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Seelenschatten

wenn das Dunkel sich erhebt
von

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Einsamkeit

Why does my heart feel so bad (Moby)
 

Why does my heart feel so bad?

Why does my soul feel so bad?
 


 

Einsamkeit
 

„Cr…“
 

Noch bevor Harry die Worte zu Ende gesprochen hatte, öffnete sich die Tür und eine ziemlich aufgebrachte Professor McGonagall betrat den Raum. Es war nicht so, dass sie so freizügig mit ihren Emotionen umgegangen wäre, wie zum Beispiel Hermine oder gar Rons Mutter es getan hätten, aber ihre scharfen Augen funkelten, als sie sich direkt an Professor Snape wandte und ihn in sehr bestimmten Ton fragte, was bei Merlins Bart er schon wieder von einem ihrer Schüler wolle.
 

Snape warf noch einmal einen etwas irritierten Blick auf Harry, als hätte ihn das, was er in Harrys Augen gesehen hatte, verunsichert. Als er sich jedoch der Anwesenheit Professor McGonagalls bewusst wurde, kehrte sofort der alte, herablassende Slytherin-Hauslehrer zurück und er erklärte süffisant lächelnd: „Ich habe Mister Potter und Mister Malfoy lediglich aufgetragen, den Klassenraum für Zaubertränke für den morgigen Unterricht aufzuräumen und vorzubereiten.“ In einem etwas aggressiveren Ton schob er jedoch noch hinterher. „Nach dem, was sich in der Bibliothek zugetragen hat, wird das ja wohl noch ihre Zustimmung finden, wehrte Kollegin.“
 

Professor McGonagall war sichtlich erstaunt über diese Eröffnung und drehte sich zu Harry um. „Stimmt das, Mister Potter?“
 

Harry war immer noch ganz benommen von den Gedanken, die ihm so eben durch den Kopf gegangen waren. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte tatsächlich einen der Unverzeihlichen Flüche ausgesprochen. Wie hatte er das nur zulassen können? Unmerklich schüttelte er den Kopf hin und her, wurde sich dann aber der Missverständlichkeit dieser Geste bewusst. „Äh, ja, natürlich stimmt das.“, beeilte er sich zu versichern und ärgerte sich fast ein bisschen darüber, dass es so war. Was für eine Gelegenheit, Snape doch noch eine reinzuwürgen und Harry hatte sie verpasst. Als er sich allerdings klar machte, was er aus diesem Wunsch heraus gerade fast getan hätte, verstummte das Bedauern.
 

„Nichtsdestotrotz ist es die Aufgabe des Hauslehrers über die Strafe eines Schülers zu entscheiden.“, milderte Professor McGonagall nun ihren anfänglichen Angriff etwas ab. „Ich werde Mister Potter daher mitnehmen um ihn selbst zu einer angemessenen Tätigkeit zu begleiten. Guten Tag, Professor Snape.“ Damit nahm sie Harry bei der Schulter und schob ihn kurzerhand aus dem Raum. Snape knurrte noch etwas, dass Harry zwar nicht verstand, aber es schien etwas ziemlich Negatives zu sein in dem auch das Wort „Gryffindors“ vorkam.
 

Ohne einen Laut über die Lippen zu bringen schlich Harry neben seiner Hauslehrerin her und wartete, dass sie etwas sagen würde. Der Blick, den sie ihm zugeworfen hatte, als sich die Tür schloss, war alles andere als begeistert gewesen. Sobald sie sich in ihrem Büro im zweiten Stock befanden, wies sie Harry an, Platz zu nehmen. Dass er lieber stehen würde, verkniff sich Harry zu erwähnen, denn er konnte sich ausrechnen, wie die Reaktion darauf aussehen würde. Für heute hatte er sich eigentlich schon mit genügend Leuten angelegt, befand er.
 

Die grauhaarige Lehrerin ließ sich in ihren Schreibtisch-Stuhl sinken und musterte ihn über den Rand ihrer Brille hinweg. Harry fühlte sich dadurch unangenehm an Professor Dumbledore erinnert und daran, dass Professor McGonagall dessen Aufgaben während der Abwesenheit des Schulleiters zu übernehmen pflegte.
 

„Mister Potter“, brach sie schließlich das Schweigen. „Ich muss sagen, dass ich schwer enttäuscht von Ihnen bin. Ich habe von Madame Pince gehört, dass Sie sich mit Mister Malfoy in der Bibliothek duelliert haben. Eigentlich nahm ich an, dass Sie über solche Kindereien inzwischen hinweg wären. Sie hätten Professor Snape dankbar sein sollen, dass er Sie nur zum Aufräumen abkommandiert hat.“
 

Harry schnaufte verächtlich. Er war Snape für gar nichts dankbar, soviel war schon mal sicher. Während Professor McGonagall fortfuhr, sich über die Ungehörigkeit seines Verhaltens in der Bibliothek auszulassen, sah er den Sonnenstrahlen zu, die goldene Muster in den von ihrem Eintreten aufgewirbelten Staubteilchen malte. Sie schwirrten und stoben durcheinander, als würde jedem von ihnen eine eigene Antriebskraft innewohnen. Das erinnerte ihn daran, dass es bald wieder Zeit wurde, mit dem Quidditch-Training zu beginnen. Wenn jedoch an die mögliche Rettung von Sirius dachte, erschien ihm Quidditch weiter entfernt zu sein denn jemals zuvor. Wie konnte er auf einem Besen herumfliegen und seine Freiheit genießen, wenn sein Pate seine Hilfe benötigte?
 

„Mister Potter!“, intonierte seine Lehrerin und hatte wieder das unnachahmliche Stirnrunzeln in ihr Gesicht gezaubert. „Ich darf doch wohl annehmen, dass sie über etwas sehr Wichtiges nachgedacht haben, wenn Sie mir schon nicht zuhören.“
 

„Äh…ja Professor, das habe ich.“, stotterte Harry und musste innerlich ein wenig lächeln. Wenn er ihr sagte, worüber er wirklich nachgedacht hatte, wäre er ihr so einige Erklärungen schuldig gewesen. So beschloss er einfach den Teil der Wahrheit zu verschweigen, der sich mit Sirius befasste. „Ich habe darüber nachgedacht, Professor, dass ich jetzt wieder Quidditch spielen darf. Umbridges Verbot wurde ja aufgehoben und Ron wollte schon mal anfangen, mit mir zu üben. “ Er schämte sich ein bisschen, seine Hauslehrerin damit zu ködern, aber sein Wunsch, dieses Büro schleunigst zu verlassen, überwog sein schlechtes Gewissen bei Weitem.
 

Tatsächlich hatte er Professor McGonagall am richtigen Punkt erwischt, denn der Ausdruck in ihren Augen wurde ein wenig milder. Ihre schwäche für das Quidditch-Team ihres eigenen Hauses war schon immer ziemlich offensichtlich gewesen.

„Das ist richtig, Mister Potter.“, sagte sie langsam. „Ich muss Sie jedoch warnen. Dieses Argument ist nicht die ultimative Entschuldigung für alle ihre Missetaten, merken Sie sich das. Um ihre Strafarbeit kommen sie trotzdem nicht herum. Sie werden jetzt nämlich genau das tun, was Professor Snape Ihnen aufgetragen hat: einen Klassenraum aufräumen.“

„Aber Professor…“, hob Harry an zu protestieren.

„Reden Sie sich nicht heraus; Strafe muss sein.“, unterbrach Professor McGonagall ihn entschieden. “Allerdings sehe ich nicht ein, warum nur Professor Snape in den Genuss eines sauberen Klassenraums kommen soll. Ins Verwandlungszimmer, wenn ich bitten darf.“
 

Kurz bevor sie ging, warf Professor McGonagall noch einen leicht amüsierten Blick in die ziemlich chaotische Klasse. „Ich vergaß wohl zu sagen, dass die neuen Tiere für die unteren Verwandlungsklassen heute gekommen sind, die noch alle in ihre neuen Käfige befördert werden müssen. Aber bevor Sie sich darüber aufregen, Mister Potter, sollte sie für jede Sekunde dankbar sein, die Sie noch von Miss Granger trennt. Ich fürchte, von ihr haben Sie die größten Vorwürfe zu erwarten.
 

Harry warf einen finsteren Blick hinter seiner Lehrerin her und machte sich dann seufzend an die Arbeit, die zahlreichen Transportkäfige, Kisten und Wasserbeutel auf die verschiedenen Behausungen zu verteilen, in denen die Tiere das Jahr über wohnen würden. Eine vorlaute Maus aus einem der letzten Transportboxen wollte schon flüchten, aber Harry erwischte sie gerade noch am Schwanz, bevor sie in den Tiefen der Schränke des Klassenraums verschwand.
 

Interessiert betrachtete er das zappelnde Tier, das er an seinem Schwanz festhielt und das darüber offensichtlich wenig begeistert war. Also setzte er sie auf einen der Tische, wo sie zunächst ein wenig schnupperte und dann auch diesen Sitzplatz schnell wieder verlassen wollte. Fasziniert beobachtete Harry, wie sie über die Tischplatte lief, um dann schließlich wieder von ihm eingefangen zu werden. Egal wohin die Maus auch lief, immer war Harry da, um sie an ihrem weiteren Weg zu hindern. Wieder und wieder spielte er diese grausame Spiel mit ihr und sie hatte keine Chance, weil er den Tisch viel besser überblicken konnte als die Maus und immer schon im Voraus seine Hände an der Stelle positionierte, an der sie versuchen würde, zu fliehen.
 

„Wie ich und Dumbledore…“, schoss es ihm durch den Kopf und vergaß sogar fast, die Maus wieder einzufangen. Er setzte sie schließlich in das größere Terrarium am Fenster zu ihren Artgenossen.

„Du hast es besser als ich, mein kleiner Freund. Du hast noch eine Familie, zu der du zurückgehen kannst.“, sagte er traurig zu der Maus. „Ich passe irgendwie nirgendwo hin. Der Einzige, zu dem ich wirklich hätte gehen können, ist weg und derjenige, der all das hätte verhindern können, steht daneben und sieht tatenlos zu. Warum hat er nichts getan um meine Eltern zu schützen oder wenigstens um Sirius zurückzuholen?“
 

Er wusste, dass er Dumbledore mit einem Teil dieser Vorwürfe Unrecht tat, denn für die ersten Morde an seiner Familie, war der alte Schulleiter nicht zur Verantwortung zu ziehen. Wenn er allerdings rechtzeitig auf seinen damaligen Schüler eingewirkt hätte, noch bevor dieser anfing sich Lord Voldemort zu nennen, wäre das vielleicht alles nicht passiert.
 

Aber er hat nicht die Schlange gewählt, um mit ihr zu spielen, sondern die Maus, dachte Harry bitter. Er hätte es mir sagen müssen. Es ist mir egal ob es ihm Leid tut. Wenn ihm wirklich etwas an mir liegen würde, hätte er mir erzählt, dass es einen Ausweg gibt. Warum hat er nur nichts gesagt? Warum nicht? Bin ich nur ein Mittel, um Voldemort aus dem Weg zu räumen?
 

Er klopfte noch mal an das Gitter des Käfigs, in dem sich die Maus nun häuslich einrichtete. „Ich werde schlauer sein als du, mein kleiner Freund. Ich werde mich nicht von den großen Händen aufhalten lassen. Vor allem werde ich mich nicht den Schlangen zum Fraß vorwerfen lassen und dich werde ich auch nicht verfüttern, keine Angst.“
 

Endlich hatte Harry auch die letzte Schlange untergebracht. Während er sie mit einer der anderen Mäuse verpflegte, ging ihm immer wieder der perplexe Ausdruck von Draco Malfoy, als er von Harrys Diffindo! getroffen wurde, durch den Kopf. Harry stellte fest, dass dieser Anblick durchaus einige Unannehmlichkeiten wert gewesen war. Vor sich hin pfeifend machte er sich auf den Weg in die große Halle zum Mittagessen. Da weder Ron noch Hermine anwesend waren, steuerte er auf Ginny zu, die gerade eifrig damit beschäftigt war, mit Dean Thomas zu turteln.
 

„Hey Harry!“, rief sie, als er seinen Teller auf den Tisch stellte. „Dich hab ich im Zug gar nicht mehr gesehen, nur als du gepennt hast wie ein Murmeltier. Aber Luna hat erzählt, du wärst in Ordnung.“
 

„Danke der Nachfrage, ihr seid ja alle wieder mal bestens informiert.“, brummte Harry und füllte sich etwas zu essen auf seinen Teller. Die kleine Frage, die ihre Augen zum Schluss an ihn gestellt hatten, ignorierte er geflissentlich. Er wollte jetzt nicht über seine Probleme reden und Ginny akzeptierte das offensichtlich. Stattdessen versuchte er die entstandene Stille mit einer Gegenfrage nach dem Verbleib von Ron zu überbrücken.
 

„Och der…“, schimpfte sie und massakrierte wie zur Bekräftigung ihrer Aufgebrachtheit ein Würstchen. „Der nervt mich schon den ganzen Morgen damit, ob er wohl Chancen hätte, Kapitän der Quidditch-Mannschaft zu werden, wenn Angelina nächstes Jahr nicht mehr da ist. Er hat von Dean dann liebenswerterweise erzählt bekommen, dass er ja versuchen könne Co-Trainer zu werden, wie es sie auch bei diesem Muggel-Fußball gibt. Jetzt wird er gar keine Ruhe mehr geben.“
 

Dean hob angesichts von Ginnys verärgertem Gesicht abwährend die Hände. „Erstmal ist Angelina bestimmt dankbar für diese Hilfe. Schließlich hat sie wegen des ganzen Quidditch-Krams ihren Abschluss in den Sand gesetzt und muss jetzt eine ganze Menge büffeln. Außerdem: Hätte ich mich vielleicht weiter von ihm mit Blicken aufspießen lassen sollen? Er war kurz davor, mich zu erwürgen, als er sah, dass ich dich geküsste habe.“
 

Ginny kicherte und wurde ein wenig rot. „Schrei doch nicht so, das interessiert Harry bestimmt nicht.“ Dann warf sie einen Blick hinter Harry. „A propos ´mit Blicken aufspießen´… Bei wem versucht Hermine das denn gerade. Etwa bei dir, Harry?“
 

Bevor Harry jedoch darauf eingehen konnte, war Hermine schon wie ein Sommergewitter über ihn hereingebrochen. „Harry Potter! Was muss ich da hören? Du legst die Bibliothek in Schutt und Asche? Schämst du dich denn gar nicht? Ich hab ja bis jetzt nichts gegen diese ständige Rangelei mit Malfoy gehabt, aber das geht wirklich zu weit. Weißt du eigentlich, wie alt einige dieser Bücher sind. Es ist unverantwortlich, wie du…“
 

Harry verdrehte die Augen. „Es ist doch gar nichts passiert. Malfoy und ich hatten einen kleinen Zusammenstoß und er hat wie üblich den Kürzeren gezogen. Ende der Durchsage. Wir haben beide eine Strafarbeit gekriegt und das reicht ja wohl, oder.“ Als er in die funkensprühenden Augen seiner Freundin sah, taten ihm seine Worte schon fast leid, denn darin stand nichts Gutes geschrieben. Er hatte ja gewusst, dass sie Bücher liebte, aber dieser Aufstand war ja nun wirklich lächerlich. Wenn sie nur endlich die Klappe halten würde, dachte er ärgerlich. Die gesamte Halle drehte sich schon zu ihnen um.
 

„Sei endlich still!“, dachte Harry verzweifelt. Ihn überkam wieder dieses komische Gefühl, das er immer hatte, wenn der Schatten in der Nähe war. Die Geräusche seiner Umgebung wurden etwas leiser und er hörte seinen eigenen, hektischen Herzschlag, der unablässig Blut durch seine Adern pumpte. Der Druck in seinen Ohren stieg und seine Sicht wurde seltsam unscharf, als hätte er so eben seine Brille abgenommen. Hermine redete immer noch auf ihn ein, doch sie schien so weit weg zu sein.
 

Wie in einem Film sah er, dass sie ihre Tirade unterbrach und sich entschieden räusperte. „NEIN!“, schrie er in Gedanken, sprang auf und suchte die Halle hektisch nach dem Schatten ab. „Nicht Hermine, hörst du! Nicht Hermine!“
 

Er entdeckte den Schatten, der direkt vor dem Lehrertisch stand und ihn beobachtete. „Nicht. Hermine. Geh weg!“, flüsterte er und die Realität rückte wieder an ihren Platz.
 

„Was soll ich nicht? Und warum soll ich weggehen?“, fragte seine Freundin hinter ihm und sah ihn befremdlich an. Hatte er die letzten Worte tatsächlich laut ausgesprochen? Als sie in sein Gesicht blickte, trat sie auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Stirn. „Du bist eiskalt, Harry, aber deine Augen sehen aus, als hättest du Fieber. Vielleicht solltest du mal zu Madame Pomfrey gehen.“
 

„Nein, es geht schon.“, wehrte Harry hastig ab und sah sich noch einmal nach dem Schatten um, doch der blieb verschwunden. Dafür starrten jetzt wirklich sämtliche anwesende Schüler zum Gryffindor-Tisch hinüber und hier und da fingen einige schon an zu tuscheln. Ganz kurz flackerte die Wut noch in ihm auf, dann riss Harry sich zusammen. Er durfte nicht wieder eine solche Reaktion wie in der Bibliothek heraufbeschwören.
 

„Na wenn du meinst.“, antwortete Hermine gedehnt und sah nicht sehr überzeugt aus. „Du musst es ja wissen. Auf jeden Fall kannst du dir Hilfe bei den Hausaufgaben in der nächsten Zeit abschminken. Ich bin sowieso der Auffassung, dass du und Ron euch viel zu wenig mit dem Stoff beschäftigt.“
 

Das allerdings klang nicht gerade viel versprechend und so ließ Harry sein restliches Essen nebst Hermine, Dean und Ginny einfach stehen und flüchtete hinauf in den Gryffindor-Turm. Er hoffte, dass er dort erstmal eine Weile ungestört sein konnte, um über all das nachzudenken. Ihm war relativ egal, was mit Snape oder Malfoy passierte. Dumbledore hätte er es gegönnt, wenn der Bekanntschaft mit Harrys „neuem Freund“ geschlossen hätte, Ron und Hermine dagegen, sollte er in Ruhe lassen. Die hatten Harry nichts getan, außer…
 

Er ließ sich auf sein Bett sinken und schloss die Augen. Nein, getan hatten sie nichts, nur verstehen konnten sie ihn nicht. Leise Geräusche drangen durch das Fenster herein. Lachen und fröhliche Rufe, die durch den warmen Septembertag hallten, wie die Echos einer vergangenen, unbeschwerten Zeit. Einer Zeit, als Harry noch geglaubt hatte. An Dumbledore. An ewige Freundschaft. An das Gute. An ein glückliches Leben mit Sirius. An ein Leben ohne Voldemort.
 

Jetzt schwebte diese riesige Verantwortung für das Wohl oder Wehe der Zauberwelt wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf und er fühlte förmlich, wie die Klinge bereits seine Haut ritzte. Entweder er würde die Kraft finden, dem Henker sein Beil zu entreißen, oder er würde für immer von hier fortgehen und die Übrigen ohne ihren Held zurücklassen.
 

„Ja, ohne ihren Held.“, dachte er, öffnete die Augen wieder und blickte gegen den Betthimmel, ohne ihn wirklich zu sehen. „ Aber was wissen Sie denn schon darüber, wie es ist, ich zu sein. Ich will das alles nicht. Ich will nicht der sein, der allein gegen das Böse diese Welt in den Kampf ziehen muss. Warum nur ausgerechnet ich? Soll doch jemand anders sich darum kümmern.“
 

Das Allerschlimmste war, das es keinen Grund gab. Er hatte nichts getan, was es erklärt hätte. Seine Eltern hatten nichts getan, dass sie zu einem größeren Feind Voldemorts machte als viele andere. Dessen ungeachtet hatten sie ihr Leben lassen müssen. Ihr Leben für seines. Harry wurde übel bei dem Gedanken. Vielleicht, wenn es ihn nicht gegeben hätte, wären seine Eltern noch am Leben. Sie hätten in Sicherheit sein können. Warum hatten sie nicht besser aufgepasst? Warum hatten sie es nicht geahnt. Warum hatte niemand geholfen? Warum hatten sie ihn nur allein gelassen?
 

Aber seine Eltern waren nie ein bewusster, greifbarer Bestandteil seines Lebens gewesen und der Schmerz, den ihr Tod in ihm wachrief, glich eher einem undeutlichen Sehnen nach dem, was nie gewesen war. Sirius aber war für Harry da gewesen, hatte ihm dem näher gebracht, was ein Leben mit einer Familie am ähnlichsten sah. Sein Tod fühlte sich noch frisch an, wie eine Wunde über der sich eben erst eine dünne, noch verletzliche Kruste gebildet hatte. Er hatte versucht, sie zu verschließen und den Schmerz zu vergessen. Statt zu heilen hatte sie jedoch begonnen sich weiter nach innen zu fressen und brannte nun mehr als je zuvor. Aber jetzt, da es einen Weg zu geben schien, seinen Paten zu retten, konnte er einfach nicht mehr ignorieren, was die ganze Zeit unter der Oberfläche versteckt gewesen war: Einsamkeit.
 

„Sirius“, flüsterte er, doch niemand antwortete. Hatte er nicht selbst den Schatten vorhin weggeschickt? War er nicht selber schuld daran, dass er jetzt alleine war? Eine Welle von Traurigkeit schwappte in Harry hoch und ihre Ausläufer fingen an, seine Wangen hinunter zu laufen. „Warum hilfst du mir nicht? Ich brauche dich doch.“
 

Zuversichtlich blickte er in dem Zimmer umher, doch die Schatten blieben wie sie waren und keiner von ihnen war bereit, lebendig zu werden und die Bürde der inneren Leere von seinen Schultern zu nehmen.

„Bitte!“, wisperte er tonlos und mit wenig Hoffnung, dass sein Flehen erhört wurde. „Bitte, komm zurück. Ich brauche dich.“, aber nichts geschah.
 


 

Lange starrte Harry aus dem Fenster und bemerkte nicht einmal, dass sich die Sonne langsam hinter den Horizont senkte. Niemand betrat den Schlafsaal, obwohl er hörte, dass sich einige Schüler im Gemeinschaftsraum aufhielten. Ihr Schwatzen drang zu ihm herauf und er wusste, wenn er jetzt dort hinunter gehen würde, wäre er wieder einer von ihnen. Dennoch wartete er. Wartete, dass ihn jemand vermissen würde. Dass ihn jemand suchen würde, aber es kam niemand und Harry blieb, was er war: abgesondert und allein.
 

Der Schatten erschien ohne Vorwarnung nur wenige Meter von Harry entfernt. Hochaufgerichtet trat er aus der Dunkelheit, die inzwischen das Zimmer in Beschlag genommen hatte. Seine unsichtbaren Augen fixierten Harry, loteten sein Inneres aus und gaben seiner Sehnsucht ihre eigentliche Gestalt zurück.
 

Immer deutlicher wurden die Züge in dem schattenhaften Gesicht und schließlich stand Sirius in voller Lebensgröße neben Harry Bett. Sein Blick ruhte in Harrys und der war versucht aufzuspringen, um sich der Gestalt in die Arme zu werfen, doch sein Körper verweigerte den Dienst. So war er gezwungen den stummen, leicht betrübten Blick seines Paten zu ertragen und wartete ab, was weiter geschehen würde.
 

Die unheimlich Starre wich von ihm und er hob eine Hand, ließ sie jedoch unverrichteter Dinge wieder sinken, als er sich seiner Dummheit bewusst wurde. Dies hier war nur ein Bild von Sirius, doch wenn er dort so vor ihm stand, war es schwer zu glauben, dass er nicht mehr leben sollte. Die langen dunklen Harre, die wie immer ein wenig unordentlich um seinen Kopf hingen, das schöne Gesicht, ohne den Schmerz darauf, der sich in Harrys Gedächtnis eingebrannt hatte. Ein kleines trauriges Lächeln auf den Lippen, die noch so viele Geschichten hätten erzählen können. Die langen Arme, lässig in den Hosenbund gesteckt, als wisse er nicht genau, wohin damit.
 

„Sirius!“, murmelte Harry und widerstand mit Mühe dem Drang, die Augen vor diesem Bild zu verschließen. Er fühlte die Botschaft, die in diesem Blick lag: Hilf mir!
 

„Ich will ja, aber ich weiß doch nicht wie.“, flüsterte Harry verzweifelt. Er wollte nicht, dass Sirius einfach so wieder verschwand. „Sag mir doch, was ich tun muss! Ich schaffe das alleine nicht.“
 

Minutenlang sah ihn Sirius nur noch an und tat nichts, dann drehte er sich um und ging einfach auf die Wand zu. Kurz bevor er dahinter verschwand, warf er noch eine letzten, leicht vorwurfsvollen Blick zurück, der Harry zutiefst verletzte. „Du willst mir nicht helfen.“, stand darin geschrieben und Harry konnte sein Schluchzen nicht mehr weiter unterdrücken. Wie betäubt starrte er auf die Stelle, an der Sirius verschwunden war.
 

Tief in seinem Inneren mahnte ihn eine kleine Stimme, dass das nicht sein Pate gewesen sein konnte, wenn er Harry jetzt wieder so alleine ließ, doch er verdrängte sie und begann leise zu summen, um sie zu übertönen. Er hatte es mit eigenen Augen gesehen und nichts und niemand würde ihm vom Gegenteil überzeugen. Selbst wenn es nicht Sirius selber war, so stellte dieser Schatten doch seine einzige Verbindung zu ihm dar, denn nur Sirius selber konnte ihn geschickt haben.
 

Harry spürte nicht, dass es kälter wurde im Schlafsaal. Er bemerkte nicht, dass er die Arme um seinen Körper schlang und anfing leicht vor und zurück zu wippen. Er sah nicht, wie im Schloss überall langsam die Lichter angingen. Er saß nur im Dunkeln und starrte an die Wand, immer in der Hoffnung, dass sein Pate zu ihm zurückkam.
 


 

Die Tränen auf seinem Gesicht waren längst getrocknet, als plötzlich Ron zur Tür hineinstürmte. Vor Harry Bett blieb der Rotschopf wie angewurzelt stehen.

„Hey Mann, ich such dich schon überall.“, rief er. „Wolltest du nichts essen? Es gab… Harry?“
 

Angesichts des Lärms, den Ron bereits durch sein Poltern auf der Treppe verursachte hatte, traf seine Anwesenheit Harry nicht unvorbereitet. Er sah seinen Freund an und brachte es fertig, wieder ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. Ron sollte sich keine Sorgen um ihn machen müssen.

„Wie war´s beim Quidditch?“, versuchte er Ron abzulenken „Ich konnte leider nicht. Hatte einen Zusammenstoß mit Malfoy.“ Wie schon bei Professor McGonagall hatte er Erfolg damit.
 

„Echt?“, staunte Ron und ließ sich auf Harrys Bett fallen. „Erzähl! Ich hab nur gehört, dass Malfoy sich mit ein paar Gryffindors angelegt haben soll. Hat es wohl nicht lassen können, mit seiner ach so reinblütigen Familie anzugeben und ist wohl an ein paar Viertklässler geraten, denen das gar nicht gepasst hat. Danach haben sie ihn wohl mal seine eigene Medizin kosten lassen. Soll gerannt sein wie ein Hase, das miese Frettchen. Aber was hast du damit zu tun?“
 

„Ich hatte das Vergnügen, ihn in der Bibliothek zu treffen.“, erklärte Harry bereitwillig. „Leider sind dabei ein paar Regale zu Bruch gegangen. War aber wirklich nicht meine Schuld; er hat angefangen.“
 

Ron grinste nur und schlug Harry auf die Schulter. „Selbst wenn er es nicht getan hätte: Für irgendetwas wird es Malfoy schon verdient haben, so viel steht fest. Und wenn es nur dafür ist, dass diese dämlichen Slytherin schon wieder die besten Trainingszeiten gekrallt haben. Miese Schlangenbrut! Wenn ich den selber in die Finger bekommen hätte, dann wäre weit mehr zu Bruch gegangen, als nur ein paar lumpige Regale. Dieser…“
 

Bei diesen Worten machte Ron ein dermaßen aufgebrachtes Gesicht, dass Harry nicht anders konnte, als lauthals loszulachen.

„Oh, Ron.“, prustete er. „Du solltest dich mal sehen. Wenn ich Malfoy wäre, würde ich an seiner Stelle beim nächsten Spiel gegen die Mannschaft aus Gryffindor krank machen. Du siehst aus, als würdest du jeden aus Slytherin schon mit einem Blick vom Besen fegen.“
 

„Ja, lach du nur.“, knurrte Ron finster. „Auf dich haben sie ja auch im letzten Jahr keine Lieder gedichtet. Aber denen werde ich es zeigen. Wart´s nur ab, die werden sich noch umschauen, wenn ich erstmal Co-Trainer bin. Ich, Ronald Weasley, werde der beste Hüter und Mannschafts-Kapitän werden, den Hogwarts je gesehen hat.“
 

„Äh…warst du nicht gerade noch bei Co-Trainer?“, fragte Harry vorsichtig. Er wollte Ron nicht unbedingt unsanfter von seinem Höhenflug runterholen, als unbedingt notwendig. Doch wie es aussah, war Ron für solche unterschwelligen Einwände nicht empfänglich.
 

„Jaha, erstmal… aber nächstes Jahr ist Angelina mit der Schule fertig und dann werde ich es bestimmt schaffen, den Posten als Kapitän zu kriegen. Ich muss nur allen zeigen, dass ich wirklich was von Quidditch verstehe. Also von der Taktik und so.“
 

Harry war sich nicht sicher, wie er darauf reagieren sollte. Er erinnerte sich noch genau, was Ron damals in dem Spiegel Nehergeb gesehen hatte. Dieser magische Spiegel der jedem, der hineinsieht, seinen allergrößten Herzenswunsch zeigt. Ron hatte sich selbst damals als Schulsprecher gesehen, als Gewinner des Hauspokals für Gryffindor und als Kapitän der Quidditch-Mannschaft. Harry konnte nur zu gut verstehen, wie sich Ron fühlte, da ihm diese Ziele jetzt zumindestens teilweise in erreichbare Nähe gerückt waren.
 

Wenn er so das entschlossene Gesicht seines Freundes sah, schämte sich Harry ein wenig. Einerseits, weil er Rons Begeisterung für Quidditch zwar teilte und das Gefühl, auf einem Besen zu sitzen schon sehr vermisste. Aber er merkte auch, dass es nicht mehr so schlimm war, wie er angenommen hatte. Im letzten Jahr war er wütend deswegen gewesen, weil Umbridge es ihm verboten hatte. Doch erfahren zu müssen, dass er durchaus ersetzbar war und das hatte seiner Leidenschaft für den Sport einen ziemlichen Dämpfer verpasst. Wie sehr war ihm allerdings erst später klar geworden, denn vor den Ferien zu viel passiert, um sich noch über Quidditch den Kopf zu zerbrechen.
 

Die andere Sache, die ihn dabei beschäftigte, war die Tatsache, dass er seinen Traum nicht mit solcher Zielstrebigkeit verfolgen konnte wie Ron. Er war hier an die Regeln gebunden, die ihm fast jede Möglichkeit nahmen, gegen Dumbledores Willen und ohne sein Wissen etwas für Sirius zu tun. Die einzige Möglichkeit lag darin, Sirius Schatten zu vertrauen und zu hoffen, dass er letztendlich wusste, was richtig war.
 

Ganz wohl war ihm nicht bei der Sache, als plötzlich…
 

Ein scharfer Schmerz durchfuhr Harry und seine Hände fuhren reflexartig zu der Narbe an seiner Stirn, die mit einem Mal wie Feuer brannte. Bilder stürmten auf ihn ein und heißer Triumph fuhr durch seinen Geist. Voldemorts Triumph.
 

Vor ihm auf dem Boden lag ein Mann und Harry wusste, was gleich geschehen würde. Voldemort würde ihn töten und Harry konnte nichts tun, als zuzusehen. Er sah in Voldemorts Gedanke, dass der Mann eigentlich nichts getan hatte. Er war unwichtig und würde beseitig werden, doch die Information, die er vor seinem Tod erbracht hatte, war Gold wert gewesen. Er…
 

Der Gedankengang wurde gestoppt, als sich Voldemort offensichtlich Harrys Präsenz bewusste wurde. Harry fühlte, wie erst der Hass und dann eine noch viel größere Freude in dem Herrn der Todesser aufflammten. Harry wollte sich zurückziehen, doch er konnte es nicht. Seine Kraft reichte nicht aus, um die Verbindung zu unterbrechen. Voldemorts Verstand hielt ihn fest wie ein Schraubstock und zwang ihn zuzusehen, was geschah.
 

Er spürte, wie er oder viel mehr Voldemort seinen Zauberstab in den Umhang steckte und auf den am Boden liegenden Mann zutrat. Seine klauenartigen Hände griffen nach dem Hals des Opfers und fingen an zuzudrücken. Harry wusste, dass Voldemort dies nur tat, um ihn, Harry Potter, leiden zu lassen und trotzdem fühlte es sich an, als würde er selbst das Leben aus dem röchelnden Körper herauspressen. Er sah die Angst in den Augen des Mannes und genoss seine Macht. Es war so einfach und der menschliche Körper so zerbrechlich.
 

Nur noch schwach nahm er die Umrisse seines Schlafsaals in Hogwarts war und sah, wie er zu Boden glitt, die Hände immer noch gegen seine Narbe gepresst. Glühendes Feuer brach daraus hervor und benebelte seine Sinne. Die Schmerzen waren unerträglich, als würde sein Kopf in tausend Stücke zerspringen. „Nein, ich will das nicht sehen“, wimmerte er schwach. „Mach, dass es aufhört!“

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Mit einem Mal wurde die Vision unscharf und er merkte, wie ihn etwas zurückholte. Ein Schleier legte sich über das Bild und es verschwand, als hätte es nie existiert. Als letztes Gefühl von Voldemort nahm er noch dessen Überraschung darüber war, dass Harry es geschafft hatte, ihm zu entkommen.
 

Als er die Augen aufschlug, brannte seine Narbe immer noch und sandte pochende Schmerzen durch seinen Kopf. Ihm war heiß und schwindelig und obwohl er nichts gegessen hatte, glaubte er, sich gleich übergeben zu müssen. Undeutlich konnte er Rons Gesicht erkennen, der ihm irgendetwas zuzurufen schien, aber auch das, war jetzt unwichtig. Viel wichtiger war, wer ihn zurückgeholt hatte.
 

Der Schatten stand neben Harry und blickte auf ihn herab. Diesmal stand in seinem Blick kein Vorwurf, sondern lediglich Interesse. Interesse an ihm, Harry, und daran, dass es ihm gut ging, da war sich Harry sicher. Sirius Schatten hatte ihn vor Voldemort gerettet, in dem er einen Schild in seinem Kopf aufgebaut hatte, den der bösartige Zauberer nicht zu durchdringen vermochte. Jetzt erkannte Harry auch, dass es dasselbe Gefühl gewesen war, das er im Zug schon einmal gehabt hatte. Sirius Schatten hatte ihn auch da vor Voldemort beschützt.
 

„Danke!“, flüsterte er schwach und sank in eine erlösende Ohnmacht.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2004-12-02T19:56:04+00:00 02.12.2004 20:56
Sehr gut! Wirklich tolles, intensives Kapitel. Dem armen Harry bleibt aber auch nichts erspart!
Ich finde es super, wie du mit dem Schatten umgehst. Man weiß so gar nicht, ob er Freund oder Feind ist. Immerhin zeichnet er sich ja nicht gerade durch Feinfühligkeit aus.
Ich bin wohl genauso verwirrt wie Harry im Moment.
Ist der Schatten wirklich Sirius' Geist?

P.S.: Ich liebe diese Metaphern mit dem Staub und der Maus...


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