Zum Inhalt der Seite

Residuum

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
DISCLAIMER: Die Figuren gehören nicht mir, sondern J.K.Rowling, ich habe sie nur mit einem Verwirrungszauber gefügig gemacht, damit sie hier ihre Rollen spielen…

ANMERKUNG: Ich weiß, die einzelnen Kapitel sind lang, sehr lang teilweise (und ausschweifend. Beschwerden bitte an H.G. Wells, an dessen Schreibweise ich mich ein wenig orientiert habe). Aber glaubt mir, ich war wesentlich geschockter, als ich feststellen musste, dass aus den "bestimmt nur 3 Kapitel" am Ende 16 geworden sind (Prolog und Epilog nicht eingerechnet...)
Und nun viel Spaß beim Lesen (ich hatte auf jeden Fall Spaß am Schreiben) Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Prolog


 

PROLOG

 

 

Müde und erschöpft legte Percival Graves seine Schreibfeder beiseite, als er endlich seine filigrane Unterschrift auf das Ende des Pergamentbogens gesetzt hatte. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und massierte seine schmerzende Handfläche. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er wieder viel zu lange an seinen Berichten gesessen hatte. Seine Glieder waren steif und schmerzten und die Augenlider fühlten sich schwer an.

 

Es war bereits kurz vor sechs Uhr am Abend und er stellte fest, dass er seit über zwei Stunden an dem Tagesbericht geschrieben hatte. Die Rechnung ließ sich fortführen: Zwölf Stunden war er im aktiven Dienst unterwegs gewesen, hatte eine Razzia anführen, zwei Verdächtige verfolgen und sieben Verhöre durchführen müssen. Kein Wunder also, dass er sich geplättet und erschöpft fühlte.

 

Ein kurzer Blick in seine Tasse, ließ ihn genervt die Augen verdrehen. Sie war leer, nur noch ein kreisförmiger, längst getrockneter Rest Kaffee war am Boden zu erkennen. Sein enttäuschter Blick schweifte weiter durch den Raum und entdeckte schließlich sein Spiegelbild in einer der Vitrinen, in denen er seine Sammlung magischer Objekte aufbewahrte. Feindgläser, Geheimnisdetektoren, Spickoskope und andere Apparate, zum Aufspüren rachsüchtiger und unheilvoller Aktivitäten, standen akkurat aufgereiht und poliert an ihren Plätzen. Das Einzige, was ihn an diesem Gesamtbild störte, war der blasse, schwarzhaarige Mann, der ihm aus seinen dunklen, ermüdeten Augen von der gläsernen Oberfläche entgegen starrte.

 

‚Na gut‘, dachte er sich und stand auf, um sich zu strecken und die Knöchel knacken zu lassen. ‚Wenn auch der Kaffee alle ist, ist für heute Feierabend.‘ Er ging um seinen Tisch herum.

Mit einer lockeren Bewegung aus dem Handgelenk, ließ er einen Zauber wirken, welcher seinen Arbeitsplatz fein säuberlich aufräumte. Der Bericht rollte sich zusammen, die Feder flog in ihre Halterung und sein Stuhl rückte sich von alleine an den Tisch heran. Mit einem weiteren Wink schwebten ihm Schal und Mantel entgegen, schlangen sich treffsicher um seinen Körper und noch bevor der Auror seine Tür erreichte, war er korrekt angekleidet und aufbruchsbereit. Er trat in den halbdunklen Flur hinaus und verschloss die Tür sorgfältig. Zu der vorangeschrittenen Abendstunde waren nur noch wenige andere Mitarbeiter in den Büros anzutreffen oder auf der Etage unterwegs, die meisten seiner Untergebenen waren auf Nachtpatrouille oder schon zu Hause, und er marschierte, mit einem grüßenden Nicken, aber wortlos, an den vereinzelt Anwesenden vorbei.

 

Er erreichte den Fahrstuhl, in dem noch immer ein kleiner, faltiger Zwerg seinen Dienst verrichtete und für ihn den Knopf zum Erdgeschoß drückte.

„Guten Abend, Sir“, schnarrte der Zwerg gesittet.

„Guten Abend.“ Percival gab ihm mit seinem scharfen Tonfall höflich, aber entschlossen den Hinweis, dass er keine Unterhaltung führen wollte und so verbrachten sie den Rest der Fahrt in Begleitung eines erdrückenden Schweigens. Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich ratternd und beide waren froh, als Percival den kleinen Raum verlassen hatte.

 

Im Eingangsbereich war der übliche Trubel der Arbeiter und Besucher kaum noch zu bemerken und es herrschte eine fast schon betrübliche Stille, in der sonst so lärmerfüllten Halle. Das milchige Tageslicht, welches durch die ebenmäßigen, übereinander gereihten Fenster des Raumes fiel, war verschwunden und nun wurde das Foyer spärlich von dem orangefarbenen, flackernden Kunstlicht der äußeren Reklameschilder und Straßenlaternen erfüllt. Es gab nur noch einen besetzten Empfangsschalter und ein gutes Dutzend Mitarbeiter, die ihrem geschäftigen Treiben nachgingen oder sich murmelnd miteinander unterhielten. Neben dem leisen Getuschel, waren die einzigen Geräusche das Flattern einiger Flügel und das Widerhallen von Percivals Schritten, als er die schwarzen Marmorstufen hinabstieg, die zum Ausgang führten.

 

Zügig verließ er das Woolworth-Gebäude. Er passierte die geheime Schwingtür am Eingang und trat hinaus in die kalte, leicht verregnete Nacht. Feine Tropfen verteilten sich auf den Wegen und die schlammigen Pfützen schimmerten im trüben Licht der Laternen. Er stellte den Kragen seines Mantels auf, um sich besser gegen Regen und Wind zu schützen und steuerte dann die gegenüberliegende Gasse an.

 

Trotz der vorangeschrittenen Nacht und dem ungemütlichen Wetter, waren noch unzählige Leute auf den Straßen von New York unterwegs. Alles wurde von dem geschäftigen Lärm der Menschen erfüllt, schrille Rufe und flotte Musik erklangen aus der Ferne und klobige Automobile fuhren knatternd und brummend vorüber. Die elektrischen Lichter der Geschäfte und Schaufenster blinkten und flimmerten und in vielen Wohnhäusern wurden die Fenster von einem gelblichen Schein erfüllt.

 

Percival überquerte die Straße und obwohl er dabei sehr waghalsig vorging, wich ihm keines der Autos aus oder wies ihn mit einem hektischen Hupen zurecht. Auf seltsame Art und Weise schaffte er es immer rechtzeitig, einem dieser neumodischen Fahrzeuge geschickt aus der Fahrbahn zu treten und es hatte fast den Eindruck, als würden die Fahrer ihn nicht einmal wahrnehmen. Ohne sein Tempo zu verändern, erreichte er sicher die andere Straßenseite und bog in die kleine, finstere Gasse ein. Er wartete einen Augenblick, ließ einen Pulk von quasselnden, jungen Männern vorüberziehen und war plötzlich mit der nächsten Windböe verschwunden.

 
 

~*~*~

 

Kaum eine Sekunde später, tauche er etliche Straßen weiter wieder auf, hinter einem Stapel leerer Obst-Paletten. Er trat so selbstverständlich aus deren Schatten heraus, dass weder die nebenstehenden Fußgänger, noch der lumpige, alte Bettler, der nur zwei Schritte neben ihm auf dem Boden lag, sich irgendwelche Gedanken darüber machen konnten, wo er auf einmal herkam. Er schritt zügig weiter, die Hände nun in den Taschen verborgen und lief an einem halben Dutzend Geschäfte vorbei, bis er einen kleinen Lebensmittel-Laden erreichte, an dem noch immer das OPEN-Schild zu sehen war. Er stieg die schmale Steintreppe nach oben, öffnete die Tür und betrat den Verkaufsraum. Es war ein relativ kleiner Raum, vollgestellt mit mannshohen Regalen und Tischen, schwach erhellt von mehreren diffusen Lampen, die von der Decke baumelten. Eine kleine Glocke kündigte Percivals Kommen an, doch er war nicht der einzige Kunde im Laden. Zwei ältere Damen hatten sich über eine spärliche Auslage mit knackigen Äpfeln gebeugt, ein junger Mann stand unschlüssig vor dem Dosenregal und ein weiterer Herr inspizierte gründlich ein Bündel runzliger Würstchen neben dem Kassentresen. Eine junge, brünette Frau hatte soeben ihre Einkäufe erledigt und kam ihm mit zwei großen Einkaufstüten entgegen. Manierlich wie er war, hielt er der Dame die Tür auf und sie schenkte ihm ein überaus freudiges Schmunzeln, welches er jedoch nur halbherzig erwiderte. Er zog lediglich die Mundwinkel nach oben, ohne dabei ein richtiges Lächeln zustande zubekommen.

 

„Vielen Dank, Mister“, sagte sie und warf ihm im Vorbeigehen einen musternden Blick über seine markanten, wenn auch erschöpften Gesichtszüge zu. Dann trippelte sie hastig die Stufen hinunter und lief in die entgegengesetzte Richtung davon, aus der er gekommen war. Percival blickte ihrer schlanken Figur hinterher, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, schloss dann die Tür und lief durch den schmalen Gang, der zum Tresen führte. Er kam an Backwaren und eingelegten Dosenfrüchten vorbei, doch er hegte kein Interesse für eines dieser Lebensmittel. Was er sich heute, nach diesem beschwerlichen Tag gönnen wollte, würde eine flüssige Konsistenz mit reichlich Prozenten haben. Er steuerte also direkt auf den Kassenbereich zu, hinter dem ihm ein kleiner, rundlicher Mann mit dichtem Schnauzbart erwartungsvoll entgegen sah.

 

„Guten Abend, Mr Graves“, grüßte dieser mit einem freundlichen Grinsen.

„Guten Abend“, erwiderte Percival ruhig, hatte aber plötzlich ein sonderbares Gefühl im Nacken, als er direkt vor der Kasse zum Stehen kam. Ein leichtes Kribbeln bahnte sich einen Weg durch sein Rückgrat, das markante Gefühl beobachtet zu werden.

 

Percival hatte sich noch nie unwohl dabei gefühlt, wenn er hier aufgetaucht war. Als talentierter und vor allem einziger Zauberer in dem No-Maj-Laden, hatte er kaum etwas zu befürchten. Selbst wenn ihn ein Polizist bei diesem für Nichtmagier verbotenen Handel erwischen würde, hätte ein einfacher Vergessenszauber alles richten können - für ihn und Mr Blettsworth, dem Besitzer des Ladens. Und selbst wenn sich ein anderer Zauberer oder eine Hexe hierher verirren würde, wäre dies für ihn kein Grund zur Beunruhigung. Die Prohibition, das gesetzliche Verbot vom Genuss und Verkauf von Alkohol, galt zwar in ganz Amerika, jedoch nicht in der magischen Gesellschaft. Hexen und Zauberern war es vom MACUSA erlaubt, ohne Probleme Feuerwhiskey, Elfenwein und Goldlackwasser zu kaufen und zu trinken und mussten mit keinerlei Gefängnis- oder Geldstrafen rechnen. Dafür hatte sich Madam Picquery höchstpersönlich gegenüber ihren Kritikern eingesetzt. Das Einzige, was man Percival vielleicht zur Last werfen könnte, war die auffallende Regelmäßigkeit, mit der er Mr Blettsworth einen Besuch abstattete.

 

Seine – um es dezent auszudrücken – gute Bekanntschaft mit dem No-Maj, war etwas, das im völligen Kontrast zu seinen eigenen Überzeugungen stand. Oder viel mehr, den auferlegten Regeln der magischen Regierung. Es kam einem Sakrileg gleich, dass er, als Direktor für magische Sicherheit und rechte Hand der Präsidentin, der aufs Strengste versuchte die Gesetze und Regeln des Zusammenlebens mit den No-Majs zu bewachen, sich selber nicht so ganz daran hielt. Aber es war ja gar keine Freundschaft, die er mit dem herzlichen, fast väterlichen Mann pflegte. Blettsworth war immer gut gelaunt, trotz der körperlich anstrengenden Arbeit seines kleinen Geschäftes und manchmal plauderten sie eben ein paar Minuten länger, in denen Percival meist nur als höflicher, stummer Zuhörer agierte und völlig uninteressiert an den Themen war. Der Kauf des Honigwhiskeys war nichts weiter, als ein schlichter Handel, der in fast stiller Verständigung zwischen den beiden Männern stattfand und für den Zauberer selbst völlig legal war. Und was konnte er schon dafür, wenn der No-Maj einen hervorragenden Whiskey herstellen konnte?

Das alles versuchte sich Percival zumindest selber einzureden.

 

Doch etwas sagte ihm, dass seine tief im Innersten verborgenen und verdrängten Schuldgefühle nicht der Grund dafür waren, weshalb er sich dieses Mal unangenehm beobachtet fühlte. Irgendetwas schien anders, in dieser gewohnten Situation, aber er konnte noch nicht genau bestimmen, woran es lag. Der No-Maj verlangte mit einer fast spielerischen Verstohlenheit seine Aufmerksamkeit. Er hatte sich leicht nach vorne gebeugt und lächelte ihm immer noch unbekümmert entgegen.

„Das Übliche?“, fragte Blettsworth leise und zwinkerte.

Percival zögerte keinen Augenblick mit seiner Rückantwort und bestätigte ihm: „Das Übliche.“

 

Doch als Blettsworth sich hinter dem Tresen nach unten beugte, um etwas aus einem Fach hervorzuholen, wusste Percival sofort, dass er mit seinem Gefühl recht hatte. Niemals würde dieser kluge, vorsichtige Mann so töricht sein und die alkoholischen Getränke unter dem Tresen aufbewahren! Für den Fall, dass die Polizei seinen Laden kontrollieren wollte, würde er die verbotene Ware in der Nähe eines Abfluss lagern, statt griffbereit in seiner Nähe zu behalten.

 

Während Blettsworth – wenn er es denn überhaupt war, wie Percival flüchtig überlegte – noch in dem Fach kramte, wanderte Percivals eigene Hand vorsichtig zu seiner Hüfte, wo er seinen Zauberstab verborgen hielt. Doch bevor er den dunklen Holzstab richtig greifen konnte, bemerkte er aus dem Augenwinkel einen kurzen Lichtblitz. Er reagierte schnell, hob abwehrend seinen zauberstablosen Arm und lenkte den roten Strahl gerade noch rechtzeitig in eine andere Bahn. Der Zauber, der für seinen Kopf gedacht war, schlug stattdessen krachend in die Wand hinter ihm ein, sprengte einen Teil des Putzes herunter und zog zahlreiche, tiefe Risse im Mauerwerk hinauf. Das elektrische Licht flackerte unruhig.

 

Percival hatte genügend Zeit, um zu bemerken, dass sich alle vermeintlichen Kunden im Raum zu ihm herum gewandt und ihre Zauberstäbe drohend auf ihn gerichtet hatten. Das ein oder andere Gesicht kam ihm bekannt vor, doch für eine genauere Betrachtung fehlte ihm die Zeit. Zwei weitere Flüche rasten auf ihn zu und nur um Haaresbreite, konnte er ihnen ausweichen. Wie der erste Zauber schlugen sie daraufhin in die Wand ein und brachten ein Regal krachend und berstend zum Einsturz. Ein feiner Nebel aus weißlichem Putz lag nun in der Luft, begleitet von einem Sprühregen bestehend aus gesplitterten Holz- und Obststückchen und dem süßlichen Duft der Dosenfrüchte.

 

Einen vierten Zauber blockte Percival erneut mit einer fließenden Handbewegung ab und schaffte es, ihn in die Richtung eines seiner Angreifer zu lenken. Er achtete jedoch nicht darauf, ob der Zauber traf, sondern hechtete in den Nebel hinein und warf sich auf den Boden. Er konnte zwar mit einem einfachen Bremszauber seinen Körper vor einem schmerzhaften Aufprall schützen, landete allerdings geräuschvoll in einem Haufen von verbeulten und zerplatzten Dosen und dem klebrigen Fruchtsaft, der sich daraus ergossen hatte. Doch davon ließ er sich nicht beirren, sondern versuchte, im Schutz eines umgeworfenen Tisches, zu disapparieren. Ein leichtes Kribbeln auf der Haut ließ ihn wissen, dass der Laden, womöglich sogar die ganze Straße, vorsorglich appariersicher gemacht worden war.

‚Clever‘, dachte er sich und zückte endlich seinen Zauberstab. Er schwang ihn peitschend durch die Luft und jagte seinen Gegnern einen roten, ausschweifenden Lichtstrahl entgegen. Er hörte, wie der Zauber erst weitere Regale traf und dann jemand laut aufschrie. Mehrere Knallgeräusche und eine plötzliche Dunkelheit verrieten ihm, dass er die Glühbirnen zerstört hatte. Nicht unbedingt zu seinem Nachteil, immerhin musste er in dem nun finsteren Raum nicht darauf achten, mit einem Fluch einen Gleichgesinnten zu treffen. Um Blettsworth würde er sich später Gedanken machen.

 

Wieder zischte ein Fluch knapp an seinem Gesicht vorbei. Er rappelte sich auf und schleuderte einen Lichtstrahl in jene Richtung, aus welcher der Angriff erfolgt war. Dann stürzte er weiter durch den Raum. Eine menschenförmige Silhouette tauchte vor ihm im Nebel auf und mit einer groben Wischbewegung seiner Hand, schleuderte er die Person auf magische Weise in den Gang hinein. Ein weiterer Aufschrei, dicht gefolgt von einem Rumpeln und Krachen, ertönte vor ihm, als die Person schmerzhaft in eine der Auslagen krachte.

 

Der nächste Zauber raste so haarscharf an seinen Augen vorbei, dass er für ein paar Sekunden geblendet wurde. Er stolperte weiter, warf dabei einen Tisch um und ließ wieder blindlings einen peitschenden Zauber auf seine Angreifer losgehen.

‚Ich muss doch bald an der verdammten Tür sein‘, überlegte Percival.

Drei Zauber, aus unterschiedlichen Richtungen, jagten zeitgleich auf ihn zu und er schaffte es bei zweien, sie abzuwehren. Der Dritte raste unter seinem ausgestreckten Arm hindurch, direkt in seinen Brustkorb hinein. Er erstarrte in seiner Bewegung, konnte spüren, wie der Fluch sich durch seinen Körper bewegte und sämtliche Muskeln lähmte. Er versuchte mit letzter Kraft und Konzentration die Wirkung aufzuheben, doch da traf ihn der nächste Zauber und er kippte haltlos nach hinten. Er schlug schmerzhaft mit dem Hinterkopf auf den Boden und das ohnehin schon mangelnde Licht, wurde für einen kurzen Moment noch weniger.

 

Reglos und wehrlos auf dem staubigen, klebrigen Steinplatten liegend, starrte er nach oben und verfolgte, wie eine Handvoll weiterer Flüche ziellos über ihn hinweg schoss. Jeder Versuch, sich irgendwie zu bewegen oder seine zauberstablose Magie wirken zu lassen, scheiterte. Dann verebbten die Flüche und endlich erhob einer seiner Angreifer die Stimme.

„Wartet“, glaubte Percival aus der Ferne zu hören. Ein dumpfes Klingeln in seinen Ohren machte es schwierig, dem genauen Wortlaut zu folgen. „Haben wir ihn?“

„Vielleicht ‘ne Falle?“, fragte eine Frau, die irgendwo in seiner Nähe sein musste. Percival hoffte, dass sie lange genug unsicher sein würden, damit er den Fluch irgendwie brechen konnte. Er musste sich nur besser konzentrieren… wenn doch die Schmerzen nicht wären. Sein Schädel fühlte sich an, als wäre er in zwei Teile zersprungen und die Lichtflecken, die vor seinen Augen tanzten, machten es nicht gerade besser. Er spürte Schwindel und Übelkeit aufkommen, während er beinahe zwanghaft versuchte, ihren kreisenden Bewegungen zu folgen, aber er durfte jetzt auf keinen Fall…

 

Als es ihm tatsächlich gelang, den Lähmzauber ein wenig zu lösen, stöhnte er schmerzgeplagt auf. Sofort hörte er eilige Schritte in seine Richtung stürmen, und als er einen Tritt gegen sein Schienenbein spürte, wusste er, dass er entdeckt worden war.

‚Verdammt‘, dachte er benebelt und versuchte seinen Zauberstab zu heben. Ein günstiger Winkel, ein winziges Stück seines Gegners und er könnte…

„Avada Ke…“

„NEIN! WAGE ES JA NICHT!“, schrie ein Mann hektisch und dessen Schritte kamen geräuschvoll polternd näher. „Er sagte, er braucht ihn lebend! Fessel ihn, verdammt noch mal, fessel ihn!“

 

Percival spürte, wie die heraufbeschworenen Seile seine steifen Hände an seinen Körper pressten. So verschnürt hatte er definitiv keine Chance mehr, sich irgendwie zu befreien. Die Lichtflecken vor seinen Augen wurden schneller und die Dunkelheit intensiver. Die Stimmen wurden immer leiser, sein ganzes Fühlen war betäubt. Er konnte gerade so erahnen, dass er von dem schmierigen Boden abhob, ehe ihn die Ohnmacht völlig übermannte.

Kapitel 1


 

Kapitel 1

 

Es dauerte eine Weile, bis Percival realisierte, dass er allmählich zu Bewusstsein kam. Die vermeintliche Schwerelosigkeit und Verworrenheit des Halbschlafes, wandelte sich langsam in ein undeutliches und unangenehm glühendes Taubheitsgefühl. Arme und Beine fühlten sich falsch und fremd an, lagen schlapp auf dem kalten Boden. Seinen Magen hingegen spürte er mehr als deutlich, denn dieser war erfüllt von einer quälenden und stechenden Leere. Seine Kehle war trocken und rau, sein Gaumen mit einem eklig klebrigen Gefühl erfüllt. Hunger und Durst schienen es zu sein, die ihn langsam aus dem traumlosen Schlaf zerrten.

 

Seine Gedanken waren noch immer benebelt und nur mühselig schaffte er es, ein paar Mal mit den Augenlidern zu blinzeln. In seinem Sichtfeld gab es keine Veränderung, nur weiterhin endlose Schwärze. Er versuchte seinen Kopf ein wenig zu drehen und die Muskeln in seinem Nacken spannten sich schmerzhaft an. Ihm wurde schwindlig und obwohl er nichts sehen konnte, schien sich alles um ihn herum wild im Kreis zu drehen. Er schloss die Augen und drehte den Kopf zurück. Sofern ihn sein Zeitgefühl nicht täuschte, vergingen mehrere Minuten, in denen er einfach so dalag und in die Stille hinein lauschte, die nur hin und wieder von einem seiner schmerzgeplagten Atemzüge durchbrochen wurde.

 

Als er endlich etwas klarer denken und fühlen konnte, stellte er sich unter anderem die Frage, wie lange er schon hier war. Tage oder vielleicht Wochen, womöglich sogar Monate? So wie er sich fühlte, musste wohl einiges an Zeit vergangen sein, seit er in dem Laden überwältigt worden war. Doch warum hatte man ihn noch nicht getötet? Grindelwald hatte ihn offenbar lebend gebraucht, zumindest hatte einer seiner Angreifer das erwähnt, wie er sich dunkel erinnern konnte. Aber der Schwarzmagier musste doch mittlerweile bekommen haben, was er wollte und keine Verwendung mehr für ihn haben. Dass er einen Auror des MACUSA, noch dazu einen so hochrangigen und fähigen wie Percival Graves, am Leben ließ, sah dem gefährlichen Zauberer ganz und gar nicht ähnlich.

Doch vielleicht sollte er sich später Gedanken darüber machen. Nicht nur das quälende Hungergefühl im Bauch, sondern auch der Durst, erinnerte ihn daran, dass er lieber versuchen sollte, aus seinem Gefängnis zu entkommen, bevor diese beiden Empfindungen sein Schicksal besiegelten.

 

Zuerst kam Percival der Gedanke zu apparieren. Obwohl er sehr geschwächt war, seinen Standort nicht kannte und ebenso wenig wusste, wie weit der Ort, an dem er auftauchen wollte, entfernt war, legte er es auf einen Versuch an. Vor seinem geistigen Auge stellte er sich den Eingang des Hospitals vor: einen schmalen, kleinen Treppenabsatz, welcher hinunter zu einer weißen Kellertür führte, die von einem kleinen, griesgrämig schauenden Engelskopf bewacht wurde. Doch statt auf der Stelle zu verschwinden, überrollte ihn ein eisiger Kälteschauer – der Raum war appariersicher. Natürlich!

 

Dann probierte er es erneut, seinen Kopf auf die Seite zu legen. Er hob den rechten Arm, schob ihn schwerfällig über seinen Bauch und drehte so, mit Hilfe des Gewichtes, seinen Oberkörper ein bisschen herum. Er zog das rechte Bein nach und kippte plump auf die linke Seite.

Alle seine Muskeln und Sehnen schmerzten bei diesen Bewegungen. Es fühlte sich so an, als hätte er sie völlig überdehnt. Entweder lag es an einem langanhaltenden Lähmzauber oder man hatte ihm einen Schlaftrank verabreicht, sodass er lange Zeit reglos an diesem Ort gelegen und sein Körper in der Zwischenzeit an Muskeln abgebaut hatte. Seine Hand wanderte weiter, fuhr prüfend über sein Gesicht. Als erstes spürte er eine Ansammlung kratziger Barthaare, rund um seinen Mund, dem Kinn und seinen Wangen. Mit den Fingern ertastete er magere Wangenknochen und an den Schläfen stellte er fest, dass auch seine Haare ein wenig länger und wilder geworden waren.

 

Unter Stöhnen und Ächzen versuchte er sich weiter aufzurichten. Seine geschwächten Arme zitterten, als er sich nach oben stemmte und seine Gelenke knackten laut, als er sie anwinkelte und mit seinem Gewicht belastete. Doch er schaffte es, sich in eine sitzende Position aufzurichten, auch wenn ihm dabei wieder schwindelig wurde und nun noch eine leichte Übelkeit hinzukam.

 

Noch immer war es stockdunkel und er konnte rein gar nichts erkennen. Er wusste nicht, wie groß sein Gefängnis war, geschweige denn, wo sich die Tür befand. Ihm drängte sich der beunruhigende Gedanke auf, dass er womöglich blind war. Vorsichtig tastete er über den steinernen, kalten Boden, doch je weiter er den Arm ausstreckte, desto mehr drohte er, wieder umzukippen und seine Sehnen spannten sich bis zum Zerreißen. Also ließ er es nach ein paar Versuchen bleiben. Stattdessen überlegte er nun, ob er es wagen sollte, seine zauberstablose Magie anzuwenden. Gegen eine kleine Flamme, die den Raum erhellte und ihm einen besseren Überblick verschaffte, war sicher nichts einzuwenden, sofern er überhaupt noch sehen konnte.

Doch bevor er sich an einem einfachen Feuerzauber probieren konnte, musste er noch zwei Faktoren aus dem Weg räumen, um die Wirkungskraft voll entfalten zu können: Hunger und Durst.

 

Natürlich würde er sich im Augenblick genauso wenig ein paar belegte Brote oder ein Glas Wasser herbeizaubern können. Die zauberstablose Magie war kompliziert und heikel. Mit einem Zauberstab zu zaubern war, wenn man die Grundlagen beherrschte, recht einfach. Es war das bequemste und gebräuchlichste Hilfsmittel, um die magischen Kräfte besser zu bündeln und handzuhaben. Doch ohne Zauberstab war die Magie nicht mehr als ein von Gefühlsausbrüchen geleitetes, unberechenbares Chaos, welches sich nicht nur gegen die Umwelt, sondern auch gegen einen selbst richten konnte. Meist mit ungeahnten und ungewollten Folgen. Zauberstabloses Zaubern erforderte also vor allem geistige und emotionale Kontrolle und, wie in diesem Fall, eine Ausblendung von Empfindungen wie Hunger, Durst oder Schmerzen.

 

Es dauerte ein Weilchen, bis er all diese quälenden Dinge verdrängt hatte. Es war nicht so leicht wie sonst. Er war noch immer ein wenig benebelt, geschwächt und frierend, unbewaffnet und seine Konzentration litt noch mehr durch die tausend Fragen, die ihm immer wieder in die Quere kamen. Die Leere in seinem Magen schmerzte und grollte, seine trockene Kehle brannte mit jedem Atemzug und so kostete es ihm einige Mühe, sich zu beherrschen.

 

Schließlich fühlte er sich doch einigermaßen im Stande, seine Kräfte anzuwenden und ballte die rechte Hand zur Faust. Er konzentrierte sich auf einen einfachen Flammenzauber und bald darauf spürte er eine wohlige Wärme durch seinen Arm fließen, hinauf in seine Handfläche, wo sie sich mit einem angenehmen Kribbeln sammelte. Als er die Finger ausstreckte, schoss eine schmale, lodernde Flamme empor. Allein durch seinen fixierten Blick schien er sie dazu anzuspornen, größer und heller zu werden. Nachdem sich seine Augen an das ungewohnte, flackernde Licht gewöhnt hatten, untersuchte er alles, was sich in dem schwachen Lichtkegel erkennen ließ.

 

Zuerst fielen ihm seine Finger und das sehnige Handgelenk auf, die Körperteile, die am meisten beleuchtet wurden und ungewohnt mager wirkten. Er musterte sie nachdenklich, bevor sein Blick weiter über seine Kleidung wanderte. Sein Mantel und die Weste waren fort, aber sein Hemd saß seltsam locker, war etwas schmutzig und arg zerknittert. Die dunkle Hose und die Socken sahen ähnlich aus, doch seine Stiefel waren ebenfalls weg.

 

Er bekam langsam eine vage Vorstellung dessen, was Grindelwald vermutlich geplant hatte. Seinen schwarzen Mantel, mit dem weißen Innenstoff, und die hochgeschnürten Stiefel hatte Percival bereits so oft getragen, dass sie beinahe zu seinem Markenzeichen geworden waren. Diese beiden Sachen, sein registrierter Zauberstab und ein guter Verwandlungszauber oder Vielsafttrank, würden Grindelwald dabei helfen, seinen Platz im MACUSA einzunehmen. Zumindest vorrübergehend. Das würde vielleicht erklären, warum Percival noch am Leben war, denn ab und an würde Grindelwald wohl ein paar frische Haare benötigen, um seine Tarnung aufrechtzuerhalten  und auch, wenn er diese nicht mehr benötigen würde, wäre Percival noch immer eine beträchtliche Quelle des Wissens, die abgezapft werden konnte. Und diese informationsreiche Quelle nicht versiegen zu lassen, war durchaus kein unüberlegter Schachzug.

Aber Percival bezweifelte, dass sein jähes Aufwachen zum Plan gehörte.

 

Er war diese Überlegungen ganz sachlich und vernunftgemäß angegangen, was er wohl seinem Beruf zu verdanken hatte. Doch allmählich beschlich ihn auch eine gewisse Besorgnis und Unruhe. Grindelwald in den Reihen des MACUSA, unerkannt und immer vorgewarnt, seine eigenen Ziele unbehelligt verfolgend… Die Vorstellung bereitete ihm noch mehr Übelkeit.

 

Das hektische Flackern seiner spärlichen Lichtquelle riss ihn aus seinen Überlegungen und erinnerte ihn daran, dass er eigentlich versuchen wollte, seinem Gefängnis zu entkommen. Antworten auf seine Fragen konnte er nur bekommen, wenn er es lebend hier herausschaffen würde. Seine volle Aufmerksamkeit galt nun also wieder dem rötlichen Glühen in seiner Handfläche. Mit großer Mühe schaffte er es, die Flamme noch etwa größer werden zu lassen und beobachtete eine Weile, wie sie wild tanzend nach oben wuchs und glimmende Funken in die Lüfte stiegen.

Der Raum war, soweit es Percival erkennen konnte, kreisrund und von grob gearbeiteten Steinen ummauert. Eine Decke ließ sich nicht erkennen, genauso wenig wie eine Tür oder ein Fenster. Eine flüchtige Inspektion des Bodens führte nur zu der ernüchternden Erkenntnis, dass eine Falltür ebenfalls nicht vorhanden war.

 

Er ließ das Feuer diesmal mit Absicht ein wenig kleiner werden und konzentrierte sich nun auf ein paar andere Zauberformeln. Vielleicht konnte eine davon einen verborgenen Ausgang öffnen.

„Aloho...“

Der Versuch, einen dieser Zauber laut auszusprechen, endete in einem krampfartigen Hustenanfall. Percival wurde von einer erstickenden Welle aus Schwindel und einem eisigen, kratzigen Gefühl in der Kehle überwältigt. Das Licht verschwand, als er die Faust schloss und gegen seinen Mund presste. Seine Lungen zogen sich mit jedem Husten schmerzhaft zusammen, die Kehle brannte, sein Oberkörper krampfte und kippte haltlos auf die Seite. Mit der Schläfe prallte er unsanft auf den Boden und für einen Augenblick sah er Sterne vor seinen Augen tanzen. Ein oder zwei Minuten vergingen, ehe er sich wieder etwas erholt hatte, doch diesmal blieb er liegen.

 

‚Na gut‘, dachte Percival. ‚Dann eben so: Alohomora.‘ Nichts passierte. ‚Aberto… Cistem Aperio… Nyílt… Abrete Sesamo…‘ Er machte eine Pause, um sich zu sammeln und suchte nach weiteren Sprüchen, die bekanntermaßen Türen öffnen oder Hindernisse aus dem Weg räumen konnten und ging sie in Gedanken durch. ‚Öffne… Dunamis… Bombarda… Portaberto…‘ 

 

Er wurde allmählich unruhig. Entweder war er noch zu geschwächt, um eine magisch verborgene Tür zu öffnen oder sein Gefängnis wurde mit einem besonderen Zauberspruch oder einem Bann gesichert, welchen er brechen musste. Doch er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Selbst wenn er nicht so geschwächt wäre, könnte es Tage dauern, bis er die richtige Formel fand. In der Zwischenzeit wäre er wahrscheinlich verhungert und verdurstet, sofern niemand vorbeikam, um nach ihm zu sehen. Mit etwas Glück könnte er es vielleicht schaffen, denjenigen zu überwältigen, doch das hing ganz davon ab, ob diese Person innerhalb einer erträglichen Zeitspanne aufkreuzte. Und sein Gefühl sagte ihm, dass vorerst niemand auftauchen würde.

 

‚Nein, du konzentrierst dich jetzt‘, spornte er sich selbst an.

Eine Weile lag er einfach nur da, die Augen nach oben in die Finsternis gerichtet und darum bemüht, weiterhin seine Kräfte zu sammeln. Hunger, Durst und die Schmerzen, all das versuchte er mehr und mehr auszublenden. Das Stechen in seinem Kopf und das benebelnde Schwindelgefühl nagten an seiner Konzentration und drohten immer wieder damit, ihn abzulenken. Obwohl es pechrabenschwarz war, schloss er wieder die Augen, mehr aus einer alten Gewohnheit heraus, als wirklichen Nutzen. Als er die zauberstablose Magie erlernt hatte, hatte es ihm immer geholfen und es tat allmählich seine Wirkung.

 

Er streckte einen Arm aus und konzentrierte sich darauf, all seine Energie dorthin zu leiten. Dann dachte er so gut es ging an den stärksten Zerstörungszauber, den er kannte. Wieder bahnten sich die Kräfte einen fast spürbaren Weg durch seinen Körper, scharten sich zusammen und spannten die Sehnen in seinen Fingern an, sodass seine Hand steif in der Luft hing. Dann wagte er es, den Zauber wirken zu lassen.

 

Zuerst glaubte er, dass sich rein gar nichts tat. Das Einzige was er hörte, war seine Atmung, ein hektisches Schnaufen durch seine Nase und hin und wieder das Knurren und Gluckern seines protestierenden Magens. Das Blut rauschte durch seinen Körper und pochte in seinen Schläfen. Seine Finger wurden taub von der Kälte, der erhobene Arm schmerzte. Erneut fing alles an sich zu drehen und seine Aufmerksamkeit drohte nachzulassen. Doch dann ertönte ein neues Geräusch und spornte ihn aufs Neue an.

Es war das sanfte Knirschen von bröckelndem Mörtel.

 

Der Klang wurde stetig lauter und intensiver, bald mischte sich auch das Schaben und Grollen der Steine unter, als sie sich endlich durch eine unsichtbare Kraft lösten und gegenseitig zur Seite drückten. Die Luft wurde mehr und mehr von Staub und den ersten, zarten Lichtstrahlen erfüllt, die sich einen Weg durch das berstende Mauerwerk bahnten. Und schließlich, als die ersten Steine knackend zersprangen oder polternd herunterstürzten, der Boden unter den Erschütterungen zu vibrieren begann, wurde das einfallende Licht nun einzig und allein von dem Mörtelstaub gedämpft, der als dichte Nebelschwade träge durch den Raum zog, bis ein frischer Windhauch diesen beinahe sanft durcheinanderwirbelte und langsam zerstreute.

 

Doch noch konnte sich der Auror nicht wirklich an der neugewonnenen Freiheit erfreuen. Der Moment seines Erfolges brachte ihm auch Erschöpfung und seine letzten Kraftreserven waren vorerst aufgebraucht. Sein Arm landete plump auf dem Boden, auf dem sich bereits eine dünne Staubschicht gebildet hatte und erschöpft lag er wieder reglos da, den Blick auf den selbstgeschaffenen Ausgang gerichtet und die ersten, angenehm frischen Luftzüge genießend.

 
 

~*~*~

 

Er wusste nicht, wie lange er so dagelegen hatte, halb bewusstlos vor Erschöpfung, bis ein Teil seiner Kräfte wieder zurückgekehrt war. Sein Blick ruhte dabei in der entstandenen Öffnung und musterte das, was er dahinter erblickte. Viel konnte er nicht sehen, doch gegenüber befand sich ein schmales Fenster, welches die willkommene Lichtquelle darstellte, auch wenn es offensichtlich zu dämmern anfing. Der rötliche Schein wurde stetig schwächer und die Schatten wanderten, immer größer und dunkler werdend, über den Boden.

 

Mühsam brachte er sich wieder in eine sitzende Position, wirbelte dabei den Staub auf und versuchte so gut es ging, diesen von seiner Nase und den Augen fern zu halten. Er richtete sich weiter auf und schließlich gelang es ihm, sich wankend hinzustellen. Nach einer kurzen Pause wagte er einen Versuch zu laufen. Er strauchelte und stürzte dem Ausgang regelrecht entgegen, klammerte sich dort am Mauerwerk fest und warf nun einen Blick in den Raum, neben seinem Gefängnis.

 

Er war beinahe ein wenig überrascht, sich in einem Wohnzimmer wiederzufinden. Doch schon ein flüchtiger Anblick genügte, um ihm zu offenbaren, dass dieser Ort schon lange nicht mehr als Wohnung genutzt worden war. Die Tapete hing in runzeligen Fetzen von den Wänden, das grässliche Blumenmuster verblichen und verzerrt. Ein Schrank in der Ecke stand offen und beinhaltete nur noch schiefliegende Bretter und gähnende Leere. Ein Tisch lag umgeworfen und zerkratzt in der Mitte des Raumes und die beiden dazugehörigen Stühle lagen zerbrochen und ohne Sitz trostlos daneben. Scherben von Geschirr und Gläsern waren auf dem Boden verteilt und die Lampe, die schief von der Decke baumelte, erweckte den Eindruck, dass nur noch ein Husten fehlte, um sie endgültig aus ihrer Verankerung zu lösen. Ebenso wie Percivals Zelle, war auch hier alles von einer Staubschicht bedeckt, teils von der Zerstörung der Mauer, teils vom jahrelangen Leerstand. Nur vom Wohnungseingang, bis hin zu der zerstörten Wand, zog sich eine verräterische Spur ungleichmäßiger Schuhabdrücke, die auf die vergangene Anwesenheit diverser Personen schließen ließ, vermutlich diejenigen, die ihn hier eingesperrt hatten.

 

Schwerfällig kletterte Percival über die wackeligen Reste des Gemäuers, hinein in den verwahrlosten Raum. Langsam und bedächtig tastete er sich an der Wand entlang, in Richtung des schmalen Fensters, um einen Blick hindurch zu werfen. Die Scheiben waren schmutzig und von Schlieren überzogen, dennoch konnte er einiges von der Außenwelt erkennen.

Er befand sich augenscheinlich in einem unbenutzten, baufälligen Gebäude eines weniger eleganten Stadtteils von New York. Auch die gegenüberliegenden Häuser wirkten marode, doch offenbar waren sie noch vereinzelt – und vermutlich auch heimlich - bewohnt. Auf den Bürgersteigen liefen No-Majs vorbei, gut erkennbar an den bläulichen  Latzhosen und Overalls, die sie als einfache Arbeiter einer der zahlreichen Fabriken kennzeichneten. Ein paar verhutzelte Obdachlose saßen, um Almosen bettelnd, auf dem Bürgersteig, während eine Handvoll Kinder mit schmuddeliger Kleidung trotz der Abenddämmerung eine Art Fangspiel vor einem Häusereingang trieben.

 

Percival kam gerade die Frage in den Sinn, warum ihn eigentlich niemand von Grindelwalds Leuten bewachte, als ihn ein gleichmäßiges Knarzen außerhalb der Wohnung aufhorchen ließ. Das Geräusch wurde lauter, kam immer näher. Jemand stieg eilig die Treppe hinauf.

 
 

~*~*~

 

Percival erkannte schnell, dass er nicht die Möglichkeit hatte, sich irgendwo zu verbergen. Nichts im Raum konnte ihm auf die Schnelle Schutz bieten. In jeder anderen Situation wäre es ihm wohl albern vorgekommen, sich zu verstecken. Er war ein talentierter Zauberer, Leiter der Sicherheitsabteilung des MACUSA. Doch er war zu geschwächt, um ernsthaft gegen einen Gegner zu kämpfen und sich diesmal dem Gefecht zu entziehen, war momentan die bessere, klügere Idee. Das Einzige, was ihm einen Vorteil verschaffen könnte, war das Überraschungsmoment. Derjenige, der die Stufen hochkam, wusste nicht, dass er gleich dem Auror gegenüberstehen würde und das musste Letzterer ausnutzen. Doch sehr viel Zeit für einen Plan blieb ihm nicht. Die Schritte kamen polternd näher, stoppten kurz vor der Eingangstür und schon drehte sich der runde Knauf. Knarrend und quietschend öffnete sich die Tür.

 

Der Mann, der grimmig dreinblickend in den Raum gestürmt kam, war für ihn kein Unbekannter. Die hochgewachsene, drahtige Gestalt und das kantige, gutaussehende Gesicht mit dem hochnäsigen Blick, hatte er oft genug auf einem der zahlreichen Steckbriefe des Versammlungsraumes gesehen. Eduardus Limus – gesucht wegen dem Verkauf falscher Zauberstäbe und der Ermordung zahlreicher No-Majs – hielt sich also nicht mehr, wie vermutet, in Asien auf. Stattdessen schien er sich, wie man es auch nicht anders erwartet hatte, in die Reihen von Grindelwalds Anhängern begeben zu haben und war offenbar Teil dieser Verschwörung geworden.

 

Limus blieb kaum drei Schritte später stehen und starrte aus seinen dunklen Augen heraus zuerst auf den Trümmerhaufen unter der Wand und dann kurz in das tiefschwarze Loch, welches ins Innere des Gefängnisses führte. Sein zorniger Blick schwand und Entsetzen und Panik bahnten sich an. Vielleicht hatte er Percivals Spuren im Staub entdeckt oder nahm ihn aus den Augenwinkeln heraus wahr, doch schließlich wandte er alarmiert den Kopf zu ihm herum.

 

Dieser Moment war seine Chance. Limus‘ Hand zuckte zu seiner Hüfte, wo er seinen Zauberstab unter dem dunklen Mantel verborgen hielt, doch der geschwächte Auror war trotzdem schneller. Er riss seinen Arm in die Luft, machte eine wischende Bewegung mit der Hand und schon flogen dem Eindringling ein Dutzend scharfkantiger Scherben entgegen, die eben noch auf dem staubigen Boden verteilt waren. Limus hob schützend einen Arm, doch Glas und Porzellan prasselten kratzend und schneidend auf ihn herab und im nächsten Augenblick war es Percival gelungen, ihm auch noch ein abgebrochenes Stuhlbein entgegenzuschleudern. Es rauschte treffsicher unter der erhobenen Hand hindurch und traf Limus am Kopf. Der Mann strauchelte zur Seite und prallte gegen die Wand. Einen Augenblick schien er benommen, dann stieß er sich von der Wand ab und wandte sich wieder zu seinem Angreifer um, das Gesicht wutverzerrt.

 

„Du…“, zischte Limus. Tiefe Kratzer und Staub auf Stirn und Wange ließen seinen Beinamen ‚Pretty Face‘ ein wenig fehl am Platz wirken, doch das amüsierte Lächeln, welches seinen angriffslustigen Blick untermalte, hätte auch so das Herz einer Frau erweichen können. Wieder bewegte sich seine Hand in Richtung seines Zauberstabes zu, doch als Percival ihm erneut eine Welle von Scherben und Staub entgegen schleudern wollte, wich er mit einem beinahe eleganten Sprung aus. Gleichzeitig bekam er den Griff seines Stabes zu fassen und zog ihn schwungvoll aus der Gürteltasche.

 

Die Lage hatte sich nun drastisch geändert. Der Auror war zu schwach, um es mit den besser kontrollierten und zielgerichteten Flüchen eines Zauberstabes aufzunehmen. Dazu kam, dass Limus kein untalentierter Magier war und sich bereits mehrfach durch List und Gewandtheit einer Verhaftung entzogen hatte. Doch es nützte alles nichts, kampflos würde sich Percival nicht geschlagen geben.

 

Limus holte zu seinem ersten Schlag aus und nun war es Percival, der hektisch zur Seite sprang oder besser gesagt, aus der Schusslinie stolperte. Er schlug mit der Faust durch die leere Luft und schaffte es, Dank seiner stablosen Magie, dass die Glühbirne der Deckenlampe, die beinahe über Limus‘ Kopf schaukelte, zerplatze. Erneut regneten feine Splitter auf seinen Gegner herab, doch nun gelang es diesem, den Angriff abzuschwächen. Abgewandelt in einen feinen Nieselregen, rauschten die Überreste an Limus vorbei und besprenkelten das blasse Blumenmuster der fransigen Tapete.

 

„Stupor!“ Limus jagte ihm den Schockzauber auf Höhe seines Gesichtes entgegen, doch der Zufall sorgte dafür, dass Percival durch sein vorrangegangenes Stolpern auf dem schmutzigen Boden ausrutschte und nach unten stürzte. So entkam er noch einmal dem roten Lichtstrahl, der krachend und funkensprühend an der Wand zerschellte. Erneut hetzte ihm Limus einen Schockzauber entgegen und tatsächlich schaffte er es, den Fluch im letzten Moment abzulenken. Doch der Zauber rauschte in den Schrank hinein, der direkt neben ihm stand und mit ohrenbetäubenden Krachen stürzte die ohnehin schon ramponierte Konstruktion zusammen. Durch die Wucht des Zaubers wurde Percival zur Seite geschleudert und krachte nun selber mit dem Kopf gegen eine Wand. Wieder tanzten Sterne vor seinen Augen und verschwommen nahm er Limus‘ Gestalt wahr, die mit erhobenem Zauberstab auf ihn zuschritt. Er versuchte gegen die Bewusstlosigkeit anzukämpfen, hob abwehrend die Hände, doch Limus holte erbarmungslos für den letzten Schlag aus.

 

„Avada Ke…“

„EXPELLIARMUS!“

 

Eine neue Stimme erklang, weiblich und schrill. Percival erkannte in der aufkommenden Dunkelheit, die ihn einhüllte, wie Limus durch den bläulichen Lichtblitz von ihm fortgeschleudert wurde. Der Mann krachte geräuschvoll gegen die Wand der angrenzenden Küche und kam dort zum Liegen. Sein Zauberstab landete klappernd in einer fernen Ecke des Wohnzimmers.

 

„Incarcerus“, sprach die Frau. Ihre Schritte, leise und trippelnd, kündigten ihr Näherkommen an, während die heraufbeschworenen Seile vorneweg flogen und sich zielstrebig um den entwaffneten und bewusstlosen Zauberer schlängelten.

Percival bemerkte, wie sich die Frau neben ihm niederließ, doch die tanzenden Sterne vor seinen Augen nahmen ihm zunehmend die Sicht. Eisige Hände tätschelten kurz seine Wangen, befühlten seine Stirn. Wie durch einen dunklen Nebelschleier sah er kurz ihr Gesicht vor sich auftauchen, oval und von kinnlangen, dunklen Haaren umrahmt. Braune, von Sorgen erfüllte Augen starrten ihn an und er konnte gerade noch erkennen, wie die Lippen seinen Namen formten. Er wollte die Arme heben, die Hände der Frau ergreifen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht.

 

„Mr Graves?“, hörte er ihre Stimme sagen, die nun leise und dumpf klang.

‚Tina…‘, dachte er und alles wurde wieder still und finster.

Kapitel 2


 

Kapitel 2

 

Es regnete bis spät in die Nacht hinein und schließlich kam ein eisiger Wind auf, der die beißende Nässe allmählich in sanfte, weiße Flocken verwandelte. Ein Heulen zog zwischen den obersten Stockwerken der Hochhäuser entlang, während der Schnee, der sich unten auf den Wegen sammelte, jegliche Geräusche verschluckte und die Stadt mit einer ungewohnten Ruhe erfüllte. Die Straßen von New York leerten sich schnell, die letzten Leute eilten nach Hause oder in die nächste Spelunke, wo sie die restliche Nacht heimlich mit wesentlich angenehmeren Wassern verbringen konnten. Die gefrierenden Pfützen in den Straßenrinnen, schimmerten in dem schwachen Laternenlicht, Schneeflocken wirbelten glitzernd umher und der wolkenbedeckte Nachthimmel war von einem rötlichen Schein erfüllt, der sich gemächlich zu der Stadt unter ihm herabsenkte.

 

Die Stunden gingen vorüber, die Schneedecke wuchs und mit dem pfeifenden Wind glitt noch etwas Anderes durch die spärlich beleuchteten Straßen von New York. Ein nebliger Schatten, klein und finster, trieb sich windend und zuckend durch die Lüfte. Er wurde von den stärkeren Windstößen nach oben getragen, stürzte sich dann steil hinunter und rauschte durch die zugigen Gassen der Häuserreihen, eine schmale Spur aus bröckelnden, rissigen Mauerwerk hinter sich lassend, wann immer er schlingernd dagegen stieß. Der Schatten irrte ruhelos umher, zog seine Kreise in dunklen Ecken, flog zurück und schlug zielstrebig einen neuen Weg ein.

 

Dann erreichte er ein unscheinbares, kleines Gebäude, ein wenig abseits der Straße. Er schwebte langsam nach oben, hielt auf die turmartige Spitze zu und steuerte eines der schmalen Fenster darunter an. Das Glas zerbarst in dutzende Stücke, als der Schatten es berührte und er glitt sachte durch die neuentstandene Öffnung, in das düstere Innere.

 

Es gab vier Zimmer im obersten Stockwerk, winzig und spärlich eingerichtet, und eine Plattform mit hölzernem Geländer, von welchem man hinunter in den großen Hauptraum sehen konnte. Der Aufbau ähnelte einer Kirche, doch von dem ehrfürchtigen, gottnahen Gefühl war man beim genaueren Betrachten weit entfernt. Eine schmale, steile Treppe führte hinab in den finsteren, zweckentfremdeten Saal, welcher Aufenthaltsort, Arbeitszimmer und Küche zugleich war. Im vorderen Teil, gegenüber der Treppe, unter dem Balkon, befand sich ein großes, kastenartiges Gebilde aus Holz, welches ein kleines Badezimmer beherbergte. In der Mitte des Raumes stand ein solider Holztisch, vollgestellt mit Druckermaschinen, Farbeimern und gebündelten Papierstapeln und umgeben von harten Sitzbänken und einer Handvoll klappriger Stühle.

 

Das Gebäude lag dunkel und ruhig da, nichts bewegte sich oder machte Geräusche. Nur der Schatten schwebte pulsierend und strudelnd umher, von dem Zimmer hinaus in den Flur, wo er sich gefährlich nahe zu den Dielen herabsinken ließ. Er zog sich zusammen, bäumte sich auf, formte sich neu und schließlich fiel, mit einem schmerzgeplagten Stöhnen, ein junger, schwarzhaariger Mann auf die knarzenden Bodenbretter. Sein Gesicht war bleich, die Augen dunkel und glänzend und im schwachen Mondlicht, welches durch ein Dachfenster fiel, erschienen seine Hände fleckig und zerkratzt. Seine Kleidung war schmutzig und nass und an zahlreichen Stellen durchlöchert und fransig. Er rollte sich zusammen, wandte sich ächzend hin und her, die Lippen aufeinandergepresst und wimmernd.

 

Die Minuten vergingen, das Mondlicht wanderte und der Junge wurde langsam ruhiger, drehte sich auf die Seite und schluchzte leise. Die kalte Winterluft zog durch das zerbrochene Fenster, kühlte erst den Raum und dann den Flur, ließ den jungen Mann frösteln. Er versuchte aufzustehen, konnte jedoch seinen linken Arm nicht bewegen. Ein kurzer, schmerzerfüllter Schrei ertönte, als er unerwartet den Halt verlor und hart auf dem Boden aufschlug. Er lauschte in die Stille der Nacht hinein. Nichts regte sich, alles blieb ruhig und dunkel.

 

Eine Weile blieb er schluchzend liegen und starrte wie betäubt in die Finsternis. Schließlich kam erneut Bewegung in ihm auf. Er robbte zum nächstgelegenen Zimmer, drückte sich mit seinem rechten Arm und aller Kraft nach oben und lehnte sich rücklings an die Tür. Sein Arm wanderte höher, ergriff den Türknauf und halb ziehend, halb mit den wackeligen Beinen nach oben stemmend, richtete er sich auf.

 

Keuchend lehnte er sich an den Türrahmen, ehe er den Knauf rüttelte und drehte, bis die Tür knarrend aufschwang. Er stolperte haltlos hinein, auf das schmale Bett zu und sank kurz davor polternd zu Boden. Mit der rechten Hand packte er die dünne Decke, zerrte sie grob herunter und streifte sie mehr schlecht als recht, über seinen frierenden Körper. Der Stoff war kalt und rau, blieb an seinem Ellenbogen hängen, verhedderte sich zwischen seinem Rücken und der Bettkante. Der Junge wurde unruhig und zerrte kräftiger an dem Gewebe. Ein reisendes Geräusch ertönte, gefolgt von einem weiteren Wimmern. Er hielt in seinem Tun inne, sein Körper zitterte, er schluchzte und würgte.

 

Abermals dauerte es einige Momente, bis er wieder zur Ruhe kam. Er stemmte sich mühselig nach oben, streifte das Betttuch erst über seine linke Schulter, lehnte sich an die Wand, wodurch er den Stoff fixierte und kämpfte dann mit der anderen Seite. Der Junge wickelte sich, so gut es eben ging, in die Decke und stolperte schließlich wieder aus dem Zimmer hinaus.

Er wankte weiter, schob sich stützend an der Wand entlang, bis zum Geländer und hielt sich mit dem rechten Arm daran fest. Einen Augenblick starrte er nachdenklich auf die Treppe, dann wanderte sein Blick weiter, hinab zu dem düsteren Hauptraum. Schließlich wagte er den ersten Schritt. Er setzte die Füße sorgfältig auf die Stufen, klammerte sich dabei wie ein Ertrinkender an das Geländer und rutschte mehr an der Hilfskonstruktion herab, als dass er die Treppe hinunterstieg.

 

Als er die unterste Stufe erreicht hatte, ließ er sich darauf nieder, streckte beide Beine von sich und lehnte den Kopf erschöpft an die Streben. Er verharrte dort, döste ein wenig vor sich hin und bemerkte zunächst nicht, dass es draußen allmählich heller wurde. Schließlich beleuchtete das rötliche Morgenlicht die Räumlichkeiten und von draußen ertönten die Geräusche des geschäftigen Treibens der Menschen und das Brummen und Klappern von Automobilen und Kutschen. Doch in diesem Haus blieb es, bis auf das erschöpfte Schluchzen des Jungen, ruhig und leblos.

 

Nach dieser großzügigen Pause fühlte er sich etwas kräftiger, richtete sich auf und schleppte sich schwerfällig durch den Hauptraum. Er erreichte ein schmales Kabuff, in der Nähe des Vordereingangs und hatte Mühe, den steckenden Schlüssel zu drehen und später, die Türklinke zu greifen. Als er den schmalen Raum endlich geöffnet hatte, ließ er sich plump zu Boden sinken. Halb im Flur, halb in der kühlen, dunklen Kammer liegend, starrte er nach oben. Sein Blick suchte die Regalreihen ab, auf denen er die Formen von ein paar Flaschen und Dosen erkannte. Er streckte seinen rechten Arm aus und versuchte eine der Flaschen zu ergreifen. Seine zitternden, geschwärzten Finger griffen immer wieder ins Leere, sein Handgelenk schlug schmerzhaft gegen das Holzbrett. Auf dieser Seite konnte er keine der Flaschen erreichen, probierte es jedoch immer weiter, bis er versehentlich so stark gegen das Regal stieß, sodass auf den obersten Ablagen einige Gegenstände ins Wackeln gerieten. Eine Flasche auf dem obersten Brett kippte um und rollte langsam auf den Rand zu. Sie blieb bedrohlich an der Kante liegen und sein Blick blieb für einen langen Atemzug wie gebannt an dem Gegenstand hängen. Letztlich drehte sich der Junge auf die andere Seite und langte nun in das gegenüberliegende Regal, zu einer anderen Flasche.

 

Diesmal konnte er das Gefäß ergreifen, doch seine eisigen Finger krampften und sie fiel ihm schmerzhaft, aber heil auf den Bauch. Weitere Minuten vergingen, in denen er am Verschluss werkelte, doch endlich hatte er die Flasche geöffnet. Er richtete sich so gut es ging auf und trank ein paar erfrischende Schlucke. Er leerte den halben Inhalt, bevor er die Flasche auf den Boden stellte und sich wieder flach hinlegte, den Blick mit einem Hauch Linderung gen Decke gerichtet.

 

Er zählte die Dosen und verbliebenen Flaschen und überlegte, wie lange er wohl davon leben konnte. Wenn er sie sich gut einteilte, vielleicht zwei oder drei Wochen? Hoffentlich hatte er sich bis dahin ein wenig erholt.

 

Nachdenklich betastete er seinen linken Arm. Die dazugehörige Hand war seltsam dunkel gefärbt. Er konnte die Berührung wahrnehmen, doch es fühlte sich eher an, als würde er einen fremden Arm anfassen. Das taube Gefühl zog sich bis hinauf zu seiner Schulter und wurde dann von einem stechenden Ziehen in seinen Knochen und Muskeln abgelöst. Vorsichtig drehte er sich auf die Seite, doch der Schmerz blieb und sein linker Arm klatschte leblos auf den Boden. Noch immer frierend blieb er eine Weile so liegen und starrte in die Schatten der Kammer.

 
 

~*~*~

 

Es kam ihm vor, als habe er nur kurz geblinzelt, doch er musste eingeschlafen sein. Das Licht hatte sich schlagartig verändert, war nahezu verschwunden und er fühlte sich wiederum ein klein wenig besser. Seine Kleidung war immer noch kalt, sein Arm taub, doch die Schmerzen waren an einigen Stellen schwächer geworden. Er nahm noch ein paar Schlucke Wasser und schaffte es diesmal besser, wieder auf die Beine zu kommen. Mit der Absicht, sich in ein richtiges Bett zu legen, schleppte er sich Stück für Stück voran, schleifte mit seinem tauben Arm an der hölzernen Wand entlang und quälte sich schließlich wieder die Treppe hinauf.

 Erschöpft und verzweifelt ließ er sich am Geländer hinunter sinken, um eine Pause zu machen. Er zog die Beine zu sich heran und lehnte seinen Kopf erneut gegen die Streben. Heiße Tränen rannen über sein Gesicht, doch er machte sich nicht die Mühe, sie fortzuwischen. Sie waren das Einzige, was ihm in diesen Moment Wärme spendete.

 

Das Knarzen der Eingangstür schreckte ihn auf und ihm stockte augenblicklich der Atem. Die Tränen versiegten, angespannt spitze er die Ohren und wandte den Kopf ein wenig herum, um nun hinunter in den großen Raum blicken zu können. Der gelbliche Lichtschein einer Straßenlaterne fiel in den Hauptraum, beleuchtete kurz in einem schwachen Kegel die Bodendielen und den langgezogenen Tisch, bevor sich etwas dazwischenschob und den Raum wieder mit Dunkelheit ausfüllte. Ein dumpfes Knacken erklang, als die Tür ins Schloss fiel und wurde von langsamen, knirschenden Schritten abgelöst, die unsicher durch den Eingangsbereich schlichen.

 

Dann ertönte eine männliche Stimme: „Credence?“

 

Sein Name hallte verzerrt von den hohen Wänden wider und Credence horchte auf. Die Stimme kannte er, doch er wagte es nicht, irgendeinen Mucks von sich zugeben. Die gedämpften Schritte unter ihm wanderten weiter und schließlich erblickte er die Umrisse einer schlanken Gestalt, die unter dem Balkon hervorkam und an den Tisch herantrat. Das weißliche Mondlicht, welches durch die hohen Dachfenster fiel, spendete zu wenig Helligkeit, um genauere Details auszumachen, doch offenbar trug der Mann einen langen Mantel und hielt einen rechteckigen Gegenstand, von der Größe eines Koffers, in der linken Hand.

 

„Credence?“, fragte der Fremde erneut in die Stille des Raumes hinein, diesmal ein wenig lauter und klarer. Doch dieser machte immer noch keine Anstalten, ihm zu antworten. Er blieb zusammengekauert und ängstlich in seiner Ecke sitzen und beobachtete, was der unerwünschte Besucher als nächstes tun würde.

 

Dieser steuerte auf die Treppe zu und für einen Augenblick, dachte Credence panisch, er würde hinaufsteigen und ihn dann entdecken. Doch er verharrte lediglich einen Moment an dem düsteren Treppenabsatz, blickte hinauf in die Dunkelheit des Obergeschosses und machte dann kehrt, um wieder langsam in die Mitte des Raumes zurückzuschreiten. Offenbar hatte er Credence nicht entdeckt.

 

„Ich heiße Newt, Newt Scamander. Wir sind uns bereits in dem U-Bahn-Schacht begegnet. Ich weiß nicht, ob du hier bist und mich hörst, aber ich hoffe, dass du das tust. Ich weiß, dass du Angst hast und ich will mich nicht aufdrängen.“ Der Mann namens Newt stellte das, was er vorher in den Händen gehalten hatte, auf die Tischplatte und ließ sich sachte auf einer Bank nieder. Er streckte seine langen Beine ein wenig aus, blickte sich offenbar suchend in der Dunkelheit um und sprach schließlich weiter. „Ich komme aus London, aber in den letzten Jahren bin ich sehr weit gereist und habe Forschungen und Studien betrieben. Ich war an vielen verschiedenen Orten der Welt und vor ein paar Monaten traf ich im Sudan auf dieses Mädchen.“ Er machte noch einmal eine Pause und lauschte, ob von irgendwo eine Regung kam. „Ich habe dir bereits etwas von ihr erzählt. Sie war erst acht Jahre alt und hatte magische Fähigkeiten, genau wie du. Doch auch sie war gezwungen worden, ihre Magie zu verbergen, alles in sich hineinzufressen, weil ihre Mitmenschen es nicht sehen wollten oder Angst davor hatten. Eine Zeit lang ging das gut, aber irgendwann… wenn man es zu lange zurückhält… entwickeln diese unterdrückten Kräfte eine Art Eigenleben. Sie werden zu einem Parasiten, einem Obscurus, der ständig darum bemüht ist, seine Energien wirken zu lassen, aus dem Körper seines Wirtes auszubrechen. Es wird mit der Zeit immer schwieriger, diese Kraft zu kontrollieren und irgendwann, wenn man es nicht mehr schafft…“ Er seufzte und sah sich noch einmal suchend um. Credence rührte sich noch immer nicht. Newt blickte schließlich wieder geradeaus, in Richtung des Hintereingangs.

 

„Ich will dir keine Angst machen, Credence, ich will nur ehrlich zu dir sein. Nach alldem, was man dir angetan hat, ist es dein gutes Recht, dass du die Wahrheit erfährst, auch wenn sie so… schrecklich und furchteinflößend ist. Du hast gesehen und gespürt, was mit diesen Kräften passiert, wenn sie sich nicht mehr kontrollieren lassen und das Gleiche ist mit dem Mädchen geschehen. Ich wollte ihr helfen… Ich wollte den Obscurus entfernen… ich hatte es beinahe geschafft. Aber sie war schon zu geschwächt und… und sie…“ Seine Stimme zitterte und Credence sah, wie sich Newt kurz über das Gesicht fuhr. Er hörte ihn aufgewühlt seufzen und ahnte, was er gleich sagen würde, doch er war sich sicher, dass er es nicht hören wollte, wenngleich er es nicht verhindern konnte. „Ihre Kräfte haben sie getötet, Credence. Das Einzige was ich noch tun konnte, war kurz vorher den Obscurus von ihrem Körper zu trennen, damit er nicht noch mehr Schaden anrichten konnte. Ohne eine Verbindung zum Wirtskörper ist der Obscurus nutzlos und kann nicht lange überleben.“

 

Es wurde wieder ruhig und die einzigen Geräusche kamen von dem zischenden Wind, der über das Dach fegte und das sanfte Schniefen von Newt. Credence blickte zu ihm hinunter und fragte sich, ob er tatsächlich ehrlich zu ihm war. Er konnte ihm alles Mögliche erzählen und das hier klang teilweise sehr nach dem, was Credence gerne hören wollte: dass er nicht der Einzige war, dass es noch andere gab und dass ihm tatsächlich jemand helfen könnte. Oder es zumindest versuchte.

 

Aber er war schon zu oft enttäuscht worden. Mary Lou hätte ihm eine fürsorgliche Mutter sein sollen, doch alles was sie ihm entgegen gebracht hatte waren Schmerz und Demütigung. Percival Graves hatte ihm ein Zuhause versprochen und in Aussicht gestellt, er könne bei ihm das Zaubern erlernen. Aber er hatte ihn schamlos ausgenutzt, belogen und eiskalt von sich gestoßen. Die ganze Menschheit schien sich gegen Credence verschworen zu haben, beleidigten ihn, ignorierten ihn, nannten ihn einen Freak. Es war alles zu viel. Er wollte Newt, gerne glauben, aber er konnte es nicht. Zu groß war die Angst, dass er nur wieder enttäuscht wurde.

Wäre es also vielleicht besser, die Kraft, diesen Obscurus einfach herauszulassen, sich töten zu lassen, damit endlich alles vorbei war? Aber auch dieser Gedanke machte ihm zu große Angst. Er wollte niemandem wehtun und er wollte nicht sterben. Doch welche Wahl sollte er treffen?

 

„Ich möchte dir helfen“, sprach Newt so leise weiter, dass Credence es beinahe nicht mitbekommen hätte. „In fünf Tagen geht mein Schiff zurück nach London. Wenn du willst, kannst du mit mir kommen. Ich habe Möglichkeiten, dich unbemerkt an Bord zu schmuggeln. Vorerst…“ Er erhob sich und hantierte an dem Gegenstand herum, der auf dem Tisch lag. Zwei Verschlüsse schnappten klackend auf und Newt fing an, im Inneren herumzuwühlen. Er holte einige Dinge hervor und legte sie sorgfältig auf der Platte ab. „Vorerst lasse ich dir ein paar Sachen hier. Etwas zu Essen und Trinken, Kleidung und etwas Muggel-Geld… also Geld der Nicht-Magier, welches du hier bedenkenlos in New York ausgeben kannst. In der Tasse ist Tee, ich hab ihn so verzaubert, dass er sich ein paar Mal nachfüllt und warm bleibt. Ich hoffe du magst Kräutertee. Das blaue Zeug in der kleinen Flasche ist ein Stärkungstrank. Ich nehme an, dass du den gebrauchen kannst. Ich weiß nicht, wie schlimm dich die Auroren verletzt haben, aber bei der Masse an Zaubersprüchen… Nun, das hier hilft, vertrau mir.“ Er machte eine kurze Pause in seiner Erklärung und schien zu kontrollieren, ob er alles herausgeholt hatte. „Ich komme jede Nacht wieder, so lange wie ich noch hier bin und werde im Hauptraum auf dich warten… Das sind von jetzt an vier Nächte. Nur für den Fall, dass du es dir überlegst… Ich werde dich jedenfalls nicht zwingen, obwohl ich das durchaus tun könnte. Aber ich hoffe, dass du mit mir kommst, damit ich versuchen kann, dir zu helfen.“ Newt schloss seinen Koffer und wandte sich zum Gehen. Er stapfte zügig zur Tür und als er sie öffnete, blieb er noch einmal kurz stehen und lauschte. Dann seufzte er ein letztes Mal und verließ die Kirche.

 

Credence blieb nach wie vor sitzen und während die Zeit verstrich, döste er wieder ein. Erst als die Sonne wieder aufging und er jäh aus dem Schlaf schreckte, mühte er sich erneut damit ab, hinunterzusteigen, um die Sachen zu begutachten, die Newt ihm dagelassen hatte. Neben den Gegenständen ließ er sich umständlich auf die Sitzbank gleiten und im schwachen Morgenlicht konnte er sie nun besser erkennen.

 

Fein säuberlich zusammengelegt und aufgehäuft, hatte er ihm einen blauen Mantel, zwei Wollpullover und eine Hose hingelegt, daneben ein paar warme Stiefel, Socken und einen gelb-grau-gestreiften Schal. Die Flasche mit der blauen Substanz stand neben der Teetasse, die tatsächlich noch immer dampfte. In einem Körbchen lagen etwas Brot, Wurst und Käse, zwei Äpfel und, zu Credence freudiger Überraschung, auch eine kleine Tafel Schokolade. Zu guter Letzt inspizierte er einen kleinen Lederbeutel, in dem er das Geld vermutete. Sein Herz machte einen Hüpfer, als er nicht nur ein paar Pennys und Schillinge erblickte, sondern auch mehrere zusammengerollte Dollarnoten. So viel hatte er noch nie besessen. Unsicher, ob er das Geld tatsächlich annehmen sollte, schob er den Beutel hinüber zu dem Stärkungstrank. Seine Zweifel waren für einen Augenblick wie wegeblasen.

 

Credence überlegte noch einen Moment, dann fing er an, die Decke, seine zerfranste Jacke und das Hemd abzustreifen und einen der Pullover überzuziehen. Sein gefühlloser Arm war dabei keine große Hilfe und beinahe zwanzig Minuten lang kämpfte er mit schmerzverzerrtem Gesicht mit den jeweiligen Kleidungsstücken. Seine Augen huschten dabei ein paar Mal nachdenklich über die kleine Flasche, deren Inhalt ihn wohl stärken sollte, doch er konnte sich nicht dazu überwinden, einen Schluck davon zu nehmen. Es konnte auch etwas vollkommen anderes sein. Als er sich schließlich umgezogen hatte, aß er einen Apfel, ein paar Scheiben Brot und zuletzt mühte er sich damit ab, mit seinen steifen, zitternden Fingern die Verpackung der Schokolade zu öffnen.

 

Er hatte noch nie Schokolade gegessen. Mary Lou hatte nie viele Süßigkeiten erlaubt, abgesehen von ein paar harten Keksen oder einem trockenen Stück Früchtekuchen. Aber er kannte den Duft von frischem Gebäck, wenn er an Bäckereien und Marktständen vorbeilief und den bitteren, aber dennoch angenehmen Duft von Kakao- und Kaffeebohnen. Er zögerte noch einen Moment und besah die kleine braune Tafel in seinen Händen. Dann biss er ein Stück ab. Es schmeckte anders, als alles was er je gegessen hatte, süßer als Weißbrot, doch gleichzeitig auch ein wenig bitter. Er nahm noch einen Bissen und ehe er sich versah, war fast die halbe Tafel weg. Er packte sie wieder sorgfältig ein und trank einen Schluck Tee. Das Getränk schmeckte ebenfalls bitter, aber es wärmte ihn von innen und Credence trank weiter, bis die Tasse fast leer war. Er setzte sie ab und beobachtete verzückt, wie der letzte, übrige Schluck kurz blubberte und dann nach oben stieg. Die Tasse füllte sich tatsächlich wieder auf.
 

~*~*~

 

Den Rest des Tages verbrachte Credence damit, sich zum Badezimmer zu schleppen und etwas frisch zumachen, die restliche Kleidung anzuziehen und zurück zum Tisch zu taumeln. Er legte sich sachte auf die Bank und bettete seinen Kopf auf seinen nach wie vor tauben Arm. 

 

Er wog nachdenklich das Für und Wider von Newts Angebot ab. Zum einen hatte er Angst, wieder dem Falschen zu vertrauen und ausgenutzt oder misshandelt zu werden. Immerhin hatte er Newt nur ein einziges Mal getroffen und woher sollte er wissen, ob er nicht ähnlich wie Percival Graves andere, weniger gutmütige Absichten hatte. Doch falls Newt die Wahrheit sagte, könnte es etwas für Credence eröffnen, an das er noch gar nicht gedacht hatte: Newt hatte gesagt, er würde viel reisen. Und er könne ihn unbemerkt mit sich mitnehmen. Die Vorstellung, nicht nur aus New York, sondern auch aus Amerika herauszukommen, sobald Newt ihn von dem Obscurus befreit hatte und vielleicht an seiner Seite ein paar andere exotischere Orte zu besuchen, faszinierte ihn. Er hatte Bilder und Zeichnungen von anderen Städten, von Wüsten und Wäldern, Steppen und Feldern gesehen, aber sich nie weiter damit beschäftigt, weil er erwartete hatte, dass Mary Lou ihn ohnehin nie fortgehen lassen würde.

 

Der Gedanke an seine Adoptivmutter ließ ihn zittern und seine Augen huschten beängstigt zu der Stelle hinüber, an der sie gelegen hatte, tot und starr, mit einem entsetzten Blick auf ihrem Gesicht. Tief in seinem Inneren war er froh, dass sie nicht mehr da war, denn er hatte sie nie leiden können, war ständig voller Angst und Wut, sobald er sie gesehen oder an sie gedacht hatte. Es war nicht nur die Art und Weise gewesen, wie sie ihn und die anderen Kinder behandelt hatte, wie sie ihn verächtlich angestarrt oder ihn mit seinem eigenen Gürtel malträtiert hatte. Ihre Vorstellung von der Welt und wie diese geformt werden müsste, hatte er schon immer als falsch und grausam empfunden. Weshalb er trotz alledem bei ihr geblieben war, lag zum einen an seiner jüngeren Adoptivschwester Modesty, die er nicht bei ihr hatte zurücklassen wollen und zum anderen an der Tatsache, dass ihm wohl niemand anderes ein Obdach und Nahrung gegeben hätte.

 

Selbst als er Percival Graves kennen gelernt hatte, hatte dieser gewollt, dass Credence bei ihr blieb. Der talentierte Zauberer hatte ihm Hoffnungen gemacht, irgendwann doch noch von Mary Lou loszukommen, eine richtige Familie zu finden und Zauberei zu lernen. Doch vorher hatte er eine Gegenleistung dafür erwartet. Credence hätte für ihn ein Kind ausfindig machen sollen, welches große, magische Fähigkeiten besitzen musste und offenbar zu den zahlreichen, obdachlosen Kindern gehörte, welche für die Second Salemers Flugzettel verteilt und dafür eine warme Mahlzeit bekommen hatten. Erst dann hätte er ihn mit in die magische Gesellschaft einbürgern und aus der harten Gewalt von Mary Lou befreien können. Und Credence, der zum damaligen Zeitpunkt geglaubt hatte, nun endlich einen wahren Freund gefunden zu haben, hatte ihm blindlings gehorcht.

 

Nun, im Nachhinein, musste Credence sich eingestehen, dass er an der Ehrlichkeit von Graves‘ Worten immer einen gewissen Zweifel gehegt hatte. Doch diesen hatte er ignoriert, geblendet von der väterlichen Aufmerksamkeit, von jedem tröstenden Wort, welches der Zauberer für ihn erübrigen konnte. Er hatte zu diesem außergewöhnlichen Mann aufgesehen, ihn für seine ermutigende Art und seine magischen Fähigkeiten bewundert und gehofft, sich regelrecht gewünscht, er würde ihn eines Tages als Schüler, vielleicht sogar als Sohn bei sich aufnehmen.

 

Aber das Blatt hatte sich gewendet, als Credence grausam bewusst geworden war, dass er ihn nur für seine eigenen, mysteriösen Ziele benutzt hatte. Graves hatte nur das Kind mit dem Obscurus haben wollen, was auch immer er sich damit erhofft hatte, und als er geglaubt hatte, dieses Kind endlich in Modesty gefunden zu haben, hatte er Credence einfach links liegen gelassen. Er hatte ihn benutzt und belogen, um an das heranzukommen, was er offensichtlich brauchte, hatte ihm Aufmerksamkeit und Wertschätzung vorgeheuchelt, damit Credence in seiner Verzweiflung alles tat, um dies nicht wieder zu verlieren. Freundschaft, Vertrauen und ein richtiges Zuhause, waren einfach nur ein Lockmittel gewesen, um Credence gehörig zu machen.

 

Und so war letztlich der Moment gekommen, an dem Credence freiwillig die Kontrolle verloren hatte. Es waren einfach zu viele Faktoren geworden, welche die Mauern erst zum Bröckeln und schließlich zum Einsturz gebracht hatten. All die dreisten Lügen, der quälende Schmerz und die brennende Enttäuschung zerstörten endgültig, was er in all den Jahren so mühselig aufgebaut hatte. Er hatte toben wollen, schreien, seine Wut an allem auslassen, was er finden konnte - und so hatte er losgelassen…

 

Credence schloss die Augen und presste seine Lippen zusammen, um dieses Mal die Kontrolle zu behalten. Er hatte sich von seinen Erinnerungen, von den aufkommenden Gefühlen dazu verleiten lassen, etwas locker zu lassen. Aber er wollte und konnte jetzt nicht einfach aufgeben. Credence wollte dieses brutale Leben nicht weiterführen. Er hatte nie jemandem wehtun oder mutwillig Dinge zerstören wollen. Trotzdem hatte er es ein paar Mal getan, er hatte dabei Menschen getötet und großen Schaden angerichtet. In gewisser Weise hatte er also die Strafe verdient, die ihm die Zauberer oder Auroren, wie Newt sie genannt hatte, zugefügt hatten. Doch vorrangig hatte er gehofft, sie würden seine Lage vielleicht verstehen und ihm helfen, die Kontrolle zurückzuerlangen. Aber es war ganz anders gekommen.

 

Chastity und Mary Lou waren tot und Modesty, wenn nicht bei seinem Ausbuch verletzt, spurlos verschwunden. Doch abgesehen von diesen Umständen, gab es nichts Ungewöhnliches mehr. Draußen auf den Straßen war wieder alles normal, nichts erinnerte an die zertrümmerten Häuser, die aufgerissenen Straßen oder an die Toten, die er zu verantworten hatte. Er wusste nicht wie, aber offensichtlich hatten die Zauberer und Hexen dafür gesorgt, dass es keinen Hinweis mehr auf die zerstörerische Kraft gab, die in ihm schwelgte. Mit Magie mussten sie alles wiederhergerichtet haben, die Straßen vom Schutt gesäubert und die Häuser wiederaufgebaut haben. Die Bewohner der Stadt hatten die Erlebnisse der letzten Tage scheinbar vergessen und führten ihren Alltag normal und unbekümmert fort. Die Ereignisse hatten sich verändert und vielleicht hatte man auch für Modesty eine angenehmere Lösung gefunden oder hatte sie sogar zu ihrer richtigen Familie zurückgebracht.

 

All das hatten diese Auroren mit Zauberei Zustande gebracht. Auf der einen Seite war er verzückt von all den Möglichkeiten der Magie, doch auf der anderen Seite… Warum hatten diese Leute ihm nicht helfen können? Wieso hatten sie versucht, ihn zu vernichten und dann halbtot zurückgelassen? Wieso war Newt der Einzige, der es versuchen wollte und offenbar nicht durfte?

 

Seine Gedanken schweiften zu der Frau, die mit Newt in dem U-Bahn-Schacht gewesen war. Tina, hatte Newt sie genannt. Schon einmal hatte sie Credence gerettet, sich entschlossen zwischen ihn und Mary Lou gestellt, um ihn vor den Schlägen der blanken Gürtelschnalle zu bewahren. Er hatte sie daraufhin nie wieder persönlich gesehen, doch seit jenem Tag an, hatte sie ihn in seinen Träumen wieder und wieder gerettet. Und in dem Tunnel, als sie endlich erneut als seine Heldin aufgetreten war, hatte sie so ehrlich, so aufrichtig und besorgt geklungen. Nicht nur um ihr Wohl oder das der anderen, sondern auch um sein eigenes.

 

„Newt und ich werden dich beschützen.“
 

Ihre Worte hallten in seinem Kopf wieder und er konnte ein flüchtiges Lächeln nicht verbergen. Doch sie war nicht mit Newt hierhergekommen und dieser hatte keine Entschuldigung für ihn. Hatte sie ihm geholfen, nur um ihn wieder allein zu lassen? Credence wollte sie wiedersehen und ihr wenigstens einmal danken. Wenn er jemandem wirklich vertrauen wollte, dann war sie es. Doch sie war fort und unerreichbar, so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Vielleicht war sie ja gar nicht echt, sondern nur Einbildung, ein Geist oder sein Schutzengel?

 

Oder führte der einzige Weg zu ihr, indem er Newt vertrauen musste?

 

Er war hin und hergerissen zwischen Wegrennen und Bleiben. Die Zeit schritt vorüber und das Tageslicht wurde schwächer. Fieberhaft suchte er nach einer Lösung und er ertappte sich dabei, wie er immer wieder an Newts und Tinas Worte dachte. Wenn die beiden das Gesagte ernst gemeint hatten, warum sollte er diese Chance nicht ergreifen? Wenigstens ein letztes Mal? Mehr als enttäuscht werden, konnte er nicht und etwas Schlimmeres, als den Tod, konnte ihn wohl kaum ereilen.

 

Es war wieder Nacht geworden und der Lärm der Straße verebbte allmählich. Das schwache Mondlicht fiel wieder in den Raum und die unberührte Flasche mit dem Stärkungstrank schimmerte bläulich, warf tanzende Lichtflecken an die Wände. Credence verfiel in einen Halbschlaf. Erst als die Eingangstür sich erneut öffnete, schreckte er auf und blickte dem Eindringling entgegen.

Kapitel 3


 

Kapitel 3

 

 

Newt Scamander achtete sorgfältig darauf, dass ihm niemand folgte. Er apparierte und disapparierte mehrfach hintereinander, suchte sich die dunkelsten Orte aus und schlug zunächst einen Weg in Richtung Osten, nach Queens ein, um seine Spuren zu verwischen. In kurzen Abständen, tauchte er mal hier, mal dort auf, machte schließlich einen größeren Sprung in den Norden der Stadt und von dort einen letzten Sprung, zurück an die Südspitze von Manhattan, als er sich endlich sicher war, dass er keinen Verfolger hatte.

 

Ein wenig unwohl fühlte er sich schon bei dem Gedanken, dass er Tina und Queenie Goldstein nicht in sein Vorhaben eingeweiht hatte. Beide waren durchaus talentierte und verständnisvolle Hexen, die ihm womöglich Hilfe leisten konnten. Doch auf der anderen Seite war es ihm noch wichtiger, dass die beiden Schwestern seinetwegen nicht wieder in so ein Chaos gestürzt wurden, wie es vor wenigen Tagen der Fall gewesen war. Noch einmal würde es die Präsidentin wohl nicht bei einer einfachen Versetzung belassen.

Wenn Newt jemanden in Komplikationen verstricken wollte, dann nur noch sich selbst. Und er befürchtete, dass er sich mit seinem Unternehmen auf jeden Fall in höchste Schwierigkeiten brachte.

 

Er war sich nicht gänzlich sicher, aber er hoffte oder wünschte sich zumindest, dass Credence Barebone noch am Leben war. Und möglicherweise kannte er sogar dessen aktuellen Aufenthaltsort. Der MACUSA hingegen wäre wohl weniger erfreut, von dieser Gegebenheit zu erfahren. Vor zwei Tagen hatten sie ohne zu zögern alles darangesetzt, den Obscurus zu zerstören, den der Junge in sich beherbergte. Zugegeben, Credence hatte mit dieser Kraft durchaus gewaltigen Schaden angerichtet und drei Menschenleben gefordert. Doch auf der anderen Seite stand die unumstößliche Tatsache, dass ein Obscurial keine Kontrolle über den Obscurus ausüben kann und welche Schmerzen man letztendlich erfahren musste, wenn die Macht aus einem herausbricht, davon wollte sich Newt keine genauere Vorstellung machen. Ihn trotz dieses altbekannten Wissens eiskalt zu vernichten, war in Newts Augen nur das erbärmliche Abbild eines glorreichen Triumphes. Credence hätte mindestens einen fairen Prozess verdient, aber mehr noch die Hilfe der magischen Gemeinschaft.

 

Newt hatte in den letzten beiden Tagen noch ein paar Mal Bekanntschaft mit dem MACUSA, insbesondere der Präsidentin Picquery gemacht. Sie war klug und auch verständnisvoll, so wie im Falle von Tina, welche nach einigen lobenden Worten seitens Newt, durch Picquerys Entscheidung zurück in die Aurorenabteilung versetzt wurde. Doch sobald es um die Sicherheit der magischen Gesellschaft und Rappaports Gesetz ging, verflog jeglicher Hauch von Mitgefühl und Vernunft. Es war, wie die Muggel es gerne zu sagen pflegten, als würde man einem Pferd Scheuklappen aufsetzen. Für die Präsidentin war das einzig wichtige Ziel, die Geheimhaltung und Trennung der magischen Bevölkerung, von der nichtmagischen und je schneller ein Problem gelöst wurde, desto besser. Und wenn es nach der Ansicht des MACUSA sein musste, schreckte man auch nicht vor dem Tod zurück, wie es Newt traurigerweise hatte erleben müssen. Es war egal, ob derjenige es mit Absicht getan hatte oder aus Versehen, solange es die Geheimhaltung sicherte, schien ihr jedes Mittel recht zu sein.

 

Doch Newt dachte keineswegs so, wie der überwiegende Teil der amerikanischen magischen Bevölkerung. Vielleicht lag es an seinem außerordentlichen Einfühlungsvermögen, seinem Drang nach mehr Erkenntnis und Einsicht oder einfach nur daran, dass er Engländer war und deswegen anders tickte. Er wollte diesem jungen Mann helfen, ihm eine zweite Chance geben - falls dieser bereit dazu war. Das Schicksal zumindest, schien auf seiner Seite zu sein, denn Newt war offenbar der Einzige gewesen, der bemerkt hatte, dass ein kleiner Teil des Obscurus lebend aus dem U-Bahn-Tunnel hatte fliehen können. Für Credence gab es nun wohl kaum einen anderen Zufluchtsort, als sein altes Heim und so war dies der erste Anlaufpunkt gewesen, an dem Newt nach ihm suchen wollte. Zwar hatte er ihn dort noch nicht angetroffen, aber er konnte sich vorstellen, wie unsicher und verängstigt der Junge nach all diesen Erlebnissen war und statt die Kirche nach ihm zu durchforsten, hatte er einen aufklärenden, entschuldigenden Monolog in der Haupthalle gehalten, in der Hoffnung, dass der Junge ihm zuhören würde. Er konnte nicht erwarten, dass er ihm sofort sein volles Vertrauen schenkte. Aber er konnte ihm zumindest zeigen, dass er ihn nicht vergessen hatte und sich ernstlich Sorgen machte.

 

Newt stand nun an der Ecke der Pike Street und gegenüber sah er die dunkle Silhouette der Second Salemers Church. Das schmale, symmetrische Haus, mit seinem Spitzdach und den gotisch angehauchten Fenstern, wirkte zwischen den breiten und massiven Backsteingebäuden absolut fehl am Platz. Anders als seine doppelt so hohen Nachbargebäude, bestand es aus rostigen Blech und bemaltem Holz, wirkte unfreundlich, schutzlos und kalt. Die Kirche war ein wenig zurückgesetzt und verschwand beinahe im Schatten dieser Bauten. Selbst das kleine Wellblech-Häuschen mit der grünen Tür, welches ein stückweit zur Straße hin gebaut worden war und als Eingang diente, konnte nicht verhindern, dass man es leicht übersah und daran vorüberlief.

 

Das Haus lag ruhig und finster da, so wie in der Nacht zuvor. Doch Newt hatte schon beim ersten Betreten des Gebäudes das kribbelige Gefühl im Nacken gehabt, welches ihm verriet, dass er nicht alleine gewesen war.

Newt blickte sich ein letztes Mal aufmerksam um, dann eilte er zügig auf das Tor der Kirche zu. Er öffnete es so leise, wie er konnte und schlüpfte hinein. Der Boden des Raumes wurde flüchtig mit dem trüben Licht der Laternen beleuchtet, ein paar Schneeflocken flogen tänzelnd in den Flur, dann fiel die Tür zu und Newt stand im Dunklen. Er zückte seinen Zauberstab.

 

„Lumos modico.“

 

Ein schwacher Lichtstrahl, kaum heller als der Schein einer Kerzenflamme, brach aus der Spitze seines Zauberstabes hervor und beleuchtete die hölzernen Dielen vor ihm. Im Gegensatz zu der mondklaren Nacht davor, in der er noch Schemen und Umrisse hatte erkennen können, hatte er nun beschlossen, nicht länger im Dunklen durch den Raum zu laufen. Die mattleuchtende Zauberstabspitze nach unten gerichtet, betrat er langsam den Hauptraum und steuerte erneut auf den Tisch zu.

 

Als am Rand des Lichtkegels die Umrisse einer liegenden Person auftauchten, hielt er inne. Eingehüllt in seinen alten Mantel und einen verunsicherten Ausdruck im Gesicht, starrte ihm Credence‘ bleiches Gesicht entgegen. Der junge Mann richtete sich mühselig auf und obwohl Newt den zwanghaften Drang verspürte, ihm zu Hilfe zueilen, tat er es nicht.

 

Viel mehr ging er diese Begegnung so an, als würde er ein Tier beobachten. Da war ein unbekanntes Wesen, eine noch scheue Kreatur, die erst bedächtig abschätzen musste, ob man ihm trauen konnte und wie nahe man ihn heranlassen wollte. Ein falscher Tritt oder eine zu schnelle Bewegung, konnte die Situation gefährden und Newt, wie schon einige Male zuvor, in die Bredouille bringen. Er wusste, dass Credence sicherlich nichts Böses vorhatte, aber der Junge war verängstigt und geschwächt, möglicherweise sogar verletzt. Dass er die Kontrolle über den Obscurus verlieren könnte, sollte er sich bedroht fühlen, war nicht undenkbar.

 

„Wie geht es dir, Credence?“, fragte Newt leise, sodass seine Stimme nicht zu stark von den hohen Wänden widerhallte. Reglos blieb er dort stehen, wo er gerade war, seine Aufmerksamkeit nur auf den Jungen gerichtet. Er wartete. Credence schien einen Moment mit einer Antwort zu ringen.

 

„M-Mir tut… alles weh“, hörte er ihn heiser sprechen. „Und i-ich spüre meinen Arm nicht mehr.“

 

Newt überlegte einen Moment und fragte dann sanft: „Darf ich mir das ansehen?“

 

Credence zögerte, doch dann nickte er kurz, eine schwache Bewegung in der Dunkelheit. Langsam und freundlich lächelnd, trat Newt näher, sehr darauf bedacht, in der Finsternis nirgendwo gegen zustoßen. Er ließ sich auf der Sitzbank neben ihm nieder. Credence versuchte derweil seinen Arm aus dem Jackenärmel zu ziehen. Newt stellte seinen Koffer behutsam auf den Boden, wippte kurz mit seinem Zauberstab, damit dieser gemächlich an Helligkeit zunahm und legte den Stab lautlos auf die Tischplatte, damit er beiden genügend Licht spendete. Credence hatte innegehalten und alles mit großer, ängstlicher Neugierde beobachtet, denn Blick nun fasziniert auf das leuchtende Holz geheftet.

 

Sachte streckte Newt die Hände aus und half dem jüngeren Mann mit dem Kleidungsstück. Gemeinsam konnten sie den schlaffen Arm aus dem Mantel befreien und behutsam umfasste Newt das eiskalte Handgelenk. Im Schein des immer noch zunehmenden Lichtes, stachen vor allem die Venen hervor. Als er sorgfältig den Ärmel hochschob, bekam er einen weiteren Eindruck des Ausmaßes der Verletzungen. Die Blutgefäße zogen sich wie ein formloses Netz unter der Haut entlang, von den Fingerspitzen bis hinauf zum Hals – dunkel verfärbt und viel deutlicher, als im Normalzustand. Gründlich inspizierte er Credence‘ Arm, drehte ihn im Schein des Lichtes ein wenig herum und bemerkte schließlich auch die rötlichen, geraden Striemen auf der Handinnenfläche. Markante Narben, die er das ein oder andere Mal auch bei Tieren entdeckt hatte – Narben, hervorgerufen durch die kraftvolle und peinigende Macht von Peitschen oder Riemen.

 

Er bemerkte, dass der junge Mann etwas unruhig wurde und blickte zu ihm auf. Ein sorgenvoll fragender Blick wanderte hastig zwischen dem Arm und dem Zauberer hin und her.

 

„Das krieg ich wieder hin“, versprach Newt zuversichtlich und er wusste im ersten Moment selber nicht, ob er es auf die Venen oder die Narben bezog. Dann fügte er – vielleicht auch für sich selbst - erklärend hinzu: „Das ist nichts Ungewöhnliches, wenn man eine ganze Ladung diverser Flüche abbekommen hat. Du hast bestimmt auch Gliederschmerzen und ein Ziehen in der Magengegend? Ein Stechen im Brustbereich? Schwindel?“ Credence nickte bei jedem der erwähnten Symptome. Dann schaute Newt prüfend über den Tisch und entdeckte nur eine Armlänge von sich entfernt, die unberührte Flasche mit dem Stärkungstrank. Er griff beherzt danach und nestelte an dem Korken herum.

 

„Es gibt verschiedene Arten von Zaubersprüchen, musst du wissen. Viele erleichtern unseren Alltag, andere bereiten uns Vergnügen und ein paar sind leider äußerst unangenehme Flüche. Etliche von Hexereien können erst auf Befehl beendet werden, aber die Meisten lassen mit der Zeit von alleine nach.“ Mit einem leisen ‚Plopp‘ öffnete er das Fläschchen und hielt es Credence vorsichtig entgegen, der sich unsicher zurücklehnte und immer noch misstrauisch auf die blaue Flüssigkeit starrte. Newt sprach vorerst unbeirrt weiter. „Dasselbe gilt für Zaubertränke. Dieser hier beschleunigt den Abbau der Magiewirkung und hat einen dauerhaften Effekt. Er schwächt den Fluch ab, lindert Schmerzen und spendet Kraft und Energie. Es ist unterschiedlich, wie schnell der Trank wirkt, je nachdem wie stark der zu lindernde Zauber oder das Symptom ist. Aber auch die Anzahl der Zauber verzögert die Wirkung. Um ehrlich zu sein, hattest du sogar Glück, dass du bei der Masse von Flüchen nicht gestorben bist. Ich nehme an, da du bei dem Angriff praktisch körperlos warst, haben sich die Folgen der Magie bei dir anders ausgewirkt. Das Meiste hat der Obscurus abbekommen, aber da er selbst eine Form von Magie ist, hat er viele der Zauber einfach absorbiert oder neutralisiert. Er hat dir im Grunde das Leben gerettet.“

 

Credence hatte seinem kurzen Vortrag aufmerksam gelauscht, doch noch immer machte er keinerlei Versuche, den Trank zu probieren. Newt seufzte ergeben. „Also, wenn ich dich wirklich vergiften wöllte, hätte ich es auch mit dem Tee oder dem Essen versucht. Hier…“ Newt nahm nun selber einen kräftigen Hieb von dem bläulichen Getränk. Er verzog das Gesicht und schüttelte kurz den Kopf. „Na gut… ich gebe zu… er schmeckt etwas scheußlich. Aber bei Muggelmedizin soll das wohl nicht anders sein.“

 

Endlich ein wenig überzeugt, nahm ihm Credence das Fläschchen ab, hob es an seine Lippen und trank einen winzigen Schluck. Auch er verzog das Gesicht, aber blickte dann verwundert hinunter zu seinem betäubten Arm. Seine Fingerspitzen bewegten sich. „Ich spüre meine Finger wieder“, stellte er fest. In seiner heiseren Stimme schwang eine Spur Begeisterung mit. „Zumindest ein bisschen.“ Davon ermutigt, nahm er einen weiteren, größeren Schluck.

 

„Das muss ein partieller Lähmungszauber gewesen sein. Die kann man recht einfach aufheben. Aber ich schätze, dass es trotzdem noch etwas dauern wird, bis die Lähmung und die restlichen Zauber aufgehoben sind. Das Stechen in der Brust wird vermutlich am längsten bestehen bleiben.“

 

Credence musterte noch kurz seine Finger, dann fing er umständlich damit an, den Mantel wieder überzuziehen. Newt nahm ihm die kleine Flasche ab, verkorkte sie und verstaute sie in seiner Jacke. Dann streckte er die Arme aus, um ihm wieder zu helfen.

 

„Sind…Sind Sie ein Arzt?“, hörte er Credence fragen, während er ihm gerade den Kragen richtete.

„Äh, nein. Ich bin Magizoologe.“ Credence blickte ihm ratlos entgegen. „Eine Art Tierforscher. Ich bin eigentlich nach Amerika gekommen, weil ich einen Donnervogel nach Hause bringen wollte. Ein riesiger Vogel, mit mehreren Flügeln, der seine eigene Wetteratmosphäre erschaffen kann“, fügte er hinzu, als Credence ihn immer noch fragend ansah. Allerdings machte es die Beschreibung nicht besser. Newt grinste ihn amüsiert an.

 

„Na gut, lassen wir das erstmal beiseite und kommen wir zum eigentlichen Thema: Wärst du bereit, mit mir nach England zu kommen?“

 

Obwohl es abzulesen war, dass diese Frage im Laufe der Unterhaltung fallen würde, schien Credence sehr überrascht zu sein. Seine Augen fixierten nervös einen Punkt auf seinen Knien und seine Körperhaltung wurde recht steif, die Lippen pressten sich aufeinander.

 

„Du musst nicht, wenn du nicht willst“, sagte Newt freundlich, fügte jedoch ernst hinzu: „Aber es wäre mir lieber, wenn du zumindest nicht hier in New York bleiben würdest. Der MACUSA… oder eher die magische Bevölkerung hier, hält dich für tot und im Gegensatz zu mir wären sie nicht so erleichtert, dass du noch am Leben bist.“

 

Es wurde still im Raum. Credence schien über die Bedeutung der Worte nachzudenken. Newt warf einen kurzen Blick auf seine Uhr und stellte fest, dass es nun fast halb Eins war. Er würde nicht mehr lange bleiben können, sondern musste zurück in sein Zimmer, bevor Tina und Queenie seine Abwesenheit bemerken konnten. Immerhin konnte er Credence noch ein paar Tage Bedenkzeit geben. Außerdem brauchte er selber dringend etwas Schlaf. Am gestrigen Morgen hatte er behauptet, dass der Niffler wieder Schwierigkeiten gemacht hätte – natürlich nur innerhalb des Koffers – doch er konnte nicht immer mit einer neuen oder gar derselben Ausrede für seine Müdigkeit aufwarten. Abgesehen davon, dass beide Schwestern nicht dumm waren, konnte Queenie auch noch Gedankenlesen und sie hatte bereits den Eindruck gemacht, als würde sie Newts Erklärung nicht recht glauben. Er konnte also nur hoffen, dass sie entweder sehr diskret war oder tatsächlich Probleme mit seinem britischen Akzent hatte.

 

„Warum… warum haben sie mir nicht geholfen?“, fragte Credence zögerlich. „Die anderen Zauberer, meine ich.“ Er starrte noch immer auf seine Knie und er fing damit an, seine Hände zu kneten, als wäre ihm plötzlich bewusstgeworden, dass seine Frage völlig unangebracht war.

 

Newt seufzte nachdenklich und beobachte kurz Credence‘ sich windende Finger. „Weißt du… es herrschen hier strenge Regeln. Nicht nur bei den Muggeln – den nichtmagischen Menschen – sondern auch in der Zauberergesellschaft. Beide Parteien dürfen nicht oder nur sehr eingeschränkt miteinander interagieren. Es gibt ein richtiges Gesetz dafür, dass Zauberer und Hexen sich nicht mit Muggeln treffen dürfen, sich mit ihnen anfreunden oder gar verheiraten. Ein Auslöser dafür ist jene Aktion, die deine Adoptivmutter so angepriesen hat: Die Hexenprozesse von Salem.“

Credence blickte erschrocken zu Newt auf. „Deswegen haben… haben sie versucht… mich zu töten?“ Sofern es überhaupt möglich war, wurde er noch bleicher. Seine Finger kratzten unruhig über den Stoff seiner Hose.

 

„Nein, nein“, sagte Newt rasch. Das Letzte, was er gewollt hatte, war, dem Jungen noch mehr Angst zu machen. „Nein, es ist eher… es ist nicht deine Schuld, Credence und das darfst du keine Sekunde lang glauben. In den Augen der magischen Regierung von Amerika hast du vielleicht das oberste Zaubereigesetz gebrochen. Aber die Leute haben sich im Laufe der Zeit so sehr darauf versteift, dass sie vollkommen blind für andere Betrachtungsweisen geworden sind. Ihnen ist es egal, ob du von dem Gesetz weißt oder nicht, ob du es mit Absicht oder Unwissenheit gebrochen hast. Sie sehen nur, dass du es getan hast, das ist alles was für sie zählt, um ein derartiges Urteil zu fällen. Aber ich sehe das nicht so, Credence, und viele andere auch! Du kannst nichts dafür und es war falsch von ihnen, dich anzugreifen. In anderen Ländern gibt es zumindest medizinische Einrichtungen, wo man dich hätte betreuen können, auch wenn das selbstverständlich keine dauerhafte Lösung ist. Jedenfalls würde ich dich gerne aus… na ja, es wäre mir zumindest lieber, wenn ich wüsste, dass du nicht mehr hier in New York wärst, direkt unter den Augen des MACUSA. Ich will nicht, dass dir das noch einmal passiert.“

 

Credence musterte ihn mit einem unsicheren, fragenden Blick. „Wieso?“, fragte er schließlich. Newt schaute ebenso fragend drein. Credence holte kurz Luft und fuhr damit fort, seine Knie zu betrachten, während er mit zittriger Stimme weitersprach. „Wieso wollen Sie mir helfen? Und… und warum sollte ich Ihnen vertrauen? Ich habe auch… Ich habe auch Mr Graves vertraut und er…“

„Das war nicht Mr Graves“, unterbrach ihn Newt mit hastigem Nachdruck. Der Junge horchte verwundert auf. „Der richtige Name des Mannes, den du kennengelernt hast, lautet Gellert Grindelwald und er ist ein äußerst gefährlicher Schwarzmagier aus Europa. Er versucht schon seit vielen Jahren ein Regime aufzubauen, um damit die Herrschaft über die Zauberer und Muggel zu erlangen, bis er vor etwas mehr als einem Monat spurlos verschwunden ist. Zum gleichen Zeitpunkt muss er den echten Graves entführt, wenn nicht sogar getötet haben und hat seinen Platz beim MACUSA eingenommen – er hat einen Verwandlungszauber benutzt, der sein Aussehen verändert hat“, fügte Newt erklärend hinzu. „Ich nehme an, du hast ihn auch erst vor ein paar Wochen getroffen?“

 

Credence nickte bestätigend. Er starrte wieder hinunter, sein Blick war nachdenklich und verwundert, aber wieder etwas lockerer und entspannter. Diese Neuigkeit schien ihn sehr verwirrt zu haben und beinahe konnte Newt erraten, welche Überlegungen sich in seinem Kopf formten.

 

„Ich weiß nicht, was der echte Mr Graves getan hätte und ich will keine Vermutungen anstellen. Aber Grindelwalds Absichten waren böse und zutiefst verwerflich. Für ihn warst du nicht mehr, als ein Machtwerkzeug und solange wie du ihm dienlich für seinen Aufstieg und seine Herrschaft über die Muggel gewesen wärst, hätte er dir alles erzählt, was du hören willst.“

 

„Woher weiß ich, dass Sie nicht etwas Ähnliches planen?“

 

Newt starrte ihn für ein paar Sekunden verdutzt an, doch dann nickte er verständnisvoll. Natürlich hatte er mit so einer Frage gerechnet und zum Glück hatte er einen Plan in petto, wie er den Jungen von seiner ehrlichen Absicht, ihm helfen zu wollen, überzeugen konnte. Oder zumindest hoffte er, dass es funktionierte. Der Schlaf, den sein Körper verlangte, musste er wohl doch noch eine Weile verschieben.

 

Newt erhob sich von der Bank, nahm seinen Zauberstab und wandte sich seinem Koffer zu. Er kniete davor und werkelte an den Verschlüssen herum. Der Deckel schnappte klickend auf und er sah zu Credence hinüber, der sich neugierig, aber auch wachsam nach vorne beugte, um zu sehen, was Newt vorhatte.

 

„Ich weiß, dass ich dich kaum mit Worten von meiner Aufrichtigkeit überzeugen kann. Es wäre auch töricht von dir, wenn du das so einfach zulassen würdest, nach allem was man dir angetan hat. Aber vielleicht kann ich dir etwas zeigen, was deine Meinung ändert. Oder viel mehr: Jemanden.“ Mit diesen Worten steckte Newt seine Füße in den Koffer. Doch anstatt einfach nur mit den Schuhen auf dem Boden zu landen, versanken die Füße immer tiefer, dann die Unterschenkel, die Knie und schließlich steckte er bis zur Hüfte in seinem Koffer, den Zauberstab so haltend, dass er noch immer genügend Licht spendete. „Komm mit.“ Newt streckte Credence eine helfende Hand entgegen.

 

Mit großen Augen und leicht geöffneten Mund, starrte ihm der Junge entgegen, für einen Moment unschlüssig, was er tun sollte. Sein Blick huschte beinahe panisch zwischen dem Koffer und Newts zuversichtlich lächelndem Gesicht hin und her. Doch dann, zögernd und mit einem Ausdruck, als würde er gleich versuchen in eine Falle zu greifen, umfasste er Newts Handfläche. Newt ließ sich ruckartig hinunterfallen und zog den erschrockenen Credence mit sich, der kopfüber in dem Koffer verschwand.

 
 

~*~*~

 

 Sie stürzten hinab, das Licht des Zauberstabes wirbelte umher und die beiden rauschten durch die Luft, welche sich schlagartig veränderte, wärmer wurde und nun einen leicht modrigen Duft beherbergte.

 

Erst nachdem beide sicher mit den Füßen auf dem Boden gelandet waren, wurde Newt schlagartig bewusst, dass es wohl eine ziemlich dämliche Idee gewesen war, den verängstigten, geschwächten Mann auf diese Weise in den Koffer zu locken. Hastig und besorgt warf Newt einen Blick auf seinen Nebenmann, der sich nun krampfhaft an seinen Arm klammerte, doch Credence war bereits hin und weg von dem ungewohnten Anblick, der sich ihm bot.

 

Die beiden Männer befanden sich nun in einer Art Schuppen. Direkt hinter ihnen befand sich eine Leiter, die wieder nach oben führte und an der Kante eines kleinen, rechteckigen Fensters endete, durch welches sie soeben gefallen waren. Die Wände des Raumes waren größtenteils von Schränken und Regalen gesäumt, allesamt vollgestellt mit bunten Flaschen und Dosen, alten Büchern, Papierrollen, einem Fotoapparat, zwei Ferngläsern und unzähligen, exotischen Pflanzen. Bleistiftzeichnungen, handschriftliche Notizen und Fotografien waren an eine Pinnwand geheftet. Riesige Netze und groteske Masken baumelten von der Decke herab. Ein äußerst mitgenommener Schreibtisch war beladen mit diversen Gegenständen, darunter eine erleuchtete Öllampe, eine Schreibmaschine und einigen Ständern mit Reagenzgläsern. Dazwischen lagen weitere Bücher und lose Seiten, Federn und Tintenfässer, Zeichengeräte, medizinisches Besteck und eine noch dampfende Teekanne, die einen leicht würzigen Hauch im Raum versprühte.

 

Newt atmete erleichtert aus, als er erkannte, dass Credence sich voll unter Kontrolle hatte. Dieser wandte nämlich seinen Kopf in alle Richtungen und schien nicht recht zu wissen, wo er zuerst hinschauen sollte, die Spur eines verzückten Lächelns auf den Lippen. Nachdem sich der erste Schock langsam gelegt hatte, löste er sich von Newt und wanderte langsam und mit kleinen, holprigen Schritten durch den Raum, ließ seinen neugierigen Blick über dieses und jenes schweifen und inspizierte das ein oder andere Objekt etwas näher. Nicht nur die Größe und Fülle des verborgenen Raumes, schien ihn zu beeindrucken, sondern auch die sich bewegenden Motive der Fotografien zogen ihn in den Bann. Aufmerksam verfolgte er, wie ein Schwarm voller sonderbarer geflügelter Wesen nicht nur in der eigenen Fotografie seine Kreise zog, sondern das ein oder andere Exemplar im Rand verschwand und in dem Schnappschuss daneben wieder auftauchte. Voller Staunen erblickte er Bilder von feuerspeienden Drachen, einem hektisch umher sausenden kleinen Vogel und einem Einhorn, welches sich schüchtern im Gestrüpp des Hintergrundes versteckte, als Credence sich ungläubig nach vorne beugte, um es genauer zu betrachten.

 

Newt verfolgte alles ganz aufmerksam und lächelte zufrieden, dass dieser erste Teil seines Planes so reibungslos funktioniert hatte. Er gewährte ihm noch ein paar Minuten des Staunens und Entdeckens, bevor er den nächsten Zug in Angriff nehmen wollte.

 

„Das… das ist… kein Traum… oder?“ Credence löste seinen Blick von einer detailierten Zeichnung verschiedener Drachenflügel und wandte sich zu Newt herum.

„Nein“, antwortete dieser. „Das ist alles echt.“ Er trat neben den verblüfften Jungen und deutete auf ein paar der Drachenfotografien. „Während des Weltkrieges habe ich diese Drachen studiert. Man nennt sie Ukrainische Eisenbäuche und sie sind die größte, existierende Drachenart. Äußerst gefährlich, auch wenn sie recht langsam sind. Allein durch seine Größe und das Gewicht, kann ein einziges Exemplar alles, was sich ihm in den Weg stellt, zerstören.“ Newts Fingerzeig wanderte weiter und Credence‘ faszinierter Blick folgte ihm. Ihre Blicke landeten auf dem Bild des hektisch umherflatternden Vogels. „Das ist ein Schnatzer. Wegen seiner runden Form und seiner Schnelligkeit wurde er gerne für Quidditch verwendet, bis er um 1350 beinahe ausgestorben war. Seitdem steht er unter strengem Naturschutz.“

 

„Was…“, fing Credence zögernd an. „Was ist… Quwu… Quiwi…“

„Quidditch?“, grinste Newt schelmisch. „Das ist eine Sportart. Man spielt es auf Besen, es gibt sieben Spieler und vier Bälle. Der Schnatzer diente früher… nun, er diente als Spielball. Der Sucher des jeweiligen Teams musste versuchen ihn einzufangen und das brachte hundertfünfzig Punkte. Meistens konnte man mit diesem Fang das Spiel für sich entscheiden – und hat dabei nicht selten auch den Vogel getötet.“

„Besen?“ Credence starrte Newt an, als würde er erwarten, dass er ihm gleich sagen würde, es sei nur ein Scherz gewesen. Doch Newt lächelte nur. „Man kann wirklich… auf Besen fliegen?“

Newt nickte. „Ich selbst bin kein besonders guter Flieger“, gab er zu. „Es gibt andere Fortbewegungsmittel, mit denen ich besser umgehen kann.“

„Das Verschwinden und Auftauchen“, bemerkte Credence eifrig.

„Ja, apparieren und disapparieren. Es erforderte zwar mehr Konzentration, aber dafür ist die Reise kürzer und bequemer. Und man fängt sich keine Holzsplitter ein“, fügte Newt augenzwinkernd hinzu. Über Credence Gesicht huschte erneut ein flüchtiges Lächeln.

 

Newt schritt auf eine schmale Tür zu, welche sich gegenüber der Leiter befand. Als er die Tür öffnete, fiel dämmriges Sonnenlicht in den Schuppen. Er machte einen halben Schritt nach draußen und wandte sich dann herum, um Credence zu sich zu winken.

„Das ist noch nicht alles. Ich bin mit der Führung noch nicht durch.“

Er ging weiter und hörte hinter sich die stolpernden Schritte von Credence. Dann wartete er kurz, bis der Jüngere wieder an seiner Seite stand.

 

Vor ihnen erstreckte sich nun eine schier endlose Ebene, die ebenso real, wie unwirklich erschien. Weite Teile waren in nächtliche Finsternis gehüllt, wolkenverhangen oder von milchigem Mondlicht beschienen. Andere Stellen wurden von dem goldfarbenen Schein einer künstlichen Sonne erhellt, durchzogen von einem morgendlichen Nebelschleier oder flimmernder Hitze. Die vorkommenden Landschaften waren nicht weniger abwechslungsreich. In der Dunkelheit lagen überwiegend karge, felsige Gebiete mit hohen Hügeln und scharfkantigen Klippen, manchmal bedeckt von einer Schicht Schnee oder einem feinen Nieselregen ausgesetzt. Auf der Tagseite erstreckten sich weite Wiesenflächen und savannenartiges Tiefland mit vereinzelten Seen und Laubwäldern. Zerklüftete Felsen ragten aus einer canyonartigen Vertiefung empor und direkt vor ihnen zog ein bambusartiges Wäldchen die scharfe Grenze zwischen den Tageszeiten, eingehüllt in ein mystisches Zwielicht.

 

Und obwohl alles auf den ersten Blick recht nahtlos ineinander überzugehen schien, konnte man noch weitere Umzäunungen erkennen. Wege aus schlecht zusammengezimmerten Holzplanken führten in die einzelnen Gebiete und hier und da hatte sich die ein oder andere Plane von einer Halterung gelöst, flatterte peitschend im Wind und offenbarte ein Gebilde aus Holz- und Metallstreben, als wäre die gesamte Welt nur eine riesige Bühne.

 

Die beiden Männer standen auf einem kleinen, hölzernen Podest, von welchem aus jedes der Gebiete mit wenigen Schritten erreichbar war, und überschauten die vielfältige Landschaft auf ihre jeweils eigene Art: Credence voller sprachlosem Staunen und Newt mit einem zufriedenen Lächeln auf den schmalen Lippen.

Kapitel 4


 

KAPITEL 4

 

Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt und gebannt starrte Credence hinüber zu einem der Seen. Ein Schatten bewegte sich unter dem Wasser, dicht unter der Oberfläche und bahnte sich einen Weg ans sandige Ufer. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte er den dunklen Fleck, der langsam anwuchs und schließlich das Wasser durchstieß. Ein gewaltiges Tier, noch größer als ein Elefant, aber mit der Statur und Farbe eines Nashorns, stapfte gemächlich ans Ufer und schritt dann erstaunlich leichtfüßig durch die grasbewachsene Savanne. Kopf und Hals des Monstrums waren zu einem großen Buckel verwachsen und sein Horn sah wie eine furchterregende Wucherung aus, dick und wulstig und von einem gelblichen Leuchten erfüllt.

 

Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte Credence, wie Newt an ihn herangetreten war und nun ebenfalls hinüber zu dem Ungetüm sah. Sie verfolgten gemeinsam, wie es sich an einigen Grasbüscheln gütlich tat und aus der Ferne drang ein dröhnendes Brummen zu ihnen herüber.

 

„Das ist ein Erumpent“, erklärte ihm Newt fast beiläufig. „Sie leben in Afrika und zählen zu den größten, dort lebenden magischen Tierwesen. Sie sind meist in sehr kleinen Herden anzutreffen und sind friedlich, solange man sie nicht verärgert. Das Horn kann Stein und sogar Metall durchdringen. Außerdem enthält es ein Sekret, das höchst explosiv, aber auch sehr begehrt bei Zaubertränken ist. Deswegen werden diese Tiere gejagt oder aus dem Land geschmuggelt“, fügte Newt mit wenig Begeisterung hinzu.

 

Credence musterte das Erumpent und wand sich dann ungläubig zu dem schiefgebauten Schuppen herum, aus welchem er gerade herausgetreten war. Der schmale, etwas verzerrte Eingang würde nicht einmal ein Bein dieses Tieres hindurch lassen. Dann sah er nach oben, zur der Decke, doch auch dort war, zumindest auf den ersten Blick, keine weitere Öffnung zu erkennen. „Wie… wie haben Sie es hier hereinbekommen? Und warum?“, fragte er erwartungsvoll. Vielleicht gab es ja doch einen anderen Eingang, eine versteckte Luke oder ein Tor. Dennoch würde ihm das nicht erklären, wie überhaupt ein so gewaltiger Raum in den kleinen Koffer passen sollte.

 

Newt lächelte, als er Credence‘ ungläubige Mimik sah. „Zu deiner ersten Frage: Magie. Genauer gesagt ein Schrumpfzauber, der beim Betreten des Koffers ausgelöst wird, sollte etwas versuchen hereinzukommen, was größer ist als die Öffnung.“

„Das heißt also, wir sind winzig?“ Wenn sie bei dem Sprung ins Innere tatsächlich geschrumpft worden waren, würde das natürlich erklären, warum dieser Raum so groß erschien. Alles hier war viel kleiner, als es eigentlich sein sollte.

 

Doch zu seinem weiteren Erstaunen grinste Newt schelmisch und schüttelte den Kopf. „Wir sind normalgroß. Der Koffer selbst ist so verzaubert, dass er innen größer ist, als außen. Es ist ein komplizierter Dimensionszauber, der den Inhalt eines Objektes vergrößert und die äußere Hülle unverändert lässt. Ich habe ihn etwas erweitert… und gebe zu, dass ich es vielleicht ein wenig übertrieben habe.“ Newt ließ seinen Blick für einen Moment seufzend über die Ebenen schweifen. Er lächelte trotzdem zufrieden und glücklich. „Im Normalfall verwendet man diesen Zauber nur, um etwas mehr Gepäck zu verstauen oder ein weiteres Zimmer in einem Haus zu schaffen. Aber große Tiere erfordern auch viel Platz und in einem einzigen, kleinen Raum, würde ich wohl kaum alle unterbringen können.“

 

„Sie haben noch mehr von denen?“ Credence deutete hinüber zu dem Erumpent, welches nun damit beschäftigt war, seinen gewaltigen Kopf an einem knorrigen Baum zu reiben. Dieser neigte sich unter dem Gewicht des Tieres beinahe bis zum Boden und drohte zu zerbrechen.

„Nein, sie ist die Einzige ihrer Art, die ich habe. Womit wir erstmal wieder bei deiner zweiten Frage wären: Sie wurde von einigen Schmugglern von ihrer Herde getrennt und sollte geschlachtet werden, um an das Sekret ihres Horns ranzukommen. Ich konnte das rechtzeitig verhindern und die Behörden informieren, aber bis jetzt war es in ihrer Heimat noch nicht sicher genug, um sie wieder zurück zu ihrer Herde zu bringen. Deswegen behalte ich sie vorerst hier, studiere sie und bringe sie zurück, sobald sich eine Gelegenheit ergibt.“

 

Sie beobachteten noch eine Weile das Erumpent-Weibchen, das für ihre Größe und ihr Gewicht erstaunlich agile Bewegungen machte. Sie trotte schnell über den staubigen Boden ihres Bereiches, wälzte sich schwungvoll in einer schlammigen Pfütze und vollführte ein paar tänzelnde Seitwärtsbewegungen.

 

Credence zuckte kurz zusammen, als Newt ihn unvermittelt am Arm berührte. Er wandte sich herum und Newt bedeutete ihm mit einem kurzen Nicken, ihm zu folgen. Den Blick immer wieder zurück zu dem Erumpent werfend, stolperte er dem älteren Mann hinterher, eine breite Holztreppe hinunter zu einem kleinen Gärtchen, direkt vor dem Bambuswald. Über einen schmalen, hölzernen Aufgang erreichten sie eine Lichtung, welche von einer Handvoll knorrigen Bäumchen und dem Bambus umgeben wurde. Nun betrachtete Credence die Umgebung ein wenig genauer und ihm fiel etwas auf, was er vorher nicht bemerkt hatte. Erst jetzt, wo er seinen Standort gewechselt hatte, wurde ihm bewusst, dass der Raum eigentlich gar nicht so groß war, wie er es erst angenommen hatte. Er konnte die äußeren Wände erkennen und es gab sehr viel mehr Trennwände, als man zunächst vermuten würde. Diese hatten durch ihre strategische Platzierung weniger eine abgrenzende Funktion, sondern dienten viel mehr zur optischen Täuschung. Credence erkannte, dass das Wäldchen nur aus gut zwei Dutzend echten Bambusrohren bestand und zwischen den gelblichgrünen Stämmen, vielleicht zehn Schritte von ihm entfernt, konnte er eine Grenzwand ausmachen, die schlicht und ergreifend mit einem sehr realistischen Motiv bemalt worden war und den Wald nur durch seine ausgewählte Perspektive geräumiger erschienen ließ. Auf der anderen Seite, ein wenig verdeckt vom Schuppen, bemerkte er einen halb gerafften Vorhang, der von der Decke hing und ein gewaltiges Panorama von Arizona erkennen ließ. Fast ein wenig enttäuscht, stellte er fest, dass die meisten Gebiete nicht einmal halb so groß waren, wie er es auf den ersten Blick vermutet hatte.

 

Je genauer er sich umsah, desto mehr Details des Aufbaus wurden ihm bewusst. Die meisten Begrenzungen wurden von Seilen und Streben aufrechterhalten und mithilfe von Seilzügen und Rädern konnten sie verschoben werden. Oft waren es palettenartige Konstruktionen, bespannt mit Leinwänden oder großen, lichtdurchlässigen Vorhängen. In der Gliederung gab es keine Systematik, alles wirkte chaotisch, nahezu halbherzig zusammengebastelt. Doch im Gegensatz dazu stand die liebevolle Gestaltung der Landschaftsmotive und Dekoration. Credence stellte sich die Frage, was Newt mit diesem sonderbaren Ort vorhatte. Augenscheinlich baute er sich irgendetwas auf und obwohl er bei dem Gedanken an das Erumpent zunächst an einen Zoo dachte, kam er nicht um den Eindruck eines Theaterstücks herum. Jedes der Gebiete war wie eine Bühne aufgebaut, mit künstlerischen und realwirkenden Kulissen, natürlichen Requisiten und detailgetreu bemalten Vorhängen. Einige der Schauplätze standen auf einem Brettergerüst oder wurden mit Rampen geformt, um mehr Höhe vorzutäuschen, andere wirkten durch die geschickt angewendeten Verläufe ihrer Hintergründe endlos lang. Doch das, was Credence am meisten irritierte, war die Tatsache, dass es keine Zäune oder sonstigen Absicherungen gab. Den Tieren wurde vielleicht ihre heimatliche Landschaft vorgegaukelt, aber zwischen den Terrains gab es nichts, was sie von einander trennen konnte.

 

Er sah wieder hinüber zu Newt, der geduldig auf ihn wartete. Dieser stand in der Mitte der Lichtung, zwischen zwei äußerst seltsamen Gebilden. Eines davon war aus langen, dünnen Bambusstämmen gebaut und als Halbkugel angeordnet worden. Das andere Objekt war wie eine richtige Kugel geformt und so groß, dass Credence gut und gerne zweimal hineingepasst hätte. Es bestand aus Ästen, langen Blättern und feinen, silberfarbenen Fäden, die in das Geäst verflochten waren und eine kreisrunde Öffnung an der Seite gewährte ein wenig Einblick, in das finstere und hohle Innere. Zu dieser seltsamen Kugel winkte Newt ihn heran und als Credence neben ihm stand, beugte er sich hinunter zu der Öffnung.

 

„Dougal?“, fragte Newt in die offenkundig leere Kugel hinein und ließ seinen Blick suchend hindurch schweifen. „Wir haben Besuch. Würdest du dich bitte zeigen? Wenigstens für einen Moment?“ Vorsichtig streckte er die Hand ins Innere. Credence beobachtete die Szene mit einer eher skeptischen Erwartung und setzte erschrocken einen halben Schritt zurück, als ihn plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Paar große, bernsteinfarbene Augen anstarrten. Im nächsten Moment - er hatte kurz geblinzelte - saß in der Kugel eine silberhaarige, affenartige Kreatur und musterte ihn nachdenklich. Langsam und bedächtig ergriff das Tier Newts helfende Hand und ließ sich von ihm nach draußen ziehen.

 

„So ist es fein.“ Newt half dem Wesen, auf seine Schultern zu klettern und ließ sich von ihm unbeeindruckt die ohnehin schon wirren Haare verwuscheln. Dougal klammerte sich mit seinen Beinen um Newts Hals und legte die Hände auf dessen Kopf, sodass seine langen, zotteligen Haare in Newts Gesicht fielen. Der Mann pustet kurz nach oben, um die Strähnen aus seinen Augen rauszuhalten und hielt das Tier an seinen Füßen fest. „Dougal, das ist Credence“, sagte er mit einem kurzen Nicken in seine Richtung. „Credence, das ist Dougal.“

 

Credence starrte das Tier verwundert an und es erwiderte seinen Blick interessiert und träumerisch. An das Erumpent denkend, welches er zuerst für ein Nashorn gehalten hatte, fragte er: „Das… Das ist kein Affe, oder?“

 

„Nein“, grinste Newt. „Das ist ein Demiguise. Er ist ein friedlicher Pflanzenfresser und kommt im fernen Osten vor. Er kann sich unsichtbar machen, weshalb er gerne wegen seines Pelzes gejagt und geschoren wird. Daraus kann man Tarnumhänge machen.“ Newt trat etwas näher und machte sich kleiner, damit Dougal und Credence auf etwa der gleichen Augenhöhe waren. Dougal schien den Jungen noch einen Moment zu mustern, dann streckte er forschend seinen langen Arm aus, um die kurzen, schwarzen Haare zu erwischen. Credence, der hin und hergerissen war, zwischen Neugier und Furcht, ließ sich kurz von den Wesen tätscheln und wich dann vorsichtig zurück, bevor dieses womöglich beschließen würde, ihm ganze Büschel vom Kopf zu reißen. Ein wenig enttäuscht zog Dougal seinen Arm zurück und schien sich damit zu trösten, an Newt herumzuklettern. Schließlich half Newt Dougal zurück in sein Nest und belohnte ihn mit einem Büschel saftiger Halme, die er aus einer seiner Jackentaschen gezogen hatte. Der Demiguise nahm sie bedächtig entgegen, schob sie in sein Maul und war mit einem weiteren Wimpernschlag wieder verschwunden.

 

„Weiter geht’s.“ Newt stapfte hinüber zu dem anderen Gebilde und Credence trottete ihm hinterher. Beim Vorbeigehen warf er noch einmal einen prüfenden Blick in das Nest, doch Dougal war tatsächlich restlos verschwunden. Nur noch zwei Grashalme wippten schwerelos in der Luft, wurden kleiner und waren schließlich ebenso entschwunden.

 

Neugierig, welches sonderbare Wesen sich wohl in dem anderen Nest befinden würde, wollte sich Credence schon neben Newt stellen. Doch diesmal wurde er von einem ausgestreckten Arm zurückgehalten.

„Moment noch“, mahnte Newt. Dann griff er unverblümt nach Credence‘ rechten Arm, winkelte ihn an und drehte die Hand so nach oben, dass es aussah, als wolle der Junge Wasser schöpfen. „Mach keine hastigen Bewegungen und versuch nicht, sie zu streicheln. Das mögen sie gar nicht. Und keine Sorge, sie tun nicht mehr, als es sich gemütlich zu machen.“ Mit diesen Worten wandte sich Newt von ihm ab und griff in das Nest hinein. Ein Geräusch, halb Zwitschern, halb Fipsen erklang.

 

„Ganz ruhig“, sprach Newt sanft und liebevoll. „Mummy ist wieder da. Oh, nicht so schnell, immer nur einer! Hey, ihr beiden da, passt auf, bevor ihr euch noch verknotet.“ Newt richtete sich wieder auf und nun schlängelte sich, wild und unruhig, eine bläuliche Schlange um seinen Arm. Absolut reglos blieb Credence stehen und musterte die Schlange genauer. Er stellte fest, dass sie anstelle von rauen Schuppen zarte, bläuliche Federn hatte, die im Licht grünlich schimmerten. Außerdem besaß sie so etwas wie zwei Flügel und anstelle eines Maules mit scharfen Zähnen, hatte sie einen gelblichen Schnabel.

 

„Das ist ein Occamy“, erklärte Newt und bewegte seine Arme in die Nähe von Credence‘ ausgestreckter Hand. Der Junge stolperte hektisch zurück und zog den Arm weg, als ihm plötzlich bewusstwurde, was Newt vorhatte. „Nein, nein, keine Angst. Er wird dir nichts tun.“

 

Credence verfolgte noch einen Augenblick die hektischen, schlängelnden Bewegungen, dann trat er zögernd wieder näher und hob die Hand so, wie Newt es ihm gezeigt hatte. Der Occamy kringelte sich kurz in Newts Handflächen zusammen, dann machte er sich auf den Weg zu Credence Fingern. Das Tier rutschte über sein Handgelenk, wand sich schlängelnd um seinen Arm und machte sich dann auf den Rückweg zu der Handfläche, wo es sich mit kreisenden Bewegungen zu einer Schnecke zusammenrollte. Aus der Mitte heraus, musterte ihn das Tier mit seinen großen, gelben Augen und einem beinahe freundlichen Blick. Die Federn des Occamys fühlten sich warm und weich an. Das Wesen war insgesamt nicht länger als Credence‘ Arm und sehr leicht. Reglos stand der junge Mann da, den Arm erhoben und darum bemüht, nicht zu sehr zu zittern. Er konnte sich kaum auf Newts folgende Worte konzentrieren.

 

„Occamys kommen hauptsächlich in indischen Dschungel vor und sind in der Regel sehr scheu. Sie können aber angriffslustig werden, sollte man sich ihren Nestern nähern oder gar versuchen sie zu plündern. Es gibt immer wieder Menschen, die das versuchen, weil ihre Eier aus purem Silber bestehen und das natürlich einen großen Wert hat, sowohl in der Zauberer- als auch in der Muggelwelt. Ein frischgeschlüpfter Occamy ist schon vollentwickelt und kann sich ebenso verteidigen, wie ein erwachsenes Exemplar. Zudem ist er choranaptyktisch, was bedeutet, dass er im Notfall seine Größe verändern oder sich den räumlichen Begebenheiten anpassen kann, wenn ihm danach ist.“

 

Newt nahm Credence das Tier wieder ab und setzte es zurück in sein Nest. Er winkte den erleichterten Jungen endlich heran und mit größter Vorsicht beugte dieser sich über das Nest. Dort drinnen kringelten und schlängelten sich fünf Stück dieser Tierwesen. Tatsächlich entdeckte Credence noch die ein oder andere, silberfarbene Eierschale. Dann beobachtete er, wie Newt wieder in den Tiefen seiner Taschen kramte und eine Hand voller getrockneter Schaben hervorholte. Jedem der Occamys wurde eine Schabe zugeschnippt und das Insekt wurde auf der Stelle mit einem schnellen, gierigen Happs verschlungen.

„Nein, jeder bekommt nur eins“, sagte Newt streng, als sich zwei Köpfe gefräßig und erwartungsvoll in seine Richtung reckten, um ein weiteres Insekt zu erhaschen. Newt stopfte die restlichen Schaben zurück in seine Tasche. Dann machte er sich wieder auf den Weg, gefolgt von Credence, der nun etwas zügiger hinter ihm herlief.

 

„Wie fühlst du dich?“, fragte Newt, während sie das Podest und den Schuppen ein Stück umrundeten. Sie kamen an unzähligen Blumentöpfen vorbei, hier und da standen Wasserfässer und Kisten herum und die Planken von unvollständigen Wänden waren kreuz und quer aufeinandergestapelt. Auf der Rückseite des Schuppens tauchte eine arg mitgenommene Werkbank auf, überall lagen rostige Werkezuge, Eimer, Gartengeräte und eine Handvoll unbekannte Gegenstände herum. Newt schien absolut keinen Sinn für Ordnung zu haben.

 

Credence dachte einen Moment über Newts Frage nach. „Ich habe immer noch Schmerzen, aber mein Arm fühlt sich nicht mehr ganz so taub an“, stellte er ein wenig überrascht fest.

„Wenn du dich ein wenig ausruhen möchtest, kannst du mir das ruhig sagen.“

Credence war dankbar für dieses Angebot. Sie waren zwar nicht viel gelaufen, aber er fühlte sich noch sehr geschwächt, seine Glieder schmerzten und seine Muskeln und Sehnen fühlten sich an, als könnten sie jeden Augenblick reißen. Ihm war nun heiß geworden und in seinem Kopf schwirrte es, ob nun durch seine Erschöpfung oder all diese neuen, faszinierenden Einblicke in die magische Welt.

 

Newt führte ihn zu einer Sitzbank hinter dem Schuppen. Direkt daneben schwebte eine kleine Insel, mit einem grasbewachsenen Hügel und einem Baum, den Credence für einen Bonsai hielt. Nachdem er sich gesetzt hatte, inspizierte er diese schwebende Insel genauer, aber er konnte keinerlei Fäden oder Drähte erkennen, die sie oben hielten.

„Ein Schwebezauber“, sagte Newt amüsiert, als er Credence‘ akribische Untersuchung verfolgte.

 

Dann rauschte etwas Rosafarbenes über ihre Köpfe hinweg und sie verfolgten gespannt, wie es einen hohen Bogen machte und sich dann mit einem steilen Flug in ein Gebüsch stürzte. Der Strauch erzitterte kurz und dann hüpfte ein kleiner, flauschiger Vogel daraus hervor. Er hatte einen tränenförmigen Körper und mehrere lange Schwanzfedern. Mit einem grimmigen Blick starrte er hinüber zu den beiden Männern.

 

„Wie viele Tiere haben Sie hier drinnen?“, fragte Credence neugierig.

 

Newt seufzte und dachte nach. Sein Blick wanderte hoch zur Decke, als würde er dort nach der Antwort suchen. „Das kann ich dir gar nicht so genau sagen. Ich habe einen ganzen Schwarm Billywigs und Fischschwärme, die sich unmöglich zählen lassen und die Diricawls haben erst letzten Monat Junge bekommen. Aber ich dürfte etwa fünfundzwanzig verschiedene Tierarten haben.“

 

Credence blickte sich bei diesen Worten suchend um. Bei so vielen verschieden Arten, hätte er erwartet, mehr davon zusehen. Einige waren sicherlich nachtaktiv und in den dunkleren Bereichen verborgen, doch das taghelle Gebiet war wesentlich größer und musste mehr Kreaturen beherbergen.

 

Es dauerte wieder einen Moment, bis er erkannte, dass sich tatsächlich noch weitere Tiere in seiner unmittelbaren Nähe aufhielten. In den Sträuchern und Bäumchen raschelte es verdächtig, das Geäst zitterte und hier und da bewegte sich ein Schatten. Ein Schwarm voller blauer, funkelnder Flecken zog dicht unter der Decke seine Kreise. Insekten summten und Vögel zwitscherten in der Ferne.

„Und Sie haben all diese Tiere gerettet?“, hakte Credence nach.

„So kann man es sagen“, bestätigte Newt nachdenklich. „Ich konnte schon immer sehr viel besser mit Tieren auskommen, als mit Menschen. Deswegen finden mich die meisten Leute… nun, sie mögen mich nicht sonderlich. Und ich ziehe die Gesellschaft von Tieren vor.“

 

Credence sah kurz zu Newt hinüber und dann wieder über die Landschaften und all die Wesen, die sich langsam aus ihren Verstecken wagten. Er erblickte bunte Vögel, die aufgeplustert auf Ästen saßen und ihn musterten und die schillernden Flecken über ihren Köpfen waren in Wirklichkeit eine Art Insekt mit kreiselförmigen Körper, auf deren Köpfen rotierende Flügel saßen. Ein Laubbaum – zumindest hatte er es dafür gehalten - entpuppte sich gar als blätterlos, denn das, was er für Herbstlaub gehalten hatte, waren tatsächlich hunderte, wenn nicht gar tausende orangefarbene Schmetterlinge. Und irgendetwas Gräuliches machte sich offenbar einen Spaß daraus, jedes Mal mit einem leisen Plop zu verschwinden, wann immer sein Blick darüber schweifte, um an einer anderen Stelle wiederaufzutauchen.

 

Credence musste zugeben, dass er diesen Ort faszinierend fand. Trotz des allgemeinen Chaos des Raumes, herrschte eine gewisse Harmonie in diesem Zusammenleben von Mensch und Tier. Es gab so viele interessante und verschiedene Kreaturen, auch wenn ihm nicht alle davon geheuer waren und Newt ging so selbstverständlich, so vertrauensselig mit ihnen um, wie er es noch nie zuvor bei irgendjemanden gesehen hatte. Er schien sie nicht einfach nur wie Tiere zu betrachten, sondern mehr wie Freunde. Wie eine große, bunt zusammen gewürfelte Familie.

 

„Ich weiß, dass es schwer ist, jemanden zu vertrauen, wenn man so oft enttäuscht und verletzt wurde“, fing Newt an. „Vertrauen ist etwas, das auf beiden Seiten existieren muss. Ich vertraue dir, Credence, deswegen bist du hier. Diese Tiere, sie bedeuten mir alles. Ich habe sie aus den Fängen grausamer Menschen befreit, habe sie vor schrecklichen Schicksalen bewahrt und gesund gepflegt. Ich habe sie studiert und von ihnen gelernt. Ich weiß mehr über sie, als über mich selbst.“ Er machte eine kurze Pause und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Mit den Augen verfolgte er einen vorbeifliegenden Vogelschwarm und sah dann zu Credence hinüber, der ihn dabei beobachtet hatte und nun betreten zur Seite starrte. „Diese Tiere sind wie du, Credence. Sie waren verletzt und verstört, man hat ihnen furchtbare Dinge angetan oder es zumindest versucht. Sie wurden ausgenutzt, ihrer Heimat und ihren Familien beraubt. Und dass sich alles noch einmal wiederholt, ist das Letzte, was ich für meine Geschöpfe will. Und für dich.“

 

Credence konnte das Gesagte nachvollziehen. Er war von Mary Lou geschlagen worden, Percival hatte ihn ausgenutzt und der MACUSA hatte ihn gejagt und beinahe getötet. Für sie war er das Tier gewesen, welches sie verabscheuten, von dem sie sich irgendeinen Gewinn erhofften oder vor dem sie Angst hatten. Auf einmal kamen ihm die Kreaturen nur noch halb so unheimlich vor und zum ersten Mal in seinem Leben, verspürte er einen Hauch von Mitleid.

 

„Sie möchten wirklich versuchen, mir zu helfen?“

„Ja, das werde ich, versprochen. Aber du wirst dich noch etwas gedulden müssen. Zuerst reisen wir nach England, genauer gesagt nach Dorset, Fiddleford, wo ich wohne.“

Credence schüttelte energisch den Kopf. „Können wir das nicht sofort machen? Können Sie nicht versuchen…“

„Nein, das wäre keine gute Idee. Du musst dich erholen und ich muss noch mal alles durchgehen, was ich über Obscuriale finden kann. Ich möchte nicht, dass es genauso endet wie… du weißt schon.“ Newt sah ihn entschuldigend an. „Der Obscurus mag zwar ebenso geschwächt sein, aber ihn zu entfernen, wird dich enorme Kraft, Energie und Konzentration kosten. Das Einzige, was wir tun können, ist dir einen Vorteil zu verschaffen. Der Obscurus nährt sich von Angst, Unterdrückung und Schmerz - Drei Dinge, die wir in nächster Zeit vermeiden sollten.“

 

Credence‘ Mimik verriet, dass er sich nicht recht vorstellen konnte, wie sie das anstellen sollten. Er wollte ja gerne unbeschwert und gefasst sein und nicht ständig Angst haben, irgendetwas falsch zu machen oder die Kontrolle zu verlieren. Aber er konnte es nicht verhindern. Es war ihm einfach unmöglich, all seine Ängste abzustellen, all die Zweifel in seinem Kopf mir nichts, dir nichts beiseite zu schieben.

 

 Newt brauchte nicht lange zu überlegen, um eine ermutigende Antwort zu finden. „Wenn ich es richtig gedeutet habe, dann gefällt es dir hier, oder?“ Credence bestätigte diese Vermutung mit einem zaghaften Nicken. „Nun, du kannst gerne hier unten bleiben, wenn du möchtest. Ich habe ein bequemes Bett, viele Bücher über Magie und auch Essen und Trinken. Und natürlich die Tiere. Das sollte Ablenkung genug sein“, lächelte Newt.

 

„Was ist…“ fing Credence unsicher an. Er seufzte. „Was ist, wenn ich doch… wenn der Obscurus…“

„Genau daran solltest du nicht denken“, sagte Newt nachdrücklich. „Du bist stark, Credence, du weißt es nur nicht. Es gibt keinen dokumentierten Fall, der deinem ähnelt. Menschen, mit einem Obscurus, haben selten ihr elftes Lebensjahr erreicht, bis auf dich. Du bist weit über diesen Punkt hinaus. Ich weiß, das ist kein richtiger Trost, aber zumindest ein Ansatz, an dem du festhalten kannst. Du musst versuchen, dich von deinen Ängsten abzulenken. Dir darüber Sorgen zu machen, bedeutet nur, dass du doppelt soviel leidest.“

 

„Na gut…. Ich werde es versuchen.“

„Schön, dann gibt es nur noch eine Sache, die wir klären müssen“, lächelte Newt zuversichtlich. „Oder besser gesagt eine Bedingung: Du hörst jetzt auf, mich zu Siezen. Sag einfach Newt zu mir, einverstanden?“

Credence nickte.

 
 

~*~*~

 

Wenig später machten sie sich auf den Rückweg, in den Schuppen hinein, wo Newt ein recht klappriges Feldbett zurechtmachte. Credence saß derweil auf einem Stuhl und betrachtete noch einmal den unebenmäßigen Raum, samt seinem chaotischen Inhalt. Er musterte die schiefen Holzwände und die Regale, die aussahen als wären sie aufs Geradewohl zusammengezimmert worden. An den oberen Enden neigten sie sich so weit herum, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie nicht umfielen oder zusammenbrachen oder ihr ganzen Gut über den Fußboden verteilten. Alles wirkte so unfassbar instabil, dass er sich fragen musste, ob es auch Magie war, die alles aufrechterhielt.

 

„Also“, sagte Newt und schreckte ihn aus seinen Überlegungen. „Das dürfte ausreichen. Ich hoffe, dich stört das hier nicht.“ Er hob kurz die Arme und deutete über das Durcheinander im Schuppen.

„Nein, tut es nicht“, antwortete Credence. „Ich frag mich nur… wird das alles mit Zauberei zusammengehalten?“

 

Newt beantwortete ihm diese Frage nicht sofort, sondern kletterte ein Stück die Leiter hinauf. Auf halber Höhe stoppte er, hielt sich mit einer Hand fest und lehnte sich hinüber zu einem proppenvollen Bücherregal. Mit dem Zeigefinger fuhr er suchend über die Bücherrücken und zog dann einen arg mitgenommenen, purpurnen Wälzer hervor. Er kletterte wieder hinab und reichte das Buch an Credence weiter. „Lehrbuch der Zaubersprüche, Teil 4. Kapitel 17, wenn ich mich nicht irre. Das Aufrechterhalten instabiler Konstruktionen. Ich kann dir die ganze Reihe zum Lesen geben, wenn du magst.“

 

Credence nahm ihm das Buch ab und blätterte flüchtig durch. Es war kein Vergleich zu den Büchern, die er kannte. Der Wälzer wirkte beinahe ebenso chaotisch, wie Newts Schuppen. Die Schriften verliefen nicht nur geradlinige unter einander, manchmal schlängelte sich auch ein Satz quer durch das Schriftbild oder endete in einer Spirale und in seltenen Fällen musste man das Buch sogar auf den Kopf drehen, um die Anleitungen zu entziffern. Die Bilder und Zeichnungen bewegten sich ebenfalls und zeigten sehr genau an, wie man den Zauberstab für gewisse Formeln halten oder bewegen musste. Das sah sehr nach der Ablenkung aus, die er brauchte. Er würde ungeheuer lange damit beschäftigt sein, sich da durchzulesen, vor allem wenn es noch mindestens drei weitere Werke gab.

 

„Du kannst dir jedes Buch nehmen, was du hier findest. Ich kann dir auch zeigen, wie und mit was du die Tiere füttern kannst. Ich habe…“ Newt unterbrach sich und fing an, auf seinem Arbeitstisch zu kramen. Er schob Bücher und Pergamentrollen beiseite und beförderte schließlich ein kleines, ledergebundenes Buch hervor. „Ich habe ein Buch geschrieben, einer Art Anwenderlexikon im Umgang mit den magischen Geschöpfen. Du kannst es gerne vorab lesen.“

 

Credence nahm ihm auch dieses Buch ab und warf einen Blick auf den Einband. Mit einer spiralförmigen Büroklammer war ein Zettel mit der Aufschrift ‚Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind‘ befestigt. Neugierig schlug er die Seiten auf und fand handgeschriebene Texte, Zeichnungen und angeheftete Fotografien.

„Es muss natürlich noch besser gestaltet und gedruckt werden“, bemerkte Newt beiläufig. „Ich hab es im Auftrag eines Verlages geschrieben, der verschiedene Bücher mit magischen Themen veröffentlicht. Das war mein ursprünglicher Grund, zurück nach England zu reisen. Aber gut, erstmal solltest du dich etwas ausruhen. Es ist schon viel zu spät.“ Er warf einen Blick auf seine Uhr. „Oder eher zu früh. Es ist kurz nach drei Uhr. Ich muss los.“ Er nahm Credence die beiden Bücher wieder ab und legte sie auf den Schreibtisch.

 

„Wohin wollen S… wohin willst du?“ fragte Credence überrascht. Er hätte gedacht, das Newt noch irgendwo sein eigenes Schlafzimmer haben würde. Die Vorstellung, allein hier unten zu bleiben, war nicht gerade verlockend.

 

„Ich habe ein Gästezimmer in einer Unterkunft belegt. Ich muss vor dem Aufstehen zurücksein. Aber keine Sorge, ich komme bald wieder. Dort in dem Schrank ist etwas zu Essen und Trinken, das Badezimmer findest du, wenn du die kleine Wendeltreppe raufgehst.“ Er deutete auf eine dunkle Ecke neben einem Schrank. Tatsächlich konnte man dort die Ansätze einiger Stufen erkennen. „Du solltest noch mehr von dem Stärkungstrank nehmen.“ Newt zog das Fläschchen wieder aus seiner Tasche und stellte es neben das Feldbett. „Ich werde versuchen, dir auch noch einen schmerzlindernden Trank zu brauen, aber dafür muss ich noch Zutaten organisieren. Aber jetzt solltest du erstmal etwas schlafen. Ich werde meinen Koffer immer in der Nähe haben. Falls etwas sein sollte, kannst du einfach die Leiter raufkommen und gegen den Deckel klopfen.“

 

Credence spürte zwar, dass er müde und erschöpft war, doch in seinem Inneren war er so aufgewühlt, dass er sich nicht vorstellen konnte, wie er jetzt einschlafen sollte. „Gibt es etwas, das beim Einschlafen hilft“, fragte er, bevor Newt die Leiter nach oben steigen konnte. Der Mann wandte sich suchend um und griff dann in eines der Flaschenregale. Er wählte eine dickbauchige Flasche mit einer lilafarbenen Flüssigkeit aus. „Das ist zwar kein richtiger Schlaftrank, aber es ist zur Beruhigung gedacht. Vielleicht reicht das erstmal aus.“

„Danke.“

 

Die beiden verabschiedeten sich und Credence verfolgte noch, wie Newt die Leiter hinaufstieg und durch die Öffnung verschwand. Der Deckel klappte zu und schon war er alleine. Er nahm einen kräftigen Schluck von dem Beruhigungsmittel und spürte augenblicklich eine Woge der Entspannung in sich aufkommen. Dann griff er noch einmal zu dem Stärkungstrank und leerte den Rest. Zu guter Letzt zog er seine Schuhe und den Mantel aus und legte beides auf eine freie Stelle am Boden.

 

Er lehnte sich zurück, in das knarzende, aber durchaus gemütliche Bett, deckte sich zu und starrte hinauf zur Decke. Seine Augenlieder wurden schwerer und er dachte noch kurz daran, wie erstaunlich einfach und schnell sich alles mit solchen Zaubertränken verändern konnte. Doch scheinbar war der Weg, mit dem man den Obscurus vernichten konnte, wesentlich komplizierter und schwerer. Es schien weder einen Trank, noch eine Zauberformel zu geben, die ihn davon auf schnellstem Wege befreien konnte.

 

Mit diesem letzten Gedanken schlief Credence ein, noch nicht ahnend, wie verworren und beschwerlich dieser Weg tatsächlich für ihn werden würde.

Kapitel 5


 

Kapitel 5

 

 

 

Die Sirene des Schiffes schrillte laut auf und der dumpfe Ton zog bis weit in die Vorstadt hinein. Es war das Signal, dass die letzten Passagiere an Bord kommen sollten. Newt Scamander blieb jedoch weiterhin stehen, sein scheuer Blick begegnete dem von Tina. Sie zwang sich dazu, die Tränen zurückzuhalten, die mit Hitze und einem unangenehmen Gefühl aus ihr herauszubrechen versuchten. Sie wollte nicht, dass Newt fortging und ihm schien es ebenso zu ergehen. Aber es musste sein. Die Präsidentin hatte deutlich gemacht, was ihm blühte, sollte er noch länger mit seinem Koffer und den Tieren in New York bleiben.

 

„Ich schicke Ihnen ein Exemplar meines Buches, wenn Sie gestatten“, schlug er vor.

Tina lächelte und nickte. „Das fänd‘ ich schön“, sagte sie mit leiser, erstickender Stimme. Warum nur, war sie so emotional bei Abschieden? Sogar bei Jacob Kowalski war es ihr schwergefallen, wenn auch mehr wegen ihrer Schwester und deren unübersehbaren Zuneigung für diesen No-Maj.

 

Newts Hand lag plötzlich an ihrer Schläfe, seine Finger fuhren sachte durch ihr dunkles Haar und er klemmte eine feine Strähne hinter ihr Ohr. Für einen Moment verharrten sie so, die Welt schien stillzustehen. In dieser Geste schwang so viel Unausgesprochenes mit, aber keiner der beiden traute sich, es in echte Worte zufassen.

Dann, als sie kurz blinzelte, war er schlagartig verschwunden und hatte bereits den halben Weg zur Rampe hinter sich gebracht. Tina hob ihre Hand und legte ihre Finger flüchtig an die Stelle, wo er ihr Haar berührt hatte. Ihre Tränen bahnten sich immer mehr einen Weg in die Freiheit. Die Welt verschwamm vor ihren Augen und ihre Wangen glühten. Ihr wurde schlagartig klar, dass sie ihn vermissen würde, obwohl sie ihn kaum kannte.

 

Unversehens stand Newt wieder vor ihr, erst als verschwommener blau-brauner Fleck, dann blinzelte sie und ihr Blickfeld klärte sich. Er stand noch näher als vorher, seine Augen vor Nervosität geweitet und sein Blick auf einen Punkt auf ihrer Schulter geheftet. „Verzeihen Sie vielmals. Wie würde es Ihnen gefallen, wenn ich es Ihnen persönlich brächte?“ Erst dann blickte er unsicher und fragend zu ihr auf.

 

Tina konnte ein glückliches Grinsen nicht verbergen. „Das fänd ich schön. Sehr sogar.“

 

Newt lächelte, den Mund ein wenig geöffnet, der Blick verlegen und machte sich schließlich, ohne weitere Worte, wieder auf den Weg zur Rampe. Auf halber Höhe blieb er stehen und starrte unsicher geradeaus, hinauf zum Schiff. Dann lief er weiter und war schließlich hinter der Reling aus ihrem Blickfeld verschwunden.

 
 

~*~*~

 

Der Abschied von Newt hatte Tina schwerer getroffen, als erwartet, doch sie musste sich zusammenreißen. Es gab wichtigere Dinge, auf die sie sich jetzt konzentrieren musste. Sie würden sich schon in wenigen Wochen per Eule austauschen können und in ein paar Monaten würde er vielleicht wieder hier sein. Mit flatterndem Herzen und verzücktem Blick, fieberte sie diesem Moment entgegen. Doch jetzt hatte sie erst einmal andere Dinge zu erledigen, darunter ein viel zu lange aufgeschobener Besuch.

 

Tina schlüpfte hastig in eine Lücke zwischen mehreren Holzkisten und disapparierte. Kurz darauf stand sie neben einem rötlichen Backsteingebäude, oberhalb einer Treppe, die hinunter zu einer Kellertür führte. Über dem Rahmen war ein kleiner Engelkopf in den Stein geschlagen, der missmutig auf die unterste Stufe blickte. Sie trippelte eilig die Treppe hinab und klopfte viermal gegen die weißgestrichene Tür. Der Engelkopf blinzelte.

 

„Ich möchte einen Patienten besuchen“, sprach sie zu dem Kopf hinauf. Dieser blinzelte noch einmal, flatterte kurz mit den steinernen Flügeln und dann schwang die Tür auf. Tina nickte dem Kopf kurz dankend zu und betrat den dahinterliegenden Raum.

 

Vor ihr erstreckte sich nun ein kreisrunder, gefliester Saal, mit diversen Abzweigungen und einer Sitzreihe, die stark an den Aufbau einer Kirche erinnerte. Vereinzelt saßen dort Leute, die mit extremen Auswüchsen oder sonderbare Geräusche ausstoßend auf ihre Behandlung warteten. Zauberer und Hexen in limonengrünen Roben eilten umher, verteilten diverse Zaubertränke oder kritzelten sich Notizen auf fliegende Klemmbretter, die alsbald davon flogen. Tina schritt geradewegs auf einen kunstvoll verzierten Tresen zu. Die junge Frau dahinter gab ihr ein flüchtiges Zeichen, dass sie noch einen Moment warten sollte und schrieb etwas in einen Kalender. Dann blickte sie freundlich lächelnd auf.

 

„Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Tina Goldstein. Ich möchte Mr Percival Graves besuchen“, antwortete Tina.

„Welche Abteilung?“, hakte die Frau nach.

„Vergiftungen durch magische Substanzen, Bereich Zaubertränke.“

 

Die Frau durchsuchte flüchtig einen Hefter und überflog einen Lageplan, voller bunter Kästchen. „Ah ja“, sagte sie schließlich und tippte auf eines der Felder. „Zweiter Stock, Abteilung 1B, Zimmer 21. Bitte beachten Sie, dass Sie Ihren Besucherausweis immer gut sichtbar bei sich tragen müssen.“

 

Mit diesen Worten schwang sie ihren Zauberstab durch die Luft und zauberte ein kleines Schild hervor. Es segelte durch die Luft und landete direkt in Tinas Händen. Sie befestigte das Schild an einem der Knopflöcher ihres Mantels und bedankte sich. Dann machte sie sich auf den Weg zum zweiten Stock. Dort angekommen schlängelte sie sich durch eine Traube anderer Besucher, Patienten und Heiler. Sie erreichte das Zimmer mit der Nummer 21 just in dem Moment, als eine noch recht junge, aber griesgrämig dreinblickende Heilerin aus der Tür trat. Die ebenfalls in limonengrün gekleidete Frau, zog die Tür vorsichtig heran, doch ließ noch einen Spalt offen, als sie Tina bemerkte und innehielt.

 

„Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Heilerin etwas forsch.

„Mein Name ist Tina Goldstein. Ich möchte zu Mr Percival Graves.“

 

Die Heilerin setzte eine Mimik auf, die irgendwo zwischen Entschuldigung und Entrüstung einzuordnen war. „Es tut mir leid, aber Mr Graves schläft schon. Sie müssen wohl…“

„Lassen Sie sie rein!“, ertönte es aus dem Zimmer. Tina hob verwundert eine Augenbraue. Diese Stimme hörte sich sehr nach der ihres Vorgesetzten an und es klang ganz und gar nicht so, als wäre er müde oder würde schlafen.

 

Die Frau, die anscheinend schon sehr gereizt war, verdrehte entnervt die Augen. „Gerade eben sagten Sie doch noch…“, rief sie streitsüchtig ins Zimmer, doch wurde abermals von Percival unterbrochen.

„Ich weiß, was ich gesagt habe. Aber bei ihr ist es eine Ausnahme. Lassen Sie sie rein!“

 

Die Heilerin ließ einen grimmigen Seufzer ertönen, öffnete für Tina die Tür und ließ sie vorbei. Dann machte sie schnurstracks kehrt und zog leise schimpfend von dannen.

[style type="italic"]„‘Könnten Sie dies… Könnten sie das‘“[/style], hörte Tina die Frau noch schimpfen. [style type="italic"]„‘Sagen Sie den Leuten, dass ich schlafe…‘[/style] Und jetzt wieder andersrum. Was denkt der eigentlich…“

 

Tina wandte sich endlich zu Percival um. Sie war erleichtert, als sie ihn munter und aufrechtsitzend in seinem Krankenbett vorfand. Sein Gesicht war immer noch sehr blass und etwas hohlwangig, aber er wirkte bereits frischer und kräftiger und er hatte sich rasiert. Sein Haar war ebenfalls wieder kürzer, an den Schläfen jedoch eine Spur grauer und nicht wie gewohnt fein säuberlich nach hinten gekämmt, sondern war wohl das klägliche Ergebnis eines Versuches, seine übliche Frisur in Ermangelung eines Kammes mit den Fingern zu formen. In der rechten Hand hielt er einen dampfenden und blubbernden Becher und auf seinem Schoß lag eine aktuelle Ausgabe des [style type="italic"]New York Ghost[/style].

 

 „Wenn es gerade ungünstig ist…“, fing Tina an und deute in den Flur hinaus, doch Percival winkte sie kopfschüttelnd zu sich.

„Nein, es ist in Ordnung. Schließen Sie aber bitte die Tür.“

„Sir, ich möchte wirklich nicht…“

„Tina, bitte.“ Percival deutete nun beharrlich auf einen Stuhl neben seinem Bett. Tina wandte sich kurz um, schloss die Tür und trat dann etwas näher. Schließlich setzte sie sich auf den angebotenen Sitzplatz und verschränkte ungelenk ihre Hände auf den Knien. Percival nahm einen Schluck von dem heißen Getränk, schüttelte kurz den Kopf und verzog angeekelt das Gesicht. Dann stellte er das Gefäß auf einen Nachttisch und legte die Zeitung daneben.

 

„Ich glaube nicht“, fing er an und richtete sich etwas besser in seinem Krankenlager auf, „dass ich mich schon bei Ihnen bedankt habe. Sie haben mir das Leben gerettet und sowohl Grindelwald, als auch Limus dingfest gemacht. Das ist eine wirklich großartige Leistung, die so schnell keiner überbieten kann.“

 

Tina spürte, wie ihre Wangen etwas rot anliefen. „Es war eher Mr Scamander, der Grindelwald entlarvt hat“, gab sie kleinlaut zu. „Und es waren die Auroren des MACUSA, die…“

Zu ihrer Überraschung lächelte Percival ein wenig und schüttelte sachte den Kopf. „Sie haben Mr Scamander geholfen. Wenn Sie beide nicht gewesen wären, dann hätte Grindelwald vielleicht bekommen, was er wollte oder würde immer noch mit meinem Gesicht durch die Straßen von New York wandeln. Allerdings…“ Er machte eine kurze Pause und Tina, in Erwartung einer Rüge, verkrampfte etwas auf ihrem Stuhl. Sie hatte ja schließlich nicht nur zur Auflösung des Falles beigetragen, sondern ihn in gewisser Weise auch ein wenig angeheizt.

Geblendet von der Vorstellung, mit einer Festnahme ihren ursprünglichen Platz im Kreise der Sicherheitsabteilung zurückzubekommen, hatte sie versucht einen anderen Vorfall zu einer nationalen Katastrophe aufzubauschen. Zwar hatten Newts entlaufene Tierwesen durchaus ein erhebliches Chaos ausgelöst, doch im Vergleich zu Grindelwalds Aktion, verlief das Einsammeln und Wiederfinden der Tiere einfach und geordnet ab, beinahe unbemerkt von den No-Majs. Andererseits war es die perfekte Ablenkung für Grindelwald gewesen, der dadurch seinem eigenen zwielichtigen Ziel ein Stück weit nähergekommen war.

 

Nun hatte Tina zwar tatsächlich ihre Position als Auror wiedererlangt, aber ihre eigene Schuld an der Sache, lastete noch immer auf ihrem Gewissen und würde es wohl auch noch eine Weile tun. Percival schien ihr Unbehagen zu bemerken und lächelte ihr aufmunternd entgegen. „Eigentlich wollte ich gerne erfahren, wie Sie mich überhaupt gefunden haben. Sie haben Eduardus Limus verfolgt, wie ich hörte?“

 

Sie nickte und war nun etwas erleichtert. „Das war nicht meine ursprüngliche Absicht. Ich habe ihn durch Zufall bei einer anderen Ermittlung entdeckt und… ähm, habe die Verfolgung aufgenommen. Ich weiß, ich hätte Verstärkung holen sollen“, fügte sie eilig hinzu und wurde wieder nervös. „Aber ich befand mich auf offener Straße und erst eine Botschaft an den MACUSA zu senden, erschien mir… nun ja, ich hatte nicht die Zeit dafür. Womöglich wäre er mir noch entkommen. Ich hatte so ein Bauchgefühl und verfolgte ihn bis in die Bronx und sah, wie er in ein baufälliges Gebäude einstieg.“

„An den Rest kann ich mich erinnern“, sagte Percival und nickte sanft. „Sie haben der Situation entsprechend richtig gehandelt und mir dadurch das Leben gerettet. Ich hoffe, wir können uns von jetzt an öfter auf Ihr Bauchgefühl verlassen und ich freue mich, dass Sie wieder zum Ermittlungsteam gehören. Und ich kann Ihnen gar nicht oft genug dafür danken, dass Sie mir geholfen haben.“

Tina lächelte ein wenig. „Werden Sie nur schnell wieder gesund. Wir brauchen unseren Abteilungsleiter.“

 

Sein Lächeln wurde etwas schwächer. „Ich nehme doch an, dass Madam Picquery Sie und die anderen informiert hat… über gewisse Entschlüsse.“

 

Auch Tinas Lächeln erstarb und betreten sah sie hinunter auf ihre Knie. Wie hatte sie das nur vergessen können? „Ja, die Präsidentin informierte uns über Ihre geplante Auszeit… was ja auch verständlich ist! Nach all dem…“

Er winkte ab. „Ja, ich schätze, dass es nötig ist. Ich weiß noch nicht, wie lange diese… meine Auszeit dauern wird.“ Er schien noch mehr sagen zu wollen, doch nun blickte er etwas ratlos zwischen Tina und der Zeitung hin und her. „Ich nehme an, dass Mr Scamander nicht hier ist, damit ich mich auch bei ihm bedanken kann?“, hakte Percival nach, mit einem kurzen Blick auf die Tür.

 

„Nein, Sir“, sagte Tina und bemühte sich darum, nicht zu wehleidig auszusehen. „Er musste heute mit dem Schiff zurück nach London. Er ist vor etwa einer halben Stunde abgereist.“

 

Percival nickte. „Das ist schade… Ähm, nun, ich danke Ihnen für den Besuch, aber ich denke ich brauche jetzt wirklich etwas Ruhe.“

 

Obwohl es ihr anfangs noch sehr gelegen gekommen wäre, gleich wieder zu verschwinden, rührte sich Tina nun nicht vom Fleck. Das bereits erwähnte Bauchgefühl sagte ihr, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte und neugierig, wie sie war, wollte sie dem Ganzen auf den Grund gehen. Auf einen Versuch ließ sie es jedenfalls ankommen.

 

„Sir, Sie scheinen gar nicht so begeistert davon zu sein, endlich etwas Freizeit zu haben“, merkte sie an. Theoretisch konnte sie seine ablehnende Haltung ein wenig nachvollziehen. Auch sie liebte ihren Beruf als Auror und konnte sich, nun erst recht nach ihrer kurzzeitigen Versetzung ins Zauberstab-Registrierungsamt, keine andere Beschäftigung mehr vorstellen. Sicher, es war anstrengend und gefährlich und der Papierkram konnte immense Ausmaße annehmen. Doch letztendlich sorgte man für Ordnung und Sicherheit, für ein friedliches Miteinander, in einer riesigen, stetig wachsenden No-Maj-Stadt. Doch ab und an, nach besonders anstrengenden Tagen oder Wochen, klang so ein wenig Freizeit oder gar Urlaub, wie eine interessante Abwechslung. Und gerade Percival Graves, der nicht nur die kräftezerrende Gefangenschaft hinter sich hatte, sondern, den Gerüchten zufolge, schon seit Jahren kaum einen freien Tag mehr gehabt hatte, sollte diese Gelegenheit doch sehr verlockend erscheinen.

 

Percival musterte Tina einen Augenblick lang nachdenklich, dann seufzte er leise, fast ergeben auf. Vielleicht ahnte er, dass sie sich nicht so einfach abfertigen lassen würde. „Nun, ich denke jeder würde gerne selber entscheiden, wann er Urlaub macht, meinen Sie nicht?“

Einen Augenblick dachte sie über diese schwerwiegenden Worte nach, dann kam ihr eine Eingebung: „Sie wurden suspendiert?“, platzte es aus ihr heraus.

 

„Die Präsidentin legt Wert darauf, dass das nicht die offizielle Aussage wird. Diese heikle Angelegenheit mit Grindelwald hat sehr viel mehr Schaden angerichtet, als man an der Oberfläche sehen kann und meine, nennen wir es eben Auszeit, ist nur der Versuch, ein paar davon unauffällig aus den Weg zu räumen.“

 

„Ich verstehe nicht“, sagte Tina und ihr Blick sprach eindeutig dafür, dass sie jetzt alles ganz genau erfahren wollte und Percival erweckte den Eindruck, dass er tatsächlich mit jemandem darüber reden wollte. Und geradeben schien er bereit, mit Tina sprechen zu wollen.

 

„Die jüngsten Ereignisse sind nicht gerade sehr rühmlich für die amerikanische Zaubergemeinschaft gewesen. Wir waren, und sind noch immer, ein sehr stolzes Land und jetzt haben wir einen richtig derben Tritt in die Magengrube erhalten. Die eigenen Fehler einzugestehen ist für Jedermann ein schwerer Schritt, vor allem wenn man als hohes Tier in der Regierung generell viel Verantwortung übernehmen und den dazugehörigen Ärger einstecken muss. Aber manchmal sind gewisse Fehler eben zu gravierend und wenn man da eine Chance sieht, um die Schuld ein wenig zu verteilen… Wenn sich Grindelwald nur ein paar Tage unbemerkt in unseren Kreisen befunden hätte, wenn er von geschulten Auroren entlarvt worden wäre und vielleicht auch diese Katastrophe mit dem Obscurus nicht damit zusammenhängen würde, hätte man alles anders regeln können. Aber so ist es nun mal nicht gewesen. Das Kind ist in den Brunnen gefallen, wie es so schön heißt und nun ist Not am Mann, um es wieder heil herauszuholen.“

 

Tina dachte einen Moment über seine Worte nach und erkannte, dass die Sache tatsächlich kein gutes Licht auf das gesamte Regierungssystem warf. Grindelwald hatte sich keinen Auror in Ausbildung gesucht oder irgendeinen alten Offizier der Sicherheitsbrigade ausgewählt, sondern ausgerecht den Direktor der magischen Sicherheit und rechte Hand der Präsidentin. Dazu kam, dass er seine Rolle sehr gut gespielt hatte und keiner etwas mitbekommen hatte… keiner, bis auf Newt Scamander, einen gesellschaftsfremden Reisenden, der weder Grindelwald noch Graves je zuvor getroffen hatte und der sich höchstens ein oder zwei Tage in New York aufgehalten hatte. Das Einzige, womit sich der MACUSA hatte rühmen können, war das Aufhalten der sonderbaren Kraft, welche die Stadt terrorisiert hatte und die Beseitigung der daraus folgenden Zerstörung von New Yorks Straßen und Häusern. Und Tina wusste zudem, dass es in Anbetracht dessen, dass es sich bei dem Verantwortlichen um einen verletzten, verängstigten Jungen gehandelt hatte, dem es nicht möglich gewesen war, seine Kraft zu kontrollieren, kein lobenswerter Erfolg für die Auroren gewesen war.

 

Das alles war durchaus ein gebührend großer Skandal, um als peinliches Kapitel in die Geschichtsbücher der Zauberei einzugehen. Doch noch immer stand die Frage im Raum, inwiefern Percivals Suspendierung das  Ganze abmildern sollte?

 

Er schien die unausgesprochene Frage an ihrem Gesicht abgelesen zu haben. „Es ist doch so, dass ich während dieser Zeit, praktisch nur bewusstlos gewesen war und nichts mitbekommen habe. Keine besonders schöne Vorstellung bei dem Direktor der Sicherheit. Noch dazu, dass keiner meiner Auroren bemerkt hat, dass ich nicht ich selber war.“

„Sie stellt also Ihre Kompetenz in Frage?“, stellte Tina klar und konnte einen verärgerten Unterton nicht vermeiden. „Aufgrund Ihrer Entführung?“

„Nicht direkt, aber unterschwellig kann man es durchaus so auffassen.“

 

„Aber das ist ungerecht. Sie wurden mit dem Trank der lebenden Toten vergiftet! Wie hätten Sie da etwas unternehmen können? Und wie soll eine angebliche Auszeit dabei helfen, das Bild der Regierung wieder in Ordnung zu bringen?“

 

„Wenn die Möglichkeit bestanden hätte, hätte man mich wohl auch gefeuert. Nur ist die Sachlage, für alle, die es genauer wissen, zu eindeutig. Wie Sie bereits angemerkt haben, war ich gar nicht in der Lage, irgendetwas zu unternehmen. Ich wurde von fünf Angreifern überwältigt, die mich gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen angegriffen haben. Da ist es schlichtweg unmöglich, heil aus der Sache herauszukommen. Dazu dieser Trank, der mich für längere Zeit außer Gefecht gesetzt hat, auch wenn er offenbar so miserabel zusammengerührt worden war, dass ich nach ein paar Wochen von alleine aufgewacht bin. Nicht jeder Überlebende eines Kampfes, ist automatisch ein Held, Tina. Die Präsidentin scheint es als eine Art persönliche Beleidigung aufzufassen, dass ich von Grindelwalds Anhängern überwältigt werden konnte. Aber ändern kann man es nicht mehr und nun versucht die Präsidentin das Thema mit meiner Auszeit etwas dramatischer wirken zu lassen und langsam und bedächtig unter den Tisch zu kehren.“ Er machte eine kurze Pause und stieß wieder einen flüchtigen Seufzer aus. „Man stellt es so dar, als wäre ich überarbeitet und bräuchte deshalb ein wenig Ruhe und Abstand zu meiner Arbeit.“

 

 „Bis man Sie stillschweigend ersetzen kann“, schloss Tina und ihre Stimme bebte vor Wut und Enttäuschung.

 

„So weit werde ich es dann doch nicht kommen lassen“, antwortete Percival mit fester Stimme. „Eliphaz und einige andere hochrangige Auroren, haben ebenfalls ihre Schlüsse gezogen und glücklicherweise stehen sowohl sie, als auch Recht und Gesetz hinter mir.“

„Aber so etwas… ist…“ Sie traute sich nicht, es auszusprechen, doch Percival nickte verstehend.

 

„Deswegen steckt die Präsidentin auch in einer Zwickmühle. Es kommt aus gegnerischen Reihen das Gerücht auf, dass sie gerne Mal die Schuld auf andere schiebt. Waren Sie nicht schon mit Mr Scamander bei ihr, bevor das ganze Chaos ausgebrochen war?“

„Nun, ja…“, fing Tina zögerlich an. „Aber er.. also…“

„Und trotzdem hat Madam Picquery Sie vor dem gesamten Internationalen Komitee mitverantwortlich gemacht? Ohne dieses Detail zu erwähnen?“

 

Tina schwieg, doch die Erkenntnis war ihr ins Gesicht geschrieben.

 

„Verstehen Sie mich nicht falsch, Tina. Seraphina Picquery ist durchaus fähig unsere Gesellschaft zu führen, viele ihrer Entscheidungen sind richtig und notwendig und sie hat den Mut und Ehrgeiz, sich dafür einzusetzen. Ich stehe bei den meisten Entscheidungen voll und ganz hinter ihr. Ihre einzige Schwäche kommt nur dann zum Vorschein, wenn eben doch nicht alles nach Plan läuft und es internationale Ausmaße anzunehmen droht. Sie will vor Außenstehenden Stärke zeigen.“

„Aber solch ein Verhalten…“, wollte Tina protestieren.

 

„Ich weiß, aber das alles ist ein zweischneidiges Schwert und wir balancieren darauf, um ein gutes Mittelmaß zu halten. Politik ist kompliziert, so einfach man sich seine eigenen angestrebten Veränderungen auch vorstellt. Nehmen wir nur uns selber und Grindelwald, samt seiner Anhängerschaft. Wir alle haben unterschiedliche Ansichten und Ziele, die wir für richtig halten, und weil man diese nicht miteinander vereinbaren kann, wird man es nie jemanden recht machen. Irgendeiner wird immer gegen die Beschlüsse kämpfen wollen, wenn sie ihm nicht passen. In der Situation zwischen mir und der Präsidentin ist es nun so, dass ich mich vorerst ihrer Vorstellung beugen werde. Aber ich werde sicher nicht meinen Posten räumen, solange meine Leute und auch die Bevölkerung damit zufrieden sind, wie ich meinen Job mache.“

 

Tina saß ruhig und still da und dachte darüber nach. Natürlich stand auch sie hinter der Präsidentin. Sie konnte sogar ihre damalige Versetzung nachvollziehen, immerhin hatte sie sich wirklich wie eine Anfängerin benommen. Und im Grunde war sie froh, dass Picquery ihr nicht hatte zuhören wollen, als sie mit Newt im Schlepptau im Versammlungsraum der Auroren aufgetaucht war. Es war schon peinlich genug, vor Graves - oder besser gesagt vor Grindelwald – den falschen Koffer präsentiert zu haben. Wäre das vor Picquery passiert, hätte sie wohl ihre Anstellung im MACUSA vollends streichen können. Doch es gab einen Wehmutstropfen, bei dem sich Tina durchaus das Gehör der Präsidentin gewünscht hätte. Nur dafür war es endgültig zu spät.

 

„Tina?“

Percivals Stimme riss sie aus ihren Gedanken und peinlich berührt stellte sie fest, dass ihre Augen von der Hitze aufkommender Tränen erfüllt waren. Hastig versuchte sie die Nässe wegzublinzeln und probierte sich an einem schüchternen Lächeln.

 

„Sie scheinen auch etwas auf dem Herzen zu haben“, meinte Percival und veränderte ein wenig seine Sitzposition. „Na kommen Sie, was ist es?“

 

Tina schluckte. „Es geht um Credence. Das Obscurial“, fügte sie hinzu, als Percival sie fragend ansah. „Ich… es ist so… er hat das nicht verdient. Das was man ihm angetan hat. Was die Auroren ihm angetan haben und was die Präsidentin befohlen hat.“

„Er hat zahlreiche Häuser und Straßen zerstört und drei No-Maj ge…“

„Aber er hatte doch keine Kontrolle!“, warf Tina ein und ihre Stimme wurde eine Oktave höher.

„Er hat das Gesetz…“

 

Und wieder unterbrach sie ihren Vorgesetzten: „Ein Gesetz, von dem er rein gar nichts wusste!“ Sie machte eine kurze Pause, in der sie scheinbar nur Luft holte, um sich endlich ihre Wut von der Seele zu reden. „Credence… Sie können sich nicht vorstellen, was er alles durchgemacht hat.“ Sie erzählte ihm grob, was sie über dem gemarterten Jungen wusste und wie alles aus ihrer Sicht verlaufen war. Sie erzählte Percival, wie sie Credence das erste Mal getroffen und ihn kurz darauf vor seiner Adoptivmutter beschützt hatte, die ihn regelmäßig und mit purer Schadenfreude geschlagen und drangsaliert hatte; wie sie in dem Tunnel zu dieser unförmigen, schwarzen Masse gesprochen hatte, die kurz vorher zerstörerisch durch die Straßen von New York gewütet war; wie sie förmlich gespürt hatte, dass Credence ihr in dieser körperlosen, von Hass, Angst und Wut erzeugten Gestalt zugehört und versucht hatte sich wieder zu beherrschen; sie erzählte von der Verbindung zu Grindelwald, welcher ihn in Percivals eigener Gestalt ausgenutzt hatte und sie tat ihre Meinung über den Angriff des MACUSAs kund.

 

„Das war nicht fair“, zog sie ihr Fazit. „Credence hat großen Schaden angerichtet und drei No-Majs getötet, das will ich gar nicht abstreiten. Er hat uns mit seinem Ausbruch der gesamten nichtmagsichen Bevölkerung in New York offenbart und damit unser oberstes Gesetz der Geheimhaltung gebrochen, aber er… er wusste es doch nicht! Niemand hat es ihm gesagt! Und er hatte Angst, er hatte Schmerzen, Credence war völlig allein und niemand schien ihn zu verstehen oder ihm zuhören zu wollen. Newt und ich haben mit ihm geredet und… und Credence hat versucht, wieder die Kontrolle zu übernehmen. Er war schon dabei, sich wieder zu manifestieren. Die Auroren… sie… sie hätten ihm helfen oder mir eine Chance geben sollen! Das was sie dort unten getan haben, dieser Befehl von Madam Picquery, das war kein gerechtfertigter Akt zur Geheimhaltung unserer Gesellschaft… es war Mord.“

 

Sie hatte ihren Vortrag mit einem erschöpften Seufzer abgeschlossen und saß einen Augenblick einfach nur da, die Hände verkrampft und die Augen wässrig. Irgendwie hatte es ihr gut getan, das alles raus zulassen.

 

Percival saß nachdenklich in seinem Bett und starrte die gegenüberliegende Wand an. Er hatte ihr aufmerksam zugehört und schien noch sehr damit beschäftigt zu sein, das Gehörte zu verarbeiten. Vieles davon war neu, einiges hatte er nur als Gerücht oder Vermutung gekannt. Tina wartete bereits mit aufkommender Nervosität auf eine Reaktion ihres Vorgesetzten.

 

„Der Junge hat also trotz seines Zustandes auf Ihre Worte reagiert?“, fragte er schließlich nach und sah zu Tina hinüber. Sie nickte. „Und die Auroren haben es gesehen?“

Sie blickte betreten zur Seite. „Ich habe ihnen gesagt, dass sie ihn verängstigen. Aber Credence… er hat sich…. Ich kann es nicht wirklich beschreiben. Er hatte nicht vor, irgendjemanden etwas zu tun, er… Credence hat sich einfach erschrocken, als die Auroren aufgetaucht sind. Aber sie haben es als Angriff gesehen. Dabei hatte er uns gar nichts getan… Newt und mir, meine ich.“

 

Wieder trat die unangenehme Stille zwischen die beiden. Percival griff schließlich nach dem immer noch dampfenden Becher und trank ein paar weitere Schlucke des Getränks. Abermals schüttelte er kurz den Kopf und starrte mit einem angewiderten Blick auf den nun halbleeren Becher. Er stellte ihn zurück auf den Tisch und blickte danach wieder erwartungsvoll zu Tina.

 

„Ich nehme an, Sie haben höchstens mit Ihrer Schwester darüber gesprochen?“

Tina bejahte. „Ich glaube es wäre unklug, mich noch einmal mit der Präsidentin anzulegen“, murrte sie kleinlaut und sah aus den Augenwinkeln, wie Percival bekräftigend nickte.

„Ich schätze, wir können für die Zukunft nur hoffen, dass wir so etwas nicht noch einmal durchstehen müssen. Oder uns doch besser vorbereiten.“ Er hatte den letzten Satz mit reichlich Nachdenklichkeit untermauert, doch als Tina schon nachfragen wollte, war er schneller.

 

„Also gut.“ Percival streckte kurz seine Arme aus und gab sich alle Mühe, ein Gähnen zu verbergen. „Ich muss Ihnen gestehen, dass Sie heute bereits der dreiundzwanzigste Besucher sind. Ich danke Ihnen noch mal für alles, aber ich brauche jetzt wirklich etwas Ruhe.“

„Natürlich.“ Tina war zwar überrascht, von dem plötzlichen Themenwechsel, doch sie erhob sich widerstandslos und die beiden verabschiedeten sich mit einem flüchtigen Händedruck. „Erholen Sie sich… Und nutzen Sie Ihre Auszeit. Etwas Abwechslung tut Ihnen sicher gut.“

„Können Sie mir die Zauberstab-Registrierungs-Abteilung empfehlen?“ Offenbar war dies Percivals Versuch einen Witz zumachen. Tina hatte so etwas noch nie bei ihm erlebt und war im ersten Moment überrascht und verwirrt. Dann grinste sie und schüttelte den Kopf. „Nein, das eher weniger.“

 

Er lächelte zurück, doch als Tina das Krankenzimmer verlassen hatte, lehnte er sich nachdenklich zurück. Die Zeitung war auf einmal uninteressant geworden und als er so dalag, den Blick gen Decke gerichtet und die neuen Informationen verarbeitend, formte sich langsam eine höchst ungewöhnliche Idee in seinem Kopf.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2018-03-01T00:36:33+00:00 01.03.2018 01:36
Du hast einen wirklich angenehmen Schreibstil und mir gefällt der Aufbau deines Prologes echt gut. Ich hab zwar irgendwie versehentlich auf die FF geklickt, normal les ich nichts zu den neuen Sachen, aber als ich angefangen hat, hat mir dein Stil so gut gefallen das ich neugierig war 😄


Zurück