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Die Schneekönigin

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Anm.: Jelena Praslova ist ein OC meiner eigenen YOI-FF-Reihe. Sie ist 59 Jahre alt, die Schneiderin von Viktors Kostümen und dessen beste Freundin/Quasi-Mama. Handlung nach Kapitel 9 der „2nd Season: Russian Diaries“. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Anm: In Japan besucht man die Grundschule sechs Jahre lang. Das neue Schuljahr startet immer am 1. April, folglich ist Yuuri derzeit (noch) in der vierten Klasse, Takeshi ist in der fünften und Yuko in der sechsten. Bis April sind sie also alle noch auf derselben Schule, danach wechselt Yuko in die Mittelschule. Komplett anzeigen

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Lieblingsmärchen und ein Junge

18. Dezember 2003, Hasetsu. Ballettschule von Minako Okukawa
 

„Nishigori, gib mir mein Buch zurück!“

„Ha-Ha, Fetti-chan, kommst nicht ran!“

„Takeshi-kun! Gib Yuuri-kun sein Buch wieder!“

„Wieso?“, schnalzt Nishigori, „Wenn er sich in die Höhe streckt statt in die Breite, dann ko-o-o-auaaaaaa!“

Minako-sensei zieht Nishigori am Ohr, er lässt mein Buch fallen. Als es auf den Boden trifft, knicken einige der Seiten um.

„Die Jüngeren werden nicht geärgert“, tadelt Minako-sensei und Yu-chan nickt eifrig. Ich hebe mein Buch vom Boden auf und betrachte es. Die Knicke in meinem Buch werden nicht mehr weggehen und das, obwohl es gar nicht so alt ist... Es ist mir egal, ob sie Nishigori schimpfen, solange heute sonst nichts anderes als das passiert. Am letzten Tag vor der Winterpause machen wir immer etwas anderes statt den normalen Unterricht und eigentlich freue ich mich darauf, aber es ist schon wieder so ein komisches Gefühl dabei, weil ich mir nie vorstellen kann, wie es ablaufen wird und meistens passiert dann immer etwas, das mich aufwühlt...

Minako-sensei schließt die Schule um die Zeit für eine Woche und fliegt nach Europa. Immer in ein anderes Land; letztes Jahr war sie in Deutschland und davor in Polen. Dieses Jahr hat sie sich für Belgien entschieden, denn an Weihnachten sei es in diesen Ländern am Schönsten. Hier in Japan ist Weihnachten nicht so wichtig, wir feiern vielmehr das neue Jahr. Irgendwann würde ich vielleicht auch einmal gerne nach Europa fliegen, wenn ich erwachsen bin. Minako-sensei schwärmt immer davon, aber noch traue mich das nicht.

Für die letzte Stunde hat sie uns aufgetragen, unsere Lieblingsmärchen mit in den Ballettunterricht zu bringen und sie uns gegenseitig vorzustellen. Es ist eigentlich nichts Schlimmes und ich mag schon Märchen und andere Geschichten, aber es gibt nicht wirklich etwas, das ich besser finde als etwas anderes. Nishigori ist großer Fan von vielen Dingen, je nachdem was gerade im Fernsehen zu sehen ist. Ich schaue das zwar auch, aber ich überlege mir vorher, ob ich etwas gut finden will oder nicht. Denn wenn es meine Lieblingsmärchen wäre, müsste ich sie für mich behalten, weil sie so sicherer ist. Nishigori würde mich doch nur damit aufziehen und dann soll er mich wenigstens mit etwas ärgern, das mir nicht so wichtig ist...

„So, setzt euch alle im Kreis auf den Boden und dann fangen wir an, ja?“, fordert uns Minako-sensei auf. Wir sind zu fünft in der Ballettgruppe und der Kreis ist somit ziemlich klein. Sayo und Mitsu sind Schwestern und wie Yu-chan schon 13 Jahre alt. Takeshi ist zwölf, also ein Jahr älter als ich, und er kommt viel zu selten zum Unterricht, weil er lieber schwänzt und mit seinen Kumpels den Spielplatz in der Nähe unsicher macht. Ich bin lieber drinnen im Ballettunterricht, wo jemand aufpassen kann und Ballett kann ich ganz gut und es macht Spaß. Meine Eltern unterstützen es, aber ich bekomme immer Lampenfieber vor Aufführungen und mache dann viel falsch, weil ich mich nicht traue und es eigentlich können sollte. Ich habe immer den Eindruck, dass es von mir erwartet wird und ich will nicht versagen... Ich möchte auch gerne etwas gut können.

„Yuuri-kun, komm zu mir!“, ruft Yu-chan und klopft mit der Hand auf den freien Platz neben sich. Etwas verlegen setze ich mich neben sie und Nishigori rümpft die Nase. W-wenn sie es mir anbietet, dann setze ich mich gerne. Ansonsten bin ich für sowas zu schüchtern, weil Yu-chan alle mögen und toll finden...

„Gut, dann legen wir los. Yuuri-kun, möchtest du als Erster?“, fragt Minako-sensei und ich fühle mich sofort unwohl und ertappt. Ich bin nie gerne als Erster dran und eigentlich möchte ich überhaupt nicht...! L-lieber als Letzter, wenn keiner mehr aufpasst oder so... Bestimmt bin ich auch schon wieder rot im Gesicht.

„Feigling,“ ruft Nishigori, der sich am Weitesten von Minako-sensei weggesetzt hat, „aber ich weiß es!“

„Kein Wunder, wenn man ihm das Buch klaut“, kontert Yu-chan mit bösem Blick, dann schaut sie zu mir und lächelt. „Ich bin schon gespannt auf deine Geschichte, Yuuri-kun!“

„I-ich habe das hier ausgesucht…“, beginne ich und drehe ungeschickt das Buch herum.

„Awww, ‚König der Löwen‘!“, kommentiert Yuko verzückt.

„Kannste knicken, Katsuki“, motzt Nishigori, aber er sagt nichts weiter, weil Minako-sensei schon wieder böse schaut. Ich weiß, was er denkt. Bestimmt, dass ich wie Simba sein will und Pumba bin, aber das stimmt nicht. Naja nicht ganz. Ein bisschen vielleicht schon... A-aber nur ein bisschen! Simba ist mutig, nicht so wie ich... Ich wäre gerne stärker...

„Jetzt bin ich dran!“, ruft Yu-chan enthusiastisch und zeigt ihr Märchenbuch. Auf dem Titelbild sind eine Winterlandschaft, ein Schlitten und zwei Kinder zu sehen. „‚Die Schneekönigin‘!“

„Ah, das ist ein europäisches Märchen, nicht?“, fragt Minako-sensei anerkennend und Yu-chan nickt wieder. „Magst du es den anderen erzählen? Ich bin sicher, ‚König der Löwen‘ kennt jeder, aber ‚Die Schneekönigin‘ kennen bestimmt nicht alle.“

„Klar!“, sagt Yu-chan und steht auf. Dann beginnt sie die Geschichte zu erzählen: „Es gab einmal einen Spiegel, in dem alles Böse der Welt steckte. Um Zwietracht und das Böse in der Welt sichtbar zu machen, zerbrachen böse Trolle den Spiegel und seine Splitter fielen auf die Erde. Wer einen Splitter ins Auge oder in sein Herz bekam, war fortan böse. So erging es auch Kay, dem liebsten Spielkameraden von Gerda. Kay war nicht mehr er selbst und wurde überheblich. So sehr, dass er eines Abends in den Schlitten der Schneekönigin stieg, die ihn entführte und fortan in ihrem Schloss gefangen hielt. Aus Sorge um Kay macht sich Gerda auf den Weg, ihn aus den Fängen der Schneekönigin zu befreien. Als sie ihn im hohen Norden nach einer lngen Reise findet, scheint es fast zu spät. Aber ihre Tränen können schließlich den bösen Zauber der Schneekönigin brechen und den Splitter entfernen. Danach gehen sie glücklich wieder nach Hause.“

„Keine Liebesgeschichte?“, kommentiert Sayo irritiert mit hochgezogener Augenbraue. Ihre Schwester Mitsu lacht, flüstert ihr etwas ins Ohr und sie kichern.

„Ich mag diese Geschichte, auch wenn es keine Liebesgeschichte ist“, erklärt Yu-chan und streckt ihnen die Zunge raus. „Freundschaft ist auch sehr wichtig!“

„J-ja...“, bekräftige ich und schaue verlegen zu ihr herüber.

„Natürlich! Weiß ja jeder“, übertönt mich Nishigori, aber es klingt nicht überzeugend.

„Du bist ein Troll“, kontert Yu-chan und funkelt Nishigori mit einem bösen Blick an. Dann lächelt sie zu mir und das Herz rutscht mir fast in die Hose. „Du erinnerst mich immer etwas an Kay, Yuuri-kun. Ich bin gerne mit dir befreundet!“

Ich drehe mich sofort beschämt weg. Mein Gesicht muss feuerrot leuchten! Wenn Yu-chan sagt, ich sei für sie wie Kay, dann wäre sie Gerda... U-und das ist ein wirklich schöner Gedanke... Er macht mich schon etwas glücklich und stolz.

„So, Sayo, möchtest du jetzt?“, geht Minako-sensei die Reihe weiter durch.

Während sie ihre Geschichten vorstellt, hänge ich mit meinen Gedanken noch bei Yu-chans Schneekönigin fest. Irgendwie fasziniert mich das Märchen jetzt, wenn Yu-chan mich sogar darin erkennt und mich ihren Freund nennt... Aber wie muss so eine Schneekönigin sein, dass Kay Gerda dafür zurückließ? Ich könnte mir nicht vorstellen, die Freundschaft mit Yu-chan durch etwas anderes zu ersetzen... Es ist ja vielleicht auch ein bisschen mehr wie Freundschaft, zumindest für mich... Vielleicht könnte ich morgen in der Bibliothek der Schule unbemerkt danach fragen? Ich würde es schon gerne wissen, wie Gerda ist und wie die Schneekönigin aussieht...

„Yuuri-kun, hast du zugehört?“, fragt Minako-sensei und ich erschrecke mich. Sayo hat gerade, wie es aussieht, von „Romeo und Julia“ gesprochen und Mitsu hält ein Buch von „Alice im Wunderland“ vor sich.

„E-entschuldigung! Ich hab nicht zugehört... Ich war in Gedanken!“, haspele ich schnell vor mich hin und hoffe, dass es nicht wichtig war und ich keinen Ärger dafür bekomme.

Minako-sensei wirkt interessiert. „So? Was beschäftigt dich denn?“

„W-wie die Schneekönigin aussieht“, nuschele ich, aber lasse den Teil über Gerda sicherheitshalber weg. Das geht auch niemanden etwas an! „A-auf dem Cover ist kein Bild von ihr...“, füge ich noch schnell hinzu, um Yu-chan nicht auf die Idee zu bringen, ich fände die Schneekönigin interessanter als sie...

„Interessiert dich das Märchen?“

Ich nicke stumm.

„Wirklich? Wie cool!“, beginnt Yuko-chan, „Also, so jemand wie die Schneekönigin hat lange, silberne Haare und ist wunderschön. Eisblaue Augen und wo immer sie ist, schneit es. Und sie lebt weit, weit weg im Norden.“

„So jemand gibt’s nicht“,  wirft Nishigori ein und stützt den Kopf gelangweilt auf seine Hand.

„Yuko denkt vielmehr an einen Schneekönig“, antwortet Sayo prompt und Yu-chan errötet.

„Nein!“, streitet sie ihre Aussage ab.

„Du lügst“, bekräftigt Sayo herausfordernd. „Ich hab sein Bild in deinem Hausaufgabenheft gesehen. Du hast es in der Pause aus einer Zeitschrift ganz sorgfältig ausgeschnitten und eingeklebt. Lange, silberne Haare und eisblaue Augen.“ Dann grinst sie und fügt an: „Du stehst auf ihn, gib's zu!“

„Nein!“, wiederholt Yu-chan peinlich verlegen. „Ich stehe nicht auf ihn!“

Nishigori schaut irritiert zwischen Yu-chan und Sayo hin und her. Auch ich fühle mich unangenehm überrumpelt. Irgendwie zieht es unheilvoll in meiner Brust und ich wünschte mir, ich hätte nicht nach der Schneekönigin gefragt... Es gibt einen Jungen, den Yu-chan toll findet? Mit silbernen Haaren und eisblauen Augen?

„Kein Mensch hat silberne Haare“, mault Nishigori. „Gibt nur graue Haare und wenn, dann wär's ein alter Sack.“

„Er wird bald 15“, erwidert Yuko-chan und sieht immer noch verlegen aus. Dann spricht sie weiter: „Und er ist ein sehr guter Eiskunstläufer. Das ist alles.“

Ein Eiskunstläufer? Ich umklammere mein Buch fester. Mir wird gerade zum Heulen zumute... Yu-chan ist die beste Eiskunstläuferin bei uns, sie läuft so toll... Ich bin noch lange nicht so gut wie sie, aber irgendwann wollte ich das genauso gut können... Dass sie nach jemand anderem schaut, der es besser kann als ich, kann ich verstehen, aber... Es macht mich traurig. Und es tut weh...

„Ah, du meinst bestimmt den jungen Viktor Nikiforov, nicht?“, fragt Minako-sensei und Yuko vergräbt sofort ihr Gesicht hinter ihrem Buch. „Dann versteh' ich's natürlich. Er hat unverschämt großes Talent und ist mit knapp 15 schon das Heißeste, was Russland derzeit auf dem Eis zu bieten hat.“

„Wenn er so heiß ist, soll er vom Eis wegbleiben. Schmilzt sonst alles und er geht baden“, lästert Nishigori, weil ihm offenbar nichts Besseres einfällt. Ich hoffe wirklich, dass Yu-chan die Wahrheit gesagt hat und es wirklich nur ums Eislaufen geht, sonst hätte ich nie eine Chance gegen ihn... Wenn ich genug trainiere, könnte ich irgendwann vielleicht besser werden. Vielleicht würde Yu-chan mich dann auch toll finden?
 

Zuhause liege ich auf meinem Bett und starre an die Decke. Meine Gedanken drehen sich immer wieder um Yu-chan und diesen Jungen, der so gut eislaufen kann. Den Namen habe ich vor lauter Aufregung vergessen, aber es war ein ausländischer Name. Ausländer haben manchmal blaue Augen, das weiß ich von den Videos über Ballettaufführungen, die uns Minako-sensei gezeigt hat. Einige der Ballerinen haben auch helle Haare, aber gibt es wirklich Menschen mit langen, silbernen Haaren? Und ein Junge? Hier in Japan haben Jungen normalerweise keine langen Haare. Nur die Mädchen und dann sind die Haare immer schwarz. Man kann Haare zwar färben, aber normal ist das hier eigentlich nicht... Mari-nee-chan trägt ihre seit Neustem blond und es sieht sehr merkwürdig aus. So weit ich weiß hat sie dafür Ärger in der Schule bekommen und sie soll sie jetzt wieder zurück färben, aber wahrscheinlich macht sie das einfach nur ihren Lieblingsbands nach und will die Haare deswegen blond behalten. Die Sänger, die ihr gefallen, haben auch alle blonde Haare und in ihrem Zimmer hängt eine Unmenge von Postern...

In meinem Zimmer hängt kaum etwas. An meinem Bettgestell kleben ein paar Sticker, zum Beispiel vom Hasetsu Ice Castle, die ich mit vier oder fünf dorthin geklebt habe. Aber ich habe auch nicht den Drang, von irgendwem ein Poster aufzuhängen. Über meinem Schreibtisch hängt ein Poster von Pokémon, aber das hängt da bloß, dass Nishigori nicht immer sagt, ich sei so ein Langweiler. Die meisten Dinge mache ich nur mit, weil er gegen mich spielen und gewinnen will, so wie eben Pokémon. Ich habe ein Team von kaum trainierten Pokémon, mit denen ich immer gegen ihn spiele, damit er gewinnen kann. Und dann habe ich die richtig trainierten Pokémon, mit denen ich schon alles gewonnen habe, aber das muss Nishigori nicht wissen. Wenn ich wollte, könnte ich ihn damit auch besiegen. Nur würde er mich dann wieder ärgern, weil er gegen mich verloren hätte. Langweilig sein ist so gesehen einfacher, um mit anderen zurecht zu kommen...

Wieder kehren meine Gedanken zu Yu-chans Märchen zurück. Wenn Kay nicht angefangen hätte, sich für die Schneekönigin zu interessieren, hätte er auch immer bei Gerda bleiben können. Und Yu-chans Freundschaft ist mir so wichtig, dass ich nicht riskieren will, sie zu verlieren... Ich sollte das alles am Besten schnell vergessen und mich Nishigoris Meinung anschließen. Jungs mit silbernen Haaren gibt es nicht. Das ist das Beste und Einfachste... Auch wenn es mich irgendwie ein bisschen interessieren würde, wenigstens zu sehen, ob er wirklich so gut ist. A-aber nur kurz...!

Eine heiße Tasse Milch mit Honig

St. Petersburg, 05. Oktober 2017
 

„Ich bin schon so gespannt, Schatz.“

„Es ist mehr Show als Eiskunstlaufen“, grinst Viktor. Er und ich haben es uns schon auf Jelenas braunem Sofa bequem gemacht, während sie dabei ist, den Fernseher einzuschalten. Makkachin liegt auf seiner Platzdecke und streckt alle Beine von sich, nachdem er seinen Napf in Windeseile leer gefegt hat.

Heute Abend wird im Fernsehen „Celebrities on Ice for Kids“ ausgestrahlt und ich kann mir nicht helfen, aber ich kann es irgendwie genauso wenig abwarten wie Jelena, bis es endlich losgeht. Vielleicht, weil ich die Sendung im japanischen Fernsehen nie sehen konnte und auch nicht auf die Idee gekommen war, bei Youtube danach zu suchen. Yuko und ich haben damals so akribisch Recherche betrieben, dass wir irgendwann der Meinung waren, alles zu wissen, was es über Viktor zu wissen gab, aber seit ich bei ihm in St. Petersburg lebe, bin ich eines Besseren belehrt worden. Jelenas Sammelsurium schlägt unsere alten Viktor-Fan-Ordner um Längen und selbst das ist nicht alles.

Nichts von alledem ist aber besser als das Einzelstück, das ich ganz dicht bei mir sitzen habe. Seit seinem Comeback bei den Russian Nationals vor ein paar Tagen war Viktor terminlich viel unterwegs und Training hatten wir auch noch, sodass heute Abend endlich einmal wieder ein bisschen entspannen auf dem Programm steht. Er darf also so viel auf mir hängen und mich umarmen wie er will, weil sich das bestens damit ergänzt, dass ich überhaupt keine Einwände habe.

Im Fernsehen läuft noch eine russischen Trickserie und Jelena kommt zu uns auf die Couch.

„Ihr seid noch versorgt, ihr Lieben?“, fragt sie und steht doch wieder auf, um in unsere Tassen zu schauen. Viktor lacht: „Die Milch ist so heiß, wir konnten noch keinen Schluck trinken.“

Jelena hebt die Augenbrauen und setzt sich wieder. Sie hat uns zu Milch mit Honig überredet, obwohl das, wie Viktor sagte, doch für Kinder wäre. Aber für Mamas werden Kinder nie erwachsen, das weiß ich von meiner Mutter, und Jelena empfindet das sicherlich nicht anders, auch wenn sie nicht mit Viktor verwandt ist. Sie will Viktor und mir einfach nur etwas Gutes tun, weil sie „ihre Jungs“ in den letzten Tagen viel zu selten gesehen hat, wie sie findet. Dabei waren es gerade mal zwei Wochen.

„Das hast du früher so gerne getrunken, weißt du noch?“, beginnt sie ihre Wahl zu rechtfertigen. „Jedes Mal, wenn du bei mir über Nacht geblieben bist. Milch und Honig, ohne wolltest du nie schlafen gehen.“

„Musst du diese alten Sachen erzählen?“, lacht Viktor amüsiert, „Aber ja, ich erinnere mich.“

„Ach was, das ist doch nicht schlimm“, befindet Jelena mit einem Lächeln und nimmt ihrerseits einen Schluck von ihrem Tee. „Wie lange musste ich warten, bis du mir jemanden vorstellst, dem ich all das erzählen kann?“

Jelena zwinkert mir zu, Viktor stöhnt und ich muss lachen. Sie hat unglaubliche Freude daran, mir alles Mögliche über Viktor zu erzählen und kein Detail kann ihrer Meinung nach zu langweilig sein. Viktor weiß jetzt ganz genau, wie ich mich gefühlt habe, als meine Mutter ihm im Laufe des letzten Jahres ständig irgendetwas von mir erzählt hat. Für ihn war das auch nie langweilig, aber ich habe fast immer die Krise bekommen, was Mutter alles für Kamellen ausgepackt hat... Davon abgesehen würde ich mich nicht beschweren zu erfahren, dass der junge Viktor früher vor dem Einschlafen gerne Milch mit Honig getrunken hat. Es macht ihn menschlich, es ist niedlich und jetzt da ich es weiß, kann ich ihn vielleicht das nächste Mal damit überraschen, wenn er wieder spät nach Hause kommt.

Wir wenden uns wieder dem Fernseher zu. Die Trickserie ist zu Ende und nach dem Abspann beginnt eine Vorschau auf die kommende Sendung. Wie gebannt versuche ich alles ganz genau zu verfolgen und zu erkennen, ob Viktor bereits zu sehen ist. Die Musik, die im Hintergrund spielt, ist mir zunächst unbekannt, aber dann erkenne ich die Melodie von „Let it go“ und Viktor ist für etwa zwei Sekunden auf dem Eis zu sehen, Vogelperspektive, und von der Decke fällt Schnee oder zumindest etwas Ähnliches. Es könnte auch Konfetti sein. Wahrscheinlich ist es Konfetti, denn in Eishallen fällt kein Schnee.

„Du liebe Güte“, kommentiert Jelena, die sich ebenfalls fasziniert vorgebeugt hat, „da wurde aber an nichts gespart, Schatz.“

„Es ist für Kinder“, meint Viktor einfach nur, aber das Grinsen geht von einem Ohr zum anderen. „Die kann ich nicht mit einem perfekt ausgeführten Flip begeistern, weil sie ihn nicht erkennen. Da muss schon was anderes her, damit es interessant wird.“

Ja, denke ich, und fiese Socke wie er ist, hat er nach seiner Rückkehr aus Moskau natürlich davon rein gar nichts erzählt. Nur, dass sie bis spät in die Nacht geprobt haben, damit das Timing passt und die Technik richtig funktioniert. Aber allein von dieser kurzen Vorschau glaube ich erahnen zu können, wie viel Arbeit in diesem Auftritt steckt. Nicht nur von Viktor, sondern von so ziemlich jedem, der daran beteiligt war. Den Film „Die Eiskönigin“ kennt hierzulande auch jeder und da gerade das Lied hat weltweit eingeschlagen wie eine Bombe, haben auch die Kleinsten die Höhe Erwartungen.

Yukos Drillinge sind da keine Ausnahme, denn nachdem ich zuerst meiner Mutter und daraufhin Yuko von dem Auftritt erzählte, brach nicht nur bei meiner Familie, sondern auch bei meiner langjährigen Freundin und ihren Töchtern Panik aus, wie sie an eine Aufzeichnung dieser Sendung kommen. Wir zeichnen heute also alles auf und schicken es morgen nach Japan, damit auch dort die kleinen und großen Fanherzen glücklich sind.

Viktor nimmt sich seine Tasse Milch und entlastet meine Schulter für einen Moment, bis er mit angezogenen Beinen wieder an mir lehnt und kuschelt.

„Du bist sehr anlehnungsbedürftig heute“, bemerkt Jelena amüsiert. „Yuuri, wenn dich das stört, musst du es ihm sagen.“

„Es stört mich nicht, keine Sorge“, antworte ich hastig, aber es stört mich ja wirklich nicht.

„Außerdem ist die Sendung für mich nur halb so spannend“, antwortet Viktor und hält den Finger in die Milch, um zu sehen, ob sie noch heiß ist. „Also habt ihr einen spannenden und ich einen gemütlichen Abend.“

Jelena lacht, schüttelt den Kopf und schaut wieder zum Fernseher. Viktor nippt an seiner Milch, während ich versuche meine Schulter in eine Position zu bringen, die für ihn und mich gleichermaßen bequem und erträglich ist. Die Werbepause dauert diesmal sehr viel länger und ich muss mich wirklich wundern, womit Kinder heutzutage spielen und ob es überhaupt noch irgendwelches Spielzeug ohne Elektronik gibt. Ich hatte zwar auch ein ferngesteuertes Auto und später auch einige Spielkonsolen und dann auch einen Computer, andererseits komme ich mir bei dem Gedanken unheimlich alt vor, obwohl ich erst 24 bin.

„Ich wollte mit so was nicht spielen“, bemerkt Viktor, der sich infolge meiner ungeschickten Versuche, meine Schulter zu positionieren, lieber aufrecht neben mich gesetzt hat. Er stellt die Tasse wieder auf den Tisch und reicht mir meine, damit ich auch trinken kann. Sofort steigt mir die feine Süße des Honigs in die Nase und ich weiß sofort, wieso Viktor in jungen Jahren davon so angetan war. Solche simplen Aufmerksamkeiten von geliebten Menschen verlieren einfach nie ihren Zauber.

„Womit hast du gespielt?“, frage ich ihn und rieche noch einmal an der Milch.

„Mit unseren Tieren. Ich hab viel gebastelt oder gelesen“, beginnt Viktor. „Irgendwas habe ich immer gefunden, womit ich mich beschäftigen konnte.“

„Ohja, das hast du“, fügt Jelena hinzu. „Was er alles angestellt hat. Meine Güte. Ich wäre durchgedreht, wenn ich seine Mutter gewesen wäre.“

„Du übertreibst, Jelena“, beschwichtigt er. „Alle Kinder stellen mal was an.“

„Yuuri, er hat dem Hund und den Schafen mit der Schere das Fell geschnitten. Sich den ganzen Körper mit schwarzem Schlamm eingeschmiert. Die Tapeten mit Gemüse angemalt und Hühner auf seinem Zimmer versteckt.“

„Passiert“, sagt Viktor und zuckt mit den Schultern. „Yuuri sagt, er hat nie was angestellt.“

„Eh, nein“, antworte ich etwas verlegen. Aus eigenem Antrieb etwas Anstellen war nie mein Ding. Aber meistens saß ich hinterher doch mit in der Patsche, weil ich den Moment zum „Nein-sagen“ immer verpasst habe.

„Wie langweilig“, findet Viktor, „Gab es nichts, was dir Spaß gemacht hat?“

„Doch schon... Eiskunstlauf, aber das weißt du. Aber ich habe mich immer schwer getan, Dinge die ich mag vor anderen zu zeigen. Training war nie das Problem, aber Aufführungen waren immer schlimm.“

„Und vor dem Eiskunstlauf?“

Einen Moment schweige ich. Wenn ich ehrlich bin, erinnere ich mich kaum noch daran, womit ich als Kind gespielt habe, aber ich erinnere mich sehr genau an alles, was ich gemacht habe, nachdem ich Viktor das erste Mal bei den Junior-Weltmeisterschaften im Fernsehen gesehen habe. Eiskunstlauf hatte bis dahin dem Ballett immer eine untergeordnete Rolle, weil ich den damaligen Trainer nicht mochte. Er war sehr streng und laut, das hat mich immer verunsichert. Eigentlich war ich nur wegen Yuko zum Eiskunstlauf gegangen, weil sie viel lieber auf dem Eis war. Ballett habe ich lieber gemacht, weil ich mich dort sicherer fühlte. Aber nach ein paar Sekunden von Viktors damaliger Siegeskür hätte ich auch in der Eishalle übernachtet, wenn es hätte sein müssen; so sehr wollte ich laufen können wir er. Minako-sensei nörgelte danach nur noch, weil sie es war, die mich von Anfang an zum Eiskunstlauf überreden wollte und es nie geschafft hatte; Viktor hatte nicht mal ein Wort dazu gebraucht.

Wir hören Beifall und sehen im Fernseher die vollbesetzte Eishalle. Sofort halte ich in meinen Überlegungen inne und ich starre wie gebannt auf den Bildschirm. Es ist dunkel, aber an allen vier Eckpunkten der Eislauffläche sind hohe LED-Bildschirme aufgestellt, auf denen derzeit der Name der Sendung zu lesen ist und die Scheinwerferlichter malen Eisblumen in einem prächtigen Farbenspiel auf die kalte Fläche.

Das Publikum klatscht begeistert und nach und nach betritt ein Profieiskunstläufer nach dem anderen das Eis. Ich bin so fasziniert, dass mich erst ein vorwurfsvolles Schnauben von Viktor daran erinnert, dass ich ihm eigentlich seine Frage beantworten wollte, aber es fällt mir schwer, meine Konzentration aufzuteilen. Ich habe noch nie auf einen Viktor im Fernsehen gewartet, während der Echte neben mir sitzt und nach Aufmerksamkeit verlangt. Die Erfahrung ist so neu, wie sie unwirklich ist, dass derzeit die Fernsehsendung noch die Nase vorn hat. Dabei ist es reine Gewohnheitssache. Ich war so lange Fan von Viktor, dass ich manchmal einfach nicht aus meiner Haut kann und diese Eröffnung hat wirklich alles, was zu einer solchen Show gehört.

„Schatz, ich seh' dich gar nicht“, bemerkt Jelena irritiert, aber sie hat Recht. Viktor ist in der Eröffnungschoreografie nicht zu sehen.

„Ich bin ja auch noch nicht auf dem Eis,“ antwortet Viktor mürrisch. „Das Beste kommt immer zum Schluss.“

Mit dem Geschmack von Liebe auf den Lippen

01. März 2004, Hasetsu. O-shiro-mae-Grundschule
 

Es ist schon Frühling, aber ich habe nicht mehr nach der Schneekönigin gefragt. Ich wollte irgendwie, aber dann doch nicht mehr. Auch den Eisläufer wollte ich nicht mehr sehen, nachdem Nishigori mir gesagt hatte, er habe sein Bild in Yu-chans Heft gesehen und meinte, das sei so einer von denen, die auf ihrer eigenen Schleimspur ausrutschen. Yu-chan war daraufhin sehr böse geworden und traurig und hat Nishigori angeschrien, dass er nie wieder mit ihr reden soll. Das ist noch nie vorgekommen und hat mich weiter verunsichert, weil dieser Junge Yu-chan so wichtig zu sein scheint. Und es tut immer noch weh. Mit mir redet sie zwar normal, aber irgendwie weiß ich nicht, wie ich mich richtig verhalten soll, jetzt da sie mit Nishigori streitet...

Er sitzt oft bei mir zu Hause und spielt Pokémon für sich alleine. Ich schaue eigentlich nur zu und stimme ihm ab und an zu, dass sein Gegner unfair war, wenn er verloren hat. Manchmal mache ich aber auch einfach nur Hausaufgaben dabei. Mit Yu-chan gehe ich weiter zum Ballett und zum Juniortraining in der Eishalle, aber sie ist nicht so fröhlich wie sonst. Ich würde sie gerne aufheitern, aber ich weiß nicht wie. Sie redet auch anders und ich habe ständig das Gefühl, dass sie etwas verschweigt. Es ist, als wären wir irgendwie keine Freunde mehr.

In den Pausen in der Schule bin ich deswegen oft alleine. Nishigori ist bei seinen Kumpels und Yu-chan meist bei Sayo und Mitsu. In der Klasse habe ich keine Freunde, also verbringe ich meine Zeit mit Lesen in der Bibliothek. Nach einer Weile schwirrte doch wieder „Die Schneekönigin“ in meinem Kopf herum und ich habe es gesucht, aber nicht mit der Absicht es zu finden. Ich wusste einfach nicht, was ich sonst suchen sollte. Das Märchen gibt es tatsächlich in unserer Schlusbibliothek, aber in einer Sammlung, sodass schnell erklärte, warum ich es zunächst einmal beim bloßen Überfliegen der Buchtitel nicht gefunden habe.

Seit ein paar Tagen lese ich es jetzt. Es ist viel länger und irgendwie ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Kay hat Gerda nicht sofort für die Schneekönigin fallen lassen und irgendwie macht die Schneekönigin auch nicht den Eindruck, böse zu sein. Der Spiegel ja, aber die Schneekönigin nicht. Sie wird mit einer wunderschönen Schneeflocke verglichen, die die Kleinen durch die Luft tanzen lassen kann. Es klingt viel mehr danach, als sei sie so sehr damit beschäftigt unterwegs zu sein, dass sie kaum Gesellschaft hat und immer nur alleine ist...

„Hey, Fetti-chan.“

Ich hebe den Kopf. Nishigori steht zwischen zwei Regalen und winkt mich zu sich. Irritiert klappe ich das Buch zu und gehe zu ihm. Er sieht ständig links und rechts, als wollte er sicherstellen, dass uns keiner sieht und hören kann.

„Ist Yuko-chan immer noch sauer?“, fragt er.

„Vielleicht nicht mehr...“, antworte ich ihm, aber ich weiß es ja auch wirklich nicht. Yu-chan und ich reden ja nicht darüber.

„Himmelt sie den aalglatten Schleimscheißer immer noch an?“

„Ich glaube schon.“

„Was findet sie an dem? Er hockt doch sowieso in Russland, das ist viel zu weit weg!“, mokiert sich Nishigori und ich schaue betreten auf meine Füße. Was soll ich dazu sagen? Ich habe keine Ahnung wie er aussieht oder wie er ist. Aber ich glaube auch nicht, dass Yu-chan lügt und dann ginge es ja auch nur ums Eislaufen. Sie verbringt ja trotzdem noch Zeit mit mir und ist freundlich zu allen...

„Wir müssen Yuko-chan wieder auf uns aufmerksam machen“, beschließt Nishigori mit einem Mal.

„U-und wie willst du das machen?“, frage ich zögerlich. Yu-chan hat ja keinen Streit mit mir.

„Wir schenken ihr etwas“, nuschelt Nishigori verschwörerisch. „Bald ist doch dieser Tag, an dem die Jungs den Mädchen Schokolade schenken...“

„Aber wir haben doch gar keine Schokolade von ihr bekommen?“, bemerke ich und Nishigori haut mir sofort den Hinterkopf. Aua!

„Ist doch egal, Fetti-chan. Frag' deine Mutter, ob sie welche besorgen kann,“ hält er mich an. „Du versuchst es zuerst. Wenn sie das annimmt, versuch ich's auch, dass sie wieder mit uns redet.“
 

St. Petersburg, 05. Oktober 2017
 

Die Sendung läuft und ich bin mir noch nicht ganz sicher, was ich davon halten soll. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht mehr Kind bin oder einfach weniger Russisch verstehe, als ich denke. Die kleinen Zuschauer haben zwar ordentlich Spaß wie es scheint, aber es ist in der Tat mehr Show als irgendwas anderes. Es ist auch irgendwie verständlich, denn selbst wenn ein Prominenter vier Wochen lang mit einem Profi für diese Sendung übt, schafft es in der Sendung trotzdem niemand, auch nur halbwegs etwas aufzuführen, das in Richtung Eiskunstlauf geht. Viele sind bisher einfach vorwärts und rückwärts in Schlangenlinien gefahren, einige haben es auch geschafft, sich ein paar Mal im Kreis zu drehen oder auf einem Bein ein paar Meter zu gleiten. Alle versuchten Sprünge sind mit Glück ein großer Hopser geworden und haben bei Misslingen natürlich für ordentlich Belustigung gesorgt. Für die nötige Unterhaltung drumherum tun Musik, Kostüme, LED-Bildschirme und Scheinwerfer ihr Bestes und das so gut, dass ich manchmal schon gar nicht mehr aufs Eislaufen geachtet habe.

Mit großer Spannung huschen die Blicke der Kinder immer wieder zur der Holztür, die seit dem Eröffnungsschaulaufen am Rand der Eisfläche aufgestellt und verschlossen ist. Viktor war bis jetzt noch nicht zu sehen gewesen und wahrscheinlich sind Jelena und ich nicht die Einzigen, die vermuten, dass die Tür für ihn bestimmt ist. Wenn man genau hinsieht, dann sind die aufgemalten Muster ähnlich derer, die man aus dem Film kennt.

„Mir ist was eingefallen“, sage ich an Viktor gerichtet, der mit mit dem Kopf auf meinen Oberschenkeln liegt, um sich im Nacken kraulen zu lassen. Aber so langsam tut es doch weh. Man soll nicht meinen, wie schwer ein Kopf mit der Zeit werden kann.

„Hm?“, kommt es kaum hörbar von ihm. Er macht natürlich keine Anstalten, sich wieder aufzurichten.

„Was mich als Kind interessiert hat“, füge ich hinzu. „‚Die Schneekönigin‘. Also das Märchen, nicht der Film.“

„Von Hans Christian Andersen?“, will Jelena wissen, die sicherheitshalber nochmal unsere Tassen kontrolliert, ob wir schon ausgetrunken haben. Offenbar ist weniger als halbvoll nicht mehr genug, denn sofort hat sie beide Tassen in der Hand.

„Ich weiß nicht genau, wer es geschrieben hat,“ antworte ich ihr, „Yuko hat das Märchen damals sehr gerne gemocht.“

Jelena zwinkert, deutet auf Viktor und schlappt in die Küche, Makkachin folgt ihr.

„Und deswegen wolltest du es auch lesen?“, fragt Viktor und dreht sich jetzt doch auf den Rücken, um mir ins Gesicht schauen zu können.

„Ja“, gestehe ich und schiebe meine Hände unter seinen Kopf, um ihm zu verstehen zu geben, dass er sich wieder aufsetzen soll. Viktor erhebt sich widerwillig, aber er hat keine Ahnung, wie toll das Gefühl ist, wieder Leben in den Beinen zu haben.

„Warst du in Yuko verliebt?“, fragt er ohne Vorwarnung und ich fühle mich sofort ertappt. Warum muss er eigentlich immer mit der Tür ins Haus fallen?

„Ein bisschen...“, antworte ich vorsichtig. Wahrscheinlich verrät mich mein Gesicht eh schon, aber sicher ist sicher.

„So ‚ein bisschen‘ wie du zuerst mit mir zusammen warst?“, fragt er weiter mit hochgezogenen Augenbrauen. Warum kann er auch im zweiten Anlauf die Fragerei nie bleiben lassen?

„Ich war erst elf, Viktor“, erkläre ich mich und hoffe, dass ihm das jetzt reicht, „Es ist auch nie etwas draus geworden. Das weißt du. Sie und Nishigori gingen schon recht früh miteinander.“

Bevor Viktor und ich zusammen gekommen sind, konnte ich diese bösen Fragen von ihm immer gut umschiffen, aber mittlerweile klappt das nicht mehr so gut. Oft merke ich es erst dann, wenn Yurio mich fragt, warum der Alte schon wieder die Backen aufplustert und er schon einige Zeit mit mir beleidigt ist.

„Ja“, murmelt Viktor und greift nach meinem Arm, um mich festzuhalten. Und eifersüchtig ist er auch schon wieder, scheint mir. Aber das muss er nicht, schließlich...

„Nishigori war eifersüchtig auf dich.“

Er schaut mich entgeistert an. „Auf mich?“

„Ja“, sage ich und muss lachen, jetzt wo ich mich plötzlich wieder an alles erinnere. „Und ich auch.“

Jelena kommt zurück und muss lachen, so wie jedes Mal, wenn Viktor wieder meint, dass ich ihm im nächsten Augenblick wegrenne. Ein bisschen kann ich zwar verstehen, warum und leider hab ich es mit meiner Aktion in Barcelona auch nicht besser gemacht, aber Sorgen muss er sich absolut keine machen. Sonst hätte ich das mit dem Ring ganz bleiben lassen können, von dem Umzug ganz zu schweigen und gewissen anderen Dingen, die die Zukunft bringen wird, auch.

„Yuko war schon einige Zeit vor mir von deinem Eislaufen begeistert. Wir kamen darauf zu sprechen, als sie uns ihr Lieblingsmärchen vorstellte.“

„Und das war ‚Die Schneekönigin‘?“

„Ja. Sie beschrieb die Schneekönigin mit eisblauen Augen und langen, silbernen Haaren und einem wunderschönen Gesicht. Ihre Freundinnen mutmaßten, dass sie bei der Beschreibung aber eher an dich dachte, als an die Schneekönigin. Yuko hat das vehement abgestritten, aber Nishigori und ich wurden eifersüchtig.“

Viktor wartet gespannt, dass ich weitererzähle. Ich weiß schon, dass es ungewöhnlich ist, dass ich ohne Aufforderung von mir selbst berichte und er will sicherlich wissen, wann sein großer Auftritt in dieser Geschichte kommt.

„Nishigori hatte in Yukos Heften geschnüffelt, bis er dein Foto gefunden hat. Yuko war davon sehr verletzt und wollte danach nicht mehr mit Nishigori reden. Ich dachte, wir könnten keine Freunde mehr sein und nach einer Weile wollte Nishigori ihr als Wiedergutmachung Schokolade schenken. Ich habe einfach mitgemacht, weil ich nicht mehr wollte, dass Yuko und Nishigori streiten, aber letztendlich hat Nishigori dabei den ersten Schritt getan, sich ihr wirklich ernsthaft zu nähern.“

„Wow, und du hast das nicht bemerkt?“

„Das hättest du jetzt nicht sagen müssen“, grummele ich, weil er natürlich recht hat. Es war vollkommen an mir vorbei gegangen. Aber ich war auch erst elf! Etwas angesäuert fahre ich fort: „Yuko war danach nicht mehr böse, aber sie wollte, dass wir uns anschauen, wie du eisläufst. Weil wir dir durch unsere Eifersucht Unrecht getan hätten.“

„Und dann?“

„Tja, und dann...“, beginne ich etwas verlegen, „habe ich den Schneekönig doch gesehen. Und konnte seitdem an niemand anderen mehr denken.“

Viktor sagt nichts darauf, aber seine Wangen werden rosa.

„Yuko sagte damals, ich erinnere sie an Kay, weil sie gerne mit mir befreundet war“, sage ich und muss irgendwie über mich selbst lachen bei dem Gedanken. „Ihre Freundschaft war mir so wichtig, dass ich ‚Die Schneekönigin‘ aus Eifersucht heraus erst nicht gelesen habe. Aber als ich es dann doch tat, hatte ich irgendwie den Eindruck, dass die Schneekönigin vielleicht nur einsam war und deswegen Kay bei sich haben wollte. Und irgendwie stimmt das ja auch ein bisschen.“

Zuerst sagt Viktor gar nichts, aber mit einem Mal fängt er lauthals an zu lachen.

„Schhh, Viktor!“ Jelena gestikuliert energisch in Richtung Fernseher, weil sein Auftritt gleich anfängt und sie hören will, was geredet wird. Er versteht und lehnt sich dicht zu mir.

„Was ist los?“, frage ich ihn verwundert, aber statt mir zu antworten, drückt er seine Lippen auf meine. Völlig überrascht kann ich nicht anders, als ihn gewähren zu lassen und als wir uns lösen, hören ich schon die Anmoderation seines Auftritts in der Sendung.

„Gerda hat den Troll geheiratet“, flüstert er mir zu. „Aber trotzdem sind alle glücklich geworden.“

Da hat er nicht ganz Unrecht, staune ich, bevor der Applaus und die Melodie von Vivaldis „Winter“ unsere Blicke wieder auf den Fernseher lenken. Manchmal, resümiere ich mit dem Geschmack von Honig und Liebe auf den Lippen, schreibt das Leben einfach die besseren Märchen.
 

~ENDE~


Nachwort zu diesem Kapitel:
„Let it go“ feat. Vivaldi's „Winter“

Liebe Leser,
Ich hoffe, es hat euch gefallenubd freue ich mich jederzeit über euer Feedback :)
LG,
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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  Maravillosa
2019-02-02T21:18:44+00:00 02.02.2019 22:18
Hallo Flokati :-)
Diese Geschichte ist ja sowas von süß, ich möchte den kleinen Yuuri auch gerne mal fest drücken ;-)
Habe die Serie vor kurzem erst fertig geschaut und lese jetzt suchtartig Fanfiction, weil die Staffel einfach vieeel zu kurz war... Dabei bin ich auf deine tolle Geschichten-Reihe gestoßen und habe schon fast alle gelesen, vielen Dank für diese Erweiterung der Folgen, Victors und Yuuris Beziehung wird so liebevoll dargestellt und bei Yurios Szenen musste ich meist lachen :-D
An dieser Geschichte mag ich besonders, dass es den Yuuri in jungen Jahren beschreibt und diese alltägliche Beziehung-Situation, wie auf der Couch lümmeln und fernsehen, bei Yuuri und Víctor.
Ich hoffe du hast noch viele Ideen für so schöne Geschichten!
Viele Grüße!
P.S.: Der verlinkte Song gefällt mir wahnsinnig gut!!
Antwort von:  Flokati
03.02.2019 21:22
Hallo Maravillosa :)
Vielen Dank für deinen Kommentar! Das freut mich wirklich sehr, wenn ich das Bedürfnis nach mehr von Yuuri und Viktor stillen konnte, denn ja, zwölf Folgen waren einfach zu wenig. Aber der Film steht ja an! :D
Ich werde mir natürlich Mühe geben, noch andere, schöne Geschichten zu schreiben! Und der Song gefällt mir auch wahnsinnig gut, ich war richtig froh, dass das ich noch einbauen konnte! ^^
LG,
Flokati
Von:  Makain
2019-01-04T16:01:34+00:00 04.01.2019 17:01
Hey wie immer super geschrieben und sehe interessant ich freue mich auf die noch kommenden Kapitel. 😆😀🤓
Antwort von:  Flokati
04.01.2019 19:09
Hi,
Vielen Dank für den Kommentar! Es freut mich, wenn dir die FF gefallen hat ^^
Leider ist die Geschichte mit diesen drei Kapiteln abgeschlossen.
Ich hoffe, das ist in Ordnung.
LG, Flokati
Von:  Lexischlumpf183
2018-12-21T09:28:43+00:00 21.12.2018 10:28
Cute 😍😍 schöne Story, ich hab sie mit einem Lächeln und viel Freude gelesen. Da is dir was sehr schönes gelungen 😃🥛🍪🍩
Antwort von:  Flokati
21.12.2018 21:07
Vielen lieben Dank, das freut mich :)
Von:  Nazzu
2018-12-18T23:47:18+00:00 19.12.2018 00:47
Es war ein schöner Genus, wieder eine Geschichte von dir zu lesen.
Und ich muss zu stimmen klein Yuuri ist ein fach nur Sweet X3.

LG Nazzu
Antwort von:  Flokati
19.12.2018 07:51
Hi :)
Vielen Dank, das freut mich!
LG, Flokati


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