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Feliz Navidead

von

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HO HO HOrror

Der kleine Ned war gerade neun Jahre, 50 Wochen, zwei Tage und sieben Stunden alt, als er zum ersten Mal nach dem zweifachen Tod seiner Mutter und dem Herausreißen aus seinem gewohnten Umfeld, die nicht ganz so heile Welt der Schule für Jungen von North Thrush verließ und die ebenfalls nicht ganz so heile Welt außerhalb eben jener Schule betrat.

Es war kurz vor Weihnachten und am Tag vor diesem Ausflug hatte jedes Kind in der letzten Unterrichtsstunde einen Zettel ausgehändigt bekommen, um darauf einen Wunsch für das baldige Fest zu verfassen und an Santa Claus zu übergeben, auf dass es ihm erfüllt wurde.

Ned wusste, dass sein größter Wunsch, nämlich der, dass seine Mutter wieder lebte, nie mehr wieder in Erfüllung gehen würde. Und weil auch sein zweitgrößter Wunsch, dass sein Vater sich endlich besann und seinen Sohn zu sich nahm, seit Halloween ebenso passé war, hatte Ned nach einigem Überlegen seine dritt-, viert- und fünftgrößten Wünsche auf den Zettel geschrieben: Digby, ein neues Halsband für Digby und ein Paar Handschuhe, damit er Digby das neue Halsband auch gefahrlos anlegen konnte.

Diese drei bescheidenen, aber von Herzen kommenden Wünsche hielt Ned nun fest in seinen nervösen Händen, während die Schlange aus wartenden Kindern immer weiter voranschritt. Aufgeregt reckte Ned seinen Kopf zur Seite, um an seinen Vorgängern vorbeischauen zu können. Eigentlich fand er sich bereits viel zu alt, um noch Wunschzettel zu schreiben, doch in diesem Jahr war ohnehin alles anders. Dieses Mal stand er in einer Reihe wartender Kinder und hoffte, dass Santa echt war und ihm seine Wünsche erfüllte.

 

Ein Kind nach dem anderen trat aus der Reihe, sobald es ganz vorne stand, ging die Stufen zu Santa hinauf, antwortete mit artigem Kopfnicken auf das Gemurmel des weißbärtigen Mannes und hüpfte gleich darauf mit strahlendem Gesicht die Stufen wieder hinab, um am Ende noch ein kleines Präsent und ein Foto von sich und Santa zu bekommen.

Als Ned am Anfang der Schlange angekommen war und nun selbst darauf wartete, bis das Kind, das noch bei Santa saß, endlich fertig war, dem Mann seine ellenlange Liste an Wünschen noch einmal persönlich von seinem zerknitterten Zettel vorzulesen, damit auch ja jedes einzelne Ding Beachtung fand, fand Ned etwas vollkommen anderes von äußerster Beachtung: Santa. Dessen Kopf war während der Litanei seines kleinen Besuchers unbemerkt von allen anderen immer weiter Richtung Brust gesunken. Das Kind auf seinem Schoß schien das als Zeichen davon zu deuten, dass Santa es nicht richtig verstand und begann, seine ganzen Wünsche noch einmal von vorne in voller Lautstärke vorzutragen. Zufrieden stand es auf, warf seinen Wunschzettel in die golden glänzende Box neben Santas Ohrensessel und schlenderte gut gelaunt von dannen.

Ned, der mit angehaltenem Atem am Anfang der Schlange stand und fieberhaft überlegte, wann denn endlich die anwesenden Erwachsenen bemerkten, dass etwas ganz und gar nicht mit Santa stimmte und es sicher nicht an dessen schief sitzendem zerzaustem Kunstbart oder dem hervorschauenden Hosenbein aus Jeansstoff lag, spürte plötzlich einen heftigen Stoß in seinem Rücken, der ihn in Richtung Santa stolpern ließ.

 

Die folgenden Ereignisse sollten den kleinen Ned in den nächsten Jahren nie mehr wieder an einem Ausflug zu Santa teilnehmen lassen. Durch den Stoß in seinen Rücken nach vorne befördert, glitt Ned auf der Stufe aus, die zu Santas Sitzplatz hinaufführte. Nach Halt suchend griff er ausgerechnet nach dem einzigen, was ihm keinen geben sollte: Santas Hand, die augenblicklich von einem goldenen Schimmer umgeben wurde, der sich immer weiter ausbreitete, bis auch der Kopf des offensichtlich unbemerkt Verstorbenen davon eingehüllt war.

In eben diesem Augenblick fuhr Santas Kopf in die Höhe, als hätte ihn jemand wieder eingeschaltet. Was, wenn man es genau betrachtete, auch genauso geschehen war.

Die glasig schimmernden Augen rollten orientierungslos in ihren eingefallenen Höhlen umher, bis sie schließlich den zu Tode erschrockenen Ned vor sich erblickten, der mit offenem Mund den Wiederbelebten anstarrte. Santas ungesund bläulich verfärbte Lippen öffneten sich zu einem viel zu breiten Grinsen, das blassrotes Zahnfleisch entblößte und den Jungen vor sich etwas auf Abstand gehen ließ.

Ein schaurig kratziges Ho Ho Ho ertönte und wurde von der schlimmsten Frage abgelöst, die man Ned in diesem Zusammenhang jemals gestellt hatte.

"Warst du auch ein braver Junge?" Santas anschließendes Lachen klang wie eine Mischung aus rostigen Nägeln und Glasscherben, die unter einem riesigen Stiefel zermalmt wurden.

Ned tat das einzig richtige. Statt zu antworten fuhr er nach vorne und schlug Santa mitten ins Gesicht. Das Klatschen seiner Hand auf der Stirn des alten Mannes ließ die Leute in ihrer direkten Umgebung auf der Stelle verstummen.

Der zuerst friedlich verstorbene, dann aus Versehen wiederbelebte und nun erneut tote Santa sackte ein letztes Mal in sich zusammen. Sein Kopf sank nach hinten und blieb in genau dieser Position, während man den Übeltäter von Santas Podest herunterzog.

"Das gibt 'nen Eintrag in die Bösen-Liste. Auf ewig!", zischte ein wütend aussehender Elf den blassen Ned an.

Bevor Ned endgültig aus dem Weihnachtsland verbannt wurde, wurde ihm noch ein Stück Kohle anstelle eines Präsents und ein Foto in die Hand gedrückt. Darauf sah man den kleinen Ned mit erhobener Faust vor Santa stehen, der mit in den Nacken geneigtem Kopf und an den Seiten herabhängenden Armen in seinem Sessel saß.

K.O. in der zweiten Runde.

 

'Twas the Fight Before Christmas

Neunzehn Jahre, eine Woche und 39 Minuten später:

"Wir haben ein Problem." Die verzweifelten Blicke des Kuchenbäckers suchten hektisch den Boden unter dem Barhocker ab, auf dem er mit angezogenen Beinen saß. "Ein klitzekleines Problem..."

"Du untertreibst mal wieder maßlos, Kuchenjunge", war die brummelige Antwort von Emerson Cod, dem genialsten weil spitzfindigsten Privatdetektiv in ganz Papen County, der trotz der kürzlich aufgekommenen Unruhe im Pie Hole unbeeindruckt auf seinem Platz sitzen blieb und weiter seinen Drei-Pflaumen-Kuchen genoss. "Genau genommen hast du ein zwölf Mäuse und ein Hamster-Problem, wenn ich mich nicht verzählt habe, aber wer kann das schon sagen bei dem ganzen Gewusel in deiner Backstube?!"

"Ein Hamster?" Neds Stimme schwankte und wurde schließlich zu einem heiseren Flüstern. "Warum denn bloß ein Hamster?", presste er mühsam hervor und schlang die Arme um seine angezogenen Beine.

"Ach, der Hamster ist also dein größtes Problem?" Emerson grinste schief über seine Gabel mit dem aufgespießten Stück Kuchen hinweg den Kuchenbäcker an, der wie ein Vogel mit Höhenangst auf dem hellen Sitzpolster des Barhockers kauerte.

Ein ohrenbetäubendes Scheppern aus der Backstube ließ den ohnehin schon überreizten Ned heftig zusammenzucken.

"Deine Mäuse mögen wohl keinen Kuchen", witzelte Emerson und schob das letzte Stück Drei-Pflaumen in seinen grinsenden Mund.

"Ich hasse Mäuse!" Es schepperte erneut. Dann ein Fluchen. Dann ein Klirren. Und dann Stille, die nichts Gutes verhieß.

"Hey, Winzling", rief Emerson fröhlich über die Theke hinweg in Richtung Backstube.

Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte endlich Olives Kopf hinter der Durchreiche zwischen Theke und Backstube auf. Wirre Haarsträhnen hingen ihr ins gerötete Gesicht und in ihrer erhobenen Hand hielt sie eine verbeulte Schöpfkelle.

"Welche der Porzellanschüsseln war noch gleich die Wichtige, die auf keinen Fall kaputt gehen darf?", erkundigte sich Olive vorsichtig bei ihrem blassgewordenen Arbeitgeber.

"Alle?" Ned schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft.

Ehe Olive die Entschuldigung murmeln konnte, die ihr auf der Zunge lag, hatte Emerson das Wort ergriffen.

"Der Fall ist doch glasklar." Gewichtig legte der Privatdetektiv die Gabel auf den leeren Teller und tupfte sich die Mundwinkel mit der Serviette ab. "Du wirst das Pie Hole wohl 'ne Weile schließen müssen."

"Auf gar keinen Fall!", fuhr Ned auf und vergaß einen Moment, warum er mit angezogenen Beinen auf dem Barhocker gesessen hatte. Er sprang von seinem Sitzplatz herab und huschte hinter die Theke. "Nicht an Weihnachten! Hier läuft alles weiter wie immer! Siehst du? Alles wieder gut. Die Mäuse waren nur Einbildung. Eine Mäuse Morgana. Optische Mäuse-Täuschung."

"Verdammte Maus!" Die verbeulte Schöpfkelle knallte neben Neds Fuß auf den Boden und bekam noch eine Beule mehr.

"Also doch schließen?" Emerson lächelte mildtätig den Kuchenbäcker an, der wenige Sekunden, nachdem Olive dessen Fuß beinahe zu Brei geschlagen hatte, um die Maus daneben zu erwischen, wieder mit angezogenen Beinen neben dem Privatdetektiv auf dem Barhocker saß.

Ned nickte verängstigt. "Schließen..."

 

 

"Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee war", unkte Ned schüchtern und sah mit in den Nacken gelegtem Kopf zu der riesigen Leuchtreklame empor, die über ihnen prangte.

Kringels Pop-Up Christmas Carnival, blinkte es in allerlei weihnachtlich anmutenden Farben, dass einem vom bloßen Hinsehen schon schwindelig wurde.

"Du wolltest doch unbedingt an Weihnachten arbeiten, oder nicht?" Emerson hielt den Zettel in der Hand, den Olive praktischerweise - aber keineswegs zufällig, wie sie am Ende des Tages noch feststellen würden - im Briefkasten des Pie Holes entdeckt hatte, kurz nachdem die Mäuse und der Hamster die Regentschaft darin übernommen hatten.

"Also ich mag die Idee." Chucks Augen strahlten glücklich. "Ist mal was anderes als Weihnachten in einem chinesischen Restaurant zu verbringen, weil sonst alles geschlossen hat."

"Das Pie Hole wäre mir trotzdem lieber", murrte Ned und ließ die Blicke über die Menschenmenge gleiten, die auf die beiden mit Girlanden verzierten Eingänge des Weihnachtsdorfes zuströmte. "Hier ist sicher ein Santa – oder mehrere..."

"Na und?" Emerson sah Ned verständnislos an. "Was hast du gegen Santa? Santa ist ein guter Mann. Santa hört zu. Santa erfüllt Wünsche. Santa-"

"Ich habe mal Santa getötet."

Emerson seufzte und schüttelte ungläubig den Kopf. "Warum wundert mich so etwas nicht, wenn es aus deinem Mund kommt..."

"Vielleicht finden wir ja noch eine andere Beschäftigung", verlegte sich Ned aufs Verhandeln.

"Humbug!", unterbrach Emerson das Gejammer seines Nebenmannes und schob den widerstrebenden Kuchenbäcker außer Dienst zu dem ungeschmückten Eingang hin, über dem ein Schild mit der Aufschrift Zutritt nur für Personal hing. "Immerhin gibt es hier keine Mäuse und vermutlich auch keinen Hamster." Emersons ausgestreckter Zeigefinger betätigte die Klingel neben dem Personaleingang. Der Refrain von Jingle Bells erscholl.

"Ihr werdet doch wohl nicht ohne uns anfangen", erklang es empört hinter den Dreien. Mühsam zwängte sich Olive zwischen den Menschen vorbei, die nur widerwillig Platz machten, wenn die kleine Frau ihn sich mit ihren spitzen Ellenbogen hart erkämpfte. Dicht an Olives Seite tapste ein etwa kniehohes, für seine Winzigkeit zu längliches und um die Hüften seltsam unförmig anmutendes Rentier einher, das gleichzeitig bellte und grunzte. Glücklich, ihre Freunde noch rechtzeitig eingeholt zu haben, hakte sich Olive gleich bei Ned unter und sah gespannt in die Runde. Der Hintern des Rentiers grunzte.

"Tut mir leid, dass wir zu spät sind", sah sich Olive zu einer Erklärung genötigt. "Ich musste Pigby erst besänftigen", sie senkte die Stimme, "ich glaube, er war beleidigt, weil er das Hinterteil bekam." Olive zeigte auf das längliche Rentier, dessen Körper gerade einen 90° Winkel bildete und sich im Kreis zu drehen begann.

Chuck und Ned sahen gespannt zu Olive, die wieder zu flüstern begann. "Ich habe ihm dann erklärt, dass Digby eben größer ist und es doch dumm aussehen würde, wenn der Hintern des Rentiers den Kopf überragt. Oder nicht?"

Chuck nickte zustimmend. "Es ist ein wirklich niedlicher Hintern."

"Danke!" Olive sah zu Ned auf. "Und was meinst du? Findest du ihn auch hübsch? Hast du mal einen hübscheren Hintern gesehen?"

"Also ich- ich bin nicht so der Fachmann für-", stotterte Ned kleinlaut und machte einen Schritt von Olive weg, darauf bedacht, dem Rentierkopf nicht zu nahe zu kommen. "Aber ich würde sagen-"

"Himmelnocheins", blökte Emerson ungeduldig dazwischen, ehe noch jemand ein weiteres Kompliment an irgendwelche Rückseiten abgeben konnte. "Sind jetzt alle Elfen und alle Rentierhintern bereit?", setzte er betont vergnügt hinzu und drückte noch einmal fest auf die Klingel, die sich ob dieser rüden Behandlung beleidigt verhakte und von da an Jingle Bells in Dauerschleife von sich gab.

 

 

"Also die kaputte Klingel wird euch wohl vom Lohn abgezogen, aber das dürfte ja klar sein, nicht wahr?!"

Missmutig folgten die Vier dem Mann, der sie am Personaleingang in Empfang genommen und sich als Rudolph, der Chefaufseher aller Kringel-Mitarbeiter vorgestellt hatte.

Emerson lächelte milde. "Ist mir egal, als Santa werde ich ja wohl genug verdienen, um zweihundert Klingeln zu bezahlen."

Rudolph blieb abrupt stehen und fing schallend an zu lachen.

"Santa?", rief er zwischen zwei Lachsalven aus. "Das kannst du dir gleich mal abschminken, mein Freund. Den roten Mantel muss man sich erst verdienen und dafür seid ihr sicher nicht lange genug hier!"

Emerson spürte, wie plötzlich all die ganz und gar nicht weihnachtlichen Gefühle in ihm aufstiegen. Am liebsten hätte er diesen Typen an seinem lächerlichen Uniformkragen gepackt und ihm gezeigt, wo der Tannenbaum die Zapfen hat.

"Also noch mal von vorne." Mr. Wichtig baute sich vor der Vierergruppe auf und zeigte nacheinander auf alle. "Du", er zeigte auf Olive, "gehst zu den Wunschzetteln. Und du-", die Reihe war an Chuck, "hast die Ehre, zur ZMF zu kommen."

"ZMF?", hakte Chuck interessiert nach. "Zentrale für Magisch-weihnachtlichen Früchtekuchen?"

"Knapp daneben." Rudolph lächelte matt. "Zuckermandelfee. Sie hat das Kinderparadies unter sich."

"Oh, Kinder, toll!" Chuck strahlte über das ganze Gesicht. "So viele glückliche Kinderaugen, Füße, die nicht stillstehen können und Münder, die vor Freude nur am Plappern sind", schwärmte sie entzückt.

Rudolph stieß die Luft durch die Nase aus. "Es wird so lange toll sein, bis die ersten anfangen sich zu übergeben, nach ihren Mamis heulen oder sonst irgendein Chaos anrichten. Außerdem-", er versuchte, das gehässige Grinsen zu unterdrücken, was ihm nur leidlich glückte. "Außerdem seid ihr der Bereich, der nach Feierabend am längsten hierbleiben muss, um aufzuräumen. Also ja, viel Spaß im tollen Kinderparadies!"

Emerson, dem mittlerweile die Lust am Job vergangen war, ohne dass er wusste, welcher Bereich überhaupt sein Job sein würde, versuchte, sich so klein wie möglich hinter Ned zu machen. Doch Rudolph zeigte nun ausgerechnet auf ihn.

"Unser Herr Möchtegern-Santa geht zur Verpackung."

"Was?", fuhr Emerson empört auf. "So ein Unfug! Ich habe im Leben noch kein Geschenk vergeben, geschweige denn verpackt."

"Keine Sorge", tat Rudolph verständnisvoll. "Du kommst ans Ende der Verpackung. Du wirst das Geschenkband ringeln."

Emerson verdrehte die Augen.

"Bleibst noch du", murmelte Rudolph und sah sich dabei Ned von oben bis unten an. "Du gehst zur Weihnachtsbäckerei."

Ned atmete erleichtert auf. Was besseres hätte ihm gar nicht passieren können.

Alle schienen mehr oder weniger zufrieden über ihre Einteilungen zu sein. Nur Digby gab ein leises Winseln von sich, das von einem ebenso leisen Grunzen erwidert wurde. Kopf und Hintern waren sich einig.

Wreck the Halls

"Und hier ist die Weihnachtsbäckerei."

Sie standen vor einem Lebkuchenhaus in vermutlich Lebensgröße, denn wenn es Hänsel & Gretel wahrlich gegeben hätte, dann wäre dies das Hexenhaus aus dem Märchen. Rot-weiße Zuckerstangen in der Größe von Spazierstöcken waren um das Haus herum aufgereiht, die Dachziegel waren flache, mit Mandeln verzierte Lebkuchen und die Fenster aus bunten geschmolzenen Bonbons.

Ned blieb vor Staunen der Mund offenstehen. Er war versucht, sich etwas von dem Zuckerguss des Lebkuchenhauses abzubrechen, um zu probieren, ob es tatsächlich richtiger war, doch der süße Duft, der alles umgab, sagte ihm auch so, dass es echter Lebkuchen, echter Zuckerguss und echte Bonbons waren.

Kringels Pop-Up Weihnachtsdorf war ungelogen ein eigenes Dorf in Miniaturform.

"Und alles nur, damit die Eltern in Ruhe einkaufen und sich ohne ihre nervige Brut vergnügen können", erklärte Rudolph stolz als hätte er die Gedanken des Kuchenbäckers gelesen. "Dann ist es jetzt wohl an der Zeit, dich deinem Chef vorzustellen."

 

"Hey, Nussknacker, hier ist dein neuer Handlanger. Und er schaut gar nicht mal so dumm aus, wenn du mich fragst."

"Also ich muss schon bitten..." Säuerlich sah Ned Rudolph an, der die Tür zur Bäckerei aufgestoßen hatte und den Kuchenbäcker hineinschob.

"Oh, endlich, ich habe schon auf Sie gewartet!" Ein Mann in dunkelblauer Husarenuniform und mit gezwirbelten Bartspitzen kam freudestrahlend auf sie zu. Er griff nach Neds Hand und schüttelte sie erfreut, wie Ned leicht amüsiert zur Kenntnis nahm. Sein Griff war fest und das Schütteln wirkte nach einiger Zeit, in der er partout nicht loslassen wollte oder konnte, verzweifelt – passend zu seinem wie eingemeißelten Lächeln, das die roten Wangen noch mehr betonte.

"Na dann lasse ich euch mal alleine und schaue nach, was die anderen drei Grazien so machen." Rudolph stolzierte davon und endlich ließ der Nussknacker Neds Hand los.

"Freut – freut mich ebenso", Ned öffnete und schloss seine Hand, um sicherzugehen, dass auch nichts gebrochen oder ausgerenkt war. "Reden sich hier eigentlich alle mit den Namen ihrer Rolle an?"

Der Nussknacker blinzelte kurz als verwirre ihn die Frage. "Natürlich."

"Dann bin ich wohl der Kuchenbäcker – hier und Zuhause irgendwie auch."

"Freut mich", rief der Nussknacker und machte abermals Anstalten, Neds Hand ein weiteres Mal zu ergreifen, um sie zu schütteln, doch der Kuchenbäcker reagierte schneller und schob seine Hände in die Hosentaschen.

"Wo bekommt man hier denn eine Schürze her?", lenkte Ned geschickt vom Thema ab.

Der Nussknacker lächelte und nickte in eine Richtung. "Komm mit."

 

 

Emerson pustete empört die Backen auf und rollte mit den Augen. "Nie im Leben lasse ich das Zeug an!", polterte er die zierliche Frau an, die etwas peinlich berührt vor sich hin murmelte und an einem roten Gürtel zupfte, der sich gefährlich eng um Emersons Bauch spannte. Sie pustete sich eine ihrer feuerroten Ringellocken aus der Stirn und murmelte wieder etwas kaum hörbares.

"Ich kann Sie leider nicht verstehen", kommentierte Emerson entnervt das Gemurmel der kleinen Frau. Diese richtete sich plötzlich auf. Ihre Wangen waren rot angelaufen und sie stemmte ihre Hände seitlich in die Hüften.

"Ich sagte, dass Ihnen die Farbkombination sehr gut steht, Mister."

Emerson lächelte die Frau an. "Danke für das Kompliment", meinte er in einem Tonfall, der sein Lächeln Lüge strafte. Er versuchte, sein Spiegelbild zu ignorieren, das wie er eine rot-weiß geringelte Hose mit einem grünen Wams und Schuhe trug, deren Spitzen sich nach oben bogen.

"Hören Sie zu, Lady", säuselte Emerson und betonte dabei jede Silbe.

"Carol", unterbrach ihn sein Gegenüber unbeeindruckt. "Christmas Carol."

"Also schön, Carol", fuhr Emerson fort. "Sehen Sie mich doch einmal genauer an und überdenken Sie bitte Ihre Meinung."

Carol zuckte ahnungslos mit den Schultern, ohne den Privatdetektiv anzusehen.

Emerson strich mit beiden Händen langsam und bedeutungsvoll an seiner Vorderseite hinab. "Ich sehe aus wie die Dr. Seuss Version von Peter Pan", half er Carol auf die Sprünge.

"Ich finde-"

"Ja, Carol, ich weiß, wie Sie es finden." Emerson schloss die Augen und atmete tief ein und doppelt so tief aus. Heu-wä-gel-chen. Heu-verdammtes-wä-gel-chen-noch-mal-und-zugenäht.

"Nun, Sie haben gewonnen, Carol. Der große Emerson Cod gibt auf", sprach's und setzte sich das grüne Hütchen mit dem gekräuselten Geschenkband an der Spitze auf. Niemand würde ihn hier in dem Häuschen, das wie ein riesiges überdimensioniertes Geschenkpaket aussah, zu Gesicht bekommen - und wenn doch, wusste er, wie man Zeugen verschwinden ließ.

 

 

"Was hältst du von Rudolph? Ist er nicht ein kleinkarierter Stänkerer?" Die junge Frau, die wie eine Puppe gekleidet und geschminkt war, kicherte und ihre dicken Zöpfe aus blauer Wolle wippten dabei im Takt ihres Lachens mit.

Olive mochte Mary, oder Mary Christmas, wie sie sich ihr vorgestellt hatte, auf Anhieb. Außerdem konnte sie Rudolph ebenfalls nicht ausstehen, was ein weiterer Pluspunkt auf ihrer Skala für Leute mit der gleichen Wellenlänge wie sie selbst war.

"Ich glaube, es reicht, wenn wir dir ein Kleid geben, deine Haare sind schön genug", beschloss Mary fachmännisch. "Sie sehen auch so schon aus wie eine Perücke."

Olive stockte kurz in ihrer Bewegung. "Aber sie sind echt!"

"Selbstverständlich sind sie es", sprach Mary mit beruhigender Stimme auf Olive ein, die wie ein begossener Pudel da stand und an ihren Haarspitzen zupfte.

So etwas unerhörtes hatte noch niemand zu ihr gesagt. Olive fühlte eine plüschige Rentierschnauze, die ihre Hand wie zum Trost anstupste. Schnell schluckte Olive ihren Ärger hinunter und brachte sogar ein Lächeln zustande, obwohl sie das Gefühl hatte, gleich in Tränen auszubrechen.

 

 

Gemächlich schlenderte Chuck hinter der fröhlichen Frau her, die wie eine Ballerina angezogen war und quirlig den Weg durch einen Tannenwald entlang tänzelte. Sie schien nie länger als einige Sekunden stillzustehen. Ab und zu, wenn sie das Gefühl hatte, dass Chuck vor lauter Staunen nicht mehr nachkam, drehte sie sich um, machte ein paar Schritte zurück zu Chuck und ermunterte sie, weiterzugehen.

"Hier ist es wirklich wunderschön", hauchte Chuck ehrfürchtig. Sie spazierten durch eine künstliche Winterlandschaft, vorbei an einem kleinen extra angelegten eisbedeckten See, auf dem ein paar Kinder auf Schlittschuhen lachend ihre Kreise zogen. Künstlicher Schnee rieselte auf die ebenso künstlichen Tannen herab, und von der Decke hingen silbern schimmernde Sterne, die im Licht der versteckt angebrachten Strahler aufblitzten.

Mit jedem neu entdeckten liebevoll in Szene gesetzten Ding schlug Chucks Kinderherz höher und höher.

Die Zuckermandelfee lachte leise vor sich hin und ihr wallendes Tüllkleid raschelte. "Beeindruckend, nicht wahr?"

"Sind das da echte Kaninchen?", rief Chuck verblüfft, als sich die kleinen Fellknäuel im Halbdunkel des Fußes einer Tanne bewegten.

"Ja, selbstverständlich", freute sich die Zuckermandelfee über Chucks ständige Jubelrufe.

"Und sind das etwa Schienen?" Freudig klatschte Chuck in ihre Hände, als sie die beiden schimmernden Metallschienen auf dem Boden entdeckte, die sich in einem abgesperrten Teil des Waldes zwischen den Bäumen hindurch schlängelten.

"Noch besser: hier fährt sogar ein kleiner Zug!" Die Zuckermandelfee legte ihren Zeigefinger an ihre Lippen und bedeutete Chuck, still zu sein. Ein entferntes Tuten wie aus einem Mini-Schlot eines Mini-Zuges erklang und kurz darauf schnaufte er tatsächlich zwischen den Bäumen durch. Ein Zug im Kleinformat, mit einer Lok, die gerade so groß war, dass ein Erwachsener darin Platz fand. Hinter der Lok ruckelten kleine Waggons in denen auf kleinen Sitzbänken lachende Kinder saßen.

Die Zuckermandelfee winkte dem Zugführer zu, der zur Antwort die Signalpfeife des Zuges singen ließ. "Komm, wir gehen zum Bahnhof und helfen den Kindern beim Besteigen des Zuges", forderte die Zuckermandelfee Chuck auf, die bei der Erwähnung eines Bahnhofs ungläubig mit dem Kopf schüttelte.

 

 

Ned merkte schnell, dass ihn die Arbeit in der Weihnachtsbäckerei nicht erfüllte. Schlimmer noch, es machte sich lähmende Langeweile in ihm breit und er begann darüber nachzudenken, was sich wohl verbessern ließe. An seiner Situation leider nichts, aber das ein oder andere Rezept hier war ganz ausbaufähig.

"Ähm, Entschuldigung", Ned hielt einen der Bäckerelfen an. "Wo finde ich hier den Gewürzvorrat?"

"Oh, zu dem hat niemand außer dem Nussknacker Zugang."

"Heißt das, nur er hat einen Schlüssel dazu?", hakte Ned nach.

Der Elf sah sich schnell um, bevor er dem Kuchenbäcker antwortete. "Das nicht, aber wenn jemand außer ihm dort erwischt wird, gibt es 'ne saftige Strafe."

Ein Lächeln huschte über Neds Gesicht. "Nun denn, ich denke, diese Gefahr werde ich eingehen."

Der Elf wollte noch etwas hinzufügen, doch Ned klopfte ihm väterlich auf die Schulter. Das Gespräch war beendet. Er hatte alle Informationen bekommen, die er gewollte hatte. Der Elf durfte abtreten.

 

 

Nicht weit von der Weihnachtsbäckerei entfernt hob plötzlich die Zuckermandelfee wie auf ein unhörbares Kommando hin den Kopf. Sie schnupperte in sämtliche Himmelsrichtungen und sah sich dann irritiert um.

"Irgendetwas ist hier anders", raunte sie vor sich hin, während sie zusammen mit Chuck den Kindern, die als nächstes mit dem Zug fahren durften, dabei half, in den Waggons Platz zu nehmen.

Chuck hob ihre Nase und schloss die Augen. Ein wunderbarer Duft kroch über den verschneiten Styroporberg hinüber zu dem kleinen Bahnhof. Ein Duft nach Gewürzen und Honig und etwas, was nur einer Zustande brachte, wenn er buk.

"Das kommt von Ned", wisperte Chuck freudig.

"Wer ist Ned?", wollte die Zuckermandelfee nun neugierig wissen.

"Der Kuchenbäcker."

Die Zuckermandelfee seufzte bedauernd. "Ich wünschte, wir könnten schnell hinüber flitzen und uns etwas von dieser Köstlichkeit nehmen. Nur ein kleines bisschen..."

"Dann gehen wir in der Pause", schlug Chuck vor. "Wie ich Ned kenne, wird er schon genug backen. Da können wir dann jede Stunde hin."

"Bloß nicht!", rief die Zuckermandelfee auf. Sie war blass um die schmale Nasenspitze geworden. "Die Pausen sind hier streng reguliert. Wenn man uns außerhalb erwischt, bekommen wir eine Strafe."

Chuck seufzte leise auf. Das konnte ja heiter werden.

 

 

Währenddessen hatte Olive an ihrem Platz nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, welch wohlriechende Düfte draußen durch Kringels Pop-Up Christmas Carnival zogen, denn ihre Arbeitsstelle befand sich in einer gigantischen Schneekugel, wo sie inmitten von umherwirbelnden Kunstschneeflocken auf einer unbequemen Echtholzbank saß und darüber nachdachte, welchen Spaß ihre Freunde wohl gerade hatten. Dass dem ganz und gar nicht so war, sollte Olive so schnell nicht erfahren.

Ihre Frage nach einer kurzen Pause wurde von Mary mit einem hilflosen Lachen quittiert. Sollte jemandem der leere Platz zwischen den Wunschzettelschreibern auffallen, könnte das die Kinder verunsichern, die sich an den durchsichtigen gewölbten Wänden der Schneekugel die Nasen plattdrückten, um einen Blick nach drinnen zu erhaschen. Wehe ihnen, wenn der Eindruck entstehen sollte, dass ihre Wünsche nicht an Santas Werkstatt weitergeleitet wurden, dann mussten sie wieder Nachtschichten einlegen...

Ob das denn schon einmal der Fall gewesen sei, hatte Olive wissen wollen, und Mary hatte sich zu ihrer neuen Kollegin gebeugt und ihr zugeflüstert, dass sie mal raten solle, weshalb sie die Stelle hier bekommen hätte.

Danach hatte Olive geschwiegen. Angefressen sah sie zu, wie in diesem Augenblick zwei Elfen einen weiteren Korb voller Wunschzettel brachten und ihn vor ihnen auf dem Tisch auszuleeren begannen.

Mary zuckte hilflos mit den Schultern und konzentrierte sich wieder darauf, das zum Teil unleserliche Kindergekrakel in leserliche Worte zu fassen.

Bring me flesh and bring me wine

Emerson Cod, der – wie er sich gerne selbst bezeichnete – großartigste Privatdetektiv in ganz Papen County hielt eine riesige Schere in der Hand und zog damit das bunte Geschenkband in die Länge, bis es sich nach dem Loslassen in kleine Spiralen kräuselte, die er möglichst ansehnlich auf dem eingepackten Geschenk drapierte.

In Gedanken ging er dabei Carols Vortrag durch, wie man Geschenkband richtig ringelte. Es sollte keinesfalls wie schlaffe Nudeln an den Päckchen kleben, sondern in Kaskaden herabhängen oder bauschig auf dem Geschenk sitzen.

Diese verdammte enge Hose zwickte!

"Keine schlaffe Nudeln", äffte Emerson Carols Anweisungen nach und zog das nächste Band in die Länge.

"Arbeitet hier ein Emerson Cod?", rief auf einmal jemand am Anfang der Verpackungsstraße.

Emersons Kopf schnellte in die Höhe. "Hier!", meldete er sich und drängte sich an seinen schuftenden Elfenkollegen zum Überbringer seiner Botschaft hin.

"Was soll ich mit dem Wisch? Das kann ja keiner mehr lesen!" Emerson wedelte mit dem völlig durchnässten Zettel vor dem Gesicht des Postelfen herum, der verständnislos die Hände hob. "Ist das etwa angenagt?" Emerson hielt das tropfnasse Papier gegen das Licht. Zwischen den unleserlich verwischten Buchstaben waren tatsächlich Bissspuren zu sehen. "Und ob das angenagt ist!"

"Ich bin nur der Bote", wehrte sich der Elf gegen die ungerechtfertigten Beschuldigungen des Privatdetektivs. "Eigentlich bin ich ja noch nicht einmal ein Bote, sondern sammele nur die Wunschzettel ein, also beschweren Sie sich gefälligst bei jemand anderem!" Er rauschte von dannen, wie nur ein äußerst verärgerter Elf von dannen rauschen konnte.

"Na vielen Dank auch", murrte Emerson dem Elfen nach, der am liebsten die Tür dramatisch hinter sich zugeschlagen hätte, wenn dieser Bereich über eine Tür verfügt hätte, die man zuknallen könnte. So aber war das einzige Geräusch das wütende Rascheln des Türvorhangs aus geringeltem Geschenkband, als er nach draußen stürmte.

 

 

"Ach du gute Güte. Ach du gute Güte..."

Ratlos sah Ned dem Nussknacker zu, der nach vorne gebeugt durch die Backstube wuselte und einer Spur aus angebissenen Lebkuchen folgte, die sich durch die ganze Weihnachtsbäckerei hindurch zog.

"Ach du gute Güte", flüsterte der Nussknacker noch mal, ehe seine Stimme versagte. Als er sich an Ned wandte, hatte sein Gesicht etwas so herzzerreißend verzweifeltes an sich, dass der Kuchenbäcker auf der Stelle Mitleid bekam.

"Es tut mir wirklich, wirklich leid", presste Ned reuig hervor. "Ich fürchte, das ist alles meine Schuld, ich konnte nicht anders – das Rezept war so langweilig und da habe ich..."

"Ach du gute Güte", wimmerte der Nussknacker erstickt. Er hielt sich die Hände an seine blass gewordenen Wangen und war kurz davor, in Tränen auszubrechen. "Ach du gute Güte!", rief er auf einmal schockiert als seine Blicke auf einen der Tische fielen, von wo es köstlich nach Neds neuem Rezept roch.

Der erschrockene Tonfall alarmierte Ned, der dem Nussknacker zu den Tischen folgte, auf denen normalerweise das Gebäck verziert wurde. Als er den Schlamassel inmitten allerlei Zuckerkram sah, schob er den armen Kerl sofort weiter.

"Könnten Sie sich bitte um ihn kümmern, ich fürchte, er steht unter Schock?"

Der Elf, den Ned angehalten hatte, griff nach dem Arm des Nussknackers und führte ihn aus der Backstube heraus.

"Und jetzt verlassen bitte alle die Backstube! Hier ist ein Tatort."

Ned wartete, bis alle verwirrt vor sich hin murmelnden Bäckerelfen verschwunden waren und schloss dann die Tür hinter ihnen. Einen Moment lang schloss er auch seine Augen und hätte sie am liebsten nie wieder geöffnet, genau wie die Tür in seinem Rücken. Nach dem toten Santa war das hier das schlimmste, was er sich im Zusammenhang mit Weihnachten vorstellen konnte.

Ned atmete einmal tief durch, bis sein Verstand wieder vernünftig arbeitete. Er musste Emerson finden. Oder Chuck. Aber keinesfalls Olive!

 

 

Er fand Emerson auf der Rückseite eines riesigen Geschenks, in dessen Innerem sich logischerweise die Geschenkeverpackung befand. Der Privatdetektiv trug gerade einen großen Haufen heillos verworrenen Geschenkbandes zu einer der Mülltonnen, die an der Rückwand der Verpackung aufgereiht waren und versuchte erfolglos, das gekräuselte Chaos hineinzustopfen, als plötzlich ein "Pssst!" zwischen einer kleinen Gruppe Kunsttannen erklang.

Emerson hob den Kopf und sah sich misstrauisch um, konnte aber nichts entdecken.

"Pssst!", kam es noch einmal ungeduldig aus Richtung der Tannen.

"Oh, hörst du, was ich höre?", rief Emerson lauernd, während er den Fußspuren im Kunstschnee folgte.

"Pssst!"

"Na? Hörst du, was ich höre?", murmelte Emerson, der sich die Größe der Fußspuren ansah, die zwischen den Tannen verschwanden. "Den Himmel durchtönt es, Kuchenjunge!", rief er und sprang mit einem Satz hinter die Tanne, wo die Fußspuren endeten.

Ned bedeutete Emerson, leiser zu sein, der mit verschränkten Armen vor ihm stand und ihn triumphierend angrinste.

"Was willst du denn hier?"

"Mir Papen Countys am seltsamsten gekleideten Privatdetektiv anschauen", entgegnete Ned trocken. Er ließ seine Blicke von oben nach unten an Emerson hinab gleiten und nickte dann, als er an den gebogenen Schuhspitzen angekommen war. "Gut, das war's."

Emerson legte den Kopf schief. "Mit dir stimmt doch was nicht", stellte er fest. "Mit dir stimmt ganz und gar nichts, aber wie zur Hölle hast du es geschafft, aus deinem Bereich rauszukommen?"

"Es war ein Notfall." Ned schob die Hände in die Hosentaschen. "Ich bräuchte deine Hilfe."

"Weißt du, was hier gerade los ist?", polterte Emerson und zeigte zur Verpackungswerkstatt. "Das reinste Chaos ist hier eben ausgebrochen. Irgendjemand hat das ganze Schleifenband und das Geschenkband aus den Halterungen gerissen und ist damit durch die Werkstatt gerannt. Überall spannen sich jetzt Stolperfallen aus glänzenden Bändern und Schleifen und Elfen kullern übereinander."

"Heißt das, du kommst mit?"

"Natürlich komme ich mit", prustete Emerson. Alleine schon diese Frage war eine Frechheit vom Kuchenbäcker.

 

 

"Bei allen guten Weihnachts-Geistern, was soll das sein?"

Mit offenem Mund stand Emerson Cod neben Ned in der Backstube vor dem Tisch, auf dem ein lebensgroßer, noch warm duftender Pfefferkuchenmann lag und sie mit seinem erstarrten Zuckergussgrinsen anlächelte.

"Lass mich raten", Emerson beugte sich etwas zum Pfefferkuchenmann hinab und schwieg kurz konzentriert. "Das ist dein Rezept, richtig?"

Ned nickte erfreut.

"Nelken, Kardamom, Piment und noch etwas, auf das ich gerade nicht komme", Emerson sog noch einmal tief den Duft des Lebkuchens ein. "Was ist es?"

"Kann ich dir leider nicht verraten."

"Schön, dann behalte doch dein Rezept, Ebeneezer Scrooge." Emerson zupfte eines der Zuckerguss-Augen ab und schob es sich unter Neds angewiderten Blicken in den Mund. "Meinst du, er kann noch reden?"

"Finden wir es raus", antwortete Ned und dann half er Emerson, vorsichtig das Pfefferkuchengesicht freizulegen.

"Oh nein, nicht er", hauchte Ned, als er den Toten erkannte, der da eingebacken in Lebkuchen vor ihnen lag. Der Elf war tatsächlich abgetreten. Wortwörtlich.

"Du kennst ihn also", stellte Emerson überflüssigerweise fest.

"Er hat mir verraten, wo ich die Gewürze finde, um das Rezept ein bisschen zu modifizieren. Und-" Der Kuchenbäcker stocherte verlegen in einem Brocken Lebkuchen herum.

"Und?", hakte Emerson mit hochgezogenen Augenbrauen nach.

"Und er hat mich gewarnt, dass das Ärger gebe..."

"Womit er ja recht hatte." Gespannt sah Emerson zu Ned, der mit herabhängenden Mundwinkeln auf den toten Elfen hinabsah. "Würdest du ihn bitte anfassen?", half Emerson seinem zögernden Nebenmann auf die Sprünge.

Etwas widerwillig streckte Ned seinen Zeigefinger aus und tippte den Toten blitzschnell an. "Hey, er ist noch warm", rief Ned überrascht und wischte sich den Finger ab. "Irgendwie gruselig..." Der Kuchenbäcker lachte hilflos.

"HABE ICH ES DIR NICHT GESAGT?"

Ned zuckte zusammen, als er von dem wiederbelebten Toten angeschnauzt wurde, kaum dass der goldene Schimmer dessen Gesicht erreicht hatte.

"Wie sehe ich denn aus? Was für ein riesen Haufen Rentierscheiße ist das hier?"

Emerson versuchte, den schreienden Elfen zu unterbrechen, doch der würdigte Papen Countys großartigsten Privatdetektiv keines Blickes.

"Ich war's nicht", schluchzte der Elf nun und versuchte, sich aus dem Pfefferkuchen zu winden, in dem er wie in einem riesigen gebackenen Schlafsack steckte. "Ich habe die ganzen Lebkuchen nicht angebissen, kannst du das bitte dem Nussknacker sagen? Ich war's nicht."

"Ich werde es ihm ausrichten." Ned bemühte sich, den aufgebrachten Enttoteten zu beruhigen.

"Könntet ihr beide euren Kaffeeklatsch etwas beschleunigen?", mahnte Emerson die unhaltbar verstreichende Zeit an.

"Hast du gesehen, wer dir das angetan hat?"

Der Elf schüttelten den Kopf, wobei Zuckerguss und Lebkuchenkrümel hinabrieselten. "Ich bin auf irgendeinem nassen Zettel ausgerutscht und dann weiß ich nur noch, dass ich wieder wach wurde, als diese dicke Lebkuchendecke über mich ausgebreitet wurde. Und danach wurde es warm. Und dann heiß! Und dann heißer! UND DANN UNERTRÄG-"

Der Elf sackte in sich zusammen. Ned und Emerson warfen sich ratlose Blicke zu.

"Es wäre ja irgendwie zu einfach, wenn nur ein einziger mal darauf achtet, von wem er umgebracht wird."

All Overboard!

"Wie viele Runden fährt der Zug gleich noch mal?"

Die Zuckermandelfee sah von dem Kind auf, dem sie gerade die Nase abwischte. "Drei. Warum fragst du?"

Chuck zählte in Gedanken die Male zusammen, die der Zug nun schon an ihnen vorüber gezuckelt war. "Das war gerade die Dritte, aber er hält nicht an."

Die Zuckermandelfee fuhr auf. Sie sah der kleinen Miniatur-Lok nach, die dampfend zwischen den Styroporbergen verschwand.

"Legt er vielleicht eine Extrarunde ein?" Chuck hoffte, dass die Antwort darauf ein Ja sein würde, doch die in nachdenkliche Falten gelegte Stirn der Zuckermandelfee sagte etwas anderes.

"Unmöglich. Es gibt einen Mechanismus, der den Zug automatisch nach der dritten Runde im Bahnhof anhält."

"Dann sollten wir uns das besser einmal ansehen", schlug Chuck vor. In diesem Moment rauschte der Zug ein weiteres Mal an ihnen vorüber. Die Kinder, die sonst immer begeistert winkten, wenn sie Chuck und die Zuckermandelfee sahen, blickten verängstigt von einer Seite zur anderen.

"Hallo, ich muss mal aufs Klo", klang ein zartes Stimmchen durch das Rattern der Räder. "Ich auch!", fiel ein weiteres zittriges Stimmchen mit ein und kurz bevor der Zug erneut um die nächste Kurve verschwand, hatte auch der Rest der mitfahrenden Kinder in das Weinen eingestimmt.

Der Zugführer saß reglos in seiner Lok und wackelte lediglich im Takt des Zuges mit.

"Verdammter Mist!", fluchte die Zuckermandelfee ungeniert. "Der wird doch nicht eingepennt sein?! Die armen Kinder..."

 

"Wenn das mal keine Absicht war, dann bin ich ab sofort die Mäusekönigin."

Chuck sah schweigend auf den Haufen herausgerissener Kabel hinab, die aus dem Verteilerkasten des Bahnhofs hingen und offensichtlich für das Versagen des Bremsmechanismus verantwortlich waren. Dazu brauchte es noch nicht einmal einen Detektiv, um das festzustellen. Lediglich das gekräuselte Geschenkband war ihnen ein Rätsel.

"Ich will zu meiner Mamiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii-"

Der lange klägliche Schrei riss Chuck und die Zuckermandelfee aus ihren Gedanken.

"Wir müssen die Kinder irgendwie vom Zug herunter bekommen und dann-dann-dann weiß ich auch nicht."

"Kümmern wir uns zuerst mal um die Kinder und dann sehen wir weiter", tröstete Chuck die völlig aufgelöste und überforderte Zuckermandelfee. "Sobald der Zug wieder hier vorbei kommt, springe ich auf. Du rennst neben uns her und ich übergebe dir ein Kind nach dem anderen. Und danach suche ich jemanden, der uns mit dem Zugführer hilft."

 

 

Chuck wusste genau, wer derjenige war, der ihnen mit dem Zugführer helfen konnte. Es gab nur einen einzigen, der dafür in Frage kam.

Ned versuchte, seine langen Beine irgendwie in einen der mittlerweile leeren, aber durch die Geschwindigkeit ständig ruckelnden Waggon zu bekommen, was bei voller Fahrt gar nicht mal so einfach war. Außerdem musste er darauf achtgeben, den Zugführer nicht aus Versehen zu früh zu beleben, denn bei dieser Geschwindigkeit bestand die Gefahr, dass der Wiederbelebte aus der Lok fiel und wenn das am falschen Platz geschah, dann wusste er nicht, ob er ihn in der einen Minute, die ihnen blieb, auch wieder rechtzeitig finden und ausschalten konnte.

"Hast du Emerson gesehen?", fragte Ned.

Chuck, die in einem Waggon Abstand zu ihm saß, schüttelte den Kopf. "Von Olive habe ich auch nichts mehr gehört, seit sie mit dieser Puppe davongegangen ist. Weißt du was, Ned?"

Ned warf einen vorsichtigen Blick über seine Schulter zu Chuck hinüber, die durch den ganzen Tannenwald gelaufen war, um ihn zu suchen.

"Dieses Weihnachten gefällt mir nicht mehr. Es hat etwas von Halloween bekommen, nur sind die Kostüme hier noch viel gruseliger weil sie so nett aussehen, und wenn ich ehrlich bin, wäre ich jetzt doch ganz gerne in einem Chinesischen Restaurant..."

"Wäre ich auch gerne, wenn ich genauso ehrlich bin." Ned warf Chuck ein herzliches Lächeln zu, das die junge Frau erwiderte. "Aber zuerst schauen wir mal, wer den armen Kerl hier dazu verbannt hat, auf ewig im Kreis zu fahren."

 

 

Der Kuchenbäcker rieb sich die schmerzenden Ohren, während er dem Weg durch den verschneiten Kunsttannenwald folgte, den ein hilfsbereiter Elf ihm großzügigerweise gezeigt hatte.

"Hallo, hallo", rief Ned testweise, um sicherzugehen, dass der Hörsturz wieder vergangen war. Seine Ohren klingelten noch immer, so laut hatte der Zugführer geschrien, nachdem er ihn wiederbelebt hatte. Aber bis auf dieses ständig gebrüllte "Tuuut, tuuut, bitte einsteigen!" hatten sie nichts Brauchbares aus ihm herausbekommen.

Immerhin wusste er jetzt, wo Emerson steckte, denn der Elf, der ihm den Weg gezeigt hatte, hatte ihm auch von Papen Countys großartigsten Santa Claus berichtet. Ausgerechnet Santa, dachte Ned schaudernd.

Die Schlange aus wartenden Kindern war so lang, dass sie, würde man sie direkt hintereinander aufstellen, statt platzsparend in Serpentinen, einmal um das ganze Weihnachtsdorf gereicht hätte.

Kurzerhand drängelte sich der Kuchenbäcker an den ihm mürrisch nachschauenden Kindern vorbei, bis er am Beginn der Schlange angekommen war – und gleich beiseite gezogen wurde, noch ehe er Santa Emerson hatte begrüßen können.

"Hier wird nicht vorgedrängelt", fuhr ein finster dreinschauender Elf Ned an.

"Sehe ich etwa so aus, als warte ich darauf, mich auf Santas Schoß zu setzen?", gab Ned verblüfft zurück.

"Der erste wären Sie jedenfalls nicht..."

"Davon stand aber nichts im Vertrag!", rief Emerson von seinem Platz aus. "Das kostet extra!"

Ned befreite sich aus dem eisernen Griff des verärgerten Elfs und flüchtete schnell zu Santa, der in seinem Ohrensessel saß und heller strahlte als der Stern von Bethlehem, der über ihm schwebte.

"Na, was wünschst du dir von Santa, Kuchenjunge?" Die Stricknadeln in Emersons Händen klapperten fleißig. Reihe um Reihe wuchs der grün-rot-weiß geringelte Schal an, der sich bereits zu Füßen des Privatdetektivs ringelte.

Ned, der sich so nahe bei Santa sichtlich unwohl fühlte, stotterte: "Es-es-es gab noch einen – Mord..."

"Oh, das wäre dann Nummer drei", entgegnete Emerson beiläufig.

"Nummer drei?" Ned zählte schnell nach. "Meines Wissens nach sind es zwei, was meinem Empfinden nach auch völlig ausreicht."

Die Stricknadeln legten eine kurze Pause ein, weil Emerson einen seiner beiden Zeigefinger brauchte, um damit verneinend vor der Nase des Kuchenbäckers zu wedeln. "Es sind drei. Kurz nachdem ich aus der Bäckerei kam, bin ich der Spur aus Geschenkband gefolgt und weißt du, wo ich gelandet bin?"

Ned schüttelte den Kopf.

"In der Schneekugel! Und weißt du, wen ich da am Ende der Kräuselband-Spur gefunden habe?"

Ned schüttelte erneut mit dem Kopf.

"Nicht Olive..."

Ned atmete erleichtert aus.

"Es war Rudolph mit der blauen Nase und in seinem Körper stach eine riesige Pfefferminzstange", beendete Emerson nicht ohne Genugtuung seinen Vortrag.

"Das ist ja furchtbar", murmelte Ned. "Ich habe keine Lust mehr, hier ständig irgendwelche toten Leute zu finden."

Emerson, der dem Kuchenbäcker nur noch mit halbem Ohr zuhörte, weil er ein Bonbon entdeckt hatte, das sich in seinem wirren Bart verfangen hatte, zupfte sich die klebrige Süßigkeit vorsichtig aus der weißen wallenden Mähne, um sie anschließend prüfend gegen das Licht zu halten.

"Hast du auch herausgefunden, was mit Olive ist?"

"Die ist, nachdem ich die Schneekugel als Tatort gesichert und für sämtliche Unbefugte abgesperrt hatte, laut Mary aufgestiegen." Emerson rieb das Bonbon an seinem Ärmel ab.

"Zu Mrs. Santa?" Ned versuchte sich die winzige Olive an Santas Seite vorzustellen.

"Nein, zum Himmlischen Chor." Wie lange sich das Bonbon wohl schon in diesem Bart befunden hatte?

"Ich schätze, du kommst nicht mit, Olive suchen?"

"Richtig geschätzt", gab Emerson knapp zurück. "Ich habe hier Kundschaft, wie man sehen kann."

Ned verdrehte die Augen und sprang das Podest hinab.

Emerson war gerade im Begriff, sich das Bonbon in den Mund zu stecken, als es ihm aus heiterem Himmel aus der Hand geschlagen wurde.

"Was zur Hölle ist dein Problem mit Santa, dass du immer gleich zuschlagen musst?", maulte Emerson Ned an, der sich im Weggehen umentschieden hatte und umgekehrt war, um dem Privatdetektiv mittels Hechtsprung das Bonbon aus der Hand zu schlagen.

In seinen Bart maulend bückte sich Emerson nach dem Bonbon, das unter den Ohrensessel gerollt war. "Das ist das letzte Mal, dass ich dich warne, Kuchenjunge. Zeig gefälligst etwas mehr Respekt vor Santa!"

In diesem Augenblick gab es einen Knall hinter Emerson.

Ned sog tief die Luft ein und auch Emerson schien beeindruckt zu sein, von dem, was er sah, als er sich wieder aufrichtete. Der Stern, der über ihm gehangen hatte, war herabgefallen und zerbrochen und einige der Spitzen stachen genau an der Stelle im Sesselpolster, wo Emerson kurz zuvor noch gesessen hatte.

"Langsam wird es unheimlich", flüsterte Ned und sah sich vorsichtig um.

"Langsam? Willst du mal sehen, was ich noch unter dem Sessel gefunden habe?" Emerson wartete erst gar nicht die Antwort ab, sondern präsentierte dem Kuchenbäcker ein wirres Konglomerat an bunten glitzernden Bändern. "Geschenkband. Überall liegt Geschenkband an den Tatorten. Das kann kein Zufall mehr sein."

"Auf diese Geschenke kann ich gerne verzichten."

"Ich denke, wir haben den Schuldigen oder besser gesagt: die Schuldige." Emerson erhob sich. Er legte seinen weißen Bart ab und verkündete seinem gebannt lauschenden Publikum: "Santa muss sich kurz entschuldigen, er muss drei Morde und einen Mordversuch aufklären. Und dann etwas essen, er ist nämlich heute morgen ohne Frühstück aus dem Haus gegangen."

Und mit diesen Worten stieg Santa Emerson auf die Erde hinab.

 

… from the rock bottom of my heart

 

Dieses Mal wussten Emerson und der Kuchenbäcker wonach sie Ausschau halten mussten, um die Spur der ringellockigen Tatverdächtigen zu verfolgen und sie schließlich auch zu finden. Es war auch nicht schwer, den langen verknoteten Girlanden aus Geschenkband durch den Tannenwald zu folgen. Das einzige, was ihre Suche stoppte, war das abrupte Ende der Spur am Fuße des Styroporberges.

"Was nun?"

Emerson blickte sich aufmerksam um. "Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn alle Fäden so einfach zusammengeführt hätten."

"Oh hallo, Emerson", rief es über ihnen. "Hallo Ned! Endlich habe ich euch gefunden!"

Die beiden Angesprochenen legten die Köpfe in den Nacken und sahen verblüfft zu dem winzigen Punkt auf der Spitze des Berges hinauf, der wie ein Flummi auf und ab hüpfte und sich sichtlich über ihr Erscheinen zu freuen schien.

"Ähm, Olive, könntest du bitte still stehen bleiben, so lange du da oben bist?", bat Ned die junge Frau, die gefährlich nahe am Abhang stand, um ihren Freunden besser zuwinken zu können.

"Keine Sorge, ich bin gesichert", antwortete Olive so laut sie konnte und zeigte dabei auf einen bunten wirren Bänderhaufen in ihrer Hand.

"Ich beginne einen Hass auf Schleifenband zu entwickeln", grummelte Emerson genervt.

"Olive? Ist Carol bei dir?" Ned kniff die Augen zusammen, um etwas durch das immer dichter werdende Kunstschneegestöber zu erkennen.

"Carol? Nein, die ist nicht hier, aber ich weiß, wo sie ist." Olive streckte ihre freie Hand aus und deutete in Richtung des gefrorenen Sees, in dessen Mitte eine gekrümmte Gestalt lag. "Aber ich fürchte, sie ist tot. Ich komme jetzt runter, Okay? Ich denke, hier geht etwas ziemlich merkwürdiges vor."

 

In Wahrheit gingen vielerlei merkwürdige Dinge in Kringels Pop-Up Christmas Carnival vor, auch wenn Olive nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs kannte. Eine dieser Eisspitzen stach in Christmas Carols Brust, was der einzigen Verdächtigen ein wasser- jedoch nicht eisdichtes Alibi verschaffte und man wieder ohne Täter dastand. Doch alles sollte sich alsbald aufklären.

 

Und dies waren die Tatsachen:

 

 

Olive, die nach kurzer Zeit, in der sie eine Weile Seite an Seite mit Mary in der Wunschzettelabteilung gearbeitet hatte, mitbekam, dass unter den Vorarbeitern eine Naughty or Nice-Liste über ihre Untergebenen kursierte und jeder, der bisher auf der Bösen-Seite gelandet war, plötzlich und unter mysteriösen Umständen verstarb, fasste den Entschluss, ihren Freunden entsprechende Nachrichten zukommen zu lassen, weil sie wusste, dass sie die einzigen waren, die den nötigen Grips besaßen, die Morde aufzuklären.

Olive selbst hatte keine Gelegenheit, ihrem Dienst zu entfliehen, da Mary ihr mehr als deutlich gemacht hatte, dass niemand während seiner Schicht die Schneekugel verlassen dürfe.

Kurzerhand wurde von Olive der beste Bote zum Überbringen auserkoren, der gerade zur Stelle war: Digby und Pigby, die jeweils einen von Olive eigenhändig beschrifteten Wunschzettel mit dem Hinweis auf diese Liste ins Maul bekamen, um sie an Emerson und Ned auszuliefern.

Pflichtbewusst erledigte das Rentier seine Aufgabe und lieferte die durchweichten und somit unleserlich gewordenen Botschaften ab. Aber es tat noch mehr. Da ein Hund und ein Schwein, die zusammen ein Rentier ergaben, nun mal doppelt so viele Augen besaßen, entgingen ihm auch nicht die seltsamen Vorkommnisse, die alle andere aufgrund ihrer Arbeit übersahen. Doch Digby und Pigby sahen, wie sich eine Person immer wieder heimlich von ihrem Platz schlich, in der einen Hand die Liste mit den bösen Mitarbeitern und in der anderen ein Generalschlüssel, um sich ungehinderten und ungesehenen Zugang zu jedem Bereich zu verschaffen.

Es war Mary Kringel alias Mary Christmas, die unerkannt von ihren Mitarbeitern, die jedes Jahr wechselten, sich unter eben jene gemischt hatte.

Seit ihrer eigenen Kindheit, die geprägt war vom Erfüllen sämtlicher Wünsche, die sie jemals gehabt hatte, hatte sich die auf ewig kinderlos bleibende Mary als Erwachsene vorgenommen, auch jedem anderen Kind, das einen Wunsch an Santa schrieb, diesen Wunsch zu erfüllen und sei er noch so abwegig, wie ein Gürteltier. Ihrer Meinung nach gaben sich die meisten Eltern einfach keine Mühe, wenn es um das Erfüllen der Wünsche ging und so hatte Mary es sich zur Aufgabe gemacht, jeden Mitarbeiter, der auch nur ein einziges Mal an einem Wunsch zweifelte oder sich darüber lustig machte, auf der Stelle zu beseitigen.

Da mit dem Ableben der Mitarbeiter auch der Betrieb zu stocken begann, musste sich flugs nach Ersatz umgesehen werden. Praktischerweise fand man diesen Ersatz im Umfeld des Pie Holes und so kam es, dass der Kuchenbäcker neben dem Flyer des Weihnachtsdorfes noch eine Außerplanmäßige Lieferung Nüsse erhielt, die außerdem noch zwölf Mäuse und einen Hamster beinhaltete, was zur zwangsläufigen (und demnach planmäßigen) Schließung des Pie Holes führte.

 

"Moment mal", unterbrach Emerson die Ausführung. Er trat zu Mary hin, die wie die traurigste Puppe der Welt mit hängendem Kopf vor ihnen stand. "Aber wie wollten Sie sichergehen, dass die Wünsche der Kinder auch von deren Eltern erfüllt wurden?"

Mary blickte in die Ferne, wo weiterhin der Kunstschnee friedlich auf die Kunsttannen rieselte, und lächelte leicht. "Wissen Sie, wie schnell sich Eltern umstimmen lassen, wenn ihre Kinder sich erst mal vor allen Leuten zu Boden werfen und zu weinen anfangen? Wer will denn schon vor allen anderen als die schlimmsten Rabeneltern der Welt dastehen? Ausgerechnet an Weihnachten?"

Ned überlief ein eiskalter Schauder.

"Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass gut gemeint noch lange nicht gut gemacht bedeutet", bemerkte Emerson abschließend als man Mary Handschellen anlegte und die Puppe mit dem zu großen Herzen an der falschen Stelle abführte.

 

A Hippopotamus for Christmas

 

Obwohl nun alle Vier auf Santas Naughty-Liste standen fürchtete sich niemand mehr von ihnen vor den kommenden Feiertagen.

Da die Mäuse- und Hamsterplage sich als ein größeres Problem herausstellte, als zu Anfang vermutet, da einige sich dazu entschlossen hatten, eine Familie zu gründen, saßen nun alle kurzerhand in Olives Appartement und verzierten Plätzchen und Kuchen.

Digby und Pigby, die heimlichen Helden aller Ereignisse, lagen zufrieden schnaufend auf ihren extra komfortablen Decken vor der warmen Heizung.

Ned hatte endlich wieder nach seinem gewohnten Rezept backen können, ohne dass er sich davor fürchten musste, von einem Chefaufseher zur Schnecke gemacht zu werden. Auch sein Kindheitstrauma was Santa betraf, war danke Emerson fast beseitigt. Und selbst das peinliche Foto mit dem toten Santa war durch ein noch peinlicheres Foto ersetzt worden. Es war zwar etwas verwackelt, weil die fotografierende Elfe so gelacht hatte, aber die Peinlichkeit ansich war bestens festgehalten.

Olive, die die fertigen Plätzchen verzierte, hatte auch keine Angst mehr davor alleine zu sein, weil sie es nicht war; sie musste nur nach nebenan oder nach unten gehen. Und wenn der Kuchenbäcker schon nicht ihr richtiges Herz haben wollte, so konnte sie ihm wenigstens eines aus Lebkuchen schenken.

Chuck, deren Bienen noch eine Weile Winterschlaf halten würden, verpackte die Plätzchen in festlich dekorierte Schachteln. Eine besondere Schachtel, mit einer besonderen Zutat, die neben homöopathischen Antidepressiva noch jede Menge Liebe enthielt, sollte noch an diesem Tag an ihre Tanten Lily und Vivian gehen.

Und Emerson dachte fieberhaft über die Erklärung nach, die er abgeben musste, sollte einmal irgendjemand (Chuck!), das Foto von ihm als Santa sehen, auf dessen Schoß der Kuchenbäcker saß.

 

 
 

 

E N D E


 



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