Zum Inhalt der Seite

Vollkommenheit

von  LauraAStern

Vollkommenheit

Seit langer Zeit schon stand Anrik in seinem Atelier vor dem grossen Marmorblock, tigerte unruhig zwischen Meisseln und Hämmern in allem möglich Grössen auf und ab, sah den Fels, den er zu einem Kunstwerk machen sollte an, als wollte er ihn mit seinem Blick vergiften, nur um kurz darauf einmal mehr als ein Häufchen Elend auf dem groben, hölzernen Schemel zu sitzen, vor sich hin zu seufzen und unverständliche Dinge in seinen Bart zu murmeln.
Der Zwerg wusste nicht mehr, ob es Tage, Wochen, Monate oder gar Jahre her war, dass er diesen Brief aus der Tempelstadt erhalten hatte, der ihm eine einmalige Chance bot, denn seither schlief er kaum noch, vergass schier Speis und Trank, immerzu dachte er darüber nach, wie er die ihm gestellte Aufgabe bewältigen sollte. Und diese war wahrlich keine Leichte, denn niemand geringeres als der Hohepriester aus dem Tempel der Weltenmutter Betraya bat Anrik um eine Statue der höchsten Göttin der nach ihr benannten Welt.
Anrik zerbrach sich Tag und Nacht den Kopf. Wie nur sollte er die Betraya darstellen?
Sicherlich, es gab durchaus klassische Darstellungen auf die er hätte zurück greifen können, etwa die auf Sternen sitzende Dame mit der Weltenkugel in der Hand oder die Mutter mit den drei Töchtern, doch Anrik war nicht der grösste Bildhauer des Jahrhunderts geworden um zu schaffen, was alle schufen. Nein, er wollte etwas völlig neues, etwas Monumentales, etwas Wundervolles und makellos Schönes, wie die Betraya selbst es war.
„Was mach ich nur, was mach ich nur?“, murmelte er unentwegt.
„Warum gehst du nicht eine Weile fort von hier?“, klang es von der Tür her und Anrik sah sich verwundert um. Es war Dehnir gewesen, der da gesprochen hatte, Anriks bester Freund aus Kindertagen.
Anrik seufzte. Dehnir war er Sonderling, der wohl einzige zwergische Maler Betrayas. Der einzige, der seine Arbeit zumindest ein bisschen würdigte, war Anrik, alle anderen hielten ihn schlicht für verrückt. Malerei war etwas für Elfen und Menschen, ein richtiger Zwerg schuf Kunst, der die Zeit überdauerte - Statuen, edles Geschmeide, oder architektonische Meisterleistungen - nicht dieses verweichlichte Gepansche mit Farben die im Licht allzu schnell ausblichen auf vergänglichem Papier, Pergament oder Leinwand.
„Warum sollte ich weg von Viahadhall, Dehnir?“, wollte Anrik müde wissen.
Dehnir lachte und seine Augen funkelten. „Um neues kennen zu lernen, mein Freund. Dein ganzes Leben bist du schon in Viahadhall. Wie willst du die Weltenmutter angemessen darstellen, wenn du nur einen solch kleinen Teil ihres Seins kennst?“, erklärte er, sichtlich amüsiert.
„Glaubst du wirklich, mehr von der Welt zu sehen würde mir helfen, Betraya selbst dar zu stellen?“ Erneut liess Anrik ein Seufzen von sich hören. „Dehnir, selbst wenn kein anderer Zwerg in ganz Viahadhall das anerkennen will, wir beide sind Männer der Kunst und ich weiss deinen gut gemeinten Rat zu schätzen. Aber ich glaube nicht, dass es meiner Kunst förderlich sein könnte, mir das, was es in diesen Sphären von Betraya zu sehen gibt, anzusehen. Ich will keine Landschaft sondern eine Göttin darstellen, vergiss das nicht.“
Dehnir sah seinen Freund fragend an, wie sonst nur Kinder blicken konnten.
„Wo ist der Unterschied? Betraya IST eine Landschaft und eine Göttin zu gleich. Genau genommen ist Betraya jede Landschaft, sie lebt in jedem Stein, in jedem Blatt, in jedem Wesen. Die Sonne und die Monde sind die Edelsteine in ihrer Krone, die Sterne sind der Glanz ihres Haares und die Wolken Fäden ihres Kleides, die sich gelöst haben. Und das ist nur das, was sie uns am Himmel von sich zeigt. Wie kannst du behaupten, die Weltenmutter darstellen zu können, wo du noch nicht einmal das von ihr gesehen hast? Viahadhall ist eine Stadt die ihres gleichen sucht, doch sie weiss nichts von den Schönheiten des Himmels, denn sie liegt tief unter der Erde. Wie kannst du glauben, Betraya selbst portraitieren zu können, wenn du noch nie am Meer warst, das ihren Herzschlag als Wellen zeigt?“
Da musste Anrik lächeln. „Jeder hier schimpft dich einen Verrückten, weil du dich einer Kunst verschrieben hast, mit denen die Zwerge nichts anfangen können, aber eigentlich bin ich der Verrückte. Ich habe vergessen, dass Betraya mehr ist als eine schöne Frau und liebende Mutter. Sie ist der Atem der Zeit, sie ist das Herz, das zwischen Diesseits, Traumreich und Jenseits schlägt und Ruhe und Sturm zugleich, bald lieblich, bald grausam. Vielleicht, mein Freund, behältst du doch Recht und eine Reise täte mir und meiner Kunst gut.“
Der Zwerg erhob sich und klopfte sich den Marmorstaub aus dem Bart, um einige Habseeligkeiten zusammen zu packen. Kurz darauf verliess er das Zwergenimperium Viahadhall und lang Zeit war das einzige, was man von Anrik sah, das Portrait, das Dehnir von seinem Freund anfertigte. Erst viele Jahre später, als der Hohepriester, der die Statue der Betraya in Auftrag gegeben hatte, nur noch ein Name, eingemeisselt in einem Marmorne Tafel im Betraya-Tempel war, kehrte Anrik nach Viahadhall zurück. Und obwohl er in der Zeit vollkommen blind geworden war, griff er in seinem alten Atelier zu Hammer und Meissel, wischte den Staub von dem alten Marmorblock und begann sein grösstes Werk, eine Statue die, obwohl Anrik starb, bevor er sie vollenden konnte von unvergleichlicher Schönheit war. Jeder Zwerg bedauerte die Unvollkommenheit dieses grossartigen Werkes. Jeder, ausser Dehnir.
„Es ist gut, dass die Statue unvollendet geblieben ist“, pflegte er, alt und weise geworden, zu sagen, „denn welches sterbliche Auge könnte die absolute Vollkommenheit, die Mutter von allem was war, allem was ist und allem was noch sein wird, ertragen ohne dem Wahnsinn anheim zu fallen?“


Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Fanfic-Anzeigeoptionen

Zurück