er hatte es sofort gespürt. Sie hatte sich entschieden, ausgerechnet für ihn. Wütend knirschte der Shiki mit seinen Zähnen und stopfte seine Fäuste in den langen Mantel, den er zum Schutz vor dem Schnee und eisigem Wind trug. Er würde trotzdem alles für sie tun. Auch, wenn er ihre Entscheidung missbilligte, er war noch für etwas anderes hier, als um ihr Herz zu kämpfen. Er hatte sich sowieso nie besonders viel Hoffnungen gemacht. Es gab eine Sache, in der er besser war, als im Romantisch-Sein.

Seine Schritte führten ihn durch den kalten Schnee weitere Gassen entlang. Er hatte sich schon weit von Ren Ous Haus entfernt. Heute führte ihn sein Weg in eine alte Lagerhalle. Niemand schien es aufgefallen zu sein, doch wenn nachts die Sterne nicht schienen und der Mond eine Pause einlegte, waren es andere Gestalten, die um das Haus herum schlichen. Schattenmenschen. Die einzigartige Aura, die sie versprühten, war nicht etwas, was ein normaler Dämon, Gott oder Übermensch empfangen konnte. Sie hinterließen eine Spur des Nichts, wahrscheinlich war es gerade deshalb so einfach für Satoshi, ihre Fährte aufzunehmen: Überall, wo etwas zu spüren sein sollte und nichts war, war eine Fährte zu den Shikis. Heute war sie besonders stark. Es schien nur ein einzelner gewesen zu sein, doch er hielt sich nicht versteckt. Als müsste er sich nicht sorgen. Die Spur fing an dem großen Anwesen des Drachengottes an und führte Satoshi immer weiter. Eine Falle? Er musste lächeln bei dem Gedanken. Hier in der Nähe gab es nur einen weiteren Shiki – er hatte ihn oft beobachtet. Dieser naive Dummkopf hätte wohl kaum damit gerechnet, dass Satoshi im dunklen und verlassenen Haus auf ihn wartete. Die Frage, die sich ihm stellte, war jedoch, warum Jiro in dieser Nacht umher wanderte, anstatt an der Seite seiner Königin zu sein. War sie so gut beschützt, wie Anna es war?

„Lass dich nicht ablenken...“, dachte sich der großgewachsene Mann, als das Bild von Annas Lächeln in seine Gedanken überschwappte. Manchmal hasste er ihre Attraktivität. Der Schnee unter seinen Füßen lichtete sich. Im Schein des Feuerwerks entblößte sich rauer, grauer Boden, der sich vor der Lagerhalle breit machte. Sie war herunter gekommen, brüchig und wahrscheinlich lange nicht mehr im Gebrauch. Die rostige Tür wurde durch eine nur noch rostigere Kette verschlossen, die einfach aufzubrechen war. Mit einem unheimlich lauten Knarren öffnete sich das schwere Tor. Im Inneren der Halle war es stockfinster und kalt. Ein zerschlagenes Fenster an der Decke ließ die immer mal wieder aufflackernden Lichter hinein, ansonsten war die Halle schwarz. Es erinnerte Toshi beinahe an das kleine Zimmer, in dem Anna ihre Sommerabende verbracht hatte. Seine Schritte hallten auf dem kalten Boden wieder.

„Was machst du hier…?“, fragte eine zögerliche, leise Stimme, die aus dem Ende der Halle kam.

„Das selbe könnte ich dich fragen.“, entgegnete Satoshi grinsend. Er blieb stehen, doch man hörte immer noch Schritte. Schritte, die auf Annas Shiki zu kamen. Langsam erkannte man dunkelbraunes Haar, das auf die Lichtstrahlen des Fensters zugingen. Braune Augen starrten ihn an.

„Bist du hier um mich zu töten?“, Jiro klang nicht überrascht.

„Hast du vor, dich zu wehren?“, das Grinsen von Satoshi wurde breiter.

„Nein.“.

Sofort verlor sich das Lächeln, als er diese Antwort hörte. Jiro machte weitere Schritte auf den Shiki zu, ehe er unter dem Fenster stehen blieb und zu Boden schaute.

„Ich hasse es. Ich hasse Eve und was sie tut.“, murmelte der Junge bedrückt. „Du weißt nicht, wie das ist. Das einzige, was ich je gehofft habe, war Anna zu dienen. Und dann kam sie, hat die Ältesten gezwungen, ihr einen Shiki anzuvertrauen. Und da Anna Adam hatte – ich meine, was sollte ich tun? Ich war glücklich gebraucht zu werden. Ich war glücklich, jemandem dienen zu können. Doch sie hat mich verabscheut. Meine Schwäche. Ich bin nicht stark, weißt du? Selbst wenn ich mich wehren wollte, könnte ich es nicht. Und dann hat sie mir gesagt, ich solle zu Adam gehen. Sie wollte, dass er ihr Shiki werden würde. Jeden Tag haben wir ihn der Sonne ausgesetzt, damit er schwächer werden würde. Jede Nacht wurde er in ein dunkles Zimmer gesteckt, um von der nächsten Generation absorbiert werden würde. Jeden Morgen musste ich ihn fragen, ob er Eves Shiki werden würde. Jedes Mal hat er 'Nein' gesagt. Wie loyal muss ein Shiki seiner Königin gegenüber sein, dass er solche Qualen aushält?“. Satoshi wurde beim Anblick Jiros Tränen schlecht. Er kannte diese Geschichte schon. Die Schmerzen und Qualen, die Adam erleiden musste, hatte er auch absorbiert. Wie Lichtblitze knallten die Erinnerungen gegen Toshis Stirn. Genervt sah er zu Boden. Der Junge wollte wohl nicht aufhören, zu reden.

„Und dann war er plötzlich weg.“, schluckte Jiro. „Und sie gab mir die Schuld! Mir!“, schrie er aufgebracht. Sein Körper hüllte sich wieder in Dunkelheit. „Was sollte ich denn tun? Er konnte nicht einmal -“

„Du nervst.“, brummte Satoshi schließlich. Die Dunkelheit auf Jiros Haut verfestigte sich. „Ich kenn' die Geschichte schon. Ich kenne dein Gesicht.“, erklärte er, während er auf den wandelnden Schatten zu ging.

„Was?“, fragte dieser entsetzt. Verwirrung machte sich in Jiro breit. „Wieso? Wie?“.

„Oh. Adam ist bei mir.“, antwortete Satoshi grinsend. Er zog seinen Mantel und sein Hemd aus. Die Kälte störte den grauhaarigen Mann nicht. Er faltete seine Kleidung, legte sie an der Seite der Halle ab und ging weiter auf Jiro zu.

„Was hast du vor?“, seine Stimme klang, als würde er vor Angst zittern, dennoch war sie merkwürdig verzerrt. Die Dunkelheit in der Halle nahm zu. Langsam kroch sie über die zerbrochene Fensterscheibe.

„Du hast ihm Arme und Beine geraubt, ja?“, das Grinsen auf Satoshis Lippen wurde wieder breiter. Er sah zu, wie das letzte bisschen Haut von Satoshi mit Schwarz bedeckt wurde. Sein eigenes Miasma begann ihn aufzufressen. Wie erbärmlich musste ein Schattenmensch sein, um sich von der Dunkelheit verschlingen zu lassen? Die braunen Augen wurden grau. „Du hast ihm sogar die Gedärme raus gerissen. Ich finde nicht, dass du dich besonders zurück gehalten hast.“. Der Shiki keuchte, als er Satoshis Worte hörte.

„Sie hat mich gezwungen.“.

„Ich hasse Feiglinge, wie dich.“. Jiros Augen weiteten sich, als er sah, wie sich dicke, mit Dunkelheit geprägten Linien von Satoshis Schultern abhoben. Wie Schwerter richteten sie sich langsam gegen die Decke. Satoshis Haare wurden rabenschwarz. Seine Augen, die sonst kühl und grau aussahen, schienen von Leben erfüllt worden zu sein: ein strahlend tiefes Blau breitete sich wie Tinte in seinen Iren aus.

„Ich habe gesagt, dass ich mich nicht wehren werde...“, murmelte Jiro nun und ging wieder einige Schritte auf Satoshi zu. Er schien aufgeben zu wollen. Die blauen Augen leuchteten kurz unter einem fiesen, sadistischen Grinsen auf. Satoshi lachte ein leises, heiseres Lachen:

„Aber ich habe nicht gesagt, dass ich dich nicht leiden lassen werde.“.

„Wieso willst du ausgerechnet jetzt baden?“. Akiras Stimme hallte durch das kleine Bad. Die heiße Quelle stieß heftige Rauchschwaden aus. Über ihnen ergossen sich immer noch Feuerwerke in der klaren Nacht. Seufzend sank Mirai ins Wasser ein.

„Ich wollte mit dir reden.“, grinste der Affenkönig. Sein Gesicht war immer noch gerötet vom Alkohol. Hier schien die Feier weit entfernt zu sein, kaum hörte man noch die Geräusche der Gäste oder der Musik.

„Und was macht er hier?“, genervt zeigte Akira auf einen weißhaarigen Wolfsdämon, der bereits im Wasser saß und schlecht gelaunt einer der schwimmenden Holzschalen hinterher sah.

„Ähm...“, Mirai schaute kurz zu Shiro, der wirklich zu schmollen schien, „Wir wollen beide mit dir reden.“.

Seufzend ließ sich der Feuerteufel in das heiße Wasser sinken, legte seinen Kopf am Rand des Beckens ab und schloss die Augen.

„Was gibt’s ?“, fragte er missmutig. Schon griff Mirai nach eine der Sakeschalen, die ein Äffchen ihm gebracht hatte, und reichte sie Akira.

„Erst einmal: Herzlichen Glückwunsch.“. Billigend nahm Akira den Alkohol entgegen und prostete Mirai zu, ehe er den Alkohol in einem Zug leerte. Mirai beobachtete ihn dabei.

„Was hat sie dazu gesagt?“, er konnte die Neugierde kaum zurück halten.

„Sie hat's ziemlich cool aufgefasst.“, gab Akira widerwillig zu. Sein Blick ruhte auf Shiro.

„Siehst du.“, grinste der Affenkönig bestätigt in seiner Vermutung. „Dann brauchst du dir ja keine Sorgen zu machen.“. Akira seufzte. Natürlich machte er sich trotzdem Sorgen. Auch wenn Anna sich vielleicht für ihn entschieden hatte, bisher spürte er keine Veränderung.

„Er macht sich trotzdem Sorgen.“, schnauzte Shiro plötzlich in seiner dunklen, tiefen Stimme und ließ die anderen beiden Männer damit kurz erschaudern. Der Junge hatte wie immer den Nagel auf den Kopf getroffen.

„Was wollt ihr denn besprechen? Ich will zurück.“, brummte Akira ausweichend. Kurz trat Stille ein. Keiner der beiden wusste so recht, wie er anfangen sollte.

„Naja.“, begann Mirai schließlich und bediente sich nun ebenfalls am Sake. „Wir wollen wissen, wie es war.“.

„Wie was war?“.

„Ihre Macht zu empfangen. Wir haben nicht wirklich was gespürt.“.

Akira starrte die beiden an. Hätten sie etwas spüren sollen?

„Hat sich nichts verändert.“, gab er warheitsgemäß zu und erlangte somit Shiros Aufmerksamkeit.

„Was meinst du?“, fragte der Wolfsdämon argwöhnisch.

„Sie hat mir ihre Macht nicht gegeben.“. Erneut trat Stille ein. Tatsächlich schien Mirai überrascht, doch dann sah er nachdenklich auf seine Füße, die im Wasser ruhten.

„Vielleicht hat es doch mit ihrer Jungfräulichkeit zu tun.“, murmelte er mehr zu sich selbst, als zu Akira.

„Was sagst du da?“, fragte dieser dennoch genervt von der Aussage.

„Eigentlich haben wir nicht viel Zeit für dieses ganze Wischiwaschi, weißt du.“, entgegnete der Affenkönig nun und legte nachdenklich einen Finger an seine Lippen.

„Ich find's gut, dass Anna sich endlich entschieden hat -“

„Er ist sauer auf dich.“, unterbrach ihn Shiro kurz.

„- aber Eve hat sich schon vor einer langen Zeit entschieden. Und um ganz ehrlich zu sein, Anna gehört nicht wirklich dir, wenn du ihre Macht nicht bekommst.“, fuhr der Affenkönig unbeeindruckt von der kleinen Bemerkung fort. Akira setzte sich auf. Er verstand noch nicht ganz, worauf Mirai eigentlich hinaus wollte.

„Hat sie dir eigentlich ihr Geheimnis anvertraut?“, wollte er nun wissen. Wieso der plötzliche Themawechsel?

„Nein.“, erwiderte Akira leicht verwirrt. Shiro seufzte, doch Mirai musste lachen. Verwirrung machte sich in Akiras Kopf breit. Was wollten die beiden von ihm?

„Wenn ihr nur hier seid, um mich zu nerven, geh' ich wieder.“, murrte er leicht verärgert und stand auf.

„Akira.“, es war das erste Mal, dass Shiro ihn mit seinem Namen ansprach. Sofort blieb der junge Rotschopf stehen. „Ich find es auch gut, dass Anna dich ausgewählt hat. Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, ob du der Aufgabe gewachsen bist.“. Der Feuerteufel drehte sich wieder um und setzte sich hin. Mirai seufzte. Er konnte Shiros direkte Art im Moment nicht verteidigen, dennoch hatte der Wolfsdämon damit Recht.

„Was Shiro damit sagen will, ist, dass du vielleicht unter ihrer Macht zusammen brechen könntest.“. Ein ungläubiges Lächeln setzte sich in Akiras Gesicht und verharrte dort für einige Sekunden.

„Tatsächlich hat uns Iori erzählt, dass Eve ihn einmal geküsst hat.“, fuhr der Affenkönig fort und wischte sich die hitzebedingten Schweißperlen von der Stirn. „Es hat ihn fast sein Leben gekostet.“.

„Ich habe Anna schon öfters geküsst. Es ist nichts passiert.“, entgegnete Akira sofort steif. Shiro versank im Wasser.

„Ich habe sie auch geküsst, weißt du.“, brummte der Wolfsdämon nach einigen Sekunden. „Es war erschreckend.“.

„Was meinst du damit?“, fauchte Akira leise.

„Es war wie ein kleiner Herzinfarkt.“, erklärte sich der Weißhaarige.

„Nein, ich meine, wieso hast du sie ge-“, doch Mirai unterbrach Akira:

„Was wir damit sagen wollen: Es ist gut, dass sie sich für dich entschieden hat, weil du ihre Küsse ab kannst. Andererseits, das wissen wir von Toki und Adams Tagebuch, steigt ihre Kraft exponentiell zu jedem Geburtstag. Das heißt, wenn sie 17 wird, könnte es sein, dass du die Gewalt ihrer Kraft nicht mehr so gut verträgst.“. Akira starrte Mirai an.

„Was willst du mir damit sagen?“. Er konnte nicht anders, als aufgebracht zu klingen. Es war schwierig zu verstehen, worauf Mirai und Shiro nun eigentlich hinaus wollten. Mirai hielt sich kurz mit seinen Worten zurück, ehe er sie aussprach:

„Wenn wir ihre Kräfte richtig nutzen wollen, sollten wir jemanden haben, der sie kontrollieren kann. Wenn Anna wieder ohnmächtig wird, sobald wir in einem Kampf sind, verlieren wir wahrscheinlich gegen Eve. Aber wenn du sie kontrollieren kannst -“

„Sie kontrollieren?“, wiederholte Akira fassungslos.

„Wenn du sie kontrollieren kannst, können wir gewinnen.“, beendete Mirai seinen Satz ruhig und goss sich Sake nach. Akira starrte ihn an. Das war einmal sein bester Freund gewesen.

„Siehst du es genau so, Shiro?“, fragte Akira den Wolfsdämon leise. Dieser zögerte kurz, nickte dann aber.

„Ich kann es nicht glauben.“. Erschöpft ließ sich Akira wieder im Wasser sinken.

„Wir denken nicht, dass sie ein Objekt zur Macht ist, wenn es das ist, was du dich gerade fragst.“, erklärte Mirai, doch es war genau das, was Akira gerade dachte. Enttäuschung machte sich in ihm breit – vor allem von Shiro hatte er so etwas nicht gedacht. Seit wann musste man Anna kontrollieren?

„Ihr kennt sie nicht. Sie ist nicht so schwach.“, schnauzte der Feuerteufel leise und nahm ein weiteres Glas Sake entgegen.

„Es scheint mir, als würdest DU sie nicht richtig kennen.“, erwiderte Shiro leise, der nun sichtlich wütend war. „Sie ist viel schwächer, als du denkst.“. Wut flammte in Akira auf. „Du weißt nicht, wie oft sie geweint hat.“, fuhr Shiro fort, „Sie kann das nicht. Sie kann nicht noch mehr Menschen verlieren. Und wenn es soweit kommt und sie zerbricht, haben wir nichts mehr. Dann sterben alle von uns. Denkst du wirklich, sie will das? Sie kann ihre Kräfte nicht kontrollieren, sie kann sie nicht gezielt einsetzen, egal wie lange sie mit Liam trainiert. Wenn es hart auf hart kommt und sie einknickt, war's das für uns.“. Nachdem Shiro seine kleine Rede beendet hatte, musste Akira sofort an Dei denken. Er biss sich genervt auf die Unterlippe.

„Verstehst du?“, fragte Mirai angespannt nach. „Eve hat jemanden, der ihre Kräfte kontrolliert. Sie wird nicht von ihrer Macht erdrückt und schafft es deshalb, sie so gut einzusetzen. Aber auch wenn Anna ihre Macht abgegeben hat, hat sie immer noch zu viel. Wenn du mich fragst, kam das Training für sie viel zu spät. Wir sind hier deutlich im Nachteil, was Kraft und Erfahrung angeht.“. Akiras Blick wanderte zu Mirai. Was würde Anna wohl dazu sagen, wenn sie wüsste, was die beiden hier von sich gaben?

„Und deswegen sind wir hier. Wir können nicht zulassen, dass du heute verschwitzt und dreckig zu Anna ins Bett gehst.“, grinste der Affenkönig und Akira seufzte.

„Gut.“, antwortete er resigniert und nahm einen der Waschlappen entgegen, die Mirai ihm reichte.

„Okay.“, erwiderte dieser. „Dreh' dich um.“.

Der raue Stoff des Lappens begann über Akiras Rücken zu reiben. Shiro war heran getreten und begann ebenfalls, den Feuerteufel zu waschen. Es war fast wie ein Ritual. Nachdenklich bettete Akira seinen Kopf auf seinen Armen am Rand des Beckens und ließ es über sich ergehen.

„Seit wann hast du da ein Muttermal?“, fragte Mirai plötzlich verwundert. Sein Finger drückte sich unter seinen linken Schulterflügel.

„Keine Ahnung.“, entgegnete Akira.

„Das ist kein Muttermal.“, brummte Shiro genervt. „Wann hat sie dir das gegeben?“.

„Was gegeben?“. Stille trat ein. Akira drehte seinen Kopf nach hinten und sah zwei nachdenkliche Gesichter.

„Ich glaub', wir sind hier fertig. Wir schicken gleich Anna zu dir.“.

Genervt und müde ließ Akira sich in sein Bett fallen. Er starrte an die Decke. Langsam verlagerte sich die Feier von draußen ins Innere des Hauses, doch sämtliche gute Laune war wie verflogen. War es wirklich notwendig, dass er von den zwei belästigt wurde, sobald sie sich für ihn entschieden hatte? Konnte er nicht diese eine Nacht nicht einfach glücklich sein? Natürlich hatte er schon oft darüber nachgedacht, wie das erste Mal mit Anna aussehen sollte. Besonders romantisch? Sie würde lachen und ihn wieder „kitschig“ nennen. Spontan? Vielleicht hätte sie dann zu viel Angst und wäre zu nervös. Wahrscheinlich war die normale Herangehensweise am besten. Langsam vortasten, testen, wie kalt das Wasser ist, anstatt sie einfach rein zu werfen. Aber was Mirai und Shiro wollten, konnte Akira nicht gut heißen. Das war das schlimmste, was er ihr antun konnte – sich ihr aufzwängen. Er wusste ganz genau: Was Anna im Moment wollte, war ein normales Leben zu führen. Der Gedanke bereitete ihm Bauchschmerzen. Murrend drehte sich der Rothaarige auf die Seite und schloss die Augen. Der Geruch von Kräutern und Ölen klebte immer noch an seine Haut.

„Hey.“, sagte eine sanfte Stimme. Für eine Sekunde hatte sich die Tür geöffnet und einen Spalt Licht ins Zimmer gelassen, doch schnell verflog die Helligkeit wieder, als sich die Tür schloss. Man hörte, wie Stoff aneinander rieb. Eine Schleife löste sich.

„Schläfst du?“, fragte Anna.

„Ne.“, antwortete Akira und drehte sich auf die andere Seite, um Anna anzusehen. Sie wickelte gerade ihren Kimono ab. Sie grinste kurz beschämt, als sie sah, wie er sie beobachtete.

„Guck' weg, du Spanner.“, lachte sie.

„Hast du getrunken?“.

„Ja. Aber ich spüre nicht wirklich was.“.

Akira setzte sich auf. Seine Hände ruhten auf dem Bett.

„Kann ich mir ein Shirt von dir leihen?“, fragte die Blondine nun abwesend, begann aber schon in seiner Tasche nach Klamotten zu kramen. Sie fand eins der schwarzen und drehte Akira den Rücken zu. Die letzte Schicht ihres Kimonos glitt von der weichen, blassen Haut. Ein großes, schwarzes Tattoo entblößte sich vor ihm. Ein schwarzer, gezackter Kreis bildete seinen Mittelpunkt. Feine Linien gingen von ihm aus und wanderten über ihre Schultern die Oberarme entlang. Weitere Kreise zogen sich um die Mitte des Mals und erinnerten an kleine Zahnräder. Hier und da gab es Formen, die wie Blumen aussahen. Es war wieder gewachsen. Akira hätte es gerne noch weiter inspiziert, doch schon zog sich die Königin sein Shirt über. Dann begann sie, ihre Frisur zu lösen.

„Was ist eigentlich mit Mirai los? Er meinte, ich soll ab heute bei dir schlafen.“.

„Wir schlafen sowieso fast immer zusammen.“, erwiderte Akira gedankenversunken und stützte sein Gesicht auf seiner Hand ab.

„Schätze schon.“, gab die Blondine kurz lachend zu. Die letzte Spange löste sich aus ihren Haaren. Kurz kämmte sie mit ihren Fingern durch die langen, blonden Strähnen, ehe sie sich umdrehte und auf das Bett zu ging. Im Gegensatz zu sonst trug sie heute keine Jogginghose. Sie trug auch keinen BH. Als sie sich auf die Matratze kniete flatterte das Shirt kurz, es war ihr viel zu groß. Es ließ einen Blick in ihren Ausschnitt zu. Sie legte sich hin – wie immer auf die Seite, mit dem Rücken zur Tür. Einer ihrer Hände rutschte unter das Kopfkissen, ehe sie mit der anderen den gähnenden Mund verdeckte.

„Alles okay?“, fragte sie schließlich.

„Ja.“, antwortete er kurz und legte sich ebenfalls wieder hin. Ihre Hand legte sich auf seine Brust. Sofort erwiderte er ihre Berührung, indem sie die seine auf ihre platzierte. Sein Finger berührte den feinen, goldenen Ring. Müde schloss Akira die Augen.

„Du solltest schlafen. Du hast viel getrunken heute.“, murmelte Anna müde und schloss die Augen. „Warst du noch mal baden?“, fragte sie dann leicht überrascht und Akira musste schmunzeln.

„Männergespräche im Bad, kennst du das nicht?“, fragte er grinsend, doch Anna schüttelte nur den Kopf. Sie hielt ihre Augen geschlossen.

„Fandest du es gut?“, fragte Akira leise.

„Es war ein toller Tag.“, entgegnete Anna sofort und ein kleines Lächeln schaffte es auf ihre Lippen. Akira drückte die kleine Hand, die seine Brust streichelte, und löste seinen Blick wieder von ihr.

„Was ist eigentlich dein Geheimnis?“.

„Hm?“, Anna schien kurz vor dem Einschlafen zu sein.

„Du hast gesagt, du würdest mir etwas verraten, wenn ich dir meine Geschichte erzähle.“.

„Oh.“. Die Hand hörte auf, ihn zu streicheln. Sie entfernte sich von seinem Körper, als Anna sich aufsetzte. „Dreh' dich um.“, lächelte sie müde. Akira legte sich auf seinen Bauch. Er spürte, wie sie ihm sein Shirt auszog und ließ es zu.

„Weißt du noch, als ich dir gesagt habe, dass es der letzte Kuss sei?“, fragte sie leise und ihr Finger wanderte über sein Rückgrat.

„Ja.“. In diesem Moment hatte sein Herz sich schmerzhaft verkrampft. Wie hätte er das vergessen können? Der Finger blieb an der Stelle stehen, wo Mirai heute ein Muttermal ausfindig gemacht hat.

„Um ehrlich zu sein, wusste ich es da schon.“, erklärte Anna dann und ihr Finger tippte ein paar Mal auf dem schwarzen Punkt herum. „Deswegen hab' ich dich als meins markiert.“. Akiras Gesicht drehte sich im Kopfkissen, damit er Anna ansehen konnte.

„Ehrlich?“, fragte er leicht überrascht. Anna grinste.

„Jup.“, antwortete sie kurz. „Wahrscheinlich wächst es noch. Aber das ist dein Tattoo.“, lachte sie neckisch und legte sich wieder hin. Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Strahlend blaue Augen sahen ihn an, musterten ihn. Er lächelte.

„Darf ich mein Shirt wieder anziehen?“, fragte er leise.

„Ja, na klar.“, entgegnete das Mädchen belustigt und legte sich auf ihren Rücken, um sich zu strecken.

„Danke.“, entgegnete Akira grinsend und setzte sich auf. Er zog die Decke von Annas Bauch zurück und kniete sich über sie. Seine Hände umfassten das Shirt, das sie trug, und zog es ihr über den Kopf.

„Hey, was machst du da?“, plötzlich war die Blondine wieder hellwach. Der Stoff rollte sich unter ihren Handgelenken zusammen, dort, wo er es festhielt.

„Ich zieh' mir mein Shirt wieder an?“, entgegnete Akira gespielt naiv und betrachtete Annas Bauchnabel.

„Ich dachte, dein eigenes?!“, sie war aufgebracht. Er konnte ihre Scham aus ihrer Stimme hören.

„Das ist doch mein eigenes.“. Er beugte sich zu ihrem Bauch hinunter und küsste sie oberhalb ihres Bauchnabels. Seine Lippen wanderten über die zarte, warme Haut. Sie bekam eine Gänsehaut, je höher er ging.

„Hör' auf.“, schnauzte sie beschämt, versuchte, ihre Arme aus seinem Griff zu lösen. Ihre Brüste bebten bei den Versuchen. Jetzt fiel ihm Akira erst auf, dass es das erste Mal war, dass er ihre Brust so deutlich erkennen konnte.

„Noch nicht.“, lächelte der kleine Sadist. Seine Küsse führten ihn zu ihren Brüsten. Seine Hand schaffte es, beide ihrer Handgelenke im Griff zu halten, damit die andere Zeit für andere Aktivitäten hatte. Seine Zunge fuhr über die feine Brustwarze, die sofort erregt wurde, während seine freie Hand nun die andere streichelte. Ihre Brüste waren weich und nachgiebig, passten wunderbar in die Hand. Sofort war auch der zweite Nippel erregt. Anna spürte, wie seine Gier stärker wurde. Die leichten Bewegungen mit seiner Zunge hörten auf, seine Lippen schlossen sich um ihren Nippel und saugten daran, während seine Zähne vorsichtig hinein bissen. Sofort spannte sich ihr ganzer Körper an. Die Versuche, sich gegen seinen Griff zu wehren, hörten auf. Stattdessen winkelte sie ihre Knie an, damit er sich nicht komplett über sie legen konnte. Sein Mund löste sich von ihrer Brust, wanderte über ihr Schlüsselbein zum Hals. Er hörte nicht auf. Als seine Lippen ihren Hals berührten spürte Anna, wie ihr Herz für eine Sekunde aussetzte. Er leckte an ihrer Haut, küsste die erregten Stellen ihres Halses, biss zärtlich hinein. Als er daran saugte, musste sie keuchen. Seine Hand hatte sie schon längst los gelassen. Sehnsüchtig suchten ihre Hände Halt an seinem Rücken, streichelten über die warme Haut. Seine Hände ruhten an ihren Seiten, streichelten sie auf und ab. Ab und zu fuhren sie über ihre Brüste, um mit ihren Nippeln zu spielen. Sein Mund löste sich nun von ihrem Hals, wanderte über ihre Wange zu ihrem Mund. Ihre Hände spürten den noch vom Wasser feuchten Nacken und vergruben sich in den roten Haaren, als er mit seiner Zunge ihre Lippen öffnete und sie zum Küssen einlud. Ihre Beine hatten nicht mehr die Kraft, seinen Körper von sich zu halten. Er kniete über ihr. Sie konnte spüren, wie viel Hitze er ausstrahlte. Annas Hände rutschten von seinem Nacken zu seinen Schultern, über seine Brust. Sie wollten wissen, wie er sich anfühlte. Die Küsse wurden zärtlicher, eindringlicher. Erneut spürte sie, wie seine Finger an einer ihrer Brustwarzen spielten, sie zwischen sich zusammen kniffen und wieder befreiten. Dann legte die Hand sich hin und ruhte auf ihrer rechten Brust. Die Küsse hörten auf.

„Du stöhnst süß.“, hörte sie Akiras ruhige Stimme sagen und sie öffnete die Augen. Er saß auf ihrem Schoß und lächelte.

„Du ...“, keuchte sie entsetzt.

„Ich?“, fragte er grinsend. Sofort wurde Anna rot. „Ich wusste nicht, dass du gleich so weit gehen willst...“, ein sadistisches, fieses Lächeln umspielte seine Lippen, als er auf ihre Hände zeigten. Anna folgte dem Fingerzeig und musste zu ihrem Entsetzen feststellen, dass ihre Hände auf seinem Bauch ruhten – kurz oberhalb seiner Hose. Fauchend zog sie ihre Hände zurück und bedeckte ihre Brüste, die immer noch vor Erregung kitzelten. Akiras Grinsen wurde noch etwas breiter.

„Scheint dir ja gefallen zu haben.“, schmunzelte er böse und beugte sich wieder zu seiner Königin vor, um sie zu küssen, doch beschämt und wütend über seine Erniedrigungen drückte sie ihn von sich weg.

„Nein.“, schnauzte sie schmollend und drehte ihr Gesicht zur Seite, damit er sie nicht küssen konnte.

„Sei nicht so.“, lachte Akira und seine Hände führen über ihre Wange.

„Du bist scheiße.“, erwiderte Anna nur und eine ihrer Hände schaffte es, nach der Bettdecke zu greifen und sich damit zu bedecken. Akira musste lachen. Grinsend legte er sich wieder neben ihr, legte einen Arm um sie und zog sie an seine Brust. Stille trat ein. Anna spürte, wie seine Finger durch ihren Pony kämmten, ihn zur Seite wischten, damit er die Haut darunter spüren konnte.

„Willst du nicht weiter machen?“, fragte sie ihn schließlich leise. Beide überraschte diese Frage – Anna hätte nicht gedacht, dass sie jemals so etwas sagen würde, und Akira wäre nie auf die Idee gekommen, dass Anna ihn tatsächlich dazu einlud.

„Du hast doch gesagt, dass ich aufhören soll.“.

„Ja.“, gab Anna schließlich gequält zu. Der Arm, der unter Anna um ihren Körper geschlungen war, machte kleine Bewegungen, damit seine Hand ihren Rücken streicheln konnte.

„Na also.“, sagte Akira schließlich und es klang wie ein Schlusswort. Anna atmete tief aus. Sie wusste nicht, ob es Erleichterung oder Enttäuschung war, dass er ihr Wort tatsächlich ernst genommen hatte. „So lange du hier bist, ist mir alles andere egal.“. Seine Worte überraschten sie. Verwundert löste sie ihren Blick von seiner Brust, um ihm in die Augen zu sehen. Die Hand, die ihre Stirn und Wange gestreichelt hatte, löste sich. Goldene Augen erwiderten ihren Blick.

„Ist was passiert?“, fragte die Königin leise. Er sah, wie sich das Blau in ihren Augen veränderte, dunkler wurde. Akira wandte den Blick von Anna ab.

„Die anderen wollen, dass ich mit dir schlafe.“, erklärte er kurz und knapp, bevor sie seine Gedanken lesen würde.

„Welche anderen?“, fragte sie sofort, doch Akira schloss genervt die Augen.

„Ist das wichtig?“, erwiderte er desinteressiert. „Wir legen selbst fest, wann es so weit ist. Ich lass' das nicht von den anderen bestimmen.“. Schweigen folgte. Es war die bekannte Ruhe in Akiras Stimme, die Anna jedes Mal wieder auffiel.

„Dir ist wirklich nichts zu peinlich oder?“, Anna klang entsetzt. „Wieso sagst du immer so kitschiges Zeug?“, lachte sie schließlich und wischte sich mit ihrem Zeigefinger über den Augenwinkel.

„Sei still.“, murrte Akira beschämt und seine Hand huschte auf den immer noch grinsenden Mund. Anna hörte auf zu lachen, ihre Hand zog seine von ihrem Mund und hielt sie fest. Ihre Augen betrachteten die langen Finger eingehend.

„Ich schätze, sie haben Angst, dass ich nicht mehr viel Zeit habe. Vor allem nach dem letzten Fieber.“, es klang fast, als würde sie Mirai und Shiro verteidigen. Akiras Mundwinkel zogen sich nach unten. Die wirklich „peinlichen“ und „kitschigen“ Sachen, wie Anna sie nannte, konnte er nicht aussprechen. Zum Beispiel, dass ihm ihre Macht mittlerweile egal war. Dass er nicht mit ihr schlafen wollte, um die „Sache abzuhaken“ und ihre Kräfte zu erlangen. Sein Arm zog sich zu, seine Hand drückte gegen den schmalen Rücken und sofort spürte er, wie ihre Brüste seine Haut berührten.

„Was hättest du getan, wenn du ein normales Leben gehabt hättest?“, fragte der Feuerteufel schließlich. „Wenn du keine Kraft hättest und dir keine Verrückten zum Heiraten vorgesetzt würden?“. Sofort spürte er, wie Annas Blick auf sein Gesicht gerichtet war.

„Oh man.“, seufzte sie plötzlich, „Wie oft ich schon darüber nach gedacht habe.“. Akiras Augen starrten die Decke an. „Ich glaube, ich hätte keine Gang gegründet. Ich glaube sogar, dass ich Freunde gehabt hätte, die sich nicht nur mit Gewalt auskennen. Ich glaube auch, dass ich mich öfter mit Adam gestritten hätte… Obwohl, ich glaube, Adam hätte es dann nicht einmal gegeben.“, fügte sie nachdenklich hinzu. Ihr Zeigefinger lag auf ihren Lippen und tippte nachdenklich dagegen. „Irgendwann hätte ich wohl studiert und wäre vielleicht eine Karrierefrau geworden, damit ich die Firma meines Vaters übernehmen könnte. Und bei einer Affäre wäre ich plötzlich schwanger geworden und hätte ein Kind am Hals.“, sie begann zu prusten und auch Akira musste beim letzten Satz anfangen zu lachen. Der schmale Körper drehte sich in seinem Arm. Sie stützte sich auf seiner Brust ab, damit sie ihren Kopf heben konnte. Ihre Brüste streichelten über seinen Brustkorb. „Ich schätze, so ist es besser. Ohne dieses Schicksal hätte ich nie die ganzen Leute kennen gelernt, die ich jetzt so liebe, weißt du.“, flüsterte sie ihm leise zu und bevor er antworten konnte legten sich zarte Lippen auf seine. Die blonden Strähnen streichelten über seine Haut, kitzelten sie. Der Kuss dauerte einige Sekunden und jede einzelne von ihnen ließ Akiras Herz höher schlagen. Als sie sich von ihm löste und ihm in die Augen sah war sie schöner als je zuvor. Für ihn war es klar: Wenn sie nach Hause zurück kehren würde, würde er mitkommen. Wenn sie Probleme hatte, würde er da sein um ihr zu helfen. Wenn sie weinen würde, würde er ihre Tränen trocknen. Und wenn sie starb, würde er es auch tun. Seine Hand glitt über ihre Wange.

„Vielleicht sollte ich doch jetzt schon mit dir schlafen.“, lächelte der Teufel ruhig und Anna wurde wieder rot.

„Nein.“, schnauzte sie sofort und legte sich wieder in seine Arme, ehe sie die Augen schloss. Akira musste lachen.

Keine Ruhe

„Was hat das zu bedeuten?!“, wütend schlug Anna ein Blatt Papier auf den braunen Eichentisch. Sie hatte sich weder Mantel noch Schuhe ausgezogen. Ren blickte zu den feuchten Fußstapfen, die sie auf dem Parkett hinterließ. Ein keuchender, mit Taschen bepackter Akira stand hinter ihr und holte tief Luft, ehe er Ren zunickte. Rens Blick wanderte wieder zu Anna.

„Bist ja früher wieder zurück, als gedacht.“, antwortete er gelassen und legte die Dokumente aus der Hand, die er gerade studiert hatte. Er drehte sich in seinem Bürostuhl aus Leder herum, stand auf und ging um den Tisch seines Arbeitszimmer, um Anna das Blatt Papier abzunehmen. Elegant lehnte er an seinem Tisch. Anscheinend musste die Notiz schon den ersten oder zweite Wutanfall von ihr mitmachen – sie war zerknüttelt und ramponiert. Wortlos flogen seine Augen über die einzelnen Zeilen. Je mehr er las, desto mehr wich die Gelassenheit aus seinem Gesicht.

„Ren, was zum Teufel hast du mit meinem Haus gemacht?“, fauchte die Blondine leise.

„Ich war das nicht.“, gab dieser verblüfft zu und lief wieder zurück zu seinem Stuhl. „Das ist eine Erklärung der Zwangsräumung. Anscheinend ist dein Vater daran Schuld.“.

„Wieso steht dann DEIN Name auf dem Papier?“, wollte sie sofort wissen. Ren sah sie nachdenklich an.

„Du solltest dich wirklich mehr um deinen Vater kümmern.“, seufzte er schließlich und lehnte sich zurück. „Um ehrlich zu sein, wollte ich dir es schon seit längerem erzählen, aber der Zeitpunkt schien nie ganz geeignet dafür. Der Firma deines Vaters geht es schlecht. Die Aktien verloren immer mehr an Wert. Um einer Insolvenz aus dem Weg zu gehen, hat er die Aktien der Firma verkauft. Anscheinend wurde der Großteil von uns gekauft. Ich muss noch mal mit meinem Vater darüber sprechen, ich weiß nichts genaues, aber...“, doch Anna holte tief zischend Luft. Sofort stoppte Ren. Er musterte die Königin. Mit glühenden Augen starrte die Blondine ihn an.

„Hör zu, Anna.“, der Drachengott stand wieder auf, stützte seine Hände auf dem Tisch ab und beugte sich vor. „Ich war das nicht. Ich werde heraus finden, was passiert ist, aber ich verspreche dir: Ich habe NICHTS mit den Machenschaften meines Vaters zu tun, verstanden? Also sieh' mich nicht so an, als würdest du mich gleich umbringen wollen.“, knirschte er irritiert. Anna biss sich auf die Unterlippe. Schließlich schnaufte sie ihre angestaute Wut aus.

„Du kümmerst dich darum?“, fragte sie kleinlaut.

„Ja.“

„Kann ich solange wieder hier wohnen?“.

„Natürlich.“.

Sie wandte sich ab und griff nach ihrer Tasche, die Akira trug, um aus Rens Arbeitszimmer zu verschwinden. Akira sah ihr seufzend hinterher, ehe er seine Tasche fallen ließ und sich Ren gegenüber setzte.

„Was ist los?“, fragte er ruhig.

„Mein Vater scheint wohl ihre Firma übernommen zu haben.“, erklärte Ren ruhig und blätterte in einem schwarzen Adressbuch. „Ihr Haus gehört gewissermaßen uns.“. Erschöpft fuhr sich Akira mit einer Hand über die Stirn. Er musterte weiterhin Ren.

„Meinst du, du kriegst das hin?“, fragte er schließlich, als Ren eine Nummer zu wählen begann.

„Ja.“, antwortete er gelassen, „Aber es wird nicht ohne Gegenleistung sein.“.

„Reg' dich ab, er hat gesagt, dass er sich darum kümmert.“. Akira sah Anna dabei zu, wie sie wütend durch das veilchenblaue Zimmer stapfte. Sie hatte geschafft, sich die Schuhe und den Mantel auszuziehen, doch die Wut in ihr war immer noch stark. Es war kaum zwei Stunden her, dass sie wieder nach Hause gekommen waren. Es war der vierte Januar. Vor zwei Tagen hatten sie Mirais Wald verlassen und hier ihre Sachen gepackt, um im Hause Kurosawa wieder einzuziehen. Doch dann kam sowas.

„Ich kann meinen Vater nicht erreichen.“, schnauzte Anna wütend und schmiss ihr Handy ins Bett. „Wieso meldet sich dieser Bastard nie?“.

„Ich hab' gesagt, du sollst dich abregen.“, Akira zog Anna an ihrem Arm zu sich auf den Schoß. Er saß auf ihrem Bett und schien genug von ihrer schlechten Laune zu haben. „Selbst wenn er nicht ran geht – Ren kümmert sich darum. Du solltest ein bisschen mehr Vertrauen in deine Freunde haben.“.

„Das habe ich auch.“, entgegnete die Blondine wütend, „Aber mein Vater ist eine andere Geschichte. Er hat sich nie einen Dreck um mich oder Mama gekümmert, das einzige wozu er gut war, war die Rechnungen zu bezahlen. Und jetzt schafft er selbst das nicht.“. Stille trat ein. Immer noch hibbelig trappelte Anna mit den Zehenspitzen auf dem Boden herum, während sie auf Akiras Schoß saß. Ihre Arme hatten sich um seine Schultern gewickelt, um sich Halt zu geben. Nachdenklich starrte sie auf ihren Nachttisch.

„Ich dachte, ich könnte zurück...“, seufzte sie schließlich enttäuscht und stand auf.

„Wir haben Zeit.“, beruhigte Akira sie.

„Ich dachte du würdest dich freuen, endlich mit mir alleine zu sein?“, entgegnete Anna leicht lächelnd.

„Wenn du denkst, dass wir mit Shiro und Hikari alleine sein könnten, ja, klar.“, gab Akira entspannt zurück und ließ sich ins Bett fallen. „Es gibt echt schlimmeres, als hier zu wohnen.“.

„Schätze schon.“.

„Zum Beispiel, dass die Schule nächste Woche wieder anfängt.“, grinste der Feuerteufel kurz und Anna stöhnte genervt.

„Ich geh' duschen.“, murrte sie und rieb sich erschöpft die Stirn. Schule war eine Sache, an die sie schon lange nicht mehr gedacht hatte. „Bitte komm' nackt wieder zurück.“.

„Niemals.“.

Das Wochenende war voller peinlicher Erinnerungen daran, wie Annas Auszug missglückt war. Mirai und Iori erinnerten Anna nur zu gerne daran, wie sie umsonst eine Abschiedsfeier für sie veranstaltet hatten. Sho konnte sich kaum von Anna lösen.

„Vielleicht ist es besser so.“, erklärte Satoshi ihr. Jedes Mal, wenn Anna ihn ansah, konnte sich nicht umhin als zu denken, dass er sich während ihres kleinen Urlaubs über Silvester verändert hatte. „Du bist hier sicherer, als Zuhause.“.

„Darum geht es nicht, Toshi.“, seufzte Anna genervt und versank in ihrem Sessel im Wohnzimmer. Alle hatten sich hier versammelt, um einen Schlummertrunk zu sich zu nehmen. „Ich will nach Hause.“. Der Shiki musterte seine Königin, sagte jedoch nichts. Mirai reichte Akira einen Drink. Es war Sonntagabend und es war der letzte Ferientag.

„Aber wozu die Eile?“, fragte Toki gelassen und schwenkte das Glas Met in seiner Hand, als wäre er ein professioneller Weintrinker. Es war lächerlich und süß zugleich.

„Hab' ich ihr auch schon gesagt.“, bestätigte Akira mit einem ruhigen Lächeln und fing sich sofort einen böse funkelnden Blick seiner Freundin ein.

„Es ist ja nicht so, als würde es mir hier nicht gefallen, aber es ist halt nicht mein Zuhause.“, gab Anna genervt von sich. Sho krabbelte auf ihren Schoß und ließ sich von ihr streicheln. Seit ein paar Tagen schon war er unglaublich still und schien deprimiert zu sein. Auch Shiro schien nicht mehr so oft dagegen zu sein, dass Sho Annas Nähe suchte. War etwas passiert? Als Shiro den musternden Blick seiner Mutter spürte sah er sofort weg. Anna seufzte.

„Ich geh' schlafen.“, murmelte sie genervt und stand auf.

„Was? Es ist noch nicht einmal zehn Uhr.“, erwiderte Iori überrascht und sah zu, wie Sho zu ihm lief, als Anna Richtung Tür ging.

„Ich weiß. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich hab' das Gefühl, ich platze gleich.“. Alleine der Gedanke daran, ihren Vater in die Finger zu kriegen, erfüllte sie mit unglaublicher Kampfeslust. Das nächste Mal, wenn sie ihn sehen würde, würde sie jegliche angestaute Wut an ihn auslassen.

Die Tür schloss sich wieder und die Königin ließ einen Haufen schweigender und verdutzter Männer zurück.

„Willst du nicht mit?“, fragte Mirai Akira überrascht, der immer noch an seinem Glas nippte.

„Willst du mich wirklich so dringend los werden?“, erwiderte Akira gelassen und stellte das Glas wieder ab. Mirai seufzte.

„Ich dachte, wir hätten darüber geredet. Es hat sich immer noch nichts verändert.“. Nun seufzte auch Shiro.

„Willst du dich wirklich mit mir anlegen?“, fragte Akira den Affenkönig genervt. Dieser schien es darauf ankommen lassen zu wollen. Wütend funkelten sich die beiden eine Weile lang an, ehe Ren erschöpft in die Hände klatschte.

„Ich glaub', es reicht für heute. Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn heute alle mal früher ins Bett gehen. Wir müssen morgen früh raus.“.

„Stimmt, das ist das letzte Semester für dich und Liam oder?“, fragte Iori nachdenklich nach und Liam nickte.

„Das heißt, die Wahlen für den Schülerrat stehen bald bevor. Vielleicht lass' ich mich aufstellen. Ihr habt ja nicht wirklich viel gemacht.“, grinste der Tengu.

„Seit wann gehst du denn wieder zur Schule?“, seufzte Mirai genervt. Sho schüttelte enttäuscht den Kopf über die Tatsache, dass sein großer Bruder wirklich nicht viel nach dachte. Iori hüllte sich beschämt im Schweigen. Akira stand auf und sogleich tat es auch Shiro. Kurz sahen sich beide an, ehe einer nach dem anderen sich verabschiedete und beide zur Tür hinaus gingen.

„Was ist los?“, fragte der Wolfsdämon leise und begleitete Akira zu den Treppen.

„Nichts, was soll sein?“, erwiderte der Rotschopf und ging die ersten Stufen hinauf.

„Willst du sie nicht?“. Erneut wurde Akira von Shiros direkten Art überrumpelt.

„Sowas braucht Zeit.“, seufzte der Feuerteufel und kratzte sich kurz am Kopf. Shiro dachte kurz darüber nach.

„Na okay. Nacht.“.

Leise machte Akira die Tür zu Annas Zimmer auf und trat herein. Das Licht war aus. Sie saß in ihrem Schreibtischstuhl und starrte aus dem Fenster. Sie trug wieder nur ein Shirt und ihre Unterwäsche. Akira ließ sich auf der Bettkante nieder und musterte ihren Rücken. Wie sollte er denn an Sex denken, wenn sie sich die ganze Zeit nur um ihr Haus kümmerte? Das war auf jeden Fall nicht der rechte Zeitpunkt für so etwas. Schweigend zog der junge Mann sich aus und ging um das Bett herum, um seine Arme um seine Freundin zu legen.

„Du bist so eine Heulsuse.“, flüsterte er ihr leise zu, doch ehe sie etwas sagen konnte, küsste er ihre Wange. Er küsste sie immer und immer wieder, bis Wärme in ihre Haut zurück kehrte. Ein kleines Lächeln schaffte es zurück auf ihre Lippen.

„Ist das deine Art von Dessert?“, fragte sie ihn leise und ihre Hand streichelte über seine Wange.

„Ich weiß nicht, ob man Sorgen als 'Dessert' bezeichnen könnte.“, grinste Akira und küsste ihre Schulter. „Funktioniert es denn?“.

„Ja.“.

„Dann lass uns schlafen gehen.“. Anna folgte seinem Rat und stand auf, ehe sie sich mit ihm unter die Decke legte. Erneut küsste er sie – dieses Mal ihre Stirn. Es war praktisch, dass er sich von negativen Gefühlen ernährte. Doch warum wollte er nicht ihre Macht? Die beiden waren jetzt schon fast eine Woche zusammen, doch bisher war nichts passiert. Tatsächlich waren diese kleinen Küssen die einzigen Zärtlichkeiten, die er ihr zeigte.

„Du denkst wieder an was perverses.“. Anna schaute Akira in die Augen. Er lächelte feist.

„Tu ich nicht.“, entgegnete sie stumpf und vergrub ihr Gesicht in seiner Brust.

„Doch, doch. Ich seh' es genau.“.

Seine Hand glitt über ihren Nacken und kraulte diesen. Anna starrte die goldenen Augen an.

„Was ist?“, fragte Akira leicht eingeschüchtert von ihrem eindringlichen Blick und musste grinsen.

„Nichts.“, antworte sie aus Gedanken gerissen und schaute weg. Ließ er sich Zeit? Ließ er IHR Zeit? Sollte sie den ersten Schritt machen? Ihr Blick ruhte auf seinem Bauch. Das letzte Mal, wo sie ihn angefasst hatte, schien er nicht viel Reaktion zu zeigen. Doch einmal, als sie die Initiative ergriffen hatte, da hatte sie es genau gespürt … Sofort wurde Anna wieder rot und kämpfte mit den Gedanken, ob sie es tun sollte oder nicht.

„Du denkst es schon wieder.“, murmelte Akira überrascht und Anna zuckte vor Schreck zusammen.

„Tu ich nicht.“, wiederholte sie sich gestresst und drehte sich von ihm weg.

„Was ist los, Anna?“, sie spürte sein Grinsen in ihrem Nacken. Die Hand, die sie zuvor gekrault hatte, wanderte ihre Seite hinunter. „Soll ich dich dazu zwingen, es zu sagen?“.

„Nein.“, murmelte das Mädchen beschämt. Die Hand hatte ihre Hüfte erreicht, strich das Shirt nach oben und entblößte ihre Haut. Seine Fingerkuppen streichelten über die Hüften, dann die Taille. Es waren kitzelnde Berührungen, die ihr eine Gänsehaut verpassten. Sie verharrte in Schweigen. Akira drehte sich auf seine Seite. Seine Brust lag an ihrem Rücken, seine Beine eng an Annas. Sie spürte seinen Schoß an ihrem Po. Sofort wurde ihr warm. Die Hand wanderte über ihren Bauch, über ihren Nabel und fand schließlich den Weg an ihre Brust. Die Spitze seines Zeigefingers tippte gegen ihren Nippel. Anna spürte, wie Scham in ihr aufquoll.

„Bist du dir sicher?“, ein Schaudern lief über ihren Nacken, als sie das Grinsen in seinem Flüstern hörte. Seine Stimme war ihr so nahe, dass es ihr fast Angst machte. Sie war tief und ruhig, wie sonst auch immer, doch nun lag ein Hauch von Gefahr in ihr. Langsam umfasste seine rechte Hand ihre Brust. Obwohl sie auf seinem Arm lag, schien er keine Probleme damit zu haben, diesen zu bewegen.

„Ja. Alles okay.“, antwortete Anna stur. Als hätte Akira auf diese Antwort gewartet löste sich seine linke Hand von ihrer Brust und wanderte wieder ihren Bauch hinab. Sein Zeigefinger zog kleine Kreise über ihren Nabel. Sie zuckte kurz zusammen, als sie seine Lippen auf ihrem Hals spürte.

„Lügen ist eine Sünde, weißt du.“, hauchte er ihr zu und diese Worte lösten leichte Angst in ihr aus. Seine Hand verließ ihren Bauchnabel und wanderte weiter hinunter.

„Akira...“, sagte sie sofort mit bebender Stimme, um ihn davon abzuhalten, was er gerade vor hatte. Sie spürte, wie sein Zeigefinger unter ihr Höschen glitt.

„Willst du es mir sagen?“, grinste der Teufel leicht.

„Nein.“

„Dann tut's mir Leid.“. Bevor Anna ein weiteres Wort sagen konnte hob Akira seinen Arm, auf dem sie lag, an. Seine Hand legte sich über ihren Mund. Er spürte ihren warmen Atem gegen seine Finger schlagen. Je mehr Finger unter den feinen Stoff ihrer Unterwäsche glitten, desto schneller wurde ihre Atmung. Immer noch versuchte sie ihn mit Worten davon abzuhalten. Erneut versenkte der Junge seine Lippen in ihrem Nacken, saugte an dem zarten Fleisch und leckte über die Haut. Annas Worte wandelten sich zu einem Keuchen. Ihre Hände hielten seine Hand fest, damit er nicht weiter gehen konnte, doch sie waren zu schwach. Sein Mittelfinger fühlte die angenehme Feuchte zwischen ihren Schenkeln. Als er sie dort berührte stieß sie einen erstickten, hohen Ton aus. Sie schämte sich schon wieder. Vorsichtig streichelte er mit der Fingerkuppe über die kleine Perle, die sich zwischen ihren Schamlippen befand. Erneut keuchte sie. Vorsichtig zog Akira die Hand von ihrem Mund weg. Sie würde nichts mehr sagen. Die Fingerkuppe seines Ringfingers fuhr verträumt über ihre Unterlippe, während seine andere Hand ihren Schritt massierte. Spielerisch drückte sein Mittelfinger immer wieder über die Wölbung, die sich zwischen ihren Schamlippen befand.

„Letzte Chance. Willst du es mir sagen?“, er wusste nicht, wieso er das sagte. Eigentlich hatte sie diese Chance nicht verdient und er wollte ihr keinen Grund geben, aufhören zu müssen. Sein Ringfinger zog die Unterlippe leicht zurück. Anna hatte die Augen fest geschlossen, doch ihr Atem war heiß und nervös. Sie antwortete nicht, als hätte sie ihn nicht einmal gehört. Sein Ringfinger legte sich zwischen ihre Lippen und öffneten ihren Mund einen Spalt breiten. Er spürte die weiche, feuchte Zunge und wie sie gegen seine Fingerkuppe drückte. Akira schloss die Augen und biss zärtlich in den weißen Nacken, der kleine schwarze Linien in sich trug. Sein Mittelfinger rutschte weiter, drang in sie ein. Sofort erbebte ihr ganzer Körper. Sie war feucht. Er wollte vorsichtig mit ihr sein, doch das Gefühl ihrer Zunge an seinen Fingern ließ ihn sich fast vergessen. Auch ihm wurde langsam warm – Sehnsüchtig küsste er ihren Hals. Seine Hand befreite ihren Mund wieder und rutschte zurück zu ihrer Brust um nach dem runden Fleisch zu fassen. Ihr Stöhnen, nun nicht mehr durch seine Hand erstickt, wurde lauter. Das war schlecht. Mitleidlos drang sein Finger noch tiefer in sie ein. Sie krümmte sich leicht unter dieser Bewegung. Sie keuchte.

„Hör' auf.“, jammerte sie plötzlich leise. Ein Schauer überfuhr ihn. Angst und Nervosität kroch über ihre Haut wie Ameisen. Lechzend leckte er über die erzitternden Stellen ihrer Angst, während sein Finger erneut in sie stieß. Sie krümmte sich noch mehr. Es ging nicht – er konnte nicht aufhören. Nicht wenn es so aussah, als würde sie darunter leiden. Dafür war der Sadist in ihm gerade zu erhitzt. Langsam drehte sich ihr Körper unter ihm, wollte von ihm weg kommen, ihm die Möglichkeiten versperren, sie anzufassen. Sie drehte sich auf ihren Bauch und entblößte ihren Rücken. Doch mit Leichtigkeit drehte sich Akira mit ihr mit – so war es nur noch einfacher für ihn. Sie lag auf seinen Händen, während die eine immer noch ihre Brust festhielt und die andere in ihrem Schritt lag. Bevor Anna es sich gemütlich machen konnte zog er sie mit seinem Arm hoch, damit sie sich aufrichtete. Ihr Po war gegen seinen Bauch gepresst, während er hinter ihr kniete, und sein Ring- und Zeigefinger streichelten verführerisch ihre Schamlippen. Sie keuchte. Ihr Gesicht war rot vor Scham. Sie war wehrlos in seinen Händen. Und ihm gefiel dieser Anblick. Die Hand, die ihre Brust massierte, drückte gegen ihren Brustkorb, damit sie sich bei ihm anlehnen würde. Das Gefühl ihres Rückens an seiner Brust machte ihn schwach. Immer wieder löste sich sein Finger aus der Wärme und Feuchte, um über ihre erregte Perle zu streicheln und das Gefühl für sie noch intensiver zu gestalten. Ihre Schamlippen waren so nass, sie waren fast einladend. Plötzlich spürte Akira Annas Hand an seiner Wange. Helle, glühend blaue Augen schauten ihn voller Scham an, während sie sein Gesicht zu sich heran zog, um ihn zu küssen. Sie wollte es. Ohne Widerstand ging er auf ihren Kuss ein, versenkte seine Zunge in ihren Mund, genau so wie seine Finger zwischen ihren Schenkeln. Das Gefühl, wenn sie in den Kuss keuchte, machte ihn an. Er spürte, wie ihr Schambereich zu zittern begann, hörte jedoch nicht auf. Ihre Zungenspitze stieß immer wieder gegen seine, während sich ihre Hand in seinen Nacken und Haaren vergrub. Seine Handbewegungen wurden bestimmender, fordernder. Sie löste den Kuss um Luft zu holen, doch ihr leises Stöhnen ließ es nicht zu. Ihr Brustkorb flatterte unter ihrem schnellen und kräftigen Herzschlag. Erneut beugte sie sich vor, als könnte sie sich nicht mehr aufrecht halten. Akira hielt ihren Oberkörper fest. Er spürte die heißen Pobacken an seinem Schoß. Plötzlich zog sich das Fleisch um seine Finger zusammen, es wurde schwer, die zwei Finger noch tiefer einzuführen. Sie stöhnte und keuchte nun schneller als vorher. Akira legte sein Kinn auf ihrer Schulter ab. Er wollte ihr Gesicht sehen, wenn sie kam. Er hätte nicht gedacht, dass sie so sensibel auf seine Bewegungen reagieren würde, geschweige denn gleich beim ersten Mal, wo er sie dort berührte. Ihre Hände suchten unterbewusst nach seinem Arm, als wolle sie sich festhalten und Schutz suchen. Nach wenigen Sekunden spürte der Feuerteufel in Akira wie jegliche Sorgen und Ängste in ihr weggespült wurden. Seine Finger waren nass. Annas Brustkorb bebte, zitterte. Sie atmete schwer und verängstigt. Akira zog sie wieder an sich heran, küsste ihre Schläfe, ihren Nacken. Er musste die Augen schließen – obwohl ihm nichts passiert war, wurde ihm plötzlich schwindelig. Es wurde unglaublich heiß. Der Raum drehte sich. Er wusste nicht genau wieso, aber plötzlich tat sein Körper ihm weh. Anna traute sich nicht, etwas zu sagen. Immer noch ruhte sie in seinen Armen. Akiras Po fand die Matratze wieder. Seine Hand glitt aus ihrem Schritt heraus, damit er sich auf dem Bett abstützen konnte. Ihm wurde schlecht. Durch einen Spalt seiner Augen sah er auf Anna und was er sah, beunruhigte ihn – Die feinen Linien auf dem Rücken zogen sich zusammen. Sie zogen sich aus den Schultern zurück ins Innere der Kreise, die sich inmitten ihres Rückens befanden. Ihre Atmung wurde langsam ruhiger.

„Alles okay?“, fragte Akira leicht besorgt, während seine eigene Hand sich über den Rücken fuhr. Anna nickte. „Sicher?“, Akira beugte sich wieder vor und legte seine Hände um seine Freundin.

„Ja.“, antwortete sie und er sah ihr leuchtend rotes Gesicht. Er musste lächeln. Erleichterung machte sich in ihm breit als er sah, dass es ihr gut ging. Beschämt schloss die Blondine ihre Schenkel zusammen und sah ihren Freund an.

„Du bist doof.“, flüsterte sie ihm leise zu. Ihre Finger streichelten seine Lippen, ehe sie sich erneut zu ihm beugte und ihn küsste.

„Ich weiß.“, antwortete Akira mit einer rauen Stimme und erwiderte den Kuss. Sein Rücken pochte. „Am besten du legst dich hin.“. Anna folgte seinen Armen, während er sich wieder hinlegte und sie mit sich führte. Sie schwieg weiterhin beschämt, doch ihre Finger zogen leichte Kreise auf seiner Brust. Wäre nicht der Schmerz in seinem Rücken, müsste er sich wohl Sorgen machen, dass er zu aufgeregt war, um zu schlafen. Doch nun überkam ihn eine Müdigkeit, die ihm völlig fremd war. Seufzend schloss der Rotschopf die Augen und presste ihren Körper an seine Brust. Annas Hand wanderte über seine Hüfte auf seinen Rücken, wo sie angenehm kühl und beruhigend über die schmerzende Haut fuhr.

„Ich liebe dich.“, hörte er sie noch leise flüstern, ehe er komplett einschlief.

Das Monster im Loch

„Aki, wach auf.“. Eine Stimme flüsterte in sein Ohr. Eine Hand lag auf seiner Stirn, streichelte vorsichtig einige Strähnen seines Haares aus dem Gesicht. Einen Spalt weit öffnete Akira die Augen. Anna hatte sich angezogen. Sie war frisch geduscht, trug ihre Schuluniform. Der Duft von Vanille und Himbeere drang in seine Nase, als sie sich zu ihm beugte und seine Wange küsste.

„Morgen.“, knirschte er zerstört und streckte sich. Kopfschmerzen, so stark, dass sie ihn fast betäubten, dröhnten in seinem Kopf und pressten sich gegen die Augen. Es tat weh, sie zu öffnen.

„Geht's dir gut?“, Anna klang etwas besorgt und zog die Hand von seiner Stirn weg, die Akira aber sofort wieder an sich zog und streichelte.

„Ja, alles gut. Und dir?“, er schaffte es, ein müdes Lächeln zu zeigen. Verlegen schaute Anna zur Seite und nickte.

„Wir wollen gleich zur Schule. Willst du mit? Deine Stirn ist etwas warm, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee wäre...“, murmelte sie leise. Akira streckte sich kurz, setzte sich auf und gab seiner Freundin einen kleinen Kuss.

„Mir geht’s gut.“, lächelte er. Als sein Daumen über ihre Wange streichelte, fiel ihm auf, dass ihre Haut angenehm kühl war. Anna nickte und stand auf.

„Schaffst du es, in 10 Minuten fertig zu sein? Ansonsten gehen wir schon einmal vor.“.

„Wir sehen uns dann unten.“.

Der Januarmorgen war frisch und klar. Es hatte seit einigen Tagen nicht mehr geschneit, doch immer noch lagen hier und da einige Flecken des weichen Eis. Heute waren fast alle zusammen zur Schule unterwegs: Mirai, Toki, Akira, Ren und Liam liefen gemächlich hinter Anna her.

„Wir hatten gestern einen Stromausfall.“, fing Toki plötzlich nachdenklich an.

„Ach echt?“, fragte Anna überrascht, „Sind die Sicherungen raus gesprungen?“.

„Ja. Aber wir wissen nicht, wieso.“, antwortete Toki. Liam räusperte sich kurz und fing sich dadurch Annas Blick ein, welcher genügte, um ihr zu zeigen, dass der Waldgott genau wusste, was passiert war. Die Wangen der Königin leuchteten leicht rot auf. Schnell drehte sie sich wieder um und schaute auf ihre Füße. Zu sagen, dass letzte Nacht nichts passiert war, wäre eine Untertreibung gewesen. Noch immer spürte sie, wie die Muskeln ihrer Innenoberschenkel ab und zu zuckten, als hätte sie einen Muskelkater. Ihr Herz zog sich sofort zusammen, als sie darüber nachdachte, dass Sex vielleicht doch eine Sportart wäre. Annas Blick wanderte unsicher zu Akira, der sich kaum für das Thema zu interessieren schien. Ging es ihm gut? Die ganze Nacht war er unruhig gewesen, doch sie hatte ihn nicht wecken können. Es hatte ausgesehen, als hätte er einen Albtraum gehabt. Ob er an dem Stromausfall schuld gewesen war?

„Wir können froh sein, dass es in der Nacht passiert ist.“, brummte Mirai genervt. Anscheinend hatte er nicht viel geschlafen. Dicke Augenringe machten sich unter seinen Augen bemerkbar. Er gähnte lautstark.

„Der erste Schultag...“, seufzte Akira melancholisch und streckte sich noch einmal. Ein Blick auf seine rote Armbanduhr ließ ihn jedoch kurz stocken. „Sind wir nicht ein bisschen früh dran?“, fragte er verwundert. Ren nickte.

„Heute fangen die Wahlen für den Schülerrat an. Ich hoffe, ihr seid nächstes Jahr wieder bereit, hier für Ordnung zu sorgen.“

„Ich dachte, das war nur für Anna...“, murmelte Mirai und wurde mit einem kurzen, strengen Blick von Liam zum Schweigen gebracht. Die Blondine kicherte kurz.

„Anna, wollen wir heute alle zusammen Mittagessen?“, fragte Toki schnell aufgeregt, doch das Mädchen musste überlegen.

„Ich wollte eigentlich mit Yuki und Kiki essen. Hab' die zwei schon lange nicht mehr gesehen.“, erwiderte sie nachdenklich.

„Sie können doch mit uns essen!“, schlug der Elf vor und Anna nickte zustimmend. „Gut, dann ist das ja geklärt.“. Die Straßen waren immer noch gut leer, als hätten die Schüler den Wunsch gehabt, das neue Jahr gemähchlicher angehen zu lassen. Langsam rückte die Schule immer näher. Ein kurzer, eisiger Windzug huschte durch Annas Haare an ihrem Nacken entlang und ließ sie zusammenzucken. Sie hatte ihren Schal vergessen. Akira nieste kurz.

„Alles okay, Aki? Du siehst nicht so gut aus.“. Mirai war es anscheinend auch aufgefallen.

Plötzlich überkam Anna ein Schauer.

„Alles gut.“, murmelte der Rotschopf und zog seine Nase hoch.

Etwas stimmte nicht.

Die Mauern der Schule glitten an der kleinen Schülertraube vorbei. Einige Meter weiter begannen die Jugendlichen auf das Tor zuzugehen. Anna blieb kurz stehen. Wie Maschinen betraten die Schüler, die einen guten Eindruck hinterlassen und pünktlich im neuen Jahr sein wollten, das Schulgelände.

Anna drehte sich um. Ihr Blick zerrte sie Richtung Zuhause zurück. Ein merkwürdiger Duft lag in der Luft. Wo war Shiro, wenn man ihn brauchte?

„Was ist denn da vorne los?“, fragte der Affenkönig nun verwundert, einige Schüler blieben kurz an dem Eingangstor stehen. Anna wandte ihren Blick wieder zur Schule. Ihr Herz war unangenehm stark am Pochen. „Die sollten einfach reingehen, die halten noch den ganzen Verkehr auf.“.

„Anna...“, Liams tiefe, ruhige und angenehme Stimme klang plötzlich kühl und warnend. Doch er brauchte es nicht sagen. Annas Beine trugen sie, wie von selbst, und der kalte Wind peitschte in ihr Gesicht, während sie die letzten zwanzig Meter zum Tor rannte. Murmeln erhob sich. Es war ein beunruhigendes, tiefes, nicht zu identifizierendes Gewirr aus Stimmen. Ein Zettel hang an einer Säule neben den eisernen Stangen, die das Tor bildeten.

„Liebe Schüler/innen,

ab sofort ist es Ihnen strikt untersagt, den Hinterhof beim Gartenhaus zu betreten.

Aufgrund von Renovierungsarbeiten ist dieser Teil des Geländes nicht zu betreten.
 

Mit freundlichen Grüßen,

Die Schulleitung“

Langsam gingen die Schüler weiter. Die Renovierungsarbeiten hatten doch schon letztes Jahr begonnen, wieso den Abschnitt jetzt sperren lassen? Annas Blick wanderte zu den Seiten. Irgendetwas war nicht richtig. Sie konnte nur nicht ihren Finger darauf halten. Die Schüler liefen an ihr vorbei, murmelten über Weihnachtsgeschenke oder wo sie Silvester verbracht hatten. Niemanden schien es zu interessieren, warum der Teil des Geländes gesperrt gewesen war oder … Oder dass Anna da war. Erneut sah Anna sich um. Die Schüler liefen an ihr vorbei, berührten sie sogar versehentlich dabei.

„‘Tschuldige.“, sagte einer kurz, doch würdigte er ihr keines Blickes. Das Gefühl der Angst, dass jeder in sich trug, wenn er Anna sah, war erloschen.

Schweigend stand die Gruppe junger Männer hinter ihr und beobachteten sie.

„Vielleicht kannst du jetzt endlich mal Freunde machen, die nicht in einer Gang sind.“, grinste Mirai sarkastisch und fing an, weiter zu gehen. Liams Blick bohrte sich in Annas Nacken.

„Das ist es nicht…“, fing Anna an, obwohl es sie ein bisschen störte, nicht den Respekt und die Distanz zu erhalten, die sie sich über den Lauf der Zeit angesammelt hatte.

„Hmm…“, Toki musterte das Blatt Papier für eine weitere Sekunde, ehe er Anna durch das Tor zu schieben begann. „Das heißt eigentlich nur, dass du ab sofort im Schülerrat essen kannst, oder?“

„Das geht nicht.“, brummte Ren sofort. „Der Schülerrat ist nur für Leute, die auch tatsächlich im Schülerrat sind.“ Sofort begann das Gezanke wieder. Doch die Stimmen der anderen drangen nicht an Annas Ohr. Sie fuhr sich über die Stirn. Sie war schweißnass.

„Ich möchte es sehen.“, murmelte sie kurz zu Akira und griff nach seinem Ärmel. „Unseren Platz. Vielleicht sind Yuki und Kiki da. Ich möchte kurz hin.“

„Sollen wir mitkommen?“, fragte Mirai sofort, doch Anna schüttelte den Kopf. „Nein, schon gut.“. Ihre Augen wanderten kurz zu den goldgelben Akiras. Sie konnte nicht sehen, was er dachte, doch sein Blick war menschlich genug um sagen zu können, dass er sich nicht ganz wohl fühlte. Nachdenklich, beunruhigt…

Sie ließ ihn los und wandte sich in der Mitte der Allee von der Gruppe ab, um sich auf den Weg zum alten Treffpunkt zu machen, an dem sie sich sonst immer mit den anderen traf. Das Gras knirschte unter ihren Füßen, die gefrorenen Grashalme brachen unter ihrem Gewicht. Erneut blieb Anna kurz stehen, um sich umzudrehen, doch sah sie niemanden. Wieso hatte sie heute das Gefühl, überwacht zu werden? Das Mädchen zog die Nase hoch und musterte die Plätze zwischen den Bäumen. Es rührte sich nichts. Sie zog das Tempo wieder an und lief weiter. War sie mittlerweile schon so paranoid, dass sie nicht einmal allein über das Schulgelände ihrer Schule laufen konnte?

Plötzlich schienen jegliche Geräusche zu sterben. Die Sonne, die auf den restlichen Schnee schien, versenkte alles in einen grell-grauen Farbton. Anna wurde kalt. Sämtliche Haare auf ihrer Haut streckten sich weg von dem, was um die Ecke des Gebäudes lag. Da, wo damals ihr alter Treffpunkt war, wo der Baum gestanden hatte, an dem sie sich immer so gerne anlehnte. Da, wo sie Ruhe gefunden hatte in Zeiten, in denen sie keine Ruhe hatte. Warum sträubte sich ihr Körper so sehr, dorthin zu gehen? Sie zwang ihre Füße zum Weiterlaufen. Das Pochen in ihrem Herz wurde stärker, unangenehmer. Es schnürte ihr den Brustkorb zu. Ihr Mund wurde trocken. Sie atmete tief durch. Das Gefühl zu ersticken machte sich in der Blondine breit. Es war, als würde sie eine verpestete Zone betreten. Doch es war kein Miasma, das ihr das Laufen erschwerte. Es war die ureigene Angst, der pure Instinkt, der ihr sagte, dort nicht hinzugehen, den sie zu bekämpfen hatte. Der Weg schien plötzlich sehr viel weiter als früher zu sein. Ihre Füße erreichten kaum ihr Ziel, erneut zog Anna das Tempo an. Sie war keine Frau, die lange warten konnte. Ehe sie sich versah, rannte sie schon. Da war die Ecke… nur noch um die Ecke und sie würde wissen, dass alles okay wäre.

Hier und da standen Baumaschinen. Über die Feiertage waren sie nicht zum Einsatz gekommen, also hatte sich eine gute Hand breit Schnee darauf niedergelassen. Das kalte Metall glänzte im Schatten des Gebäudekomplexes. Dort war der Stumpf des alten Baumes, der ihr so gefallen hatte. Doch dieser Stumpf trug keinen Schnee. Keine weißen, kalten Flocken, die es irgendwie hätten romantisch aussehen lassen können. Das einzige, was darauf einem Weiß glich, war aschfahle Haut. Haut, zerrissen, zerstochen, zerbissen, die sich über Knochen zog, als wären keine Muskeln mehr vorhanden. Haut, die aussah, als wäre sie …

Tot.

Annas Augen wanderten über den Körper, der sich ihr offenbarte. Es war ein Mädchen. Sie trug nur Unterwäsche, viel zu kalt für diese Jahreszeit, dachte sich die Königin. Ihre Beine lagen merkwürdig quer über dem kalten Boden. Der Stumpf bohrte sich in den Rücken des Mädchens, als wäre sie ausgerutscht und darauf gefallen. Ihre Arme streckten sich vom Körper weg und schwebten merkwürdig in der Luft. Unter der gefrorenen Pergamenthaut sah man Blutergüsse. Stiche. Bisse. Der Kopf streckte sich über den Stumpf hinaus und baumelte nahe über den Boden. Anna konnte das Gesicht nicht sehen. Wie angewurzelt blieb sie vor der Leiche stehen. Es war grotesk, widerlich. Alles in ihr wehrte sich, dem Körper nur einen Schritt näher zu kommen. Und doch tat Anna es. Vorsichtig lief sie um den Stumpf herum. Die Umgebung verschwand langsam, als würden Scheinwerfer langsam abgedimmt werden. Man erkannte das Kinn. Es war aufgeschlagen. Lippen so trocken und spröde wie Schmirgelpapier. Milchige, blaue Pupillen, die sich in geröteten Augäpfeln wiederfanden. Schmutziges, braunes und verfilztes Haar, das einst ihr ganzer Stolz gewesen war.

Atmen war nicht mehr möglich. Annas Gelenke waren eingefroren. Sie hockte dort und konnte sich nicht bewegen. Alles wurde still, alles wurde kalt. Sie traute sich nicht, das Mädchen zu berühren. Das Mädchen, das sie schon so oft in den Armen gehalten hatte. Das Mädchen, das sie seit Jahren gekannt hatte. Ein Windzug weckte Anna aus ihrer Stasis. Ein Rascheln folgte. Der Wind zerrte an etwas, das sich nicht aus dem Körper der jungen Frau lösen wollte. Eine Notiz. Heftklammern hatten das Blatt Papier tief im Bauch der Toten vergraben. Es war schwierig zu erkennen, was darauf stand. Als Anna ihre Hand ausstreckte, um nach dem Papier zu greifen, sah sie zitternde, dürre, weiße Finger, die sich von ihrem Körper wegstreckten. Ihr eigener Körper schien vor Angst schneeweiß geworden zu sein. Seit wann?

„Ich gib‘ sie dir wieder.

- XOX“

Müde ließ Akira seinen Beutel auf einen der Stühle im Schülerrat fallen, ehe er sich in einem Stuhl daneben plumpsen ließ.

„Was ist los, Akira?“, fragte Ren, sichtlich genervt davon, dass der Feuerteufel lauter war, als notwendig. Der Wasserdrache hatte sich bereits am Kopf des Mahagoni-Tisches gesetzt und ging einige Post durch.

„Nichts, ich bin irgendwie ziemlich müde.“, seufzte der Rotschopf und rieb sich über die Schläfe. Die Kopfschmerzen waren fast wie Folter, nur irgendwie anders: Er genoss sie nicht.

„Hat dich die kleine Königin etwa die ganze Nacht wachgehalten?“, schmunzelte Ren feist und selbst Liam, der sich im Schatten des Zimmers aufhielt, musste leicht lächeln.

„Ich… also.“, begann Akira etwas aus dem Konzept gebracht, schüttelte den Kopf und schloss erneut die Augen. „Du spinnst.“, schnauzte er genervt, ehe er die Arme hinter dem Kopf verschränkte. Ein Klacken bedeutete ihm, dass Liam gerade aus seinem Stuhl aufgestanden war.

„Was ist los?“, fragte Ren überrascht, doch Akira wünschte sich nur, die beiden würden Ruhe geben. Um der Sahne noch die Kirsche aufzusetzen, begann sein Rücken auch noch wieder weh zu tun, als würde etwas an der Haut kratzen.

„Liam?“, fragte Ren erneut, auch wenn es nichts Neues war, dass der Waldgott nicht antwortete.

„Lass‘ ihn doch endlich in Ruhe und mich schlafen, bitte.“, schnauzte der Feuerteufel genervt und ließ seine Arme wieder sinken. Er konnte nicht sitzen. Alles war unbequem. Unruhig rutschte der junge Mann in seinem Stuhl auf die Seite. Er wollte schlafen. Nun stand auch Ren auf.

„Anna.“. Liams Stimme löste eine Eiseskälte in Akira aus. Wie automatisiert öffneten sich seine Augen und starrten auf weiße Haut. Bebende, eiskalte Finger, die sich von seinem Körper wegstreckten, nach Luft griffen. Hunger überkam den Feuerteufel, Hunger, der ihm seit langer Zeit erspart geblieben war. Ren ging um den Tisch herum, um Liam aus der Tür zu folgen, die der Waldgott hastig geöffnet hatte. Auch Akira stand auf. Etwas stimmte nicht, doch wieso hatte er es erst jetzt bemerkt? Das plötzliche Aufstehen schien nicht gut für seinen Kreislauf zu sein. Sofort knickte der Rotschopf ein, alles drehte sich. Der junge Mann musste sich am Tisch abstützen, damit er nicht umfiel.

„Ren.“, fauchte er sofort und seine eigene Stimme kam Akira fremd vor. Irgendwie … schwach. Er hörte, wie Ren stehen blieb. Der Drachenkönig musterte seinen ehemaligen Konkurrenten.

„Was ist?“, fragte er genervt. „Wir haben keine Zeit für deine Heulerei, wenn Anna vielleicht …“

„Ich sehe nichts mehr.“, keuchte Akira sofort. Er öffnete seine Augen, versuchte, durch die Spalten seiner Finger zu sehen, doch nichts. Alles war schwarz. Langsam hob er den Kopf und sah durch den Raum. Nichts. Er starrte in die Richtung, aus der Rens Stimme gekommen war, die jetzt jedoch komplett erstarb.

Schritte gingen auf Akira zu. Es waren Rens, das konnte er hören. Kalte, weiche Hände legten sich in sein Gesicht und wischten ein paar Haarsträhnen weg.

Ren starrte in komplett schwarze Augen. Schwarz, wie die tiefe See es war. Dort, wo kein Licht mehr hin scheinen konnte.

„Was hast du getan…?“
 

Ein kurzes Beben. Wie fühlt es sich an zu sterben? Wie fühlt sich die Kälte des Schnees an, wenn man selbst noch kälter ist? Ist es wie eine warme Umarmung, wenn der Tod einen empfängt? Ein fernes, schrillendes Pfeifen. War das der Boden unter ihren Füßen? Wieso gab er so leicht nach? Ein Name klingelte kurz im Gedächtnis. Zu kurz, um es zu hören. Wieso lag sie hier? Dunkelheit. Dunkelheit in ihrer reinsten Form. Wer hatte nicht schon das Gefühl, in einem unendlich tiefen Loch zu versinken, von der Dunkelheit gefressen zu werden? Wer kannte nicht das Gefühl, wenn sich etwas aus seinem tiefsten Inneren heraus frisst? Wer kannte das nicht? Ein erneutes Beben. Der Name klingelte erneut in ihren Ohren. Alles tat weh, alles war taub. Alles drang an ihre Ohren, nichts kam im Kopf an. Sie sah alles und gleichzeitig schien alles vor ihr zu verschwinden. Wieso? Wieso? Wieso? Das Loch, in das sie fiel, schien plötzlich wie eine willkommende Gelegenheit. Eine Gelegenheit, von der Erdoberfläche zu verschwinden. Lass die Dunkelheit mich auffressen. Ich werde ihr alles opfern. Alles.

Ein erneutes Beben. Anna starrte auf ihre weißen Hände, die mit dem Schnee verschmelzen zu schienen. Die Sonne ließ die Kälte erstrahlen.

Langsam wurden Annas Wangen warm. Sie kniete vor der Leiche ihrer Freundin Mika. Alles schien wie ein Film zu sein, der vor ihren Augen ablief. Mikas Zehen waren wund, schmutzig, aufgerissen. Das war nicht die Mika, die sie einst kannte. Ihre Freundin hatte schon immer sehr viel Wert auf ihr Aussehen gelegt, nie würde sie ihrer Haut so etwas antun. Sie würde immer darauf achten, makellos auszusehen. Erst jetzt bemerkte Anna, dass sogar richtige Stücke Fleisch aus den Waden gerissen wurden. Hätte sie in dem Zustand überhaupt laufen können? Das schrillende Geräusch ertönte erneut. Wieviel Zeit war vergangen? Annas Blick wandte sich ab und wanderte über das Gelände der Schule. Personen rannten. Ein erneutes Beben. Ein Name, der wieder in ihren Ohren klingelte. Anna drehte sich wieder zu Mika. Erst jetzt bemerkte sie den Grund für ihre warmen Wangen: Tränen. Tränen, die nicht aufhörten. Tränen, die in ein unendlich tiefes Loch fallen wollten. Erneut streckte die Königin ihre Hand aus, streichelte über die leichenblasse Haut ihrer engsten Vertrauten. Das war gelogen. Ihre Hand zuckte, wagte es nicht, das Mädchen erneut zu berühren. Sie war eine Lügnerin. Sie nannte Mika Vertraute, obwohl sie ihr nichts erzählt hatte. Dieses tote Mädchen wusste nichts. Gar nichts. Nichts, dass irgendjemanden interessiert haben könnte. Hätte Anna das verhindern können, indem sie Mika eingeweiht hätte? Hätten Dämonen, Vampire und Königinnen der Finsternis für diese normale Person einen Sinn ergeben? Ein Name klingelte in ihrem Ohr, zusammen mit dem schrillen Pfeifen, das aus der Schule kam.

„Meinetwegen…“, flüsterte Anna leise, wusste aber noch nicht einmal zu wem sie sprach, „Meinetwegen könnten sie alle sterben, weißt du.“. Ihre Fingerspitze fuhr zögerlich über das leicht haarige, kalte Schienbein. Leichte Beulen hier und da verrieten ihr, dass das Bein wohl mehrmals gebrochen wurde. Es war, als wäre an diesem Ort allein die Stille noch vorhanden. Während sich Panik in der ganzen Schule ausbreitete, schien hier der Ort zu sein, der zeitlos war, weil der Tod zeitlos war. Nicht sie musste in einem Loch versinken, die anderen mussten es. Alle sollten in ein tiefes Loch fallen, das sie nie wieder raus lassen würde. Ein Fall so tief, dass er nie enden würde, damit jeder es fühlte: Die Angst, zu verlieren, die Angst, zu sterben, die Angst, die sich in einem ausbreitete, wenn man nichts mehr hatte, als den Tod, der auf einen wartete. Erneut schien die Umgebung zu verschwimmen und verschwinden. Was war es, das sie hier hielt? Warum war sie überhaupt noch hier? In der Schule, bei ihren Freunden, in dieser Stadt, in diesem Leben? Wenn alles, was sie hatte, nicht mehr da war?

Eine Hand zog das Mädchen zurück in die Realität. Sie war warm, stark und riss sie weg von dem toten Mädchen. Mit einem dumpfen Schmerz im Hinterkopf landete Anna auf dem kalten Boden. Ehe sie sich aufrappeln konnte wurde sie erneut zu Boden gedrückt, dieses Mal noch stärker. Ihre Augen konnten nicht erkennen, wer es war.

„Bring‘ sie weg.“, fauchte eine Stimme leise. Schmerz breitete sich in Annas Ellenbogen aus, als sie damit das Gesicht des Fremden erwischte. Sein Knochen machte ein merkwürdiges Geräusch, doch der Mann hielt sie weiterhin zu Boden.

„Wohin?“, fragte ihr Angreifer ruhig. Seine Stimme schien merkwürdig vertraut. Der Schmerz auf ihrer Brust, der durch den starken Druck ihres Angreifers entbrannte, wurde noch heißer, als sie sich dagegen aufbäumte und erneut zuschlug. Dieses Mal stärker. Sie würde sich nicht erneut von jemanden berauben lassen. Sie schlug erneut zu. Nun fiel der Fremde kurz zur Seite und das Gewicht seines Körpers verließ sie, sie konnte sich aufsetzen. Erneut schlug sie zu. Erneut machte sein Gesicht ein merkwürdiges Geräusch. Der zweite Fremde kam auf sie zu und hielt ihren Arm fest, bevor sie ein weiteres Mal zuschlagen konnte.

„Lass es, Anna.“, hauchte die Stimme. Anna musste nicht hinsehen. Sie konnte ohnehin nichts erkennen, denn die Sonne machte sie blind. Sie wollte auch nicht wissen, wer es war. Es war ihr egal. Dass ihr Arm wieder festgehalten wurde, war ihr egal. Ein plötzlicher, dumpfer Knall zog den zweiten Mann von ihr weg, befreite ihren Arm und ließ sie erneut zuschlagen. Aus dem Hintergrund hörte man ein Knurren. Ein erneutes, kleines Beben. Zähnefletschen. Ein leises Atmen. Sie schlug erneut zu. Ihre Faust war nass, schimmerte rot, brannte. Es reichte nicht.

Ihre Finger wickelten sich um den Feind, der sich unter ihr ergab. Sie drückte zu. Das Atmen wurde schneller. Das Knurren lauter. Sie wusste, andere würden folgen. Andere standen dort bereits und beobachteten sie. Erneut schrie jemand ihren Namen, doch wagte es nicht, auf sie zuzulaufen. Die Stimme war abermals bekannt. Wer waren diese Leute?

Anna spuckte. Ihr Mund war gefüllt mit Flüssigkeit, die sie nicht herunterschlucken konnte. Sie traf ihren Feind, doch das war ihr egal. Sie drückte weiterhin zu. Alle sollten in dem Loch verschwinden, jeder einzelne. Ein dumpfer Schlag auf den Rücken machte sich bemerkbar.

„Sie versuchen ihm zu helfen.“, zischte es leise. Ihr Griff wurde stärker. Das Gesicht des Angreifers wurde blau. Erneut schlugen sie auf Annas Rücken ein.

„Geht da weg.“, fauchte es laut im Hintergrund. Anna zuckte bei der Stimme zusammen. Etwas riss sie auf ihre Beine. Augen, so grau wie Asche, sahen sie angewidert an. Der Griff um ihren Oberarm war nicht zu lösen. Plötzlich wurde die Umgebung wieder klar.

„Satoshi…“, murmelte das Mädchen leise und sah sich um. Toki, aufgelöst in Tränen, stand gute zehn Meter entfernt. Ein paar Meter weiter lag Ren im kalten Schnee und schien sich nicht zu rühren. Annas Blick wanderte über die Hand, die sie festhielt, zu ihrem Arm auf den Boden. Sie stand halbwegs über einem Mann, dessen Gesicht wohl kaum wieder zu erkennen war. Alleine die Größe des Körpers und die Haare schienen jedoch Aufschluss darüber zu geben, wen sie da vor sich hatte: Liam. Anna sah an ihm vorbei. Das Zähnefletschen und Knurren, dass immer noch die Umgebung füllte, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ein schneeweißer Wolf, durchzogen mit dicken, schwarzen Streifen bleckte seine Zähne. Shiros Augen waren so schwarz, als wären sie aus Teer. Er knurrte die anderen an. Anna folgte seinem Blick und sah neben Toki noch Mirai. Ein goldener Stab befand sich in beider seiner Hände, bereit zum Angriff. Er atmete schwer. Doch das Atmen, das sich in ihrem Nacken befand, war anderer Natur. Aus dem Augenwinkel heraus versuchte Anna einen Blick darauf zu erhaschen. Es war wie ein Nebel, schwarz und schleierhaft. Leise atmete es aus. War da ein Lächeln?

Ein schallender Knall und scharfer, heißer Schmerz erfüllte die Wange der Königin, ehe Satoshi schroff ihren Arm von sich wegriss.

„Sieh‘, was du getan hast.“, schnauzte er sie hasserfüllt an und beugte sich zu dem bewusstlosen Waldgott hinunter. Toki rannte zögerlich an Anna vorbei, machte sogar eine Kurve um sie. Mirai bewegte sich keinen Millimeter. Ein erneuter Blick auf den Affenkönig verriet ihr, dass seine Waffe nicht auf irgendetwas hinter ihr gerichtet war, sondern auf sie. Ein Stampfen großer Pfoten machte sich bemerkbar. Anna wandte ihren Blick erneut zu dem Wolf. Die Schwärze machte sich in seinem ganzen Fell bemerkbar. Das knurrende Bellen, das seinem Maul entwich, war ohrenbetäubend.

„Was machen wir wegen Shiro?“, knirschte Mirai ernst.

„Lass‘ ihn, solange du Anna in Ruhe lässt, wird er dich nicht angreifen.“, entgegnete Toshi genervt und fuhr über Liams Hals, um die Halsschlagader zu finden. „Er hat noch Puls.“. Tokis Tränen fielen über die Brust seines Freundes, die sowieso schon getränkt war von einer schwarzen Flüssigkeit. Langsam löste sich die Schwärze unter Tokis Tränen auf wie Tinte, die man zu Wasser gab.

„Was…“, flüsterte Anna leise und machte einen Schritt auf Liam zu, doch bevor sie einen zweiten Fuß in seine Richtung setzen konnte, spürte sie, wie Mirai die Distanz zwischen den beiden schloss. Es war, als würde der Stab Energie ausstrahlen, die sich in ihren Rücken brannte. Shiros Pfoten machten einen Satz und landeten dabei fast auf dem unbewussten Körper Liams.

„Haltet ihn zurück!“, fauchte Satoshi sofort und machte eine Handbewegung. „Mirai, fass‘ Anna nicht an, hab‘ ich dir gesagt!“.

„Sie hätte um ein Haar Liam umgebracht!“, schnauzte er zurück. Anna wandte sich Mirai zu, sein Stab richtete sich auf ihre Nase. „Anna… beruhige dich.“, knirschte er leise und die Worte schienen ihn noch mehr zu stören, als alles andere. Sie konnte es in seinen Augen sehen – er wollte Vergeltung.

„Beruhigen?“, fragte sie verwirrt nach. „Ich bin ruhig.“. Shiro bellte angriffslustig. Schwarzer Schlamm kroch aus seinen Tränendrüsen und liefen die schaumige Schnauze hinunter.

„Wo ist Akira?“, fragte Anna nun und sah auf Liam. Was war das für ein Gefühl? Satoshi stand auf und ging auf seine Königin zu.

„Anna…“, sagte er leise und sein Flüstern erinnerte das Mädchen an Adam. „Ist das Mika?“. Seine Hand deutete auf den toten Mädchenkörper. Anna nickte.

„Du hast sie so gefunden?“. Erneut nickte das Mädchen. Satoshis Blick wanderte über den Zettel, der in der Leiche steckte und schluckte kurz. „Sag‘ Shiro bitte, dass er sich beruhigen soll.“

Anna wandte sich zu Shiro. „Ist gut, mein Schatz. Komm.“ Der Wolf schluckte etwas an Schaum herunter und ging zu Anna, ehe er hinter ihr Sitz machte. Satoshis Augen bohrten sich in Annas Gesicht, unzufrieden verzog er seinen Mund.

„Dreh‘ dich um.“. Er riss an Annas Schulter und heimste sich dafür einen tötlichen Blick Shiros ein. Satoshi wandte sich unbekümmert Annas Rücken zu. Seine Hände waren rau und kalt, als sie über den Rücken streichelten. Nachdenklich gab der Shiki einige „Hmms“ von sich.

„Was zum Teufel ist hier los?“, fauchte Mirai, der immer noch nicht seine Waffe sinken ließ. Schnaubend ließ Shiro seine Schnauze in den kalten Boden fallen und begann mit den Pfoten seine Augen zu säubern.

„Wir haben ein Problem. Shiro, bring Liam und Ren bitte nach Hause.“

„Das Monster da?!“, schrie Mirai sofort auf, doch Satoshi hob die Hand und bedeute dem Affenkönig zu schweigen. „Es wird okay sein.“. Erneut schnaubte Shiro und stand auf. Toki half beim Aufladen der Körper.

„Toshi, ich schwöre bei allem was mir heilig ist, wenn du mir nicht sofort sagst, was los ist, dann…“.

„Dann was? Greifst du den Shiki der Königin an, der du deine Loyalität geschworen hast?“, antwortete Satoshi kühl, zog seinen Blazer aus und warf ihn Anna über. Verwirrt knöpfte das Mädchen ihn zu.

Sie sah Mirai an. Soviel Hass ihr gegenüber… was war das nur für ein Gefühl?

„Bis gleich…“, schniefte Toki bedrückt und lief mit Shiro weg.

„Ich kann’s dir erklären, aber nicht hier. Wir müssen Akira einsammeln und nach Hause. Die Polizei wird hier gleich auftauchen.“.

„Was? Wieso die Polizei? Es war der Alarm für ein Erdbeben.“

„Ich hab‘ sie angerufen.“. Annas Blick wanderte zu Satoshi, als er diese Worte sagte. Wieso hatte er die Polizei gerufen? „Mirai, ich sag das nur ein einziges Mal, aber: Bitte bring Anna nach Hause. Ich kümmer‘ mich um das hier. Akira ist wahrscheinlich noch im Raum des Schülerrats, ich bring‘ ihn später mit.“.

Mirai, schäumend vor Wut, starrte den Shiki an, ehe er unsanft nach Annas Arm griff. Kurz zuckte Toshi zusammen, sah die beiden aber nicht an.

„Toshi…“, murmelte Anna beunruhigt, ehe sie sich von Mirai wegzerren ließ.

Geheimnisse

Keuchend ließ sich Toki in einen Sessel fallen. Er vergrub sein Gesicht in seinen feinen, zitternden Händen. Er brauchte mehrere Male tief durch zu atmen, ehe er den Kopf in den Nacken legte. Seine Augen waren noch gerötet vom Weinen und sich an das helle Licht des Wohnzimmers zu gewöhnen dauerte seine Zeit.

„Was… Was war das?“, man hörte wie seine Stimme brach. Es war fast halb vier am Nachmittag.

Satoshi seufzte und drehte sich kurz um, um Toki zu mustern, wandte seinen Blick dann doch wieder dem Kaminfeuer zu und verharrte im Schweigen.

„Toshi, antworte uns.“, knirschte Mirai. Eine große Flasche Schnaps baumelte in seiner Hand, bereits halb ge-leert. Sho saß unsicher neben ihm und blickte immer wieder zur Tür.

„Wo ist Anna?“, fragte er unsicher, bestimmt zum hundertsten Mal an diesem Tag.

„Was war mit Shiro los? Und was war dieses… dieses Ding?!“, fragte Toki entsetzt und machte Anstalten, sich wieder gerade hinzusetzen.

„Und wo ist Aki?“, schnauzte Mirai genervt.

Satoshi seufzte. Das Knistern des Feuers ließ seine Gedanken treiben, doch die Stimmen der anderen waren wie dicke Felsen im Fluss, die ihm im Weg standen. Der Shiki bewegte sich vom Feuer weg und setzte sich Mirai gegenüber auf die Couch.

„Ihr denkt alle, es ist witzig, eine Königin der Dunkelheit zu sein, oder? Dass es ein tolles Gefühl ist, so viel Macht zu haben, hm?“, lächelte er herablassend und betrachtete die schimmernde Flüssigkeit in Mirais Fla-sche. Schlagartige Stille trat ein. Toshi wusste nun, dass er die Aufmerksamkeit aller im Raum hatte.

„Ich wollte warten, bis Liam und Ren wieder aufwachen, um euch alles zu erklären, damit ich nicht doppelt und dreifach wieder anfangen muss, aber nun gut…“. Er lehnte sich vor, nahm Mirai seinen Schnapps ab und trank einen Schluck. Kurz verzog er das Gesicht in Anbetracht des bitteren Geschmacks, stellte die Flasche wieder auf den Tisch und sah in das verdatterte Gesicht des Affenkönigs.

„Ich habe schon viele gesehen…. Fast alle.“, begann der Shiki. Seine Stimme war leise und klang fast nostal-gisch. „Es passiert hin und wieder, wisst ihr.“. Er schaute durch die Runde und erkannte, dass keiner wusste, wovon er sprach. Er räusperte sich kurz und setzte sich auf. Seine Hände waren in seinem Schoß gefaltet, langsam streichelte er mit dem Daumen über einen Ring an einem seiner Finger.

„Dieser Begriff ‚Königin‘ ist eigentlich nichtzutreffend. Sie sind Kinder, geboren als Träger für eine Macht, die niemand versteht. Sie ist in ihrem Körper und will hinaus. Jedes Jahr nimmt die Kraft exponentiell zu; wenn der Körper sich nicht rechtzeitig anpasst, verstirbt die Person einfach. Die Energie entweicht und sucht sich einen neuen Wirt.“.

„Warte… was?“, fragte Mirai entsetzt.

„Oh ja, es gab sehr viel mehr Kinder, als ihr nur ahnen könnt. Fast alle zehn Jahre wird ein neues Kind mit Dunkelheit in sich geboren. Immer wieder wird ihnen ein Shiki von Geburt an zur Seite gestellt, damit wir sie überwachen können. Ahnt ihr, wie viele überlebt haben?“.

„Soweit ich weiß, gab es doch aber nur vier oder fünf Königinnen?“, fragte Toki überrascht und setzte sich auf.

„Deshalb werden sie Königinnen genannt. Mädchen, die stark genug sind, um die Energie in sich zu tragen. Mädchen, die nicht plötzlich daran gestorben sind. Weil ein Mädchen aus 5000 überlebt, wird sie „Köni-gin“ genannt. „Auserwählte“. Was für ein Quatsch…“, erneut musste Satoshi kurz lächeln. Ein kurzes Schwei-gen trat ein. Alle Blicke waren auf den Shiki geheftet, der plötzlich wieder in Gedanken versunken schien.

„Was hat das mit heute zu tun?“, platzte Mirai ohne Vorwarnung hervor und schnappte sich die Flasche vom Tisch.

„Hmm…“, antwortete Toshi kurz und schien erneut nachzudenken, ehe er weiterredete: „Ihr wisst das be-stimmt alle, aber ‚Dunkelheit‘ ernährt sich von den negativen Gefühlen der Menschheit. Anna hat ihre Fami-lie verloren, ihr Zuhause und nun auch noch die letzte Hoffnung, die sie auf ein normales Leben hatte.“

„Mika…“, murmelte Toki leise und Toshi nickte.

„Wenn sie Mika hätte retten können, dann wäre ihre Kraft noch zu etwas Gutem nütze. Das hat sich jetzt allerdings erledigt.“.

„Das heißt, dass, nur weil sie ihre Hoffnung verloren hat …?“, begann Mirai.

„Ja. Hoffnung ist eines der stärksten Gefühle, meiner Meinung nach sogar stärker als Liebe. Aber als sie Mika gesehen hatte, ist etwas in ihr zerrissen, würde ich meinen.“, erklärte der Shiki.

„Was für ein Bullshit.“, schnauzte Mirai sofort und ließ sich zurück ins Sofa fallen. „Nur wegen so etwas…“.

„Ich glaub‘, du verstehst nicht ganz, A f f e.“, fiel ihm Satoshi zischend ins Wort. Wütend funkelte Mirai ihn an. „Anna ist kein Mensch. Sie ist kein normales Mädchen. Sie ist ein Behälter, ein Wirt für die Dunkelheit. Wa-rum denkst du, sucht ‚Dunkelheit‘ nach einem Behälter, um auf der Erde zu wandern?“

Erneut trat Stille ein, eine beklemmende, drückende Stille. Sho schluckte. Er wurde blass. „Du meinst, dass … dass die Dunkelheit durchgedrungen ist?“, fragte er ängstlich und erntete sich dadurch ein kurzes Lachen sei-tens Satoshi ein.

„Durchgedrungen?“, fragte er kichernd nach. „Nein, nein. ‚Durchdringen‘ tut sie jedes Jahr, wenn das Mal auf Annas Haut größer wird. Was heute passiert ist war eine komplette Übernahme. Ich verstehe nicht, wieso ihr das nicht begreift. Jeder, der sie gesehen hat, müsste wissen, dass das nicht Anna war.“. Niemand schien mehr fragen zu wollen nach dieser Aussage. Alle hielten den Atem an.

„Ich erkläre es euch. Das Mal auf Annas Rücken ist eine Manifestation des Bösen. Es ist wie eine Krankheit – sie breitet sich über den ganzen Körper aus, bis der Körper quasi platzt. Das ist bereits passiert – die Kristall-formation von Charlotte in meinem alten Haus, das war reine Energie und Anna hat sie komplett aufgenom-men. Dass sie nicht auf der Stelle gestorben ist, ist ein Wunder. Allerdings bin ich nicht der Einzige, der das weiß.“, fügte er leise hinzu. „Wenn eine so große Macht einen Körper braucht, der selbst dann nicht bricht, wenn er sogar einen anderen Teil von Macht in sich aufnimmt, das erkennt, wird sie euphorisch. Das Problem ist also nicht Annas Körper, noch nicht jedenfalls. Es ist ihr Geist, der nicht nur versucht, ihre Dunkelheit in Schach zu halten, sondern noch den anderen Teil… Charlottes Teil.“.

„Charlottes Teil?“, fragte Toki besorgt.

Sho erhob seine Stimme: „Was meinst du mit ‚noch nicht‘?“.

Als Mirai ansetzen wollte, um etwas zu sagen, hob der Shiki beschwichtigend die Hände, um wieder Ruhe zu erlangen.

„Deshalb jedenfalls, mein lieber Affe, ist Hoffnung so eine wichtige Sache. Der letzte Teil in Anna, abgesehen natürlich von ihrer unsterblichen Liebe zu Akira“, er verdrehte kurz die Augen, „ist dahin. Das letzte bisschen Hoffnung, dass sie weiterkämpfen ließ, ist weg. Und glaube mir, sobald die Dunkelheit eine Schwäche in dir sieht, übernimmt sie dich. Das hat man auch physisch gesehen. Ist euch aufgefallen, dass ihre Haut komplett weiß war?“.

„Ja, ihre Klamotten waren total zerrissen.“, murmelte Mirai und lehnte sich zurück.

„Stattdessen hatte Shiro …“, doch Toki wollte die Worte nicht aussprechen. Satoshi nickte.

„Nicht nur Shiro, im Übrigen.“, lächelte er kurz schmerzhaft und zog den Reißverschluss seiner Kapuzenjacke hinunter. An seiner Brust klammerte eine Miniatur von einem Mädchen. Die sonst so violetten Haare waren komplett schwarz. Hikari klammerte sich an Toshis Brust und atmete schwer. Sie schien zu schwitzen, als hät-te sie Fieber.

„Ich schätze auch die Wölfe in deinem Wald sind gerade ein bisschen durchgedreht.“. Toki sprang auf um zu Hikari zu rennen.

„Wieso hast du mir nicht erzählt, dass es ihr so schlecht ging?“, keuchte er entsetzt und versuchte, nach Hikari zu greifen, doch die Jacke schloss sich wieder.

„Das Miasma hätte dich umgebracht.“, antwortete er kühl und legte die Hand auf die kleine Beule auf seiner Brust. „Ihr versteht es einfach nicht. Wir haben keine Wahl, als uns dem Befehl unserer Königin hinzuge-ben.“.

„‘Wir‘?“, fragte Mirai argwöhnisch nach. „Was meinst du mit ‚wir‘ ?“.

„Wir, ihre Kinder, ihre Diener, ihre Sklaven.“, das Lächeln auf Satoshis Lippen wurde breiter. „Jeder, der ihr Blut getrunken hat oder aus ihrer Macht heraus geboren wurde, wird blind gegenüber allem, was er sonst so wertschätzt. Das ist der Grund, warum sich Shiro euch in den Weg gestellt hat. Um ehrlich zu sein bin ich überrascht, dass er dich nicht sofort angegriffen hat. Vielleicht hat er doch noch ein bisschen Loyalität für sei-ne Familie übrig in diesem Zustand…“, gedankenversunken schaute der Shiki aus dem Fenster.

„Aber du warst normal…“, erwiderte Toki verwundert. „Wieso?“.

Satoshis Augen wanderten zu dem Elfenkönig und verharrten dort für einige Sekunden. Er hatte sein Kinn auf seinen Knöcheln abgelegt. Sein Blick löste sich wieder von dem kleinen blondhaarigen Jungen. „Ich bin’s gewöhnt. Ich bin ein Shiki, ich mach‘ mir die Kraft der Königin zu Nutze. Zwar bin ich hier, um Befehle auszu-führen und kann auch wohl keinem widersprechen, aber ich werde nicht komplett ‚blind‘ durch die Macht, die sie über mich hat.“. Plötzlich fackelte ein Bild in Mirais Erinnerung auf. Als er Annas Arm gepackt hat, war Satoshi kurz zusammengezuckt. War das der Instinkt des Shikis gewesen, Anna zu beschützen?

„Deswegen hast du gesagt, wir sollten sie nicht angreifen…“, flüsterte der Affenkönig leise und Satoshi nick-te.

„Sie lässt alles töten, was ihr wehtun will. Um ehrlich zu sein würde ich gerade nur ungerne in Akiras Haut ste-cken.“.

„Apropos: Wieso war Akira nicht da, um zu helfen?“, fragte Sho nun genervt, da er gesehen hatte, wie Satos-hi Akira ins Haus getragen hatte. Satoshi schmunzelte erneut.

„Lieber Sho, du denkst vielleicht, du wüsstest alles, aber das Gefühl der Liebe ist dir wohl noch fremd, nicht wahr?“, stichelte er leise und sah grinsend dabei zu, wie Sho vor Wut rot anlief.

„Ist es nicht!“, schnauzte der kleine Tengu sofort, wurde jedoch von Mirai zurückgehalten.

„Was hat das damit zu tun?“, fragte Mirai argwöhnisch.

„Der Stromausfall heute Nacht… Lasst es mich so formulieren, heute Nacht kamen sich Anna und Akira ein bisschen näher, als sonst. Die Synchronisation hat begonnen und das zu dem deutlich schlechtesten Zeit-punkt. Wie ihr wisst, sind Shiro und Hikari durch Blut an Anna gebunden, genau wie ich. Akira allerdings nicht.“, begann der Shiki und setzte sich auf. Seine Miene verfinsterte sich. „Annas Seele… Ihre eigene, also nicht die von Charlotte oder der Teil, der die Dunkelheit in sich trägt, verbindet sich mit Akira. Je mehr sie sich ihm öffnet, desto mehr wird die Macht übertragen. Das haben wir über die Jahre gelernt. Bei Königinnen, die keinerlei Liebe für ihre Auserwählten empfanden, geschah nichts. Die Mädchen starben einfach nach kurzer Zeit. Aber Anna verliebt sich wirklich. Wisst ihr, warum Menschen Umarmungen lieben?“, fragte der Shiki plötzlich und sah in die Runde, nur um verwirrte Blicke zu ernten. „Wenn Menschen sich umarmen, sind sich ihre Herzen so nahe wie sonst nie. Es ist die Sehnsucht, aus zwei Menschen einen zu machen, zu verschmel-zen. Wenn zwei Seelen sich berühren… wie soll ich das sagen? Dann teilen sie etwas miteinander, versteht ihr?“, er gab den anderen kurz Zeit, darüber nach zu denken. „Aber bei Anna ist es anders. Sie trägt die Dun-kelheit in sich.“, er kam sich langsam lächerlich vor, das so oft sagen zu müssen. „Und das, was sie teilt, ist nicht nur ihre Seele. Seine Augen wurden schwarz, er war kurz davor, übernommen zu werden. Ich weiß nicht, wie weit die beiden bereits gegangen sind, aber das heißt, dass mittlerweile nicht nur Annas Leben in Gefahr ist.“.

„Wie meinst du das, nicht nur Annas Leben ist in Gefahr? Was ist mit Aki?“, fragte Mirai und er spürte, wie seine Kehle trocken wurde. Angst machte sich in seiner Stimme breit. Genervt stöhnte Satoshi auf. „Wie oft muss ich es euch noch sagen? Das ist wie eine Krankheit! Kriegt man sie nicht unter Kontrolle, stirbt man, so einfach ist das!“, fauchte er erschöpft und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

„Wie können wir es aufhalten?“, fragte Toki sofort entgeistert, „Was können wir dagegen tun?“

Satoshi funkelte ihn zwischen den Spalt seiner Finger an, ehe er aufstand und sich vor Toki aufbäumte.

„Aufhalten?“, fragte er leise nach und er spürte Wut in sich hoch kochen. „Was dagegen tun?“. Er drehte sich zu Mirai um und starrte ihn an. Der Affenkönig war ebenfalls aufgestanden. Verängstigt starrte Sho die bei-den großen Männer an. „Es ist echt nicht zu fassen, mit was für Idioten sich meine Anna abgibt.“, knirschte Satoshi wutentbrannt.

„Sag‘ das noch mal.“, fauchte Mirai nun und zog sich den Shiki an dessen Kragen näher.

„Ich sag es, so oft wie ihr es hören müsst. Alle buhlt ihr euch um Annas Kraft, um die Macht, die in ihr steckt, damit ihr eure eigenen Ziele verfolgen könnt.“, nun packte sich auch der Shiki den Kragen des anderen. „Was habt ihr geglaubt, wie das funktionieren würde? Dass ihr einen Vertrag unterschreibt, wie sie es mit Sho ge-macht hat? Dass ihr einfach danach fragt, wie nach Geld?“. Wütend stieß er den Affenkönig von sich, sodass dieser zurück im Sofa landete. „Was denkt ihr eigentlich, wer ihr seid?“. Das Gesicht Toshis wurde weiß. „Niemand von euch denkt je daran, was sie durchmachen musste, oder?“. Für eine Sekunde meinte man, ein blaues Blitzen in seinen Augen sehen zu können. Satoshi drehte sich weg. Er konnte nicht weiter bei diesen gehirnamputierten Idioten bleiben, es gab wichtigere Dinge zu tun. Im Türrahmen drehte er sich jedoch noch einmal um: „Eines muss ich ihr jedoch lassen. Über die Zeit hat Anna es geschafft, viele von euch mit ins Ver-derben zu reißen.“.

Sobald Toshi die Tür geschlossen hatte, hatte ihn auch schon die nächste Nervensäge eingeholt. Ein junger, weißhaariger Mann stand vor ihm, sichtlich beschämt, sogar verletzt.

„Shiro…“, murmelte Toshi verwundert und sah sich seinen quasi-Halbbruder genauer an, doch dieser weiger-te sich, dem Shiki ins Gesicht zu blicken.

„Stimmt das, was du gesagt hast?“, fragte er nun leise und löste in Satoshi fast sowas wie Mitleid aus.

„Du hast es also gehört…“. Der Wolfsjunge nickte. Seine Finger vergruben sich fest in seinen Armen. „Es stimmt.“, sagte Satoshi schließlich und sah, wie der Junge noch bedrückter dreinblickte. Er war wirklich noch ein Kind.

„Was kann ich tun?“

„Tun?“. Satoshi überraschte diese Frage.

„Um zu werden, wie du. Um mich zu widersetzen.“

Der Shiki seufzte kurz. „Im Moment nicht viel. Wenn du helfen willst, komm mit, ich muss nach Akira schau-en.“. Shiro zögerte kurz.

„Was ist mit Anna?“, fragte er dann leise nach.

„Der geht’s gut.“. Der Shiki bewegte sich Richtung Treppen.

„Was war dieses Ding, das neben ihr stand?“, fragte der Junge schließlich, als sie die obersten Stufen erreicht hatten.

„Eine Manifestation. Glaube nicht, dass wir das so bald wiedersehen werden.“, Satoshi wählte seine Worte extra etwas schwammig, eigentlich wollte er dieses Thema vermeiden. Er hörte, wie Shiro kurz schnaufte.

„Fang bloß nicht an zu heulen.“, schnauzte er Shiro an und hielt an Akiras Tür an. Shiro erwiderte nichts.

Ohne zu klopfen traten die beiden ein. Akira saß auf seinem Bett und starrte aus dem Fenster.

„Was wollt ihr denn hier?“, schnauzte der Feuerteufel leise, sah sie jedoch nicht an. Er hatte ihnen den Rü-cken zugewandt, wollte niemanden sehen. Die Linien auf seinem Rücken zogen leichte Kreise. Satoshi konn-te erkennen, dass die Linien nicht annähernd so viel und breit waren, wie die von Anna, dennoch war es be-unruhigend.

„Wir müssen etwas klären.“, erklärte er sich schließlich, während Shiro vorsichtig ums Bett herumging.

„Deinen Augen geht es besser?“, fragte Satoshi, als er Shiro ums Bett herum folgte und die goldenen Augen Akiras betrachtete. Dieser nickte kurz.

„Wie geht’s Anna? Toki hat mir das mit Mika erzählt, als ich aufgewacht bin…“, murmelte er schließlich. „Es tut weh…“, fügte er leise hinzu und griff sich ans Herz.

„Ihr geht es gut.“, antwortete Satoshi barsch und setzte sich an den Fensterrahmen. „Ich glaube, du leidest sogar mehr als sie.“. Auch er wandte seinen Blick nun nach draußen. Nach einigen Sekunden der Stille setzte er erneut an: „Nur mal so: Nur weil du dich von den Schmerzen und Ängsten der Menschen ernährst, heißt das noch lange nicht, dass du ihrer Kraft gewachsen bist. Tatsächlich bist du gerade drauf und dran, von ihr aufgefressen zu werden.“ Diese Worte ließen Akira tatsächlich zu Satoshi aufblicken.

„Was meinst du damit?“, fragte er nachdenklich.

„Ich meine, dass du stärker werden musst. Nicht körperlich, bei Gott, davon hast du wahrlich genug im Mo-ment, aber geistig. Du musst ihr gewachsen sein – auf geistiger Ebene.“

„Ich bin Anna gewachsen…“, schnaufte Akira lächelnd und lehnte sich zurück aufs Bett.

„Ich meine nicht Anna. Ich meine Charlotte.“. Satoshi wandte seinen Blick zu Akira, der ihn nun argwöhnisch erwiderte.

„Was ist mit Charlotte?“.

„Charlotte hat einen Knall, ums mal so zu sagen. Sie hat sich nie in jemanden verliebt, doch nun, da sie zum Teil in Anna steckt, hat sie bestimmt die Hoffnung ihre zweite Halbzeit spielen zu können.“

„Ich verstehe nicht, was du meinst.“

„Natürlich tust du das nicht.“, schnauzte Satoshi, „Allerdings habe ich keine Zeit, dir alles so genau wie mög-lich zu erklären und ehrlich gesagt auch keine Lust, ich bezweifle nämlich, dass irgendetwas in deinen Dick-schädel reinkommt, egal wie oft ich es dir sage. Fakt ist: Du musst trainieren.“

„Trainieren?“, Akira musste kurz trocken lachen. Das Leben ist doch kein RPG.

„Ich meine es ernst. Du wirst nicht der einzige sein.“. Mit einer Handbewegung deutete Satoshi auf Shiro. Dieser ließ geknickt den Kopf hängen.

„Charlotte hat doch überhaupt keine Macht über Anna.“, schnauzte Akira genervt und legte die Hände hinter den Kopf, ehe er sich auf seinem Kissen niederließ.

„Darum geht es nicht. Wenn Charlotte sich entschließt, dass Anna jemand anderen aussuchen soll, kann das sehr wohl Einfluss auf sie nehmen. Und wenn sie denkt, dass du der richtige bist, wäre es sogar noch schlim-mer.“, erklärte Satoshi nun und stieß sich vom Fenstersims ab.

„Wieso?“, Shiro meldete sich nun zu Wort und heimste sich dafür einen ziemlich strafenden Blick vom Shiki ein.

„Ganz einfach: wenn Charlotte sich in diesen Nichtsnutz verliebt, denkt sie vielleicht, dass Anna ihn gar nicht verdient hat.“, fauchte er leise, als er vor Shiro stand. Stille trat ein.

„Ich muss weiter. Denk darüber nach.“, schnauzte Satoshi dann schließlich und ging, gefolgt von Shiro, aus dem Zimmer.

„Wieso erklärst du es ihm denn nicht genauer?“, wollte Shiro sofort wissen, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. „Du hast ihm doch kaum was gesagt.“

„Wir haben keine Zeit für Geplauder. Keine Zeit….“, murmelte der Shiki vor sich hin und ging zur nächsten Tür. Dieses Mal klopfte er an.

„Herein.“, sagte eine tiefe, brummige Stimme, und die zwei traten ein.

Ren saß auf einem Stuhl an einem Bett. Die dunkelgrünen Gardinen waren zu gezogen, ein Feuer knisterte in dem Kamin. Im Bett lag Liam, immer noch regungslos.

„Wie geht es ihm?“, fragte Satoshi und Shiro war sich nicht ganz sicher, ob er Sorge aus der Stimme heraushö-ren konnte.

„Er wird überleben.“, antwortete Ren knapp und nahm einen Schluck von seinem Tee. Bei genauerem Hin-sehen fiel Shiro eine große Bandage auf, die sich über den Torso des Drachengotts erstreckte.

„Was ist passiert…?“, die Worte fielen aus seinem Mund, ehe er sich überhaupt dazu entscheiden konnte.

„Die Manifestation hat ihn erwischt.“, antwortete Satoshi sofort und setzte sich zu Liams Seite. Seine Hände wanderten vorsichtig über das zerschlagene Gesicht. Ren schloss das Buch, das auf seinem Schoß saß, und sah Shiro an.

„Es ist halb so wild.“, versicherte er ihm, doch selbst wenn die Worte Trost spendeten sollten, fühlte sich der Wolfsjunge, als würde Ren ihn analysieren. Die smaragdgrünen Augen funkelten nachdenklich zu ihm her-über.

„Hast du mit Akira gesprochen?“, wollte Ren nun wissen und wandte seinen Blick zu Satoshi, welcher nickte.

„Ja, er ist noch ein bisschen verwirrt, aber ich denke es wird da keine Probleme geben.“, murmelte er. Sein Gesicht war dem Liams unheimlich nahe.

„Gut. Anna?“.

„Ich war noch nicht bei ihr.“, erwiderte Satoshi kalt. Ren musste kurz lachen, dann husten.

„Ich hätte nicht erwartet, dass ihr Shiki, der sie so sehr liebt, Angst vor ihr hätte.“, murmelte er, ehe er die Lippen an der Tasse ansetzte um einen weiteren Schluck zu trinken. Shiros Blick haschte zu Satoshi, welcher sich nicht regte. Plötzlich stand er auf.

„Ich habe keine Angst.“, erklärte er sich kurz.

„Gut. Wir haben einen Deal, vergiss das nicht.“, erwiderte Ren. Shiro starrte nun ihn verwirrt an.

„Komm, Wolf.“, murmelte Satoshi und wartete auf Shiro an der Zimmertür.

„Gehen wir jetzt zu Anna?“, fragte Shiro unsicher. Satoshi nickte. „Was für einen Deal hast du mit Ren ge-macht?“, fragte der Wolfsjunge dann sofort, doch sie waren bereits an Annas Zimmertür angekommen. Sa-toshi legte seine Hand auf die Klinke, öffnete die Tür jedoch noch nicht.

„Egal, was du jetzt hörst, du sagst keinen Ton und gehst nicht zu ihr hin, verstanden?“. Shiro konnte nicht an-ders, als zu nicken. Die Tür öffnete sich. Warme, stickige Luft strömte aus dem Zimmer, als würde man ein heißes Bad betreten. Anna saß in einem Stuhl und schrieb etwas auf.

„Oh, hallo.“, ihre Stimme war hell und munter, fast fröhlich. Das Mädchen drehte sich in ihrem Stuhl um und schaute zur Tür.

„Hallo, Anna. Wie geht’s dir?“, fragte Satoshi nonchalant und schloss die Tür hinter Shiro, welcher unsicher eintrat. Etwas stimmte nicht.

„Gut soweit. Wie geht’s euch? Und Akira?“, fragte sie neugierig, wandte sich jedoch sofort wieder um, um weiter zu schreiben.

„Gut.“. Die Stimme des Shikis war distanziert.

„Sehr schön. Shiro, komm her, lass dich umarmen.“, grinste Anna dem Blatt Papier entgegen und streckte eine Hand Richtung Zimmer. Shiro war drauf und dran, los zu gehen, doch Satoshi hielt ihn fest. Ein bedeu-tender Blick sagte ihm, dass er nicht zu Anna gehen sollte.

Annas Hand verharrte für einige Zeit in der Luft.

„Wieso machst du das, Toshi?“, fragte sie dann leise und die Munterkeit wich ihrer Stimme.

„Du weißt, dass Mika tot ist?“

„Ja.“

„Du weißt, wer es war?“

„Eve.“, antwortete das Mädchen wie aus der Pistole geschossen. Sie hörte auf zu schreiben.

„Du warst es, Anna.“. Satoshis Worte lösten eine Gänsehaut bei Shiro aus. Anscheinend war er nicht der ein-zige, der dadurch beeinflusst wurde. Anna bewegte sich in ihrem Stuhl, schien unruhig.

„Lüg‘ nicht rum.“, murmelte sie dann plötzlich und beugte sich noch tiefer über das Blatt Papier.

„Hättest du mehr Stärke bewiesen, mehr darauf geachtet, was in deiner Umgebung passiert, hätte sie nicht sterben müssen.“.

„Erzähl keinen Scheiß.“

„Ich hab‘ es dir schon einmal gesagt und werde es erneut sagen: Du bist schwach. Zuerst Adam, dann deine Mutter, jetzt Mika. Wer soll als nächstes dran glauben? Und du sitzt hier rum und tust, als wäre nichts pas-siert. Was denkst du dir eigentlich?“ Satoshis Stimme wurde lauter und lauter. Das Blau in seinen Augen wur-de heller, deutlicher. Es war, als wäre Adam zurück, obwohl Shiro wusste, dass Adam nie so mit Anna geredet hätte. Die Blondine drehte sich herum und musterte den Shiki.

„Ich war es nicht. Es war Eve.“, sagte sie kühl, als hätten seine Worte sie kaum berührt.

„Und doch weißt du, dass ich Recht habe. Du bist schwach.“, entgegnete Satoshi fast schon mit Hass. Anna wusste anscheinend nicht, was sie darauf antworten sollte. Ihr Blick fiel für einige Sekunden zu Boden, dann suchte sie Shiro.

„Denkst du auch so?“, fragte sie kurz angebunden, doch ehe er etwas sagen konnte, bedeutete ihm Satoshis gehobene Hand zu schweigen.

„Jeder denkt so. Du bist eine Königin und verhältst dich wie ein Teenager.“

„Ich BIN ein Teenager, vielen Dank.“, schnauzte Anna und ihre Stimme wurde lauter. „Seit wann erlaubt es sich ein Shiki überhaupt, seiner Königin zu widersprechen?!“, fügte sie hinzu und stand auf, um auf Satoshi zuzulaufen.

„So eine schwache Königin wie du?“, ein angewidertes Lächeln breitete sich auf Satoshis Gesicht aus. „So je-manden nennt niemand ‚seine Königin‘.“ Die Luft in dem Raum wurde immer stickiger, es wurde langsam schwer zu atmen.

„Was hast du gesagt?“, zischte die Blondine leise.

„Du bist keine Königin. Wenn, dann…“, Satoshi schluckte kurz, „Dann wäre Eve wohl eher eine, als du.“. Eine Hand flog durch die Luft, doch machte plötzlich Halt. Satoshi, der kurz zusammengezuckt war, musterte die weiße Hand Annas. Das Blau in Annas Augen … es war nicht mehr das selbe, als ein kurzes Lächeln ihre Lippen umspielten.

„Guter Versuch.“, grinste sie leise, ließ ihre Hand sinken und musterte ihren Shiki. „Satoshi, ich weiß nicht, wieso du mich nicht leiden kannst.“.

Überrascht und gleichzeitig eingeschüchtert huschten Shiros Augen zu Toshi. Eigentlich nannte Anna ihn nicht so.

„Ich konnte dich noch nie leiden. Damals nicht und heute auch nicht.“. Man konnte die Abscheu in seiner Stimme jedenfalls nicht erkennen, dachte Shiro sich. Das blonde Haar wehte kurz durch die Luft, als Anna sich wieder abwandte.

„Was willst du?“, fragte sie barsch und setzte sich wieder hin. Ihre Hand griff nach dem Stift, um weiterzu-schreiben.

„Ren hat dich eingeladen, den Drachenpalast zu besuchen.“.

„Oh wirklich? Das ist aber lieb von ihm.“

Etwas stimmte nicht. Etwas in Shiro bäumte sich gegen diese Person im Stuhl auf. Satoshis Hand bohrte sich in Shiros Schulter, um ihm zu bedeuten, dass er nicht auch nur einen Schritt auf sie zu machen sollte.

„Wir fahren morgen.“, knurrte der Shiki.

„Gut.“, antwortete die Königin lächelnd, ehe die beiden jungen Männer ihr Zimmer verließen.
 

Die Tür schloss sich hinter Shiros Rücken und er war überrascht, dass er nicht der einzige war, der tief ausat-mete. Satoshis Hand fuhr sich über die Stirn. Sie wusste es. Er wusste es.

„Was ist los?“, fragte Shiro nervös. Was verbarg Satoshi?

Es war lange her, dass der Wolfsjunge es zu spüren bekam. Eine vertraute Lieblichkeit, als Satoshis Hand durch das weiße Haar fuhr, als er seinen Kopf kraulte.

„Irgendwann … müssen wir uns mal wirklich unterhalten, Shiro. Das schulde ich euch.“, seine Stimme war sanft und leise, fast komplett ungewohnt, aber merkwürdig vertraut. Ein blaues Glitzern war in Satoshis Au-gen zu sehen.

„Du…“, fing Shiro an, doch erneut seufzte Satoshi.

„Wenn wir morgen gehen… Räum‘ bitte Annas Zimmer auf.“, murmelte der Shiki.

„Ich darf nicht mitkommen?“, entgegnete der Junge nun entsetzt. Toshi griff nach seinem Nasenrücken, als hätte er eine Migräne.

„Tut mir leid, aber das müssen wir alleine regeln. Es wäre zu gefährlich für euch Idioten.“. Das war wieder der Toshi, den alle kannten und hassten. Genervt verzog Shiro sein Gesicht.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Bisher habe ich immer nur halbe Kapitel veröffentlicht. Ab dem nächsten folgen die ganzen Kapitel. Komplett anzeigen

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Von:  Chiisai112
2017-03-19T10:34:22+00:00 19.03.2017 11:34
gänsehaut!!
Von:  Fullmoon1
2017-03-17T20:26:43+00:00 17.03.2017 21:26
geiles kapitel :)


Lg Fullmoon1
Von:  Leele
2016-12-04T22:59:20+00:00 04.12.2016 23:59
Es geht weiter!!!
Ich hab die ganze Zeit wirklich gespannt gewartet, wie es nach der Wendung im letzten Kapitel weitergeht und bin echt nicht enttäuscht worden.
Danke!
Jetzt werde ich wohl wieder voller Aufregung aufs nächste Chapter warten ^^'
Antwort von:  Yinjian
05.12.2016 08:57
Haha freut mich, dass du noch dabei bist :) hab mit dem neuen Kapitel schon angefangen aber weiß noch nicht wann es kommt x)
Von: abgemeldet
2016-08-11T19:01:03+00:00 11.08.2016 21:01
Nur eine kleine Anmerkung: Akira schnappt sich die Hand des kleinen Jungen und sagt, dass Akira und Liam Hunde nicht ausstehen können. Ist das richtig?
Super Kapitel :D
Von: abgemeldet
2016-06-29T14:43:47+00:00 29.06.2016 16:43
"Ich glaube nicht, dass er an mich interessiert ist." ... an mir....?
"Es geht nicht darum" ... ging...?

Ich frage mich, was es mit dieser Dienerin auf sich hat. Wieso ist sie so "zickig". Hat sie zufällig ihren Nachwuchs an die Wölfe verloren oder hat es eine andere Bedeutung... hmmmm.....

"Anna ging in die währenddessen Umkleide" ??? Sie ging währenddessen in die Umkleide?
Antwort von: abgemeldet
29.06.2016 16:44
Ansonsten super Kapitel :DDD
Von: abgemeldet
2016-06-29T14:27:04+00:00 29.06.2016 16:27
"Dann zog er Top etwas runter" ... zog er den Top ... sonst klingt das etwas unvollständig ^^

Mäh, je weiter ich lese, desto unfreundlicher finde ich Mirai. Hoffentlich entscheidet sie sich am Ende der Story nicht für ihn, hoffentlich nicht für ihn >.< *daumen drück* Verwöhnter kleiner Junge, pfffff....

"k0nurrte " XD
und damit du die Stelle wieder findest: „Du hast mit den Blumen ihren Duft überdeckt...“

"junge Dame" loool

Irgendwie fehlt mir da noch ein Absatz, in dem sie sich wieder beruhigt und entspant und s Adrenalin nachlässt und sie sich erst danach von der Autorität des Affenkönigs übermannt lässt

Nichtsdestotrotz verstehe ich nicht wieso ausgerechnet sie ein schlechtes Gewissen bekommt :/
Von: abgemeldet
2016-06-29T13:56:31+00:00 29.06.2016 15:56
"Natürlich war die klare Luft so früh am Morgen doch etwas kalt, deshalb ist es wahrscheinlich verständlich" ist dieses "Ist" in der Gegenwart eigentlich gewollt? Wäre "deshalb war es verständlich..." nicht besser? Fällt mir nur immer wieder auf beim Lesen :P

Wooow, voll unhöflich uneingeladen in das Zimmer eines Fremden reinzugehen :0 Was hat n der für Manieren >.<?
Und was echt toll wäre, vll. ja irgendwann die Tattoos der beiden, im Moment weiß ich nur von den beiden, optisch zu sehen, als Zeichnung oder so *_* Das wäre toooll

Interessant. Mir fällt erst jetzt die Parallele von ihrer Gang zu, nennen wir es, "seiner" auf. Von wegen, dass ihre Leute eigentlich gar nicht kämpfen können und ständig ihren Schutz brauchen. Jaja :D da war doch was.

"hinter fragen" = hinterfragen :)

Ob der Wolf sich wohl auch verwandeln kann?
Ich stimme Blackyoushi zu, der Verweis auf Dragon Ball ist super :DDD
Von: abgemeldet
2016-06-29T13:07:42+00:00 29.06.2016 15:07
Tach :D

Ich hatte die letzten paar Kapitel vorher vergessen, ihren "Bruder" auszulachen ... "Haha, du darfst ihr die Haare machen :P"

Kann es sein, dass du dich auch persönlich für die Meeresgeschöpfe interessierst? Denn mir haben die Namen der Fische zum Beispiel so was von überhaupt nichts gesagt. Ich muss mal googeln wie diese aussehen :D

Öhm, ähm. Wie viele Meere hat sie eigentlich schon gesehen? "Ein Meer, größer, als jedes das sie bisher gesehen hatte." Wie ist es überhaupt gemeint?
Das würde dann ja aber auch bedeuten, dass sie des öfteren so was wie Urlaub am Meer gemacht hatte. Auf die Ergänzung freue ich mich schon ^^

Wie es wohl dazu kam, dass Ren aus dem Reich des Wassers in das Reich des Betons versetzt oder vll. vertrieben wurde. ... Ok, tatsächlich vertrieben, habs dann später gelesen ^^=

Ich hänge mich immer wieder an der Mehrzahl des Wortes Iris auf. Muss zugeben, dass ich nachgeschlagen habe und so weit ich es sehen konnte, ist es eine andere Bezeichnung: "Iriden, Irides". Bei Iren muss ich an die Menschen aus Irland denken ^_^

„Ich kann Gedanken lesen.“ Und ich habe ihr nicht geglaubt, oh schande. Ein paar Kapitel später wurde ich dann eines besseren belehrt. Öhm. Vielleicht sollte ich an der Stelle noch so was wie "Vorsicht, Spoiler" schreiben, aber hei, das wäre viel zu nett :P

"jedes heiratswütige Mädchen" das heiratswürdige ist aber echt altgebacken. Von der Sprache her, die ich von ihr gewohnt bin, spricht sie eigentlich ganz normal, alltäglich, jugendlich (so was in der Art) aber heiratswürdige... hmmm.
Von:  didiboy
2016-06-07T17:40:46+00:00 07.06.2016 19:40
Tolles Kapitel bitte schreib schnell weiter bin gespannt ob Anna sich verführen läst und sie Kai wider finden tut
Von: abgemeldet
2016-06-05T14:51:20+00:00 05.06.2016 16:51
Hei, cool, die Sichtweise von Kiki aber gleich handgreiflich werden, nur weil diese "Damen" selbst jede Menge Probleme, das Selbstwertgefühl einer Erbse (zu gut?) haben, höm. Die haben bestimmt auch eine Vorgeschichte, alle oder einzelne Personen, es fällt mir gerade schwer zu glauben, dass man als normaler, ausgeglichener Mensch gleich so gewaltbereit sein kann. Naja, irgendwas wird da schon im Busch sein. Eifersucht, wäre auch ein starkes Motiv ;P

Wenn ich das mit dem Loch in der Wand lese, denke ich unweigerlich an einen Baseballschläger aus Metal und frage mich, wieso diese "Damen" überhaupt noch am Leben sind? Natürlich könnte man noch darüber streiten, wie tief das Loch in der massiven Wand ist, um sich vorstellen zu können, welcher Bums hinter dem Schlag gesteckt hat, aber gehen wir mal von viel Kraft aus. Sie scheint sich beherrschen zu können, die liebe Anna, wenn die Mädchen nur n wenig bluten und auch noch laufen können. Verwunderlich ist jedoch, dass sie selbst so viel abbekommen hat. Ich mein, sie ist eine Schlägerbraut, erfahren in Kämpfen mit einer gesteigerten Kraft UND hat einen Baseballschläger ... ich überlege nur so vor mich hin ^_^

Moment mal. Sie soll doch nach dem Unterricht kommen, oder? Sie erscheint gegen Abend. Haben die Jungs was gegen Freizeit? Ich hab so langsam den Eindruck, dass sie in dem Schulgebäude leben. Irgendwo separat sind bestimmt ein paar Feldbette aufgestellt und einen provisorischen Schrank haben sie auch da irgendwo XD

Hach, süß, Jugendarrest. Denkfehler meine Herren. Wenn sie wieder unfreiwillige "Ferien" von der Schule machen soll, kommt ihr nicht an sie heran, ergo kann sie keinen von euch auswählen, ergo wird nicht geheiratet, ergo könnt ihr eure Ziele nicht erreichen *muahahaha* :D

Und da sucht sie sich gleich die beiden schrierigsten Fälle aus. Na gute Nacht :)
Antwort von:  Yinjian
06.06.2016 12:42
Ahahaha, sehr witzige Kommentare, danke xD Ja, was die Gewalt gegenüber anderen angeht, da hält sie sich "zurück". Tatsächlich wird es über die Geschichte hin schlimmer. Ich verrat dir jetzt was, was bisher noch nicht so in der Story steht: Damals, als sie halt noch nicht so viele Kräfte hatte, da hat sie sich nur auf die Robustheit ihres Körpers verlassen & dass es ihr in wenigen Sekunden wieder gut gehen würde. Das heißt, dass sie nicht besonders stark ist. Außer beim Sandkastenmassaker, damals war es was anderes - aber dafür bist du noch nicht weit genug in der Story ^^
Und ja, sie wollte sich gleich mit den beiden treffen, damit das "Schlimmste" aus dem Weg ist :D
Ich hoffe du liest weiter und schreibst wieder, wenn was fehlerhaft ist ^-^
Antwort von: abgemeldet
06.06.2016 23:07
Na, auf jeden Fall. Wenn ich wieder mehr Zeit habe. Aber zunächst n mal werde ich die super Geschichte genießen, Kapitel für Kapitel :D


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