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One Wish

von

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Kapitel I - Das Ende eines Sommers

Nun ist es also so weit... Equinox ist vollendet und es wird Zeit, zu neuen Ufern aufzubrechen, kurzum: Hier ist endlich das erste Kapitel meiner neuen Geschichte One Wish. Ich habe mich so sehr darauf gefreut, es zu schreiben, dass es mir jetzt ganz unwirklich erscheint. Aus den vielen Ideen, die mir dazu schon so lange durch den Kopf gegangen sind, ist endlich etwas Stoffliches geworden, und... ich mag es. Es ist vielleicht nicht ganz so, wie ich erwartet hatte, aber es ist eben doch immer noch etwas vollkommen anderes, eine Geschichte zu planen und sie zu schreiben. Ich hoffe, dass ein paar Verrückte diesen Neuanfang miterleben und wünsche jedem viel Spaß bei den ersten Zeilen von One Wish! Fünkchen - that's for you. ^_~
 

Es gab genau zwei Dinge, die Kitai mochte: Sonnenuntergänge in den Straßenschluchten von Atacca Falls und Vergnügungsparks bei Nacht. Er konnte stundenlang durch die überfüllten Gassen zwischen Buden, Billigrestaurants und garantiert magen- und rückgratfeindlichen Attraktionen schlendern, ohne dabei einen einzigen Cent ausgeben zu müssen. Denn bei seinen Besuchen auf dem alljährlichen Volksfest zu Ehren der Stadtgründung, der Sommerhitze, der trotz unverschämter Preise unverändert zahlungswilligen Besucher oder eben irgendwelcher anderen ehrenwerten Umstände ging es ihm keineswegs um Nervenkitzel, schlechtes Essen und teuren Alkohol.

Was Kitai wieder und wieder zwischen die grölenden und kreischenden Menschenmassen trieb (obwohl er Menschenmassen an und für sich nicht unbedingt viel abgewinnen konnte), das waren die Lichter, Tausende und Abertausende vielfarbiger Lichter. Überall blinkte, funkelte und glitzerte es, wurde Sternenregen aus kaltem blauem Plastik in die Lüfte gewirbelt, formten sich rasende Muster, Blumen und Feuer im Takt der dröhnenden Musik. Hier das psychotisch-kindliche Zirkusliedchen eines halsbrecherischen Kettenkarussells, dort ein Schlager, von rechts unmelodische Technorhythmen, deren viel zu laut eingestellte Bässe entfernt an die lieblichen Geräusche einer Großbaustelle erinnerten.

Inmitten dieser infernalischen Sinfonie vollkommen unstimmiger, deshalb aber nicht minder selbstbewusst lautstarker Musikuntermalung, der ewig gleichen, sinnlosen Werbe- und Anfeuerungsrufe der Schausteller und des grellen Licht- und Bilderspektakels schien es keinen Ort zu geben, der nicht irgendwie roch. Oder besser gesagt: stank. Es stank nach Öl, nach Bier und billigen Parfums, nach Schweiß und altem Fett, nach stark überstrapaziertem Plastik und dem Matsch der Lose, die als undankbare Nieten ein feuchtes Grab in der einen oder anderen Pfütze gefunden hatten. Außerdem roch es nach Sommer, dem trägen Sommer einer mittelgroßen Stadt, nach warmem Asphalt, heißgefahrenem Reifengummi und künstlichem Softeis. Nach Zuckerwatte, Gummibärchen und Liebesäpfeln, manchmal sogar noch dem Heu der Kinderreitponys, die zwischen Schiffschaukel und Achterbahn ein trostloses Leben fernab jeglicher Freiheit führten.

Von dieser gnadenlosen Reizüberflutung drang ab und an ein klein wenig Funkeln, Leuchten, Dröhnen und Wirbeln an Kitais Augen und Ohren und erzeugte dann ein ganz, ganz schwaches Kribbeln in seiner Brust. Manchmal blieb er stehen, verweilte kurz zwischen der auf mexikanisch getrimmten Berg- und Talbahn, auf der sich rot-weiße Halbkugeln durch ein Labyrinth aus stählernen Hügeln und blinkenden Plastikkakteen schlängelten und drehten, und dem von Comicmagiern und leicht bekleideten Neonelfen verunzierten Spiegellabyrinth. Atmete die von Gerüchen und dem sinkenden Vorhang der Sommerhitze schwer gewordene Luft ein. Ließ seinen Blick starr in die Ferne schweifen, dass die Lichter und Budendekorationen ihn nur noch als funkelnder, grellbunter Nebel von allen Seiten her einhüllten, frei von Konturen und klaren Linien.

Dieser Nebel verschluckte alles – die Menschen um ihn herum, das blecherne Lachen des Metallgeistes, der weiß und drohend über dem Eingang der nahe gelegenen Geisterbahn thronte, die Pommes- und Schießbuden, ja selbst die fernen, im Glanz der Jahrmarktattraktionen unwahrscheinlich blass wirkenden Lichter der verhältnismäßig niedrigen und auch sonst nicht unbedingt beeindruckenden Hochhausbauten Atacca Falls’. Und obwohl ein Großteil der normalsterblichen Stadtbevölkerung in dem sommerlichen Spektakel nicht viel mehr als ein nahezu unerträgliches, leider aber auch unvermeidbares Übel sah, war in Kitais Augen die Jahrmarktsaison das mit großem Abstand Beste, was sämtliche zwölf Monate des Jahres zu bieten hatten.

Alles andere war ihm mehr oder weniger gleichgültig.

Dies lag zum einen daran, dass Kitais Leben in besagter Kleinstadt namens Atacca Falls nun wirklich alles andere als abwechslungs- oder gar ereignisreich war. Jeder einzelne Tag war geprägt von einer unumgänglichen Ähnlichkeit zum Vorangegangen und Darauffolgenden. Manchmal war sich Kitai fast schon sicher, dass jener Mensch, der einst das Wort Alltag erfunden hatte, ein Einwohner von Atacca Falls gewesen sein musste. Gestern war heute und heute war morgen, Veränderung war ein Fremdwort, ein bedrohliches noch dazu, und es geschah nichts, was nicht irgendwann in jüngster Zeit schon einmal geschehen wäre.

Und die Einwohner von Atacca Falls waren glücklich damit.

Wenigstens diejenigen, die sich zu Kitais mehr oder weniger freiwilligem Bekanntenkreis zählen durften, und das waren (zum Glück!) nicht sonderlich viele. Kitais Umfeld beschränkte sich genau genommen auf seine Nachbarn, seine Familie und seine Klassenkameraden, oder anders ausgedrückt: Auf all jene Menschen, die entweder genügend Geld, genügend Lebensjahre oder genügend wohlhabende Lebensgefährten ihr Eigen nennen durften, um sich eines der freundlichen weißen Einfamilienhäuser leisten zu können, die samt Briefkasten, Gartenzaun und gepflasterter Garageneinfahrt wie ein freundlich helles Einfahrtstor jeden Besucher von Atacca Falls willkommen hießen. Es war eine Vorstadtsiedlung wie aus dem Bilderbuch. Eine vom Typus ganz tief aus der Klischeekiste gegriffen, wie man sie sonst nur aus schlecht gemachten Vorabendserien, Familiendramen und Horrorfilmen kannte.

In dieser Welt war Kitai aufgewachsen und er kannte nichts anderes. Nichts anderes als diese Gärten, Zäune, Briefkästen und Garageneinfahrten, hinter denen sich Tag für Tag das ereignislose – Verzeihung, das idyllische Leben der etwas besseren Gesellschaft Atacca Falls’ abspielte, und die sich eigentlich alle wie ein Ei dem anderen glichen, wenn man von der individuellen Note einiger Gartenzwergkolonien, Teichanlagen und Plastikflamingos einmal großzügig absah. Dekorationen wurden durchaus gern gesehen, solange sie nicht ins Auge stachen, schön konservativ und auf gar keinen Fall geschmackvoll waren. Immerhin bestand ja die Gefahr, sich von den Nachbarshäusern positiv abzuheben, und das durfte nun wirklich nicht sein!

Individualität – dieses Wort klang in den Ohren der Vorstädter sogar noch bedrohlicher als Veränderung. Es war bloßes Gift für das makellose Antlitz der strahlenden Häuserfassaden, es war wie eine Rattenplage, die bekämpft werden musste. Und die Tötungsmaschine für das Ungeziefer funktionierte bestens, sie wurde Tag für Tag aufs Neue geölt, und wer sich nicht fügte, wurde entweder gefügig gemacht oder strich nach kurzer Zeit freiwillig die Segel. Für einen Menschen wie Kitai, der in dieser lebensfeindlichen Umgebung groß geworden war, gab es keinen Zweifel an der Funktionsfähigkeit dieses Systems. Auch nicht an dessen Zweckmäßigkeit. Und so reagierte er darauf eben auf die einzig mögliche Weise: Er passte sich an.

So gut das eben möglich war.

Kitai hatte kein Problem damit, zu lächeln, wenn er lächeln musste. Er hatte immer ein paar freundliche Worte auf den Lippen, er war durch und durch sympathisch und er wusste es auch. Woher genau diese Wirkung kam, konnte er sich nicht erklären, wahrscheinlich war sie das Ergebnis jahrelangen harten Trainings. Aber wen wunderte es, dass in einer so oberflächlichen Welt wie der Vorstadt von Atacca Falls nichts anderes als Oberflächlichkeit der Schlüssel zu… eigentlich allem war? Manchmal kam es Kitai ein bisschen so vor, als ob sein ganzes Leben tatsächlich eine Art Theaterstück oder Fernsehserie wäre. Drehbuch samt Dia- und Monologe schrieb er bereits im Voraus, um sich dann später als glorreicher Hauptdarsteller aus der Ferne brillieren zu sehen. Denn Schauspielen konnte er, ganz ohne jeden Zweifel. Was ihm eher Probleme bereitete, war das oft zitierte wahre Leben.

Es war nämlich so, dass Kitai irgendwann im Laufe seines Lebens vergessen hatte, wie man lacht. Er konnte nicht sagen, wann und aus welchem Grund das geschehen war (genau genommen kamen mehrere Ereignisse in Frage, von denen er keines mit Sicherheit ausschließen oder als einzig wahre Ursache bestimmen konnte), aber es war nun einmal eine Tatsache: Kitai konnte nicht lachen. Er tat es natürlich trotzdem ab und zu, nicht ganz so häufig, wie er lächelte, aber doch immer noch oft genug, um seine positive Ausstrahlung nicht zu gefährden. Doch letztlich war das eine wie das andere nicht mehr als das bloße Nachahmen einer emotionalen Regung, deren eigentliche Bedeutung er längst vergessen hatte.

Natürlich kam es ab und an vor, dass selbst Kitai etwas hörte, das er ernsthaft lustig fand. Aber auch das stellte er dann mehr sachlich fest, er registrierte es, ohne tiefer davon bewegt zu werden. Er konnte es nicht so recht erklären, aber irgendetwas schien da auf seinen Schultern zu lasten, das zu schwer war, als dass er es einfach hätte abstreifen und unbeschwert weiterleben können. Nichts, was er tat, war unbefangen, alles folgte stets einer planvollen Logik, aber vielleicht bekam er ja gerade deshalb immer das, was er wollte. Wenigstens in dieser kleinen Welt, in der er lebte.

Das alles war übrigens nicht immer so gewesen. Kitai wusste, dass es andere Zeiten gegeben hatte, und dieses Wissen war das Einzige, was ihn ab und an immer noch schmerzte. Ansonsten hatte er sich in sein Schicksal gefügt, und es war ihm nicht einmal sonderlich schwer gefallen. Kitai störte sich nicht an Oberflächlichkeit, ganz im Gegenteil. Er war froh, wenn er Menschen auf Distanz halten konnte, ohne dass sie es merkten oder sich daran störten. Im Grunde genommen hätte sein Leben genau so und nicht anders verlaufen sollen: Hier und dort ein bisschen Smalltalk, ein einstudiertes Lächeln, eine treffende, aber harmlose Pointe, und für den Rest des Tages durfte er dann seine Ruhe haben.

Leider gab es ausgerechnet in diesem Punkt eine grundlegende Diskrepanz zwischen dem, was Kitai wollte, und dem, was Kitai hatte. Er war nun einmal das genaue Gegenteil von unauffällig, und irgendwann in seinem Leben war er an diesen Punkt gekommen, an dem es nur noch zwei Möglichkeiten für ihn gab, nämlich im Mittelpunkt oder im vollkommenen Abseits zu stehen. Im Grunde genommen war alles an ihm irgendwie seltsam, und das fing schon mit seiner äußerst ungewöhnlichen Entstehungsgeschichte an.

Die Evolution des Kitai Kawashima begann in einem Vorort von Berlin, genauer gesagt in einem kleinen Lokal, in dem eine Studentin in Geldnöten einem japanischen Geschäftsmann einen Vermouth Cassis servierte. Es war nicht die letzte Nacht und nicht der letzte Cocktail, den die beiden miteinander teilen sollten, und knapp neun Monate später erblickte Kitai das Licht der Welt. Die größte Angst unserer armen Studentin, nämlich in noch größere Geldnöte zu geraten, sollte sich übrigens nicht bewahrheiten, denn ihr nobler Geschäftsmann hatte gegen einen so entzückenden kleinen Thronfolger ganz und gar nichts einzuwenden. Und als er der armen Studentin einige Wochen später anbot, ihm zu einer sogar noch besseren Anstellung in die Vereinigten Staaten von Amerika zu folgen, gab es für sie kein Halten mehr.

Kitai konnte sich an seine frühesten Tage in Deutschland nicht mehr erinnern, obwohl ihn seine Eltern ganz pflicht- und traditionsbewusst sogar gleich dreisprachig erzogen hatten. Trotzdem hatte ihm diese Herkunft einen gewissen Stempel aufgedrückt, und längst nicht jeder fand es cool, irgendwie europäisch und dabei irgendwie auch noch asiatisch zu sein. Er wusste nicht mehr, wie oft man ihm schon das böse Wort mit N hinterhergerufen hatte, bevor er überhaupt dessen Bedeutung kannte. Später in der Schule hatte er dann erfahren, dass er gewissermaßen eine Allianz des Bösen war, eine Mischung aus Holocaust und Pearl Harbour, und das war nicht unbedingt eine gute Voraussetzung, um Freunde zu finden, wenigstens in der älteren Generation.

Das andere Problem lag irgendwo in Kitais Genen. Niemand hatte es bislang erklären können, aber weil es auch nicht gefährlich zu sein schien, hatte man irgendwann aufgehört, nach der Ursache zu forschen. Kitai hatte die asiatischen Gesichtszüge seines Vaters geerbt, aber der Rest war ein einziges Rätsel. Sein Haar weder so schwarz wie das des großherzigen japanischen Geschäftsmannes, noch schimmerte es rötlich braun wie das seiner Mutter. Es war schneeweiß. Auf den ersten Blick oder im Dunkeln hätte man es vielleicht für ein sehr helles Blond halten können, aber bei genauerem Hinsehen war Weiß nun einmal Weiß und blieb Weiß, auch wenn so etwas nicht zu einem jungen Menschen passte.

Zwar zu einem jungen Menschen, dafür aber leider nicht zu einem Halbjapaner passte hingegen die Farbe seiner Augen. Seine Iriden waren von einem hellen Türkis, und nicht nur deshalb wirkte sein Blick unheimlich kalt. Dies schien aber glücklicherweise niemand zu bemerken, schon gar nicht, wenn er lächelte, denn wer in Atacca Falls sah einem anderen Menschen schon wirklich in die Augen, wenn er mit ihm sprach? So oder so war Kitais Aussehen eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, und zu allem Überfluss gab es dann auch noch… es. Und das war überhaupt das größte Mysterium von allen.

Ganz genau auf der Mitte von Kitais Stirn prangte etwas, von dem kein Arzt, kein Fachmann hatte sagen können, was es war und woher es kam oder was man dagegen tun konnte. Irgendwann hatte man sich auf eine Pigmentstörung geeinigt, aber warum diese Pigmentstörung eine exakt symmetrische Form hatte, ein nach oben offener Halbkreis mit einem tropfenförmigen Fleck und zwei kleineren Punkten darüber und einem weiteren Punkt darunter, dafür hatte niemand eine Erklärung gefunden. Ein bisschen sah es aus wie ein geschlossenes Auge, und wer es sah, musste unweigerlich an eine Tätowierung denken. Eine Tätowierung in der Vorstadtsiedlung, noch dazu im Gesicht? Undenkbar!

Für all diese Probleme hatte Kitai eine einzige zufriedenstellende Lösung gefunden: die Flucht nach vorne. Das Etwas versteckte er hinter seinen Haaren, und dann bewies er seinen Nachbarn und Mitschülern, dass er angepasster sein konnte als sie alle zusammen. Jeder hatte irgendein Talent, und Kitais Talent war ein sicheres Gespür dafür, wie er auf andere Menschen wirken musste. Was er gewann, war die Bewunderung seiner Mitschüler und die simpel gestrickten Herzen seiner Nachbarn. Er hatte gute Noten, er hatte Stil, er hatte Geld, er wickelte auch die strengsten Lehrer ganz locker um den Finger, kurzum: Es war eben einfach cool, mit Kitai befreundet zu sein.

Dummerweise gingen mit Sympathie Verpflichtungen einher. Beispielsweise die Verpflichtung, auf Partys zu gehen, obwohl Kitai Partys als reine Zeitverschwendung ansah. Oder die Verpflichtung, Stufensprecher zu werden und sich deshalb für Dinge einsetzen zu müssen, die ihn nicht im Geringsten interessierten. Oder seine Unterhaltungen mit Mrs. Carrigan. Diese Liste hätte sich beliebig lange fortsetzen lassen, und manchmal, nur manchmal, verspürte Kitai das dringende Bedürfnis, wegzulaufen. Er dachte nicht ein einziges Mal ernsthaft darüber nach, aber diese beklemmende Sehnsucht blieb, und in solchen Momenten ließ Kitai gerne die sattgrünen Vorgärten hinter sich und floh in die Straßenschluchten der Downtown, wo er manchmal bis nach Einbruch der Dunkelheit umherstreifte. Seine Mutter hasste diese Ausflüge in das Reich der Unterprivilegierten, und ihr zweiter Ehemann hasste sowieso alles, was Kitai tat.

Aber wie hätte Kitai ahnen sollen, dass dieses harmlose bisschen Rebellion gegen die erdrückende Vollkommenheit der Vorstadt seine leere, aber heile kleine Welt in tausend Stücke schlagen sollte?
 

Es war an einem drückend warmen Spätsommernachmittag, als Kitai die weiße Tür ihres weißen Einfamilienhauses öffnete und über den weißen Steinweg auf das weiße Gartentor zuschlenderte, nicht ahnend, dass in wenigen Stunden nichts, aber auch gar nichts mehr so sein würde, wie es war, wie es immer schon gewesen war und wie es wohl auch immer hätte sein sollen. Mrs. Carrigan zupfte gerade ein welkes Blatt von einem ihrer üppigen Rosensträuche, blickte aber auf, als sie die Tür ins Schloss fallen hörte, und deutete Kitai mit einer wiegenden Kopfbewegung, näher zu treten. Dieser erkannte auf einen Blick, dass er sich ihrem Befehl nicht widersetzen konnte – nicht jetzt, nicht heute – und näherte sich mit einem Lächeln. Ihm war klar, dass er vorsichtig sein musste. Wenn man Mrs. Carrigan eines zugute halten konnte, dann, dass man bei ihr immer, aber auch wirklich immer wusste, woran man war. Dafür sorgte sie auf ihre ganz eigene Art und Weise.

Mrs. Carrigan war ein suburbanes Phänomen, ein kurioses Überbleibsel längst vergangener Zeiten, die es in solcher Form vielleicht niemals wirklich gegeben hatte. Sie war originell, gewiss, auf ihre besondere Weise vielleicht sogar einmalig – aber diese Originalität basierte ausgerechnet auf dem Fundament vollkommener Durchschaubarkeit. Es war nämlich so, dass die gute Mrs. Carrigan über gewisse Indikatoren verfügte, mit deren Hilfe sie der Außenwelt die überwältigende Bandbreite von genau drei verschiedenen Gemütszuständen vermittelte. Ob sie das nun willentlich tat oder vielmehr von irgendwelchen tyrannischen Regungen in ihrem Unterbewusstsein getrieben wurde, wollte Kitai eigentlich gar nicht wissen. Er hatte die Gesetzmäßigkeiten hinter dem Phänomen erkannt, und das genügte ihm vollkommen.

Zum einen war da die Sache mit den drei Schürzen. Ihre Lieblingsschürze, eine intensiv türkisblaue mit großen violetten und pinkfarbenen Tropenblumen, trug Mrs. Carrigan ausschließlich in einem seltenen Zustand zuckersüßer Euphorie, wenn der Himmel besonders blau und ihre Geranien besonders üppig waren. Die zweite war grün, eine satte Farbe wie die von jungem Gras, und sie war von einem zarten Blütenmuster umrankt. Diese Schürze kam am häufigsten zum Einsatz, nämlich immer dann, wenn Mrs. Carrigan gewohnt neutral bis freundlich gestimmt war, stets mit einem leichten Hang zur Gleichgültigkeit gegenüber allem und jedem, das nicht zufällig in ihrem Zierrosenbeet blühte. Dann und wann kramte sie jedoch auch ihre emotionale Schlechtwetterschürze aus den Untiefen ihres Kleiderschrankes hervor, ein formloses Ungetüm mit violett-braun-grau-blassrosa Längsstreifen, und dann war Gefahr im Verzug.

Neben diesem farblichen Frühwarnsystem gab es auch diverse rhetorische Signale, die gegebenenfalls zu einer dezenten Politik der Zurückhaltung anrieten. Oder eben zu einem netten Sonntagnachmittagsplausch, je nachdem. Ihre Mimik hingegen blieb stumm. Das große Problem war nämlich, dass Mrs. Carrigan immer, aber auch wirklich immer lächelte. Kitai hatte sie einmal von der Beerdigung eines alten Schulfreundes heimkehren sehen, und selbst da hatte sie noch ein Lächeln auf ihren Lippen getragen – ein trauriges zwar, aber immerhin. Zum Glück war es nun aber so, dass Mrs. Carrigan nur drei Begrüßungsformeln kannte, die zur Farbe ihrer Schürzen und ihrer momentanen Laune quasi parallel geschaltet waren.

Im Rausch höchster Freude flötete Mrs. Carrigan jedem halbwegs bekannten Gesicht ein beschwingtes „Guten Tag, mein/e Beste/r!“ über ihren makellosen Gartenzaun hinweg. In ihrem eher gleichmütigen Gefühlszustand wurde ein simples „Hallo, mein/e Beste/r!“ daraus, was dann im Fall eines akuten Stimmungstiefes wiederum zu einem kahlen, nackten „Hallo!“ synkopiert wurde. Behielt man dies im Hinterkopf, war der Umgang mit Mrs. Carrigan ein Kinderspiel, wenigstens für einen Menschen wie Kitai. Nur leider machte sie das nicht weniger unerträglich.

Schon gar nicht dann, wenn Mrs. Carrigan Streifen trug.

„Hallo!“, nickte sie Kitai zu, und der nickte zurück.

„Hallo!“, lächelte er, und Mrs. Carrigan lächelte zurück. Kitai spürte, dass er sie ein wenig besänftigt hatte. Mrs. Carrigan mochte es, wenn man sich ihrer Stimmung anpasste.

„Also, hast du das wieder gesehen?“, kam sie ohne lange Umschweife auf den Punkt und zupfte mangels weiterer welker Blätter an einer wasserstoffblonden Strähne ihrer Dauerwelle, die sie wahrscheinlich sogar noch älter aussehen ließ, als sie sowieso schon war. „Ich wohne nun schon so lange mit dieser Mrs. Clifford Zaun an Zaun und ich habe mich wirklich noch nie über sie beschwert“ – das sagte sie übrigens jedes Mal – „aber was zuviel ist, ist zuviel. Schlimm genug, dass eine Frau in ihrem Alter sich noch im Bikini sonnen muss, aber dass sie dabei Champagner trinkt… Champagner, am frühen Nachmittag! Es würde mich nicht verwundern, wenn sie ihre Hunde mit Kaviar füttert. Diese unerträglichen Kläffer!“

Sie rollte mit den Augen, dass ihre tuscheschweren Wimpern zu flattern begannen, und Kitai gab einen angemessenen Laut der Entgeisterung von sich. Er wusste, dass es Mrs. Carrigan im Grunde genommen rein gar nichts anging, was ihre Nachbarin im Schutz des hinter dem Haus gelegenen Garten so alles anstellte – er wusste aber genauso gut, dass Mrs. Carrigans Fenster im ersten Stock nicht umsonst so blitzblank geputzt waren. Vielleicht fürchtete ihr schlichtes Gemüt die Nähe einer dekadenten Millionärswitwe, vielleicht brauchte sie aber auch nur einen kleinen Ärger dann und wann, um glücklich zu sein.

Mehr oder weniger glücklich.

„Sie sollten sich wirklich über den Lärm dieser Hunde beschweren“, sagte er mitfühlend, während er in Gedanken feststellte, dass sich so etwas Glück mit einem Ort wie diesen einfach nicht vertrug. Zufriedenheit, vielleicht, aber nicht Glück. Das war ein viel zu starkes, viel zu gewagtes Wort, das mehr verlangte als diese schneeweiße Leinwand, auf der sich Tag für Tag, Woche für Woche derselbe Film abspielte. „Ich glaube, ich könnte da nicht so geduldig bleiben.“

„Ach, das kommt alles mit dem Alter, Junge“, seufzte Mrs. Carrigan und lächelte dabei. „Ich möchte keinen Ärger in diesen schönen Flecken Erde bringen, weißt du? Frieden ist ein Geschenk, und schlechte Gedanken bringen Rosen zum Welken. Es ist schon alles gut, so wie es ist.“

Kitai nickte, und ganz plötzlich hatte er das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Er war froh, dass sich Mrs. Carrigan mit einem letzten Nicken – wenn sie schlecht gelaunt war, verabschiedete sie sich prinzipiell nur mit einem Nicken – wieder von ihm ab- und ihren zartrosafarbenen besten Freunden zuwandte und er unauffällig den Ort des Geschehens verlassen konnte, ohne damit jemandem zu nahe zu treten. Seine Mutter war noch nicht von ihrer Arbeit im Büro der Firma heimgekehrt, deren Leitung ihr geliebter japanischer Geschäftsmann schon nach kurzer Zeit im Land der unbegrenzten Möglichkeiten übernommen hatte. Ihr Zweitehemann trieb sich wieder einmal in seinem besten Anzug irgendwo in der Innenstadt herum, um nicht zugeben zu müssen, dass er seine Stellung in einer drittklassigen Versicherungsagentur schon vor fast zwei Monaten verloren hatte und sich von seiner Frau beziehungsweise deren Vermögen durchfüttern ließ. Wenn Kitai pünktlich zum Abendessen wieder auf der heimischen Hausmatte antrat, gab es also keinerlei Einwände gegen einen kleinen Ausflug in die City von Atacca Falls, die diese Bezeichnung ja im Grunde genommen gar nicht verdiente.

Die nächste Bushaltestelle war weniger als fünf Minuten von Kitais Haus entfernt. Er wechselte die Straßenseite und grüßte Mr. Wright, der wie jeden Tag damit beschäftigt war, sein Auto zu putzen, einen metallicgrünen Buick Wildcat aus den Sechzigern. Nebenan widmete sich Mr. Cunnigan seinem Gartenzaun, suchte auf Knien mit jahrelang geschultem Röntgenblick nach jeder winzigen Unebenheit, jedem noch so kleinen Fleck in dem makellosen Weiß. In der rechten Hand hielt er eine Dose mit wetterfestem weißen Lack, und er war so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er Kitai überhaupt nicht bemerkte.

Kitai war allerdings auch ganz froh, dass er nicht weiter aufgehalten wurde, denn gerade als die Bushaltestelle in Sicht kam, deren Häuschen – natürlich! – ebenfalls weiß gestrichen war und durch eine gläserne Rückwand noch heller und freundlicher wirkte, bog der Bus um die Ecke und Kitai musste sogar ein bisschen rennen, um ihn noch zu erreichen. Es war keine sonderlich lange Strecke, die er auf diese Weise zurücklegte, aber die Luft war immer noch drückend warm und so war er außer Atem, als er sich auf einen der zahlreichen freien Sitze fallen ließ. Es gab nicht viele Bewohner seiner kleinen Vorstadtsiedlung, die mit dem Bus in die Stadt fuhren. Wenn sie es überhaupt einmal taten.

Die Stadt war ein Ausbruch aus der Routine, aber vielleicht war sie ja auch gerade deshalb zu einer Art Zufluchtsort für Kitai geworden. Die Klimaanlage des Busses surrte knapp einen Meter über ihm und blies ihm einen kalten Luftzug in den Nacken. Er versuchte, ihm wenigstens ein bisschen zu entgehen, indem er mit dem Kopf näher zur Scheibe rückte. Trotz der Hitze flirrte die Luft über dem Asphalt schon seit einigen Tagen nicht mehr. Die wahre Ursache der schweißtreibenden Temperaturen waren Gewitter, die aber meist erst bei Nacht über die heile Welt von Atacca Falls’ Suburbia hereinbrachen. Diese Gewitter mehrten sich, und Kitai wusste, dass sie bald eine kühlere Witterung mit sich bringen würden.

Der Herbst näherte sich mit großen Schritten, und der Sommer ging zuende.
 

Die Hochhäuser in Atacca Falls waren, wie bereits erwähnt, eigentlich gar nicht wirklich hoch, sondern einfach nur höher als die meisten anderen Häuser der Stadt, außerdem viereckig und kahl und ein wenig schmutzig, wie sich das eben für anständige Hochhäuser in etwas weniger guten Vierteln einer mittelgroßen Stadt gehörte. Aber gerade der allgegenwärtige Staub war es, der Kitai immer wieder in diese an und für sich eher triste Umgebung lockte. Wenn nämlich die Sonne unterging, dann wurde der schmutzige Boden in ein ganz blasses Rot getaucht, denn das Licht erreichte den Grund der Häuserschluchten kaum mehr, und ein eigentümlicher Geruch hing in der Luft, nach Asphalt und nach diesem Staub und nach der Wärme des Tages, die sich in den Häuserwänden verfangen hatte.

Es waren ganz besondere Stunden, die Abenddämmerung schien seltsam distanziert und doch viel intensiver, wenn sich das fahle Licht in den umherfliegenden Teilchen brach und dann verschwand. Kitai konnte nicht genau sagen, was ihn daran faszinierte, aber dieser unscheinbare Ort gab ihm vielleicht gerade wegen seiner Unscheinbarkeit die beruhigende Gewissheit, über nichts, aber auch gar nichts mehr nachdenken zu müssen. Er konnte nachdenken, wenn er wollte – natürlich, und oft genug schlenderte Kitai auch durch die schmalen Straßen und wälzte in Gedanken irgendein Problem umher, das ihm meist aber letztlich doch wieder entglitt und sich im Nebel der Gleichgültigkeit verlor. Er war aber nicht dazu verpflichtet.

Heute war jedenfalls einer dieser Tage, an denen er sich ganz der süßen Gedankenlosigkeit hingab. Er setzte einen Fuß vor den anderen und starrte auf das Flirren in der schweren Luft, ohne dass der Tanz der Staubkörner irgendwelche Assoziationen geweckt hätte, ohne auf den Weg zu achten, ohne überhaupt auf irgendetwas zu achten. Diese planlose Willkür konnte er sich an keinem anderen Ort der Welt gestatten, und dafür war er den Straßenschluchten von Atacca Falls unendlich dankbar. Er ging und ging, und als ihm irgendwann das Atmen schwerer fiel und seine Füße müde wurden, ließ er sich einfach an einer Hauswand hinabsinken, lehnte seinen Kopf gegen den rauen Putz und schloss die Augen.

Als er nach einiger Zeit, vielleicht waren es sogar einige Minuten, endlich wieder blinzelte, war das Erste, was er sah, das Blau des Abendhimmels. Es war von violetten Schlieren getrübt, und er sah auch nur einen ganz kleinen Ausschnitt davon, denn die Häuser standen eng beieinander und bildeten so eine Art Rahmen für das zarte Farbenspiel, allerdings einen reichlich schmucklosen Rahmen. Kitai folgte langsam der bröckelnden, schmutzig beigeweißen Wand des gegenüberliegenden Gebäudes, und dann sah er das Mädchen. Sie stand vor ihm und betrachtete ihn schweigend.

Im selben Moment fühlte Kitai einen tiefen Stich in seiner Brust.

Es war eine merkwürdige Situation: Kitai hatte eigentlich noch niemals für irgendeinen Menschen irgendetwas Tieferes empfunden, vielleicht höchstens noch für seine Eltern, aber daran erinnerte er sich nicht mehr so recht. Und nun sah er diesem wildfremden Mädchen ins Gesicht und es schmerzte ihn, warum auch immer. Er schaffte es nicht, seinen Blick wieder von ihr abzuwenden, er schaffte es ja nicht einmal mehr, zu lächeln, und das verwirrte ihn vielleicht am allermeisten.

Später konnte er nicht mehr sagen, wie viel Zeit tatsächlich vergangen war, in der sie sich stumm und reglos angesehen hatten, nur dies und nicht mehr. Er hatte lange nichts mehr so klar und deutlich wahrgenommen wie sie: Ihre tiefschwarzen Augen, ihre feinen asiatischen Gesichtszüge, ihre bleiche Haut. Der schnurgerade abgeschnittene Pony, der ihre Stirn bedeckte, und der Schimmer ihres langen schwarzen Haares. Ihre eigentümliche Kleidung, die mit zahllosen Bändern verziert war und auf ihre Weise unendlich kostbar aussah. Ihre schlanken weißen Finger. Kitai hätte unmöglich ihr Alter schätzen können, denn sie hatte etwas Kindliches, Puppenhaftes an sich, während in dem starren Blick ihrer Augen und in ihrer Haltung so viel… Würde und Erfahrung lag, wie man es selbst bei erwachsenen oder sogar bei alten Menschen selten fand.

Was Kitai erst nach einiger Zeit bemerkte, war, dass ihre bloßen Füße den Boden nicht berührten. Das Mädchen schwebte gute zehn Zentimeter über dem staubigen Asphalt, und darüber hinaus war ihre Gestalt in ein sanftes weißes Leuchten gehüllt, das so selbstverständlich zu ihr zu gehören schien, dass sich Kitai noch kein bisschen daran gestört hatte. Er dachte auch nur ganz kurz darüber nach, ob er nun wachte oder träumte, bevor er feststellte, dass es ihm gleichgültig war. Aber nicht auf die gewohnte Art und Weise. Es war nur einfach bedeutungslos, warum sie hier war oder ob sie eigentlich hier war, solange er sie nur weiterhin betrachten konnte.

„Ihr müsstet uns jetzt verstehen“, sagte sie schließlich, und der Klang ihrer Stimme ließ Kitai frieren. Er verstand nicht, was sie ihm sagen wollte, aber er verstand sowieso kaum noch etwas, so sehr überwältigte ihn die Erkenntnis, dass er seit sehr, sehr langer Zeit zum ersten Mal wieder… fühlte. Es war an sich kein sonderlich starkes Gefühl, aber es war mehr, als er erwartet hatte, und es war anders, es war neu, und es entzog sich ihm, sobald er danach greifen wollte.

Als er begriff, dass das Mädchen innegehalten hatte und offenbar auf eine Antwort wartete, beließ er es bei einem Nicken – zu mehr fühlte er sich außer Stande.

„Verzeiht, wenn Euch unser Erscheinen in Verwirrung versetzt hat“, fuhr die Schwarzhaarige fort und deutete eine Verneigung an. In ihren Bewegungen lag eine Eleganz, wie sie Kitai noch niemals zuvor bei einem Menschen gesehen hatte, nicht einmal bei einem der zahlreichen Sportler, die seine renommierte Privatschule bevölkerten. „Unser Name ist Chikyu no Omoikiru Kagi. Wir sind weit gereist, um Euch hier zu finden, und wenn wir den Pfad auch nur in den dunklen Untiefen des Geistes beschritten haben, so lastet doch unermessliche Erschöpfung auf unserem Körper. Es hat uns große Kraft gekostet, in diese, in die Eure Welt zu finden, und uns bleibt nicht viel Zeit, bevor wir in die unsrige zurückkehren müssen.“

„Du… du hast mich… ich meine… ich glaube, ich verstehe nicht ganz.“ Kitais Stimme klang ganz unbeschreiblich fremd in seinen eigenen Ohren, aber diese Unsicherheit, dieser plötzliche Mangel an Worten, die doch für gewöhnlich seine engsten Verbündeten waren, war nicht das Einzige, das ihn zutiefst verwirrte. Er begriff nicht einmal die Hälfte von dem, was dieses wunderschöne Mädchen ihm sagen wollte, und die andere Hälfte wollte er erst gar nicht begreifen, weil sie allem widersprach, an das er glaubte – was zugegebenermaßen nicht sonderlich viel war.

„Es beschämt uns, Euch diese Ratlosigkeit nicht nehmen zu können, aber bald…“ Sie stockte, und ein leises Keuchen drang über ihre Lippen, obwohl sie es sich ansonsten offenbar nicht gestattete, so etwas wie Anstrengung oder überhaupt irgendeine Gefühlsregung auf ihr Gesicht treten zu lassen. „Bald ist es zu spät für uns, und dann ist jede Hoffnung verloren. Es ist vermessen, sich gegen das Schicksal stellen zu wollen, doch die Hoffnung befähigt uns dazu, und diese Hoffnung seid Ihr.“

„Aber…“ Kitai schüttelte den Kopf und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, was ihm zum ersten Mal seit Langem wieder echte Mühe bereitete, aber am Ende dennoch gelang. Er schaffte es auch, verhältnismäßig ruhig zu antworten, vielleicht nur deshalb, weil die gesamte Situation einfach viel zu absurd war, um sie an Ort und Stelle zu hinterfragen oder sich gar gegen das zu verwehren, was da gerade eben mit ihm geschah. Kitai wusste, dass es ihn grenzenlos überfordern würde, wenn er jetzt auch nur begann, über irgendetwas von all dem nachzudenken, was er nicht verstand, was ihn verwirrte, was ihm unwirklicher vorkam als jeder seiner belanglosen Träume der vergangenen Wochen, und so sperrte sich irgendetwas in seinem Unterbewusstsein hartnäckig dagegen, es überhaupt erst zu versuchen. „Du… nein… Ihr sprecht, als ob Ihr… meine Hilfe benötigen würdet… oder irgendetwas in der Art. Aber ich verstehe nicht, wobei. Wie sollte ausgerechnet ich Euch… helfen können?“

„Ihr müsst mit uns kommen. Ihr, dessen Name Hoffnung ist, nur Ihr könnt die Lichter der Hoffnung aufs Neue entfachen. Das Schicksal ist noch ohne jeden Argwohn, noch wird es Euch zur Seite stehen, das haben wir gesehen. Bitte, Ihr müsst uns glauben. Es ist ein seltenes Geschenk, wenn die Pfade zweier Menschen sich kreuzen, deren Zusammentreffen das Schicksal einer Welt durch die Ströme der Zeiten hinweg bis ins fernste Morgenlicht verändern kann. Der Zeitpunkt ist jetzt und nur Ihr könnt diesen Weg beschreiten. So folgt uns… bitte.“

Kitai war vollkommen überwältigt. Das Mädchen hatte sich erneut vor ihm verneigt, wiederum nicht sonderlich tief, aber er spürte, dass sie kein Mensch war, der es gewohnt war, andere um irgendetwas zu bitten. Dass sie möglicherweise noch niemals um irgendetwas hatte bitten müssen, und dass in ihren Worten und dieser einfachen Geste eine derartige Bedeutsamkeit lag, dass es ihn erschaudern ließ. Sie blickte nur langsam wieder auf, und dann hob sie eine ihrer makellos weißen Hände und streckte sie Kitai entgegen. Ihre Bewegungen waren immer noch unglaublich elegant und geschmeidig, selbst die Art, wie sie ihre Finger spreizte, war schlichtweg… perfekt, sodass sie mehr wie ein vollkommenes Kunstwerk als wie ein wirklicher Mensch wirkte.

Wenn sie denn einer war.

„Wir bitten Euch“, wiederholte sie, und in ihren Blick trat etwas unbeschreiblich Eindringliches, das Kitai unweigerlich zurückzucken ließ.

„Ja, aber… ich muss doch zum Abendessen wieder zuhause sein“, entgegnete er wie gelähmt, und die Banalität dieses Satzes war so unbeschreiblich unpassend, dass es fast schon schmerzte.

„Wir sind uns darüber im Klaren, wie viel wir von Euch verlangen und wie wenig wir Euch davon überhaupt preisgeben können, aber die Zeit rinnt unaufhaltsam durch unsere Hände. Es wird der Augenblick kommen, da wir Euch alles in Ruhe erklären können, aber dies ist kein Augenblick von Worten, dies ist ein Augenblick der Entscheidung.“

„Was ist denn, wenn ich… mit Euch komme? Ich… ich habe diesen Mittwoch eine wirklich wichtige Prüfung in Deutsch, es… werde ich denn dann bis dahin wieder hier sein? Und ich müsste vielleicht noch zuhause anrufen, sonst…“

„Bitte!“ Zum ersten Mal war in der Stimme des Mädchens überhaupt irgendeine Regung abzulesen, und als Kitai sie genauer betrachtete, erkannte er auch schnell, um was für eine Regung es sich handelte, nämlich um Anstrengung. Der Körper der Schwarzhaarigen war gespannt, was ihre aufrechte, stolze Haltung jedoch kaum erkennen ließ, und ein leises Zittern lief durch ihre porzellanfarbenen Finger. Sie schloss die Augen, und mit einem Mal spürte Kitai, wie sich ihm ein Ring der Beklemmung um den Hals legte.

Er konnte es weder in Worte noch in Gedanken fassen, aber irgendein schwer vernachlässigter Teil von ihm begriff, dass dieser seltsame Moment, der nach so langer Zeit endlich einmal wieder anders war als all die anderen Momente, die er tagein, tagaus erlebte, einfach vorüberziehen würde, ohne jegliche Spur zu hinterlassen. Kitai hatte nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wer diese puppenhafte Schönheit war, die sich Kagi nannte, woher sie kam, was sie von ihm wollte oder beispielsweise auch warum sie im Gegensatz zu den meisten herkömmlichen Menschen nicht einfach stand, sondern lieber über dem Boden schwebte. Aber er wusste, dass sie weggehen würde, dass diese unwirkliche Begegnung spätestens mit seinem Erwachen am nächsten Morgen verblassen und jede Bedeutung verlieren würde, und dann…

Dann würde es weitergehen. Er würde wie an jedem anderen Tag das Haus verlassen, jedem Nachbarn ein paar freundliche Worte, ein flüchtiges Lächeln oder auch einfach nur ein kameradschaftliches Kopfnicken schenken, dann würde er in die Schule gehen, würde dort weiterlächeln und weiter und immer weiter, und der nächste Tag würde nicht viel anderes bringen, genauso wenig der darauf folgende und der Tag danach und überhaupt alle weiteren Tage bis zu seinem letzten, und vielleicht meinte Kagi ja gerade das und nichts anderes, wenn sie von Schicksal sprach.

Kitai schluckte. Dann hob er seine Hand und umschloss damit die weißen Finger des Mädchens, ohne recht darüber nachzudenken, was er damit eigentlich bezwecken wollte. Ohne überhaupt über irgendetwas nachzudenken, was so ziemlich allem widersprach, was sein Leben, was sein Handeln für gewöhnlich ausmachte. Da war ganz plötzlich eine Lücke im Drehbuch, eine Schwachstelle in seinem Plan, und jetzt wusste er nicht mehr, was er tun sollte.

Trotzdem lag ein Lächeln auf Kagis Lippen, als sie aufblickte und ihn ansah. Wie alles andere an ihr war auch dieses Lächeln schlichtweg zu perfekt, um noch menschlich zu wirken, und warmherzig war es schon gar nicht. Aber erleichtert… oder zufrieden, das konnte Kitai nicht so recht einschätzen, denn das Gesicht des Mädchens, ganz besonders ihre Augen, wirkten immer noch wie eine wunderschöne Maske. Kitai spürte, wie ein schwacher Windhauch durch sein Haar streifte, das ihm trotz häufiger Proteste seiner Mutter nach wie vor bis über die Schultern hinabfiel. Es war ein angenehmer, warmer Wind, der ihn gar nicht mehr darüber nachdenken ließ, wie ungewöhnlich kalt die Hand der makellosen Schwarzhaarigen war.

Im nächsten Moment zerbrach alles um ihn herum – die Häuser, die Straße, die tanzenden Staubkörner, die von der Abendsonne in ein schweres Rot getaucht wurden, ja selbst in ihm zerbrach irgendetwas. Es ging schnell, so schnell, dass ihm schwindelig wurde, und später hätte er beim besten Willen nicht mehr sagen können, was genau eigentlich geschehen war, nachdem ihm Kagi ein letztes Lächeln geschenkt hatte. Mehrere Sekunden lang hatte er das sichere Gefühl, zu fallen.

Er wollte schreien, aber es gelang ihm nicht, und danach kam Schwärze.
 

Kitai erwachte unsanft und zitternd, als ihm irgendetwas ins Gesicht schlug. Im ersten Moment spürte er nichts als Kälte, dann Nässe, und als er schließlich hochfuhr und gehetzt um sich blickte, nahm er zunächst überhaupt nichts anderes wahr als sehr viel Grün und noch mehr Regen. Es war ein Wolkenbruch der vehementesten Art, das Wasser fiel senkrecht und in großen, schweren Tropfen zur Erde und hatte diese auch schon völlig aufgeweicht, sodass die Wiese, in der er saß, eher einem endlos weiten See glich. Der dichte Vorhang des Regens legte einen Schleier auf die Umgebung, und so begriff Kitai erst nach einigen Sekunden völliger Orientierungslosigkeit, dass er sich inmitten einer weiten Landschaft befand, die sich in sanften, sattgrünen Hügeln bis hin zum wolkenverhangenen Horizont zog.

Dieser Horizont verschwamm jedoch, schon deshalb, weil Kitai wieder und wieder blinzeln musste, denn das Wasser lief ihm in die Augen und nahm ihm die ohnehin schon beschränkte Sicht. Seine Kleidung war vollkommen durchweicht und er fror erbärmlich, so sehr, dass er die Zähne fest zusammenbeißen musste, um nicht mit Selbigen zu klappern. Außerdem verstand er nicht, wo er war und wie er hierher gekommen war, er verstand rein gar nichts mehr und vor lauter Kälte gelang es ihm auch nicht, darüber nachzudenken. Alles, wonach er sich sehnte, war ein Unterstand, und so rappelte er sich mühsam auf und stolperte blind in irgendeine Richtung.

Bei jedem seiner Schritte gab die Wiese ein leises Schmatzen und Glucksen von sich, und Kitai war kaum mehr als zehn Schritte gelaufen, als zu allem Überfluss auch noch Wind aufkam. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht, wodurch er zwar auch nicht mehr nasser wurde, als er das ohnehin schon war, was das Vorankommen aber noch einmal erheblich erschwerte. Er senkte den Kopf und presste die Augen so weit zusammen, dass er gerade noch den Boden vor seinen Füßen erkennen konnte, schlang die Arme fest um seinen Körper und kämpfte sich taumelnd weiter.

Irgendwann sah Kitai überhaupt nichts mehr. Natürlich hätte er so oder so nicht gewusst, wo er war und wohin er hätte gehen sollen, aber letztlich war es doch weitaus mehr Glück als Verstand, dass er nicht einfach an der Hütte vorbeiwankte, tiefer hinein in diese eisige Hölle aus Matsch und feuchtem Gras und fallendem Wasser. Irgendein gnädiger Instinkt ließ ihn den dunklen Schemen hinter dem Wall aus Regen eben irgendwie doch noch wahrnehmen, und so sammelte Kitai noch einmal all seine Kräfte und stapfte auf diesen hölzernen Akt der Gnade zu, dessen dunkle Fassade in diesem Moment überhaupt nicht einladender hätte wirken können. Mit bebenden Fingern öffnete er die Tür, ohne überhaupt darüber nachzudenken, dass diese genauso gut auch hätte verschlossen sein können, und schob sich in das Innere der Zufluchtsstätte.

Der Raum, der ihn empfing, war klein, düster und beinahe vollkommen leer. In einer Ecke lag eine schäbige Matte auf dem Boden, daneben ein Häufchen Kleidung und ein Beutel aus schwarzem Leder. Inmitten des Zimmers stand ein sehr niedriges Tischen, aber keine Stühle. Das Holz der Wände war von einem sehr dunklen Braun, was den Raum noch gedrückter und enger wirken ließ, als er ohnehin schon war. Eine Heizung gab es nicht, was Kitai zwar zutiefst enttäuschte, aber eigentlich doch nicht weiter verwunderte. Dies sah beim besten Willen nicht nach einer bewohnten Hütte aus, sondern bestenfalls… nach einer Jagdhütte oder einer Grillstelle, jedenfalls kein Ort, an dem man sich über längere Zeit aufhalten wollte.

Aber wie um alles in der Welt war er hierher gekommen?

Kitai schüttelte den Kopf und schlüpfte mit zusammengebissenen Zähnen aus seinen triefenden Kleidern. Dann suchte er aus dem spärlichen Angebot an Ersatzwäsche einen bodenlangen Stoffmantel heraus, der zwar recht kühl und außerdem noch staubig, aber wenigstens einigermaßen trocken war, und hüllte sich in dessen schmutziges Schwarz. Die Haare trocknete er sich notdürftig mit einem seltsamen Oberteil, das ihm sowieso viel zu groß gewesen wäre, dann rollte er sich auf der Matte zusammen, so eng es nur irgendwie ging, und wartete darauf, dass ihm ein bisschen wärmer würde.

Er zitterte noch immer, und eigentlich rasten ihm auch tausend Gedanken im Kopf herum, aber sie schienen hinter einem Schleier verborgen, der noch viel dichter war als der Regen. Er war doch eben noch in einer der Straßenschluchten von Atacca Falls gesessen, und dann war dieses seltsame Mädchen herbeigeschwebt und hatte… ja, was eigentlich? Sie hatte irgendetwas gesagt, das er nicht verstanden hatte, etwas von Schicksal und Hoffnung und einigen anderen Dingen, die eher einem mittelklassigen Fantasyfilm entsprungen zu sein schienen. Dann hatte er ihre Hand genommen, und mehr wusste er nicht.

Doch – dass sie gelächelt hatte. Dass auf ihr wunderschönes Gesicht ein ganz merkwürdiges Lächeln getreten war, dieses Bild hatte sich in seine Erinnerung eingebrannt, deutlicher als alles andere. Aber jetzt war sie nicht hier, jetzt war da nur dieser furchtbare Regen und diese heruntergekommene Hütte und irgendwelche Felder, die er nicht kannte oder wenigstens nicht erkannte. Waren das etwa die wenigen Meilen zwischen Atacca Falls und Millside, die in der strömenden Gewalt des Wolkenbruches nur einfach spektakulärer aussahen, als sie eigentlich waren? Aber warum war er hier? Hatte er Atacca Falls verlassen? Hätte er sich daran aber nicht erinnern müssen? Was um alles in der Welt hatte dieses Mädchen mit ihm gemacht?!

Kitai hätte viel darum in gegeben, in diesem Moment einfach kurz die Augen zu schließen und in seinem eigenen Bett aufzuwachen, in diesem kleinen weißen Haus, das er zwar nicht mochte, in dem es aber wenigstens kuschelige Decken, warmen Tee und Fußbodenheizung gab. Seltsamerweise hatte er keine Angst, was ihm durchaus angebracht erschienen wäre, aber die Kälte machte ihm doch zu schaffen. Sie schien bis in sein tiefstes Inneres vorgedrungen zu sein und ließ ihn einfach nicht mehr los, aber seine Haare waren auch immer noch irgendwie nass und dieses schäbige Kleidungsstück nicht unbedingt sehr dick und wärmend.

Trotzdem hätten Kitai keine hundert Pferde mehr dazu gebracht, noch einmal einen Fuß vor die Tür zu setzen. Das aggressive Prasseln des Regens auf dem Holzdach der Hütte war hierbei sicherlich das überzeugendste Argument, außerdem war er erschöpft wie selten zuvor, obwohl er doch gar nicht so weit gelaufen war. Der Kampf mit den Elementen hatte ihm zugesetzt und eine bleierne Schwere lag auf seinen Gliedern. Ihm war immer noch kalt, furchtbar kalt, und so war er fast ein bisschen dankbar dafür, dass ihm schon bald die Augen zufielen und er in einen gnädigen Schlaf versank.
 

Kitai träumte nicht in dieser Nacht – wenn es denn überhaupt Nacht war, denn das Dunkel der Sturmwolken hatte es unmöglich gemacht, die genaue Tageszeit zu bestimmen. Er hätte auch nicht sagen können, ob er nun kurz oder lang geschlafen hatte, er wusste nur, dass er nicht mehr ganz so sehr fror, als er aufwachte. Seine Lider waren immer noch müde, er selbst war immer noch müde, und er begriff, dass ihn irgendetwas geweckt haben musste und er keineswegs schon ausgeschlafen hatte. Kurz überlegte er, ob er sich nicht einfach auf die andere Seite rollen und sich wieder dem Schlaf der Gerechten hingeben sollte, aber erstens fühlte er sich schon jetzt unangenehm verspannt und zweitens wurde er das Gefühl nicht los, das irgendetwas nicht stimmte.

Er gähnte und zwang sich endlich doch zu einem trägen Blinzeln. Zunächst sah er fahles Sonnenlicht, das durch den Spinnwebenvorhang eines kleinen Fensterchens in den immer noch finsteren Raum sickerte. Der Geruch von feuchter Erde lag in der Luft, doch das Hämmern der Tropfen auf dem niedrigen Dach der Hütte hatte aufgehört. Es war auch ein bisschen wärmer geworden, obwohl die triefende Schwere des Regens sich noch nicht ganz verzogen hatte, nur an seinem Hals fühlte Kitai eine eisig kalte Berührung. Er wandte seinen Kopf zur anderen Seite und begriff dann auch ziemlich schnell, worum es sich hierbei handelte, nämlich schlicht und ergreifend um kühles Metall.

Oder anders ausgedrückt: Neben ihm stand ein Mann, halb geduckt angesichts der niedrigen Decke, und hielt ihm die Klinge eines Schwertes an den Hals.

Es war nicht so, dass Kitai leicht zu erschrecken gewesen wäre – ganz im Gegenteil. Eine zeitlang hatte er sich schon fast damit abgefunden, dass ihn absolut nichts mehr erschüttern konnte, nicht der blutigste, subtil verstörendste Horrorfilm, keine menschliche Dummheit oder Grausamkeit und keine noch so niederschmetternde Hiobsbotschaft. Kitai hatte in seinem jungen Leben Dinge gesehen, die ihn mit der zwar frustrierenden, aber doch irgendwie auch beruhigenden Gewissheit erfüllt hatten, jetzt wirklich alles gesehen zu haben, und auch wenn sein alltägliches Leben ihn nicht unbedingt mit großen Aufregungen und Abenteuern konfrontierte, so war er doch beispielsweise in familiären wie auch schulischen Konfliktsituationen stets derjenige, der bis zuletzt einen klaren Kopf behielt.

Allerdings hatte alles seine Grenzen, und so schien Kitais gewohnt analytisch kühler Verstand angesichts dieser doch eher unerwarteten Begegnung wie eingefroren. Hinter seiner Stirn herrschte nichts als dumpfe Leere, und ganz kurz flackerte das Bild des seltsamen Fremden vor seinen Augen. In dem trüben Halblicht der Hütte fiel es ihm ohnehin schwer, die dunkle Gestalt zu erkennen, die da über ihm stand, und außerdem war das, was er zu sehen glaubte, so absurd, dass er mit jeder klammen Sekunde mehr und mehr daran zweifelte, wach zu sein.

Die unwirkliche Szenerie schien einem mittelklassigen Samuraifilm entsprungen zu sein, und ihr Hauptdarsteller trug einen abgenutzten schwarzen Männerkimono und schwarze Hosen. Seine Schuhe wären sicher ebenfalls schwarz gewesen, wenn er denn welche getragen hätte, auf jeden Fall aber war es sein sogar sehr langes Haar, das er hoch am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, wie es Kitai aus diversen Samuraimangas kannte, und das die rechte Hälfte seines Gesichtes fast vollständig bedeckte. Unter den nachtfarbenen Strähnen waren außerdem die gräulich weißen Bahnen eines Verbandes zu erkennen, und bis auf die Haut des Mannes war das auch das Einzige, das an ihm irgendwie hell war.

Das finstere, stechende Schwarz seiner einen sichtbaren Iris, das die Pupille regelrecht zu verschlucken schien, überraschte zwar nicht sonderlich angesichts der Tatsache, dass es Kitai ja offensichtlich mit einem Japaner zu tun hatte, trotzdem passte es ganz unsagbar gut in das düstere Gesamtbild. Selbst sein Schwert war aus schwarzem Metall geschmiedet, und der auch Griff des Katana war mit schwarzem Band umwickelt. Alles in allem sah sich Kitai hier mit einer Alptraumgestalt konfrontiert, wie sie im Buche stand, und auch deren Stimme trug eine lauernde, bedrohliche Kälte in sich, dass es ihn frieren ließ:

„Was willst du hier?“

Kitai war so gelähmt, dass er im ersten Moment gar nicht recht erfassen konnte, was der Samurai des Todes zu ihm gesagt hatte. Dann öffnete er den Mund, um sich irgendwie zu rechtfertigen, sich wie ein Ertrinkender an den rettenden Strohhalm der Worte zu klammern, die ihn jetzt noch dem sicheren Tod entreißen konnten, doch bis auf ein leises Keuchen blieb ihm jeder Laut im Halse stecken. Der Schwarzhaarige ließ ihm aber auch nicht lange Zeit, die richtige Antwort zu finden, und Kitai war sich nicht einmal wirklich sicher, ob es diese richtige Antwort überhaupt gegeben hätte. Er ging in die Knie, packte Kitai bei den Haaren und zog ihn mit einer mechanischen, fast schon… automatisierten Geste nach oben, während er ihm gleichzeitig die Klinge an die Kehle drückte.

Obwohl faktisch nur Sekundenbruchteile vergangen sein konnten, blieb Kitai doch noch genügend Zeit für genau zwei Erkenntnisse: Einmal, dass Töten für diesen düsteren Fremden so selbstverständlich sein musste wie für ihn selbst das Abendessen mit der Familie oder die allmorgendlichen Grußworte zu seinen Nachbarn. Und zweitens, dass er sterben würde. Er wurde gepackt und abgefertigt wie ein Vieh beim Schlachter, und es gab absolut nichts, was er dem hätte entgegensetzen können. Er wusste nicht, wo er war, wie und warum er an diesen Ort gekommen war und wieso da plötzlich dieser Wahnsinnige bei ihm war, der sich ganz offensichtlich dezent in der Epoche geirrt hatte, aber dies war sein Ende, das sinnloseste, absurdeste Ende, von dem er seit Langem gehört hatte.

Kitai stellte gerade fest, dass dies alles eigentlich schon wieder zum Lachen gewesen wäre, wenn er denn noch hätte lachen können, als ihm auffiel, dass er sich nun doch ein bisschen zu viele Gedanken für so eine kurze Zeitspanne gemacht hatte. Er spürte einen schneidenden Schmerz in der Haut an seinem Hals, dann ein Brennen und Wärme und einige andere unangenehme Empfindungen, die ihm lebhaft von einem Kontakt mit der schwarzen Klinge berichteten, auch wenn er es nicht sehen konnte. Ganz kurz überlegte er, ob sich so vielleicht der Tod anfühlte, entschied dann aber, dass dies lächerlich gewesen wäre und dass der Schmerz zwar unangenehm, aber nun wirklich alles andere als schlimm war.

Seine erstarrten Sinne ließen ihn alles in kleinen Stücken wahrnehmen, in unzusammenhängenden Kurzfilmen, und so begriff er auch erst jetzt, dass er die Augenlider fest zusammengekniffen hatte. Er öffnete sie, als er eine Berührung an seiner Stirn spürte, und sah das Gesicht des Mannes in Schwarz nun ganz nah bei seinem eigenen. Die Kälte in dessen Auge ließ ihn frieren, aber vielleicht hatte dieses leise Zittern in seinem Körper ja auch eigentlich vollkommen andere Gründe, und überhaupt lag in den Gesichtszügen des mutmaßlichen Samurai eine ganz eigentümliche Härte, die ihn nur noch ungleich bedrohlicher wirken ließ. Sein Blick schien Kitai zu durchbohren, schien geradewegs in das Innere seines Kopfes vorzudringen, und wiederum verstand er nicht sofort, was dieses schwarze Auge so eindringlich fixierte, bis die rauen Fingerkuppen des Mannes ein weiteres Mal über seine Stirn strichen.

„Das… ist doch nicht möglich“, murmelte er, fuhr dann im nächsten Moment wie unter einem Schlag herum und starrte zwei, drei Atemzüge lang das dunkle Holz der geduckten Tür an. Kitai war nun endgültig viel zu verwirrt, um überhaupt noch irgendetwas begreifen zu können, aber dann hörte auch er gedämpfte Geräusche von draußen – das Rascheln und Stapfen von Schritten im hohen Gras, undeutliche Stimmen, ein abgehacktes Lachen. Er sah, dass der Fremde sein Schwert hatten sinken lassen, dass dessen Körper zwar immer noch gespannt, seine Aufmerksamkeit aber in eine andere Richtung gelenkt war, und da begriff er, dass er vielleicht doch noch eine Chance hatte.

Kitai sammelte sich, dann vergrub er mit einer blitzartigen Bewegung seine Fingernägel in der Hand des Samurai. Er spürte auch hier Verbände, schob seine Finger darunter und krallte sich in der seltsam vernarbten Haut fest, und nun endlich zeigte sich der gewünschte Erfolg: Begleitet von einem hörbaren Lufteinziehen lockerte sich der Griff des Fremden um sein Haar, und mit einem Satz riss sich Kitai von ihm los und taumelte in eine der staubigen Ecken der Hütte. Er sah, wie der Schwarzhaarige neuerdings herumfuhr und ihn mit seinem einen sichtbaren Auge todbringend fixierte, und ganz kurz fragte er sich, ob das nicht vielleicht doch ein Fehler gewesen war. Dann sah er ein, dass er so oder so dem sicheren Tod ins Angesicht blickte und er keine andere Wahl hatte, als diesem letzten leisen Hoffnungsschimmer hinterherzukriechen, und so holte er tief Luft und begann zu schreien, so laut er nur konnte:

„Hilfe! Ich bin hier und er will mich umbringen, Hilfe, bitte, helfen Sie mir! Hilfe! Hilfe!!“

Es verstrichen einige gnädige Schrecksekunden, dann spannte der Samurai erneut seinen Körper an und setzte sich beunruhigend schnell in Bewegung, und so gab Kitai sein Schreien vorläufig auf und stürzte auf die Tür zu. Sein hölzerner Unterschlupf war klein, so lächerlich klein, aber jetzt erschienen ihm selbst diese knapp anderthalb Meter endlos lang, und der Boden unter seinen Füßen schien ein Laufband zu sein, das mit Höchstgeschwindigkeit gegen ihn lief. Er streckte die Arme aus, um den metallenen Griff zu erfassen, der verrostet und schief in seiner losen Fassung hing, doch noch beinahe im selben Augenblick traf ihn ein harter Stoß in den Rücken und irgendetwas riss ihm die Beine weg. Er keuchte, suchte nach einem Halt, doch seine Hand schrammte nur über das raue Holz der Wand, ohne ihn vor dem drohenden Fall zu bewahren.

Und so fiel er eben, schlug mit den Unterarmen hart auf dem Boden auf und wurde noch im nächsten Moment von einem Knie unsanft auf den feuchtkalten Stein gepresst. Eine raue Hand legte sich auf seinen Mund und ein warmer Atem streifte seine Wange:

„Noch ein Wort und du bist tot.“

Der Fremde sprach ganz ruhig, doch Kitai hätte sich dieser unmissverständlichen Anordnung höchstwahrscheinlich selbst dann nicht widersetzt, wenn er dazu noch imstande gewesen wäre. Ganz kurz streifte sein Bewusstsein wieder diesen magischen Punkt irgendwo zwischen Resignation und Aufgeben, dann aber hörte er, wie sich Schritte der Tür näherten. Kitai hielt den Atem an, um den er ob des nicht gerade kleinen Hindernisses in seinem Gesicht ohnehin beständig kämpfen musste, und verbrachte mehrere Sekundenbruchteile in bangem Hoffen. Dann gab die Tür ein empörtes Ächzen von sich und ein kaum merkliches Zucken lief durch den Körper, der ihn so erbarmungslos zu Boden drückte. Er wusste nicht, wer da vor der Tür stehen würde, ob es die Polizei oder irgendein empörter Förster oder einfach nur die Pfleger jener Anstalt waren, aus der dieser Wahnsinnige entkommen war, aber schon das Wissen darum, dass ebendieser Wahnsinnige wen auch immer zu fürchten schien, ließ doch eigentlich nur Gutes hoffen.

Wie gesagt – eigentlich. Denn auf das Ächzen der Tür folgte kein Scharren, kein Lichtschein, keine Gesichter und Arme und Beine, die sich ins Innere der Hütte drängten, sondern nur ein dumpfes Klicken, ein unangenehmes Quietschen, ein weiteres Ächzen und dann noch eines. Kitai hob langsam den Blick, vorsichtig, ohne auch nur einen Millimeter seines Körpers zu bewegen – und stellte fest, dass er eine Kleinigkeit übersehen hatte. Eine leider Gottes entscheidende und im wahrsten Sinne des Wortes hässliche Kleinigkeit. Sie war etwa fünfzehn Zentimeter lang und sieben Zentimeter hoch, bestand aus rostigem Metall und bebte und stöhnte unter den Hieben, die von außen her das Holz der Tür erschütterten, jedoch ohne diesen nachzugeben.

Im Geiste verfluchte sich Kitai dafür, dass er den Riegel nicht eher bemerkt hatte. Dann stellte er mit einem leisen Gefühl des Triumphes fest, dass die Gewalt von außen heftiger wurde und dass sich der rostige kleine Türwächter stetig zusammenkrümmte und sich auch nur noch mit letzter Kraft an seine fleckig rotbraunen Nägel krallte. Und schließlich war beides schlagartig aus seinem Blickfeld verschwunden, Riegel und Tür, und stattdessen wurde er hochgerissen und in Richtung des staubigen Fensterchens gezerrt. Im ersten Moment dachte er überhaupt nichts, und im nächsten dachte er nur, dass das nicht möglich wäre, dass diese kräftige Gestalt in Schwarz in dem engen und splitterigen Holzrahmen einfach stecken bleiben musste.

Sie tat es aber nicht. Mit einer behänden Eleganz, die selbst in Kitai ein leises Gefühl der Bewunderung weckte, schob sich der düstere Fremde durch den Vorhang aus staubigen Spinnweben und zerrte Kitai einfach hinter sich her. Dieser suchte nach einem Halt, nach Gleichgewicht, versuchte, die Kontrolle über seinen Körper zurückzugewinnen, doch der Kampf war vergebens. Bevor er so recht wusste, wie ihm geschah, schlug ihm das modrige Holz auch schon gegen die Schulter und in die Seite, und dann fiel er – nicht unbedingt tief, aber tief genug, dass der Aufprall ihm erst einmal die Luft aus den Lungen trieb.

Kitai wollte schreien, wollte irgendeinen Laut von sich geben, der die Aufmerksamkeit seiner Retter auf ihn gezogen hätte, doch der Fremde ließ ihm keine Zeit dazu. Er packte ihn, zerrte ihn zurück auf die Beine und dann hinter sich her, in einen Wald hinein, von dessen Existenz er in der vergangenen Nacht noch nicht einmal etwas bemerkt hatte. Das Unterholz peitschte ihm ins Gesicht, doch der schraubstockartige Griff seines düsteren Geiselnehmers ließ ihm gar keine andere Wahl als zu rennen, wenn er nicht auch noch stürzen wollte.

Aus den Augenwinkeln nahm Kitai wahr, wie ihnen mehrere dunkel gekleidete Gestalten in das dichte Netz aus Ästen, Wurzeln, Blättern, Nadeln, Moos und Farnen folgten, und erst dann fiel ihm auf, dass der Wald… seltsam war. Kitai hatte sich niemals näher mit Wäldern beschäftigt, er interessierte sich auch nicht dafür, ebenso wenig, wie er sich für das landschaftlich reizlose Umland Atacca Falls’ interessierte. Trotzdem war da irgendetwas in dem finsteren Gesamteindruck der misanthropischen Flora, die ihn mit klauenbewehrten hölzernen Fingern fernhalten wollte, das ihm fremd war.

Ihm blieb nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn der Schatten, der ihn so gewaltsam führte, packte ihn erneut, riss ihn nun doch noch zu Boden und presste ihn auf den rauen Teppich aus Blattwerk und Holz. Genauer gesagt: Er legte sich mit dem ganzen Gewicht seines nicht unbedingt zart gebauten Körpers auf ihn und hielt ihm erneut eine raue Hand vor den Mund, obwohl schon die erdrückende Last auf Kitais Lungen ausgereicht hätte, ihm so etwas Vermessenes wie Sprechen oder gar Schreien vollkommen unmöglich zu machen. Genau genommen konnte er kaum mehr atmen, und das bisschen Luft, das noch in seinen komprimierten Brustkorb passte, war schwer und feucht und roch nach Moos und verwitterter Rinde.

„Keinen Laut!“, zischte ihm der Mann in Schwarz dann auch noch überflüssigerweise ins Ohr, und ganz automatisch verzogen sich Kitais Lippen zu einem dezent erheiterten, schlichtweg perfekt sympathischen Lächeln. Eigentlich war es fast schon schade, dass es niemand außer dem Waldboden sehen konnte. „Wenn sie uns erwischen, sind wir beide tot!“

Kitai versuchte zu nicken, aber der Samurai des Todes verschloss nicht nur seinen Mund, sondern zog ihm mit seinem festen Griff aus irgendeinem Grund auch noch den Kopf in den Nacken. Er hörte ein Knacken im Unterholz, ein Rascheln, das leise Glucksen und Ächzen von Schritten auf feuchtem Laub. Wer auch immer ihnen gefolgt war, schien nun nicht mehr zu rennen, sondern zu schleichen – wenn auch nur mit mäßigen Erfolg. Oder vielleicht sollte es auch so und nicht anders sein. Vielleicht wollten die Verfolger ja gehört werden. Kitai versuchte irgendetwas zu erkennen, sah aber nicht mehr als die blauschwarzen Blätter und die dunklen, dornenbewährten Äste des Busches, hinter dem sich sein unliebsamer Begleiter wohl verbergen wollte. Er konnte nicht ausmachen, wo genau… wer auch immer nun sein mochte, die Geräusche schienen von überall und nirgends herzukommen, und aus irgendeinem Grund machte ihn das nervös.

Kitai fürchtete sich nicht – oder vielleicht tat er es doch und das Gefühl war nur so tief in ihm eingeschlossen, dass es ihn nicht mehr richtig berührte. Er spürte, wie sein Herz heftig gegen seine schmerzenden Rippen pochte, und auch der muskulöse Brustkorb über ihm hob und senkte sich verdächtig schnell. Vom Laufen? Dieser große, kräftige Wahnsinnige mit dem finsteren Auge sah nicht unbedingt so aus wie ein Mensch, der sich leicht in Angst und Schrecken versetzen ließ. Wenn überhaupt. Gut, er sah auch nicht so aus wie ein Mensch, der klar denken und logische Schlussfolgerungen ziehen konnte. Und er hatte ihm vor nicht allzu langer Zeit die Kehle durchschneiden wollen. Und er hatte sich nicht nur im Kontinent, sondern auch im Jahrhundert geirrt. Und außerdem liefen in den Wäldern von Atacca Falls keine mordlüsternen Scharen von Geisteskranken herum, die Jagd auf ihre mehr oder minder harmlosen Mitmenschen machten. Atacca Falls war entschieden zu langweilig, als dass man dort mehr als einem Psychopathen pro Tag begegnen konnte.

Aber vielleicht war das auch gar nicht Atacca Falls?

Mit einem wenigstens innerlichen Kopfschütteln schob Kitai diesen Gedanken beiseite, der erstens vollkommen irrational war und ihn zweitens absolut nicht weiterbrachte. Schön, dieser Wald war seltsam, diese Gegend war ihm gänzlich unbekannt, aber erstens hatten sich die Ereignisse viel zu waghalsig überschlagen, als dass er seine Umgebung eingehend hätte in Augenschein nehmen können, und zweitens kannte er von Atacca Falls sowieso nicht viel mehr als… ja, eben das, Atacca Falls, die Innenstadt, seine heile kleine Vorstadtwelt und die Randbezirke in Ansätzen, sofern es dort noch interessante Läden gab. Er kannte ein paar Ausflugsziele, natürlich, aber diese eintönige Wald- und Wiesenidylle hier sah nicht unbedingt nach einem Besuchermagneten aus. Es war nicht ungewöhnlich, dass ihm dieser Landstrich nicht vertraut vorkam.

Im nächsten Moment wurde Kitai aber sowieso wieder auf die Füße und aus seinen Grübeleien gerissen, und dann ging alles ganz schnell. Noch schneller. Das verhaltene Rascheln und das trockene Knacken des einen oder anderen zertretenen Zweiges steigerte sich zu einem unmelodischen Konzert ebendieser Geräusche, nur viel mehr davon und viel lauter, und dann brach irgendetwas durch das Gebüsch, hinter dem sie eben noch gekauert hatten. Der düstere Fremde fuhr herum, sodass sein langes, pechschwarzes Haar Kitai mitten ins Gesicht gewirbelt wurde. Diese flüchtige Berührung und das Protestgeschrei seines Kreislaufes, der von derart schnellem Aufstehen nicht allzu viel hielt, ließen ihn straucheln, nur ganz kurz, aber diese Unregelmäßigkeit brachte auch seinen wahnsinnigen Geiselnehmer aus dem Takt und Kitai konnte sich losreißen.

Die wiedergewonne Freiheit kam so plötzlich und so unerwartet, dass sie ihn zunächst noch vollkommen überforderte. Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte er in atemloser Starre, dann überlegte er sich ganz kurz, einfach stehen zu bleiben und auf seine Verfolger zu warten, die ihm doch wahrscheinlich nur helfen wollten. Dann begann er zu rennen. Er wusste nicht genau, warum er es tat und was er damit bezweckte, immerhin war er vollkommen orientierungslos, erschöpft und unbewaffnet, und es konnte doch nur wenige Sekunden dauern, bis ihn irgendjemand einholen würde. Außerdem war da so eine leise, boshafte Stimme in Kitais Kopf, die ihm sagte, dass die Geduld des schwarzen Samurai spätestens jetzt ihre wohl ohnehin sehr eng gesteckten Grenzen erreicht haben würde.

Trotzdem lief er, und letztendlich hatte ihn nach wenigen Sekunden niemand eingeholt, sondern er hatte vielmehr einen kleinen, aber doch bedeutsamen Vorteil entdeckt, den er gegenüber sämtlichen Verfolgern besaß: seine Größe. Allerdings im negativen Sinne, dass er eben nicht so groß und durchtrainiert und breitschultrig war wie sie. Kitai schlug mit einem leisen Seufzer des Bedauerns einen ganz besonders unwirtlichen Weg ein, duckte sich unter den langen Armen einiger Nadelbäume hinweg und stürzte sich dann todesmutig in ein regelrechtes Labyrinth von Dornenranken, die hier offenbar ein ertragreiches Parasitenleben führten.

Irgendjemand griff nach seinem Oberteil.

Zuerst drohte Kitai tatsächlich in Panik zu geraten, und das war bei ihm eine ganz merkwürdige Kette von Sinneseindrücken. Erst lief ein Schauer über seinen ganzen Körper, dann machte sich ein leiser Druck in der Bauchgegend breit und schließlich legte sich ein Ring um seinen Hals, der das Atmen einmal mehr zu einem Kraftakt werden ließ. Irgendetwas fehlte dabei immer noch, etwas, das über die reine Körperlichkeit dieser unangenehmen Empfindungen hinausging, aber vielleicht war auch gerade dieses Fehlen sein großes Glück, denn so fügte sich Kitai nicht in eine tückische Starre der Angst, sondern schaltete nach kürzester Zeit seinen logischen Verstand wieder ein.

Hinter ihm war niemand. Was ihn festhielt, war nichts anderes als eine Dornenranke, und es fiel Kitai nicht unbedingt schwer, das schwarze Oberteil zu zerreißen, das er sich aus den kärglichen Habseligkeiten des seltsamen Fremden geborgt hatte. Er legte ohnehin keinen gesteigerten Wert auf eine weitere Begegnung mit ihm, bei der er es hätte zurückgeben können. Gerade dieser Gedanke brachte ihn dann endgültig wieder zur Vernunft, ließ ihn aber leider auch begreifen, dass dieses kurze beschämende Zwischenspiel nicht ohne Folgen geblieben war. Wieder hörte er Geräusche, Schritte, Scharren, Glucksen, Ächzen, und ein neuerlicher Schauer lief ihm den Rücken hinab, als ihm bewusst wurde, dass er wertvolle, vielleicht entscheidende Sekunden verloren hatte.

Wieder begann er zu rennen. Das dichte Gewirr der graugrünen Ranken machte das Vorankommen nicht unbedingt sehr viel einfacher, aber Kitai starrte einfach vor sich hin, und wie so oft automatisierten sich seine Bewegungen und er verlor in gewisser Weise den Bezug zu seinem eigenen Körper. Er kannte dieses Phänomen, und manchmal ängstigte es ihn, sehr viel häufiger aber war es ihm von Nutzen. Das Reißen und Stechen der Dornen, die ihn festhalten, ihn mit ihren langen, dürren Armen gefangen nehmen wollten, registrierte er mehr beiläufig, jedenfalls hielt es ihn nicht auf. Dann taten sich die Ranken auch schon wieder auf und Kitai stolperte hinaus ins Freie.

Nun ja – mehr oder weniger. Da waren natürlich immer noch die braunen, tief hängenden und spitzgliedrigen Äste der Laubbäume und die… noch viel tiefer hängenden Äste der Nadelbäume. Und Wurzeln, viele Wurzeln. Kitai spürte, wie sich einer seiner Füße in einer solchen hölzernen Falle verhakte, die sich aus dem Erboden heraus ans dämmrige Tageslicht wand, und das ließ ihn auf einen Schlag auch wieder hellwach werden. Er taumelte gegen den rauen, harzigen Stamm irgendeines Baumes, stieß sich davon ab und nutzte den so gewonnen Schwung zu seinen Gunsten aus. Mit einer fließenden Bewegung duckte er sich unter einigen blaugrünen, nadelbewehrten Armen hinweg, sprang mit einem einen Satz über einen kleinen, aber unangenehm stachlig wirkenden Busch und machte der Form halber einen Bogen nach links, weil es ihm eben einfach… verfolgungsjagdtechnisch geschickter vorkam, den einen oder anderen Haken zu schlagen.

Genau in diesem Moment schoss ihm ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung die durchaus angebrachte Frage durch den Kopf, was um alles in der Welt er hier eigentlich tat. Warum er rannte, wohin er rannte, wo er war und wie er hierher gekommen war. Warum er sich verhielt wie ein entflohener Häftling. Und – was noch ungleich schlimmer war – ob und, wenn ja, was das alles hier mit den auch nicht unbedingt alltäglichen Ereignissen des zurückliegenden Mittages zu tun hatte. Er erinnerte sich an die drückende Schwere der sommerlichen Abendluft, dieses einmalige Flirren, das träge Rotgelb des Sonnenuntergangs, den man zwischen den Hochhäusern natürlich nicht sehen konnte, und an… an sie.

Da war dieses Mädchen auf ihn zugeschwebt, diese wunderschöne Schwarzhaarige, und er konnte nicht einmal mehr sagen, was genau sie ihm eigentlich erzählt hatte. Er hatte ihre Hand genommen, ganz so, wie sie es gewollt hatte, und jetzt war er hier. Sie hatte… hatte sie ihn nicht gebeten, ihr… irgendwohin zu folgen? Sie hatte es getan, da war er sich immer sicherer, und jetzt war er hier. Sie war aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht und jetzt war er hier. Konnte das ein Zufall sein? Natürlich. Aber sonderlich wahrscheinlich war das nicht. Andererseits… war es denn wahrscheinlicher, dass die Berührung zweier Hände ihn auf irgendeine mystische Art und Weise an diesen fremden Ort gezaubert hatte? Ein ganz normaler Junge, wie es immer so schön hieß, der von einer schönen Unbekannten in eine märchenhafte Welt voller Wunder und Geheimnisse entführt wurde. Genau das war es, was er vom wahren Leben erwartete.

Trotzdem gefror ihm das spöttische Lächeln auf den Lippen und auch seine Beine versagten ihm den Dienst, als ein plötzlicher Schwindel über ihn hereinbrach. Mehr instinktiv als planmäßig wankte er gegen einen Baum und sank daran herab. Er presste die Augen fest zusammen und schnappte nach Luft. Sein Hals und seine Lungen brannten wie Feuer, was er übrigens erst jetzt bemerkte, und sein Magen schien fortwährend Purzelbäume zu schlagen, aber dieser überwältigende Moment der Erschöpfung ging überraschend schnell wieder vorüber. Kitai wollte sich aufrappeln, aber seine Beine zitterten nach wie vor, und so blieb er eben sitzen und horchte darauf, wie sich seine Atemzüge langsam wieder beruhigten.

Die Augen hielt er immer noch geschlossen, und so bemerkte er auch erst relativ spät, dass jemand neben ihn getreten war. Er wartete darauf, dass er erschrecken würde, auf Furcht und auf Enttäuschung, doch er fühlte bestenfalls noch eine leise, zugegebenermaßen ein wenig bittere Resignation. Dann hob er den Blick und stellte fest, dass es nicht der Samurai des Todes war, der da neben ihm stand.

Und dass er sich leider ganz und gar nicht sicher war, ob es das besser machte.
 

Ende des Ersten Kapitels

Kapitel II - Die andere Seite

Und weiter geht’s! Jetzt geht das Abenteuer für Kitai, meine Negation eines Fantasyhelden, wie ich ihn liebevoll nenne, erst richtig los. Alles in allem ein Kapitel, in dem so einiges passiert, Blut und Eingeweide inbegriffen. Und eigentlich ist es nicht Kitai, der in diesem Kapitel seinen großen Auftritt hat…

Einige Szenen waren anstrengend zu schreiben, aber jetzt bin ich doch recht glücklich damit. Jetzt lade ich es endlich hoch – zu Ehren des ersten und bislang einzigen One Wish-Cosplays, das ich dieses Jahr auf der Ani getragen habe. Ah, und was ich noch erwähnen muss: Ich LIEBE das Ende dieses Kapitels! Hell yeah! Aber auch mit allem anderen… viel Spaß. ^^
 

Kitai hatte sich oft gefragt, ob selbst seine Rationalität Grenzen hatte. Ob es Situationen gab, in denen sogar er an seinem logischen Verstand zu zweifeln beginnen und… na, beispielsweise einfach in ein hysterisches, durch und durch wahnsinniges Lachen ausbrechen würde. Als Kitai jetzt aufblickte und sah, was er eben sah, stellte er in Gedanken fest, dass genau dies eine solche Situation war, in der definitiv keine andere Reaktion als ein hysterisches, durch und durch wahnsinniges Lachen angebracht gewesen wäre. Und tatsächlich war er fassungslos, wie erstarrt, aber er war es auf eine so unspektakuläre Weise, als ob… ihn ein Wildfremder auf offener Straße grundlos beleidigt hätte. Beispielsweise. Oder als ob ein neugekauftes Elektrogerät gleich beim ersten Benutzen den Geist aufgeben hätte.

Neben Kitai stand nämlich nicht etwa ein Samurai, sondern gleich vier. Sie sahen immerhin nicht ganz so tödlich aus wie seine erste unliebsame Bekanntschaft, aber auch nicht unbedingt wie Menschen, denen man allein im Dunkeln begegnen wollte, wenn man nicht gerade eine Magnum oder einen Elektroschocker in der Hosentasche hatte. Sie waren ganz in Schwarz gekleidet, vom Hakama über den Kimono bis zum etwa knielangen Haori, ihrer offenen Uniformjacke. Im Gegensatz zu Kitai waren sie auch sehr wohl bewaffnet, zwar nicht mit Magnums und Elektroschockern, aber immerhin mit Katana und Wakizashi – langen und kurzen Samuraischwertern. Und das war auch nicht gerade beruhigend.

„Wo ist er?“, fragte… oder vielmehr schrie einer der Männer, ein grobschlächtiger Kleiderschrank mit wie zugeschwollen wirkenden Augen und einem etwas schiefen Haarknoten am Hinterkopf. Hätte man die Haare weggelassen und die Kleidung und Waffen ein wenig, na, modernisiert, hätte er problemlos als einer der Schläger durchgehen können, die manchmal vor dem Bahnhofsgebäude von Atacca Falls herumlungerten und vor denen man die Kinder in den Vororten stets besonders eindringlich warnte. Sein Blick erzählte stumm von Vorstrafenregistern und Beschaffungskriminalität. Kitai merkte, wie ihm das Lächeln auf den Lippen gefror.

„Ich… ich weiß es nicht“, murmelte er, weil ihm zu lauteren Worten der Atem fehlte, und es wunderte ihn, wie ruhig er dennoch klang. „Ich… ich bin vor ihm davongelaufen. Er wollte mich umbringen. Bitte, Sie müssen mir glauben, ich habe mit diesem Wahnsinnigen nichts zu tun!“

Was ja eigentlich sogar der Wahrheit entsprach. Kitai verstand selbst nicht, warum er sich bei diesen Worten wie ein leidlich talentierter Lügner vorkam. Dabei war Lügen doch genau genommen das Talent, das unter seinen vielen mehr oder weniger ausgeprägten Begabungen die größte, die leuchtendste, die wichtigste war. Normalerweise. Aber wenn Kitai jetzt in die dunklen, stechenden Augen der Krieger blickte, die ihn umzingelt hatten, wurde selbst er ein bisschen nervös.

„Wo ist er?“, wiederholte der Mann in Schwarz. Kitai stellte mit leisem Bedauern fest, dass sein Gegenüber seine Worte wohl nicht viel überzeugender fand als er selbst. Er atmete unauffällig tief durch und bemühte sich um einen flehenden bis verstörten Blick.

„Bitte, Sie müssen mir glauben!“, stieß er betont mühevoll hervor, während er sich im Stillen fragte, wieso um alles in der Welt er sich jetzt eigentlich noch darum bemühen musste, flehend und verstört dreinzublicken. „Ich bin auf der Flucht, er… er hätte mich fast getötet! Oh bitte, bitte, Sie müssen wir helfen!!“

Der Samurai zückte seine Waffe. Sein Katana, um genau zu sein. Offensichtlich war dieser Dämon in… so etwas ähnlichem wie Menschengestalt, dem er kurz zuvor begegnet war, nicht der Einzige, bei dem die Klinge eher locker saß.

„Beeil dich“, drängte einer der Männer im Hintergrund. „Sonst entkommt er uns wieder. Ich hab keine Lust drauf, vom Vize zum Seppuku verurteilt zu werden, nur weil er uns jetzt abhaut und sich irgendwo in den Wäldern verkriecht!“

„Halt den Mund“, grunzte der Grobschlächtige, und schon wieder fühlte Kitai sich an den Haaren gepackt und hochgerissen. Wieder wurde ihm eine Klinge an den Hals gesetzt, aber so weit war er in Gedanken noch gar nicht, er war noch gänzlich mit der bitteren Erkenntnis beschäftigt, dass er seine Haare verdammt noch mal endlich waschen musste, nach diesem Regenguss und dem Dreck im Wald und wo er doch ständig daran herumgezerrt wurde, noch dazu von brutalen Menschen mit schmutzigen Fingern. Dann aber spürte er den Stahl an seinem Hals nur umso deutlicher. Er war so scharf, dass er ihm in die Haut schnitt, dass feuchte Wärme über seine Haut lief, und dann im nächsten Augenblick war da noch mehr Wärme, viel mehr Wärme, und Kitai fiel zu Boden.

Der Samurai hatte ihn nicht losgelassen. Seine rauen Finger hielten Kitais weiße Haare nach wie vor fest umschlossen, was diesem zunächst einmal ein Rätsel war. Bis Kitai den Kopf ein bisschen hob und den Mann ansah – oder ansehen wollte, denn da war überhaupt kein Blick mehr, den er hätte erwidern können. Der Körper des Kriegers lag neben ihm im Gras, nach dem Kopf musste Kitai erst suchen, fand ihn aber relativ schnell und nur knapp anderthalb Meter von ihm entfernt, im Schatten eines Baumes liegend.

Kitai schnappte nach Luft. Langsam, ganz langsam hob er die Hand und strich sich über die Wange. Klebrige Flüssigkeit bedeckte seine Fingerspitzen, und es war keine große Überraschung, dass diese Flüssigkeit tiefrot war und eigentümlich metallisch roch. Kitai wunderte sich vielmehr, dass er diesen Geruch nicht schon viel früher erkannt hatte, wo er sich doch so tief, so unglaublich tief in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, dass er sich sicher gewesen war, ihn niemals wieder vergessen zu können. Nicht einfach nur der Geruch von Blut, sondern der Geruch von viel, von verdammt viel Blut. Es war überall. Das Gras, in dem zuvor noch Tautropfen und die Überreste des Regengusses geglitzert hatten, war jetzt mit einem schweren dunklen Tuch bedeckt. Kitais Gesicht war blutüberströmt, ebenso seine Haare, nun auch seine Hände, und außerdem lief es ihm über das Kinn und den Hals hinab. Auf seine sowieso schon blutige Kleidung.

Und das war erst der Anfang.

Kitai stieß ein ersticktes Keuchen aus, riss sich, nun seinerseits reichlich unsanft, die Hand des Toten aus den Haaren und kam mit einem Satz auf die Beine. Taumelte zum zweiten Mal gegen denselben Baum. Presste sich gegen den Stamm, so fest er konnte, um nicht wieder daran herabzusinken. Fuhr mit den Fingerspitzen langsam, ganz langsam, aber im wahrsten Sinne des Wortes mit Nachdruck über die erstaunlich trockene Rinde, bis es nicht mehr nur fremdes Blut war, das ihm an den Händen klebte. Und nahm von all dem nichts, aber auch gar nichts wahr, weil nicht nur sein Blick, sondern seine ganze Wahrnehmung von einem ebenso grausamen wie fesselnden Schauspiel gefangen war, das sich nur wenige Meter von ihm entfernt auf der kleinen Waldlichtung ereignete.

Das Ganze dauerte kaum mehr als zwei oder drei Minuten. Zwischen die düsteren Gestalten war eine weitere getreten… oder vielmehr gesprungen, war mit einem einzigen Satz aus den Schatten gekommen, um nun ein Schlachtfest zu zelebrieren, wie es Kitai selbst im Fernsehen selten erlebt hatte. Den zweiten der Krieger erledigte der Samurai des Todes, ebenso wie den ersten, mit einem einzigen Hieb, der ihn mittendurch teilte. Die beiden Überlebenden attackierten von zwei Seiten, mit lauten, kaum mehr menschlich klingenden Kampfesschreien, doch der Fleisch gewordene Alptraum wich einem der an sich recht präzisen Hiebe mit traumwandlerischer Sicherheit aus und schnitt dem zweiten Angreifer beinahe noch mit derselben Bewegung die Kehle durch.

Der Letzte gab sich nicht so schnell geschlagen. Er täuschte einen hohen Hieb an und stach dann blitzschnell in Richtung der Körpergegend, in der bei einem gewöhnlichen Menschen das Herz gelegen hätte. Der finstere Samurai parierte und schlug seinerseits zu, aber damit hatte sein Kontrahent bereits gerechnet. Er vollführte einen Hieb direkt auf die pechschwarze Klinge und nutzte die frei gewordene Angriffsfläche für einen gezielten Stich. Und er traf. Das Schwert nahm einen Fetzen des schmutzig schwarzen Kimonos und vermutlich auch einen guten Teil der darunter liegenden Haut mit.

Das war ein Fehler.

Jetzt konnte der angreifende Samurai seine Klinge nämlich nicht mehr schnell genug zurückziehen – um genau zu sein, er bekam noch nicht einmal die Gelegenheit, es auch nur zu versuchen. Der alptraumhafte Krieger hatte den Schlag nur nachlässig pariert, eher abgelenkt, und dann augenblicklich zugestochen. Der schwarze Stahl seines Katana durchbohrte die Brust seines Gegners, und der sank augenblicklich in sich zusammen. Es war unglaublich, ging es Kitai erstaunlich klar durch das dumpfe, nicht greifbare Chaos in seinem Kopf, mit was für einer Präzision der Samurai des Todes seine Feinde ums Leben brachte. Ohne eine einzige überflüssige Bewegung.

Die schneeweiße Haut des Mannes hatte sich blutig rot gefärbt. Seine Verbände waren von Blut durchtränkt, ebenso die Strähnen seines pechschwarzen Haares, die ihm vor das Gesicht fielen. Mit einer ruckartigen Bewegung wandte er sich zu Kitai um und fixierte ihn mit seinem einen schwarzen Auge, als ob er ihn mit diesem Blick ebenso durchbohren könnte wie zuvor die chancenlosen Angreifer. In diesem Auge lag eine so tödliche Kälte, dass Kitai sie mit keinen Worten der Welt hätte beschreiben können, eine Kälte, die nichts Menschliches mehr an sich hatte.

Das war das Letzte, was der Weißhaarige sah, bevor ihm schwarz vor Augen wurde.
 

Es war gleichzeitig warm und kalt.

Diesen Eindruck hatte Kitai, als er erwachte. Woher die Wärme und die Kälte kamen, war auch gar kein großes Mysterium. Einerseits war es schon wieder Nacht geworden, andererseits flackerte, nicht weit von ihm entfernt, ein sorgsam aufgetürmtes Lagerfeuer. Seltsamerweise fand sich Kitai sofort in der Wirklichkeit zurecht, obwohl seit dem Morgen bereits einige Stunden vergangen sein mussten, in denen er durch eine Finsternis geirrt war, an die er sich weder erinnern konnte noch wollte. Er hielt sich offenbar nach wie vor im selben Wald auf, allerdings nicht mehr auf einer Lichtung, umgeben von Blut und Leichenteilen und noch viel schlimmeren Dingen, sondern… eben irgendwo anders.

Hinter ihm war ein gigantischer Baum zu Boden gestürzt, überwuchert von Moos und Pilzen, das Wurzelwerk dem Dickicht zugewandt, dicht und ausladend wie ein zottiger, verfilzter Bart Er selbst lag auf dünnem, bräunlich grünem Gras, aber dort, wo das Feuer brannte, war der Untergrund steinig. Ein ziemlich trostloser Flecken Erde. Möglicherweise hatte hier erst vor kurzem ein Sturm gewütet und all die Äste und das Blattwerk von den Bäumen gerissen, die zusammen mit dem hier und dort recht schlammigen Boden einen modrig riechenden Teppich bildeten.

Darüber hinaus war Kitai gefesselt. Um seine Handgelenke war ein dickes, festes Seil gebunden. Außerdem trug er nicht mehr seine befleckte Kleidung, sondern einen schwarzen Kimono und einen dazu passenden Hakama, die vermutlich einem der getöteten Samurai gehört hatten. Sein Gesicht fühlte sich wieder sauber an, ebenso seine Hände, obwohl seine Fingerkuppen unangenehm brannten. Von dem Samurai des Todes fehlte jede Spur. Der Weißhaarige konnte kaum glauben, dass er von all dem, was sein Entführer in den vergangenen Stunden mit ihm angestellt haben musste, nicht das Geringste bemerkt hatte und aufgewacht war.

Allerdings gab es momentan auch eine Menge wichtigerer Dinge, als sich über die jüngste Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen, also zog Kitai die Beine an, machte einen Rundrücken und holte Schwung mit dem Oberkörper, was zwar unzweifelhaft ziemlich dämlich aussah, ihn aber letzten Endes doch in eine sitzende Position brachte. Jetzt wurde es schwieriger. Obwohl er sich noch ein wenig benommen fühlte, stemmte Kitai seine Zehen gegen den Boden und rollte sich über die Fußballen ab, bis er auf den Sohlen hockte. Sofort erfüllte ein dumpfes Dröhnen wie Watte seinen Kopf, aber auf seinen Kreislauf konnte Kitai jetzt wirklich keine Rücksicht nehmen. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb. Das lodernde Feuer und einige herumliegende Habseligkeiten verrieten ihm, dass sein alptraumhafter Geiselnehmer sich nicht für immer verabschiedet hatte. Mit einem tiefen Atemzug und dem nötigen Schwung drückte Kitai die Beine durch, um sich aufzurichten.

Er kam vielleicht einen Meter weit in die Höhe, bevor er überaus unsanft wieder auf den Boden der Tatsachen, beziehungsweise des Waldes zurückgerissen wurde. Kitai wollte sich herumwerfen, sich losreißen, aber jeder Widerstand war zwecklos. Der Weißhaarige schlug hart mit der Schulter auf und blieb mehrere Herzschläge lang benommen liegen. Als er sich dann endlich mühsam auf den Rücken drehte, um hinter sich zu blicken, stieg ihm eine unangenehme Wärme in die Wangen. Es war nicht etwa menschliche Gewalt, die ihn zu Fall gebracht hatte, sondern eine ganz simple Vorrichtung, die er peinlicherweise überhaupt nicht bemerkt hatte. Das Seil, das seine Handgelenke fesselte, war nämlich außerdem um den Stamm der Baumleiche hinter ihm gebunden. Nicht sonderlich kreativ, aber wirkungsvoll. Kitai versuchte eher halbherzig, den Knoten zu lösen, obwohl er eigentlich schon auf den ersten Blick erkannte, dass das aussichtslos war. Dann ließ er sich mit einem resignierten Seufzer wieder in die Hocke sinken.

Hier hatte offensichtlich jemand vorgesorgt, und Kitai blieb jetzt wohl nichts anderes übrig, als diese Anstrengungen zu würdigen und auf ebendiesen jemand zu warten. Der Weißhaarige hatte Warten noch nie gemocht, trotzdem war er sich nicht ganz sicher, ob er sich wirklich darüber freuen sollte, dass bereits nach relativ kurzer Zeit – in keinem Fall mehr als zehn Minuten – ein leises Rascheln im Unterholz zu hören war. Nach wenigen weiteren Sekunden trat dann auch schon der Samurai des Todes aus den Schatten des Dickichts hervor. Kitai war ein weiteres Mal überrascht davon, wie geschickt und wie leise sich dieser große und durchtrainierte Mensch bewegen konnte.

Auch er musste einem der Toten die Kleidung abgenommen haben, denn er sah deutlich weniger heruntergekommen aus als bei ihrer letzten blutigen Begegnung auf der Waldlichtung. Außerdem hatte er die Verbände und sich selbst ausgiebig gewaschen. Sogar von den zahllosen Blutspuren war nicht mehr allzu viel übrig geblieben, weder auf der weißen Haut noch auf dem weißen Stoff. Sein Haar wirkte jetzt, da es nicht mehr von Blut und Schmutz verklebt und verkrustet war, fast noch ein bisschen länger und schwärzer. Kitai hatte zuvor nicht so recht darauf geachtet, aber nun konnte er unter den Bandagen und den Haaren, die die Bandagen verdecken sollten, und vor allem unter der starren, tödlichen Kälte erkennen, dass der Fremde einmal ein wirklich schönes Gesicht gehabt haben musste. Bevor… was auch immer geschehen war.

„Du bist wach“, stellte er fest, was allerdings nicht im Geringsten überrascht… was eigentlich überhaupt nicht wertend klang, sondern einfach nur wie das, was es vermutlich auch sein sollte: Eine simple Feststellung, ein lauter Gedanke. Auf jeden Fall nichts, worauf der Schwarzhaarige eine Reaktion erwartete. Er musterte Kitai nur ganz kurz, dann nahm er vor dem Lagerfeuer Platz. Der Anblick war merkwürdig, wobei Kitai nicht genau sagen konnte, weshalb. Der Fremde setzte sich in den Seiza, eine traditionelle japanische Sitzhaltung, die man von einem Samurai ja eigentlich erwarten konnte. Ganz besonders von einem, der sich offenbar gründlich im Jahrhundert geirrt hatte.

Es war nur so, dass Kitai noch nie zuvor einen so perfekten Seiza gesehen hatte. Er selbst war als Kind bei wichtigen Anlässen, bei Geschäftsessen und Ähnlichem, ab und an dazu gezwungen worden, so dazusitzen, auf den eigenen Unterschenkeln und Fersen kniend. Jetzt tat er das nur noch beim Kendô, und wenn er ganz ehrlich war, fand er diese Haltung nach wie vor nicht sonderlich bequem. Aber darum ging es auch überhaupt nicht. Kitai hatte schon wirklich viele Menschen im Seiza sitzen sehen und hatte es niemals als etwas Besonderes empfunden, aber jetzt… schon die Bewegungen, mit denen der Samurai des Todes sich hinsetzte. Die Art, wie er die Hände in den Schoß legte, wie er die Finger hielt, wie er vollkommen aufrecht dasaß, die Haltung seines Kopfes und sein Blick, das war… anders.

Kitai konnte es nicht so recht erklären, aber was er da gerade sah, passte ganz und gar nicht in das Bild, das er sich von dem düsteren Fremden bislang gemacht hatte. Natürlich, es war schon beeindruckend, wie er sich bewegte und vor allem mit welch zielgerichteter Tödlichkeit er gekämpft hatte, aber das hier… Kitai hasste pathetische Worte und Floskeln, dennoch bekam er den Gedanken nicht mehr aus dem Kopf, dass der Schwarzhaarige trotz all der Bandagen, der Wunden und der auch nicht wirklich sauberen Kleidung etwas so Würdevolles an sich hatte, wie er es noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte.

„Du musst etwas trinken“, stellte der Samurai des Todes nach einigen Augenblicken fest, von deren Verstreichen Kitai kaum Notiz genommen hatte, weil er viel zu sehr damit beschäftigt gewesen war, sein Gegenüber nicht allzu auffällig anzustarren. Dieses erhob sich wieder und zog aus seinem wohl zum großen Teil frisch erbeuteten Weggepäck einen ledernen Schlauch hervor. Dann trat er auf Kitai zu, ging neben ihm in die Knie, öffnete den dunklen Behälter und setzte ihn an die spröden Lippen des Weißhaarigen.

Dieser bemerkte das quälend trockene Brennen in seiner Kehle erst jetzt so richtig, da es gelindert wurde. Er beschloss augenblicklich, dass dies definitiv nicht der richtige Moment für falschen Stolz war, warf selbigen kurzerhand über Bord und trank mit gierigen Schlucken von dem lauwarmen Nass. Dann zwang er sich ein Lächeln auf die Lippen und blickte zu dem Samurai des Todes auf.

„Danke“, murmelte er und meinte es auch so.

„Hm“, machte der Schwarzhaarige, fügte diesem wenig aussagekräftigen Laut einen tödlichen Blick hinzu und nahm dann nach einem kurzen Moment des Zögerns neben Kitai Platz.

Es war seltsam – genau in diesem Augenblick veränderte sich etwas… oder eigentlich sogar gleich mehrere Dinge. Der Geruch von feuchtem Moos und trockenem Rauch stieg Kitai in die Nase, die nasse Kälte des Bodens und des Baumstamms drangen durch den Stoff seiner Kleidung, und plötzlich gewann die ganze Szenerie eine Realität zurück, die ihr irgendwann in den Morgenstunden abhanden gekommen war. Die Vegetation mochte sich von den Wäldern nahe Atacca Falls unterscheiden, aber im Endeffekt war das hier auch nur ein Wald und kein Holz und Blattwerk gewordener Alptraum.

Vor allem aber begriff Kitai, dass auch die schwarze Gestalt neben ihm kein Alptraumwesen, sondern schlicht und ergreifend ein Mensch war. Und zwar kein wahnsinniger Mensch. Ein Killer, zweifellos, der mit einem einzigen Fingerzucken zehn bis zwanzig Krieger in handliche kleine Stücke zerlegen konnte, aber eben kein psychopathischer Killer. Kitai hatte nach wie vor nicht den Hauch einer Ahnung, in was für einen Irrsinn er da eigentlich hineingeraten war, und natürlich lief hier irgendetwas verdammt schief, aber eben nicht im Kopf seines merkwürdigen… Kidnappers. Und genauso wenig in seinem eigenen. Es war vielleicht nicht ganz alltäglich, vom beinahe letzten Samurai in irgendeinen unbekannten Wald verschleppt zu werden, aber für ihn war es trotzdem eine Tatsache.

Aus irgendeinem Grund erschreckte Kitai diese Erkenntnis nicht. Ganz im Gegenteil. Er atmete einmal tief durch, dann setzte er sich bequemer hin. Dachte kurz nach, aber wirklich nur ganz kurz. Und sagte dann mit einem vorsichtigen Lächeln auf den Lippen:

„Sie haben mir das Leben gerettet.“

Der Schwarzhaarige wandte den Kopf gerade so weit, dass er Kitai mit seinem pechschwarzen Auge anstarren konnte.

„Soll das eine höfliche Anrede sein?“, fragte er dann nach so vielen Momenten, dass Kitai schon gar nicht mehr damit rechnete. „Das kannst du dir sparen. Ebenso deine Dankbarkeit. Ich habe nicht deinetwegen so gehandelt.“

„Na ja, diese Männer waren vielleicht nicht hinter mir her, aber sie hätten mich getötet, wenn… wenn du nicht eingegriffen hättest“, entgegnete Kitai, auch wenn er sich reichlich seltsam dabei vorkam, einen Menschen wie diesen zu duzen. Der Samurai antwortete zunächst wiederum nur mit einem durchdringenden Blick und beharrlichem Schweigen. Dann verzogen sich seine Lippen zu dem bösesten, tödlichsten Etwas, das jemals ein Lächeln hätte werden sollen.

„Ich hätte dich auch getötet“, antwortete er ganz unbeschreiblich kalt, „wenn ich dich nicht brauchen würde. Und ich hätte dich nicht gerettet, wenn ich dich nicht brauchen würde. Außerdem sind sie selber schuld. Ich habe gedacht, dass sie diesmal mehr von ihnen schicken.“

„Wer?“, fragte Kitai noch ein bisschen vorsichtiger. Der Schwarzhaarige sah erneut auf, und diesmal lag in seinem Blick etwas Lauerndes.

„Warum willst du das wissen?“

„Ich… nein, nein, ist nicht wichtig. Ich muss das gar nicht wissen. Ehrlich gesagt… würde mich viel mehr interessieren, wo genau ich hier eigentlich bin.“

„Wo genau…“ Der Samurai zog zweifelnd seine Augenbrauen zusammen… oder wenigstens das, was man davon sehen konnte, aber das feindselige Misstrauen auf seinem Gesicht wich langsam wieder der üblichen Kälte. „Ich bin mir nicht ganz sicher. Westliches Kyûryô, nehme ich an.“

„Ich… verstehe nicht ganz…“

„Was verstehst du nicht?“ Die Stimme des Samurai klang so kritisch, dass Kitai automatisch den Kopf einzog.

„Wo ist das, Kyûryô?“, erkundigte er sich zögerlich, und als der Schwarzhaarige daraufhin sogar noch ein bisschen kritischer dreinblickte, fügte er hastig hinzu: „Ich meine, in welchem Land. Sind wir hier in Japan?“

„Ja-pan?“ Der Samurai hob die Schultern. „Ist das ein Fürstentum? Schon möglich, dass wir da sind. Ich kenne die Gegend nicht gut.“

„Ein Fürstentum? Aber Japan ist…“ Kitai unterbrach sich, als der Blick des Mannes ihn wie ein eisiger Peitschenschlag streifte. Er hob die Schultern und lächelte verlegen. „Nein, das ist nur eine… kleine Stadt. Ich dachte, sie wäre hier irgendwo… in der Nähe.“

„Eine kleine Stadt?“ Der Samurai deutete ein Kopfschütteln an. „Kleine Städte kennst du, aber du weißt nicht, was das Kyûryô ist? Aber… du bist doch Silvanier?“

„Ich bin… was?“

„Silvanier!“ Jetzt lag in der Stimme des Schwarzhaarigen ein leiser Hauch von Entsetzen. „Das kann doch nicht wahr sein! Du sprichst Silvanisch. Einen Menschen mit solchen Haaren habe ich noch nie gesehen, aber sonst siehst du aus wie ein Silvanier. Willst du dich über mich lustig machen?!“ Kitai öffnete den Mund, um irgendetwas zu sagen, aber als er das wütende Blitzen im Auge des Samurai bemerkte, fehlten selbst ihm die Worte. Dann jedoch wich die kalte Wut einem Anflug von Nachdenklichkeit, und schließlich senkte der Mann seinen Blick, dass ihm die langen Strähnen seines tiefschwarzen Haares vor das Gesicht fielen. „Also ist es doch wahr“, stellte er fest, und Kitai hätte schreien können, dass es ihm verdammt noch mal keinen Spaß machte, dieser mühseligen Konversation seit knappen fünf bis zehn Minuten nicht mehr folgen zu können. Aber dann ließ er es doch bleiben, weil er erstens an seinem Leben hing und weil es ihn zweitens schon im nächsten Augenblick gar nicht mehr so besonders aufregte.

„Was?“, fragte er vorsichtig, als sich sein Gegenüber nicht von sich aus dazu herabließ, Kitai endlich auch in seine geheimnisvollen Gedankengänge einzuweihen. Der Samurai wandte daraufhin den Kopf – überraschenderweise sogar mehr als nur ein kleines bisschen – und sah Kitai zwar nach wie vor finster, aber doch nicht mehr ganz so vernichtend an wie zuvor.

„Du bist Kitai, nicht wahr?“

Dem Weißhaarigen fiel buchstäblich die Kinnlade herunter. Er hatte ja wirklich mit Vielem gerechnet – genau genommen rechnete er schon aus Prinzip mit so ziemlich Allem –, aber ganz bestimmt nicht damit, dass ein blutrünstiger Fremder aus dem vermutlichen entlegensten Flecken dieser Erde seinen Namen kannte. Von all den absurden und unfassbaren Ereignissen der vergangenen Stunden überraschte ihn dieses mit Sicherheit am meisten. Er zwang sich zu einem Nicken, einem ziemlich schwachen und kläglichen Nicken, um genau zu sein, und dann zwang er nach einigen weiteren Sekunden ebenso schwache, klägliche Worte hervor, nämlich:

„Wo-woher… ich meine… wieso…“

„Er, dessen Name Hoffnung ist, nur er kann die Lichter der Hoffnung aufs Neue entfachen“, antwortete der Schwarzhaarige, und Kitai musste tatsächlich einen Moment lang überlegen, ob er diese Worte schon einmal gehört hatte, dann, wo dies gewesen war, und letztlich, wie um alles in der Welt er ausgerechnet das jemals hatte vergessen können.

„Aber…“, stammelte er, während er im Geiste eine Vermisstenanzeige für seine Wortgewandtheit aufgab, „was… was hat das zu bedeuten? Genau das hat Kagi auch gesagt, bevor sie mich… bevor ich… ich meine, bevor ich hier… hier hergekommen bin.“

Erstaunlicherweise reagierte der Samurai nicht ungehalten, nicht zweifelnd, nicht verständnislos. Ganz im Gegenteil. Er nickte, langsam und sogar ein bisschen nachdenklich.

„Das ist wirklich ein seltsamer Zufall“, sagte er dann leise, aber doch nicht leise genug, dass es nur für ihn selbst hätte bestimmt sein können. „Chikyu no Omoikiru Kagi. Ich war gerade auf dem Weg zu ihr, und dann begegne ich ausgerechnet… dir.“

„Ich verstehe immer noch nicht, woher du meinen Namen kennst!“

„Eine alte Legende, an die ich selbst nie so ganz geglaubt habe“, antwortete der Schwarzhaarige wenig aussagekräftig. „Es würde zu lange dauern, das jetzt zu erklären.“

„Hm… also gut“, erwiderte Kitai mit einem Schulterzucken, wobei er sich bewusst die Bemerkung verkniff, dass Zeitmangel wohl gerade nicht das größte all ihrer Probleme war. „Und… wenn ich fragen darf, wie… wie heißt du eigentlich?“

Der Samurai blickte einen Moment lang wieder äußerst vernichtend drein, und Kitai fragte sich schon, ob er es jetzt mit der Distanzlosigkeit nicht doch ein wenig übertrieben hatte. Dann aber sah er genauer hin und las in dem düsteren Stirnrunzeln des Schwarzhaarigen auch ein durchaus gekonnt überspieltes Grübeln.

„Wenn du unbedingt einen Namen haben willst“, antwortete er dann nach einiger Zeit, und dabei wirkte er nicht nur finster und bedrohlich, sondern auch reichlich ausweichend, „dann nenn mich Akuma.“

„Akuma?“, wiederholte Kitai. Teufel. Der Samurai antwortete mit einem Blick, der den Weißhaarigen durchaus in Erwägung ziehen ließ, dass sich sein Gegenüber vielleicht doch mit dem richtigen Namen vorgestellt hatte.

„Ja, und jetzt schlaf“, fügte er dem hinzu. Dann gestattete er es sich, seinen Körper ein wenig zu entspannen und mit dem Rücken gegen den gefallenen Baumriesen zu sinken, das Katana gegen die Schulter gelehnt und mit beiden Händen umfasst. „Wir haben einen weiten Weg vor uns.“

„Zu Kagi, richtig?“, murmelte Kitai, und bei diesem Gedanken fühlte er eine ganz leise, undefinierbare Wärme in seinem Inneren aufsteigen. Diese Wärme machte das Unterholz, auf das er sich jetzt sinken ließ, aber leider auch nicht weniger feuchtkalt und ungemütlich, und so rollte er sich zusammen, zog die Beine an den Körper und hüllte sich in seinen schwarzen Haori wie in eine Decke. „Warum eigentlich? Wer… wer ist sie?“

„Warum? Weil es so vorherbestimmt ist.“ Der Samurai klang ein wenig genervt, aber Kitai dachte an die schönen schwarzen Augen und die schneeweiße Haut des Mädchens, das ihn auf welche Weise auch immer aus den Straßenschluchten von Atacca Falls entführt hatte, und er beschloss, das Thema doch noch nicht ganz auf sich beruhen zu lassen.

„Vorherbestimmt? Von… von dieser Legende?“

„Die Legende berichtet, dass es vorherbestimmt ist“, verbesserte Akuma. „Oder… eher die Person, die mir von der Legende erzählt hat. Deshalb gehe ich zu Kagi.“

„Hm… sagtest du nicht, du hättest nie an die Legende geglaubt?“, hakte Kitai noch einmal nach. Akuma verzog kurz, nur ganz kurz das Gesicht.

„Das macht keinen Unterschied, wenn man sowieso nichts mehr zu verlieren hat. Außerdem kann man Wahnsinn manchmal nur mit Wahnsinn bekämpfen. Und jetzt sei endlich ruhig und schlaf.“

Kitai brannten eigentlich noch viele, sehr viele Fragen auf den Lippen – aber andererseits auch schon wieder zu viele, als dass er sie noch hätte ordnen können, und so war er über das Machtwort des Samurai beinahe sogar froh. Er nickte nur, obwohl Akuma sein pechschwarzes Auge bereits geschlossen hatte und ihn deshalb sowieso nicht mehr sehen konnte. Und dann dachte er wieder an Kagi, an jeden Millimeter ihres unnatürlich makellosen Körpers; auch an seinen Entführer und die absurde Gesamtsituation, aber vor allem an Kagi, bis ihn irgendwann der Schlaf übermannte.
 

Die kommenden Tage liefen sie. Das war eigentlich alles, woran Kitai sich später erinnern konnte – an einen endlosen Marsch durch Waldland. Immer einen Fuß vor den anderen, bis es irgendwann zu einer rein mechanischen Handlung wurde. Rechts, links, rechts, links. Hier und dort über eine Wurzel steigen oder unter einem Ast hindurchducken. Immer derselbe Geruch nach Erde und feuchtem Moos, dasselbe Grün und Braun, dieselben Farne, dieselben Bäume, dasselbe Vogelzwitschern und Blätterrascheln. Irgendwann hörte Kitai einfach auf, seiner Umgebung Beachtung zu schenken. Es gab nur noch ihn und den nächsten Schritt. Stehen bleiben war keine Alternative, da Akuma stets direkt hinter ihm ging, in der einen Hand das Seil, das nach wie vor Kitais Handgelenke zusammenhielt, die andere Hand am Schwertgriff.

Erst kam der Hunger, dann kam die Kälte. Ihre knappen Vorräte teilte der Samurai des Todes mit unbarmherziger Sparsamkeit ein, aber da Kitai nach dem Laufen sowieso meist viel zu müde war, um noch lange zu Essen, schmerzte ihn diese sicherlich höchst vernünftige Grausamkeit nicht allzu sehr. Er verspürte keine Sehnsucht nach einer ausgiebigen Mahlzeit. Es war nur einfach so, dass ein unterschwelliges, aber dennoch quälendes Hungergefühl zu seinem steten Begleiter wurde. Dann und wann schlug dieses Gefühl auch in Übelkeit oder ziehende bis stechende Bauchschmerzen um, doch selbst dem schenkte Kitai keine größere Aufmerksamkeit. Das hätte ihn entschieden zu viel Kraft gekostet.

Weitaus schlimmer war der rapide Temperaturabfall. Mit jedem Meter, den sie zurücklegten, schien die Luft ein bisschen kühler zu werden, bis sie sich wie Säure in Kitais trockenen Hals fraß. Außerdem wurde der Boden immer härter, und Kitais Füße verwandelten sich in Klumpen aus bloßem Schmerz. Ein Schmerz, der durch die Kälte leider nicht gelindert wurde, ganz im Gegenteil. Jede noch so flüchtige Berührung mit den zerschundenen, gequälten, völlig überanstrengten Fußsohlen war eine Qual, und Kitai zwang sie über gefrorene Erde, die zu Fels wurde, lastete ihnen sein gesamtes Körpergewicht auf, von Morgens bis Abends und darüber hinaus.

Und dann begann es zu schneien.

Dicke, weiße Flocken fielen aus dicken, weißen Wolken auf die beiden schwarzen Gestalten hinab. Zunächst erschienen sie wie Tänzer, zart und anmutig. Dann wurden sie zu einem Vorhang und schließlich zu einer schneeweißen Wand. Der Schneefall wurde so dicht, dass Kitai kaum mehr die Hand vor den Augen erkennen konnte, geschweige denn den alptraumhaften Krieger, der ihn nach wie vor unbarmherzig weiterzerrte. Aber die gefrorene Kälte, die Kitai ins Gesicht peitschte, ließ ihn zum ersten Mal seit Tagen wenigstens wieder versuchen, aufzublicken, seine Umgebung wahrzunehmen. Es war ein schmerzhaftes Erwachen, das ihm bereitet wurde, aber vielleicht hatte er ja auch genau das gebraucht.

Was Kitai trotz des Schneesturms auf den ersten Blick erkennen konnte, war, dass er jetzt tatsächlich auf felsigem Boden ging. Auch direkt zu seiner Linken befand sich helles, blankes, fast ein wenig bläulich schimmerndes Gestein. Sie hatten den Wald verlassen. Mehr wollte er eigentlich gar nicht wissen. Vermutlich befand sich rechts von ihm ein bodenloser Abgrund, aber wozu hätte er das noch sehen sollen? Es genügte ihm, weiterhin einen Fuß vor den anderen setzen zu können, um nur nicht aus dem Rhythmus zu kommen. Rechts, links, rechts, links.

Ein kalter Wind peitschte den Schnee auf, fuhr Kitai in den Mund und trieb ein Husten über seine Lippen, das wie Feuer in seinem Hals und in den Lungen brannte. Ausgerechnet Feuer! Die Flocken bohrten sich wie Nadeln in seine Haut, in seine Augen. Seine Lippen waren längst schon taub geworden, ohne dass er es überhaupt bemerkt hatte. Kitai hatte Schnee immer ganz objektiv als etwas Schönes betrachtet, wie er vom Himmel fiel, wie er gnädig die Schandflecken der Stadt bedeckte und ihr ein Stück von ihrer Lautstärke nahm. Eine kalte, dumpfe Schönheit, die ihm vertraut war, die er von sich selbst nur allzu gut kannte, innerlich wie äußerlich. Dass Schnee etwas Bedrohliches, Unangenehmes sein konnte, hatte er nicht gewusst. Wenigstens nicht aus eigener Erfahrung. Aber als er jetzt so blind und taub gegen den Wind ankämpfte, der ihn eher rückwärts trieb als vorankommen ließ, drängte sich ihm zum ersten Mal der Gedanke auf, dass sie es vielleicht nicht schaffen würden.

Es war seltsam: Diese Worte gingen Kitai durch den Kopf, ganz plötzlich, und er begriff sofort ihre grauenhafte Tragweite. Ja, vermutlich würden sie erfrieren. Oder abstürzen. Oder von einer Lawine in den Tod gerissen werden. Verdursten wohl nicht, aber möglicherweise verhungern. Kitai hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wo sie sich befanden. Ob eine Stadt in der Nähe war. Er glaubte nicht daran. Dieser Ort, der nur aus Fels und Wind und Kälte bestand, hatte keinen Platz für Leben. Auch nicht für seines. Er ließ ihn nicht laufen, nicht sehen, nicht hören, nicht atmen. Es war nur noch der Strick um seine Handgelenke, der ihn vorwärts zwang. Rechts, links, rechts, links, rechts. Derselbe Rhythmus, wieder und wieder. Aber dann wurde auch er vom Wind verschluckt, und Kitai stürzte.

Der Weißhaarige wollte sich abfangen, um sein Gleichgewicht kämpfen, doch seine Hände waren ja gefesselt und seine Füße hatten vor lauter Schmerz jede feste Kontur verloren. Sie taugten nicht einmal mehr zum Gehen, umso weniger aber für schnelle Manöver, die zudem noch so etwas wie Geschick oder Gespür verlangten. Kitai konnte nicht sagen, mit welchem Körperteil er zuerst aufschlug. Sein Körper war wie Eis, und der Aufprall schien ihn in tausend Stücke zu zerschlagen. Dann schleifte sein Gesicht über den gefrorenen Boden. Kitai war, als ob der Fels ihm die Haut vom Körper reißen würde. Er wollte schreien, aber er konnte nicht. Der Wind fuhr ihm erneut in die Lungen, in seinen Kopf, und während sich jeder Millimeter seines frierenden Leibes in blanken Schmerz verwandelte, zerfielen Kitais Gedanken zu Schnee.

Es wurde still.
 

Kitais Erwachen war schmerzhaft und unendlich kalt. Er hatte noch nicht einmal die Augen aufgeschlagen, als er sich schon wünschte, wieder in das süße, schwarze Nichts eintauchen zu können, in dem es weder Schnee noch Fels noch körperliche Leiden gab. Kitai konnte nicht einmal mehr Dankbarkeit dafür empfinden, dass er überhaupt wieder erwacht war. Es wollte es nicht. Er wollte Ruhe. Er wollte Schlaf. Wenn dieser Schlaf ein bisschen länger oder auch bis in alle Ewigkeiten dauern sollte, umso besser. Alles war besser als diese Realität.

Mühsam zog Kitai seine Knie an den Körper und schlang die Arme darum. Die gefesselten Hände waren dabei zugegebenermaßen höchst hinderlich, aber das Mehr an Körperwärme war Kitai diese Anstrengung allemal wert. Erst jetzt bemerkte er, wie stark er zitterte, und selbst dies war schon zuviel Bewegung für seine gequälten Muskeln. Sie bedankten sich mit Schmerz. Mit noch mehr Schmerz. Ein ersticktes Keuchen drang über Kitais erstarrte Lippen. Mehr brachte er nicht hervor. Auch seine Kleidung wärmte ihn nicht, ganz im Gegenteil. Der Schnee hatte sie durchnässt, und jetzt schien sie an seiner Haut festgefroren zu sein.

Ich will nach Hause, ging es Kitai durch den Kopf. Aber dann fiel ihm auf, dass er überhaupt nicht wusste, was für ein Zuhause das eigentlich sein sollte. Er sehnte sich nicht nach Atacca Falls, ganz bestimmt nicht, sondern nach einem Ort, den es nicht gab, und nach einem Gefühl, das er nicht kannte. Oder einfach nur nach einer Decke, einem Bett, einem warmen Tee. Er versuchte, sich das Gefühl einer Decke auf seinem frierenden Körper vorzustellen, aber es gelang ihm nicht.

Erst in diesem Moment bemerkte Kitai, dass es nicht mehr schneite.

Diese Erkenntnis brachte ihn endlich doch dazu, müde und schwerfällig seine Augenlider zu heben. Sich umzusehen. Es war nicht wirklich die Hoffnung auf Rettung, die ihn dazu antrieb, sondern vielmehr ein letztes Aufbegehren jenes urmenschlichen Gefühls namens Neugierde, das Kitai allerdings eher in Form eines sachlich nüchternen Interesses kannte. Guten Tag, sachlich nüchternes Interesse, grüßte er in Gedanken und verzog seine heftig brennenden Lippen zu einem schwachen, ironischen Lächeln. Schön, dich mal wieder zu treffen. Hab dich ein bisschen vermisst in den letzten Tagen.

Das Interesse antwortete nicht, und so begnügte sich Kitai eben damit, sich träge und schwerfällig umzusehen, in erster Linie mit Blicken und nur mit einer ganz minimalen Regung seines bleischweren Kopfes. Selbst das war schon anstrengend genug. Wenigstens wurden seine Sinne nicht auch noch überanstrengt, denn Kitai stellte schnell fest, dass die kleine Höhle, in der er lag, vollkommen uninteressant war. Blaugrauer Fels, unregelmäßig gezackt, zerklüftet von Jahren der Kälte und des Eises. An der Decke einige recht imposante Stalaktiten, wie Speere in der grauen Haut des Berges, über die transparentes, bitterkaltes Blut hinabrann. Dazwischen Eiszapfen, die mit ihrem subtilen Glitzern die Aufmerksamkeit des seltenen Besuches ganz auf sich lenken wollten. Stein und Wasser, mehr schien es in dieser Höhle nicht zu geben.

Abgesehen von ihm selbst und natürlich von Akuma. Und bei dessen Anblick wurde selbst Kitais erstarrte Brust von einem leisen Hauch des Schreckens gestreift.

Der Samurai des Todes wirkte nach wie vor alptraumhaft, allerdings nicht mehr auf dieselbe bedrohliche, unmenschliche Weise, wie er es zuvor getan hatte. Im Gegensatz zu Kitai saß er immer noch aufrecht. Sein Blick war allerdings merkwürdig starr, als ob er die ihm gegenüberliegende Wand damit durchbohren wollte. In seinem pechschwarzen Haar hingen feine Eiskristalle und seine Haut schien sogar noch ein bisschen weißer zu sein als sonst. Seine bläulichen Lippen waren so fest aufeinandergepresst, dass sie beinahe zu Strichen wurden. Trotzdem bebten sie noch ein ganz kleines bisschen, und auch der Rest von Akumas Körper zitterte ebenso wie Kitais eigener. Die Finger seiner linken Hand waren fest, sehr fest um die rechte Mittelhand geschlossen.

Natürlich. Kitai hätte beinahe den Kopf geschüttelt über seine eigene Verwunderung, aber dann fehlte ihm doch das letzte bisschen Kraft und Motivation dazu. Was hatte er denn erwartet? Sein Entführer war vielleicht groß und finster und ziemlich böse und obendrein ein passionierter Mörder, aber er blieb trotz allem ein Mensch, und Menschen froren nun einmal. Zumal, wenn sie fast mehr Verbände als Kleidung am Körper trugen. Wobei Kitai Akuma um die Verbände jetzt sogar ein kleines bisschen beneidete. Nur ganz bestimmt nicht um das, was darunter lag. Die Kälte schmerzte schon mehr als genug auf seiner eigenen Haut, und die war ja größtenteils intakt, von einigen Schürfwunden mal abgesehen.

Dann wandte Akuma ganz plötzlich seinen Kopf und starrte in Kitais Richtung. Der stellte höchst verwundert fest, dass es tatsächlich möglich war, spontan noch ein bisschen mehr zu frieren.

„Wir warten, bis der Schneesturm aufhört“, sagte der Samurai. Kitai nickte müde und fügte dann nach kurzem Überlegen und etwas längerem innerlichem Kräftesammeln tonlos und von einem trockenen Husten begleitet hinzu:

„Was ist… wenn er nicht aufhört?“

„Er muss irgendwann aufhören!“ Aus irgendeinem Grund gefiel es Kitai nicht, wie herrisch Akumas Stimme klang. Offenbar hatte er es da mit jemandem zu tun, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen. Das Problem war nur, dass man Wind und Schnee so schlecht befehligen konnte, auch wenn man es noch so vehement versuchte.

„Aber… wir können nicht wissen, wie lange…“

Akuma brachte den Weißhaarigen mit einem einzigen Blick zum Schweigen. Gut, möglicherweise spielte auch die Tatsache mit, dass der Samurai des Todes seine Hände mittlerweile wieder voneinander gelöst und eine von ihnen am Griff seines Katana platziert hatte, aber im Ergebnis kam es ja so oder so aufs Gleiche heraus. Keine weiteren Widerworte. Kitai fehlte sowieso die Kraft dazu. Es war ihm schleierhaft, wie er jemals wieder auf die Beine kommen und dann auch noch auf eigenen Füßen stehen sollte. In seinen Gliedmaßen führten Schmerz und Taubheit eine ganz merkwürdige Koexistenz. Aber ein Blick in Richtung Höhlenausgang beruhigte Kitai wenigstens in einer Hinsicht – so bald würde er die Belastbarkeit seiner Beine nicht auf die Probe stellen müssen, denn draußen wütete der Schneesturm mit einer solchen Gewalt, dass nichts anderes zu sehen war als ein weißes Flimmern, begleitet von einem wütenden Brüllen und Toben, das Kitai allerdings kaum mehr wahrnahm.

Die folgenden Stunden verbrachte der Weißhaarige in einem merkwürdigen Trancezustand. Er ließ das kleine Fleckchen Außenwelt keine Sekunde lang aus den Augen, trotzdem hätte er später nicht sagen können, wann genau der Schneefall nun nachgelassen hatte. Auf jeden Fall war es bereits dunkel und die Nacht überraschenderweise nicht erdrückend grau, sondern von einem tiefen Blauschwarz. Vereinzelt tanzten silbrige Flocken durch die schneidend kalte Luft, die Wolkendecke musste also zerklüftet sein, denn was außer Mondlicht konnte Schnee wie Silber glitzern lassen? Durch den parabelförmigen Höhleneingang betrachtet wirkte die ganze Szenerie wie eine riesige Schneekugel. Im Hintergrund die verblüffend realistische Fotografie einer verschwommenen Berglandschaft, schneebedeckt, versunken in bläulichem Nebel. Wie von selbst bewegte Kitai seine Hände, um die Kugel zu schütteln, doch dann fiel ihm wieder ein, dass alles, was er sah, real war.

Vorsichtig bewegte Kitai seinen Kopf nach Rechts und Links. Sein Nacken bedankte sich mit einem empörten Knacken, leistete ansonsten aber erstaunlich wenig Gegenwehr. Als nächstes konzentrierte sich Kitai ganz auf seine Füße, ließ sie kreisen, streckte sie, zog sie an. Bewegte jeden einzelnen Zeh – was glücklicherweise noch möglich war – und dann jeden einzelnen Finger. Daraufhin die Hände, die Arme und schließlich die Beine. Kitai war während jeder einzelnen Sekunde seines Unterfangens bewusst, dass all das Gehampel reichlich lächerlich aussehen musste, aber es war ja außer ihm nur ein einziger Mensch in der Höhle, und der hatte die Augen geschlossen. Ob Akuma schlief, konnte Kitai nicht mit Sicherheit sagen, aber er hatte vorerst auch andere Dinge im Kopf. Noch zwei, drei tiefe Atemzüge, dann stemmte sich Kitai wenigstens wieder in eine sitzende Position.

Ein kurzer, heftiger Augenblick des Schwindels ließ ihn beinahe an seinem Unterfangen zweifeln, aber dieser Augenblick ging vorüber und dann stellte Kitai fest, dass es sowieso Angenehmeres gab, als auf eiskaltem Höhlenboden zu liegen. Außerdem fühlte er sich gleich ein bisschen wacher. Jetzt hatte er auch den Nerv dazu, seinen Entführer näher zu betrachten. Der hatte sein Auge immer noch geschlossen und atmete ruhig, was trotz seiner sitzenden Haltung doch einigermaßen nach Schlaf aussah. Eine seiner Hände lag am Schwertgriff, die andere hielt das Seil umfasst, das Kitais Hände nach wie vor fesselte. Beides waren Tatsachen, die Kitai nicht unbedingt gefielen.

Trotzdem erschien ihm der Höhlenausgang plötzlich gar nicht mehr so weit entfernt. Kitai wusste nicht, wie tief der Schlaf des finsteren Samurai war, und er ahnte in dieser Hinsicht leider nichts Gutes, dennoch schien plötzlich so ein latenter Duft von Freiheit in der Luft zu liegen. Von Freiheit und Tod, natürlich, denn nüchtern betrachtet konnte Kitai in diesem Augenblick überhaupt nichts Dümmeres machen, als ganz auf sich allein gestellt in diese wildfremde, wunderschöne Hölle aus Eis und Bergland zu fliehen, die sich jenseits ihres steinernen Zufluchtsortes ausbreitete.

Die Fakten lagen klar auf der Hand: Wer kannte sich hier (vermutlich) aus? Akuma. Wer hatte ein Schwert bei sich? Akuma. Wer konnte mit ebendiesem Schwert ganze Horden Schwerstbewaffneter binnen weniger Wimpernschläge niedermetzeln? Akuma. Aber wer würde ihn vermutlich in Kürze ebenfalls mit der schwarzen Klinge bekannt machen, wenn er ihn für was auch immer nicht mehr gebrauchen konnte? Genau, Akuma. Und da erschienen Kitai Eis und Schnee und eine winzige Chance auf Überleben doch immer noch als die bessere Alternative.

Vorsichtig, ganz, ganz vorsichtig stellte Kitai beide Fußsohlen auf den kalten Stein und stemmte sich in die Höhe. Er konnte in der Höhle nicht aufrecht stehen, aber wenn er den Eiszapfen und Tropfsteinen auswich, musste er sich nur leicht vorbeugen und konnte sich trotz der niedrigen Decke doch relativ sicher fortbewegen. Der Schwindel überkam ihn kein zweites Mal, und obwohl Kitai seine Beine immer noch nicht so richtig spürte, war sein Stand überraschend fest. Seine Füße schmerzten unglaublich und die Kälte bot in dieser Hinsicht weiterhin keine Linderung, aber daran hatte Kitai sich ja mittlerweile fast schon gewöhnt. Mein alter Freund, der Schmerz. Irgendwie hatte sich sein Leben in den vergangenen Tagen in eine höchst merkwürdige Richtung entwickelt.

Ein kalter Windhauch fuhr ächzend in die Höhle hinein. Akuma gab ein leises Geräusch von sich, und Kitai begriff, dass er schnell handeln musste. Er schloss beide Hände um das Seil, das ihn mit seinem Entführer verband, was nicht ganz einfach war, ihm aber doch erstaunlich schnell gelang. Dann duckte er sich noch ein bisschen mehr und suchte sorgsam nach einem möglichst sicheren Stand. Falls es darauf ankommen sollte, musste er sich mit einem einzigen Satz aus der Höhle retten können. Die silbrig blaue Nacht schien nach ihm zu rufen, und für einen kurzen Moment fühlte Kitai tatsächlich so etwas wie Aufregung durch seinen Körper jagen – allerdings wirklich nur für diesen einen Moment, und da hatte Kitai doch selbst bei sich ein bisschen mehr erwartet. Da dies aber ganz entschieden nicht der richtige Zeitpunkt war, um über sein merkwürdiges Gefühlsleben nachzudenken, wartete er nicht länger auf eine angemessene Angst oder zumindest Nervosität, sondern bewegte sich um wenige Millimeter nach hinten, wobei er unendlich langsam an seiner spröde gewordenen Fessel zog.

Beinahe in derselben Sekunde schlug Akuma die Augen auf.

Die Reaktion war ganz objektiv betrachtet beeindruckend – nur eine flüchtige Bewegung in dem kleinen Stück Seil, das der Samurai in seinen Fingern hielt, und schon saß er aufrecht da, lauernd und gespannt, die Situation kühl überblickend, die rechte Hand fest um den Griff seines Katana geschlossen. Subjektiv betrachtet war sie aber schlicht und ergreifend niederschmetternd und ernüchternd. Kitai hatte seine Fesseln noch nicht einmal aus dem Griff des lebendigen Alptraums befreit, geschweige denn sich selbst in die Nacht hinaus gerettet. Sofern es dort überhaupt so etwas wie Rettung gab.

Andererseits wirkte Akuma zwar absolut wachsam, kampfesbereit, aber mehr auf eine neutrale Weise. Was immer sich jetzt auf ihn stürzen mochte, würde binnen weniger Sekunden zu Hackfleisch verarbeitet werden. Aber Kitai wollte sich ja überhaupt nicht auf ihn stürzen. Die Chancen, dass der Samurai des Todes in Erwartung eines drohenden Angriffs jenes unbedeutende Seil in der linken Hand ein bisschen außer Acht ließ, standen eigentlich gar nicht so schlecht. Und dass dieser unglaublich große Mensch – Kitai schätzte ihn auf gut zwei Meter Körpergröße – sich in der Höhle sonderlich schnell fortbewegen konnte, war auch nicht sehr wahrscheinlich. Kitai hingegen stand direkt am Ausgang. Ein Sprung, nur ein einziger kräftiger Ruck am Seil, und die Freiheit hätte ihn wenigstens vorübergehend wieder.

Leider war es eine Tatsache, dass Menschen in Extremsituationen dazu neigten, binnen der wenigen Sekunden, die ihnen für eine Reaktion blieben, nicht unbedingt die bestmögliche Entscheidung zu treffen. Ob ein nahezu aussichtsloser Fluchtversuch tatsächlich diese bestmögliche Entscheidung war, darüber ließ sich trefflich streiten, aber auch ein kleines bisschen Hoffnung konnte sich bisweilen erstaunlich lange am Leben halten. Kitai aber sprang nicht, er zerrte nicht an seinen Fesseln, er stürzte sich nicht blindlings in das Eis und den Schnee hinaus, sondern vielmehr auf die eigenen Knie. Er warf sich auf den Boden, stützte sich mit beiden Armen ab und krümmte den Rücken, eine tiefe Verneigung vor der Macht der Schwerkraft. Den Blick wandte er nur ein kleines bisschen, blieb mit seinem Körper dem Ausgang zugewandt, und dann legte er so viel Erschöpfung und Müdigkeit in seine Stimme, wie das angesichts des doch recht gewaltigen Adrenalinstoßes, der durch seinen Körper jagte, eben möglich war:

„Es hat aufgehört, zu schneien.“

Mit einem heftigen Ruck wandte Akuma den Kopf in Kitais Richtung. Das pechschwarze Auge des Samurai bohrte sich wie die Klinge eines eisigen Schwertes direkt in das Gesicht des Weißhaarigen. Er weiß alles, schoss es Kitai durch den Kopf. Natürlich sieht er, was du vorgehabt hast. Jeder würde es sehen. Kitai fröstelte. Er wusste nicht, ob es innerhalb der vergangenen Sekunden tatsächlich noch ein bisschen kälter geworden war, aber er nahm das Zittern seines Körpers zum ersten Mal seit Stunden wieder bewusst wahr. Er musste die Lippen aufeinanderpressen, um nicht mit den Zähnen zu klappern. Wieso nahm Akuma seine Hand nicht endlich vom Schwertgriff? Kitai wollte doch gar nicht mehr davonlaufen. Die Idee erschien ihm mit einem Mal so absurd, dass er um ein Haar darüber gelacht hätte.

Akuma erhob sich, ganz plötzlich, und er war trotz seiner Größe und der stark geduckten Haltung mit nur zwei Schritten am Eingang, zumal diese Schritte so schnell und flüssig waren, dass Kitai jede einzelne seiner Überlegungen bezüglich etwaiger Vorteile seinerseits fast schon beschämte. Hatte er sich allen Ernstes eingebildet, dem Samurai des Todes in irgendeiner Weise überlegen zu sein? Ihm so einfach entkommen zu können? Und wieso war ihm eigentlich keine Sekunde lang in den Sinn gekommen, dass gefesselte Hände das Überleben auf rutschigen, steilen, ihm gänzlich unbekannten Gebirgspfaden auch nicht unbedingt leichter machten?

Dann erstickten all seine Gedanken in beklemmender Leere, als Akuma direkt neben ihm stand, nach wie vor bereit, sein Schwert zu ziehen. Kitai wollte noch irgendetwas sagen, aber ihm fielen keine Worte ein, mit denen er die Situation hätte besser machen können. Akuma starrte auf Kitai hinab und verzog seine bläulichen Lippen, während sich auf sein Gesicht ein Ausdruck legte, der Wut zumindest sehr ähnlich war, aber auf eine unglaublich kalte, tödliche Art und Weise.

Und im nächsten Moment war der Samurai auch schon an Kitai vorbei ins Freie getreten. Die beklemmende Anspannung wich dennoch nicht sofort aus dem Körper des Weißhaarigen. Er rechnete fest damit, dass Akuma herumfahren und ihn enthaupten oder ihm wenigstens mit dem Griff seines Schwertes ins Gesicht schlagen würde. Überraschenderweise geschah weder das eine, noch das andere. Stattdessen zog der Schwarzhaarige ruckartig an Kitais Fesseln, so heftig, dass es diesen schon wieder vornüber auf den eisigen Boden riss. Kitai wollte aufstehen, aber Akuma schleifte ihn unbarmherzig weiter. Die zahlreichen Schürfwunden im Gesicht und auf seinen Armen bekamen schmerzende Gesellschaft. Kitai stöhnte leise, und erst jetzt ließ Akuma sich dazu herab, wenigstens einen Moment lang stehen zu bleiben.

„Komm!“, stieß er in kaltem Befehlston hervor. Dann stapfte er schweigend weiter, und Kitai stolperte mit einem leisen Gefühl ernüchternder Resignation in der Brust hinter der großen schwarzen Gestalt des alptraumhaften Samurai her.
 

In den folgenden Stunden stellte Kitai fest, dass jener tranceartige Zustand, der ihn auf seiner Wanderung durch den Wald ganz nach innen gekehrt hatte, eine wunderbare Gnade gewesen war, die ihm jetzt nicht mehr vergönnt sein sollte. Das hatte mehrere Gründe: Das beruhigende, aber auf Dauer auch nicht unbedingt sehr spannende Grün des Waldes war nicht im selben Maße dazu geeignet gewesen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wie es das atemberaubende Panorama war, das sich nun unmittelbar zu seiner Rechten ausbreitete. Der Weg der beiden so unterschiedlichen Gestalten führte nämlich zumeist direkt am Abgrund entlang – übrigens noch ein gutes Argument für deutlich mehr Konzentration – und bot so einen Ausblick auf eine unwirklich schöne Szenerie aus einem Auf und Ab sanfter bis scharf gezackter Bergrücken, bedeckt mit Schnee, Wald und bläulich weißem Sonnenlicht. Dahinter weitere Berge, in zunehmender Verblauung sanft in Nebelschwaden verblassend.

Außerdem wurde es kälter und kälter. Kitais Atem gefror direkt vor seinem Mund zu zartweißen Wolken. Die eisige Luft war wie dauerhafte Schläge ins Gesicht, die unerbittlich wach hielten und gleichzeitig daran erinnerten, welche Stellen an Kitais Körper mehr und mehr und mehr und noch viel mehr schmerzten. Nämlich so gut wie alle. Kitai wartete und wartete darauf, dass das Laufen wieder zu einer automatisierten Handlung werden würde, aber jetzt musste er sich zu jedem Schritt zwingen. Und dazu, nicht jedes Mal laut aufzuschreien, wenn wieder eine seiner Fußsohlen den vereisten Stein berührte.

Gegen Nachmittag begann es wieder zu schneien. Allerdings hatte sich der Wind gelegt, sodass die Flocken nur sanft, fast ein bisschen träge vom Himmel hinabfielen. Auf dem blanken Fels breitete sich ein weicher weißer Teppich aus. Ganz kurz weckte das in Kitai tatsächlich so etwas Ähnliches wie Hoffnung, aber bald schon musste er feststellen, dass es sich auf dem Schnee leider auch nicht viel angenehmer gehen ließ. Zwar wurde seinen wunden Fußsohlen ein gnädiges Polster geschaffen, doch kostete es ihn nun umso mehr Kraft, die Füße wieder anzuheben. Zudem wurde der Gebirgspfad zu einer unberechenbaren Gefahr. Mehr als einmal geriet Kitai ins Stolpern, weil sich plötzlich ein Stein unter seinen Sohlen löste oder weil er schlicht und ergreifend auf ein tückisches bisschen Glatteis trat.

Doch bei aller Mühsal, die ihm das Gehen bereitete, hätte Kitai laut aufschreien können, als Akuma vor ihm plötzlich stehen blieb. Laufen mochte eine Qual, jeder einzelne Schritt blanke Folter sein, aber bloßes Stehen erschien ihm als ein Ding der Unmöglichkeit. Hastig stützte sich der Weißhaarige an der Felswand zu seiner Linken ab, als sein Kreislauf umgehend zu protestieren begann. Kitai hatte keine Ahnung, was seinen düsteren Entführer zum Anhalten bewegt hatte, aber er wollte schlicht und ergreifend weiter, wohin auch immer, denn Bewegung gab wenigstens noch ein trügerisches Versprechen auf Rettung und lenkte ein bisschen von dem Wunsch ab, einfach nur in den Schnee zu fallen und sich nie, nie, nie mehr wieder auf die per Schmerz laut um Hilfe schreienden Fußsohlen stellen zu müssen.

Dann aber sah Kitai, was Akuma schon deutlich früher bemerkt hatte, und jetzt verstand er sowohl dessen Stehenbleiben als auch die leise Spur von finsterer Beunruhigung, die sich auf sein bleiches Gesicht gelegt hatte. Von links her mündete ein schmaler Pfad zwischen zwei Bergschluchten in ihren Weg am Abgrund ein. Auf diesem Pfad waren Spuren im Schnee zu erkennen. Kitai hätte nicht sagen können, ob es sich dabei um menschliche Fußspuren handelte, da das frisch gefallene Weiß über die sowieso nicht gerade ausladende Breite des Weges vollkommen zerstört und zertrampelt war. Mit Sicherheit ließ sich nur sagen, dass irgendetwas oder irgendjemand durch diese Schlucht gekommen war.

„Waren sie das?“, fragte Kitai vorsichtig, als Akuma keine Anstalten machte, weiterzugehen. Der schwieg einige Sekunden lang und deutete dann ein Schulterzucken an.

„Ich weiß es nicht“, murmelte er, fast mehr wie zu sich selbst, „aber wenn, dann waren sie erst vor Kurzem hier. Es schneit noch nicht lange. Sie müssten noch in der Nähe sein.“

„Gehen wir trotzdem weiter? Ich meine, auf diesem Weg?“

„Dieser Weg führt ans Ziel“, stellte Akuma fest und presste kurz seine Lippen etwas fester aufeinander. Sein Auge suchte fortwährend ihre Umgebung ab. Die rechte Hand des Samurai ruhte wieder auf dem Griff seines Katana. „Hier durch die Schlucht kommen wir nur wieder in den Wald zurück. Auf einem Umweg. Davon haben wir nichts.“

„Aber… eigentlich bist du hier am Abgrund doch sogar im Vorteil“, entgegnete Kitai, und diese Worte waren tatsächlich keine leeren, leidlich beruhigenden Floskeln, wie er noch beim Sprechen bemerkte, sondern entsprachen seiner vollen Überzeugung. „Der Weg hier ist so schmal, da bringt ihnen ihre Überzahl rein gar nichts, da geht es nur darum, wer besser kämpft!“

„Hm“, machte Akuma und zog seine Augenbrauen zusammen, was ihn spontan noch ein bisschen finsterer wirken ließ. Und dann, nach einiger Zeit des Schweigens, fügte er hinzu: „Hoffen wir, dass nur sie es sind.“

„Ja, aber…“ Kitai stockte, als Akuma eine herrische Handbewegung in seine Richtung vollführte – noch dazu mit der Hand, in der er nach wie vor das Seil seiner Fesseln hielt. Dann setzte sich der Samurai wieder in Bewegung, allerdings langsamer als zuvor, mit unverändert gespannter Körperhaltung. Eine leise Nervosität kroch in Kitai hoch, gepaart mit der durchaus berechtigten Frage, was um alles in der Welt wohl noch schlimmer sein konnte als eine Horde schwerstbewaffneter Samurai, die einem überaus hartnäckig nach dem Leben trachtete.

Kitais türkisblaue Augen schweiften gerade wieder zum Horizont, der mit den Silhouetten der Berge verschmolz, als er einen Schrei hörte, der seine Frage beinahe schon beantwortete.

Kitai bezeichnete das Geräusch gedanklich in erster Linie deshalb als Schrei, weil es alarmierend, schrill und unglaublich laut war. Ansonsten hatte es mit gleich welchen menschlichen Laut nicht allzu viel gemeinsam. Ein stechender Schmerz bohrte sich in seinen Kopf. Er wollte sich die Hände vor die Ohren schlagen, aber die waren ja immer noch gefesselt. Ein weiterer Schrei, lauter als der erste, zerfetzte die eisige Stille, und Kitai geriet ins Taumeln. In seinem Nacken richteten sich sämtliche Haare auf. Dieses grauenhafte Brüllen war nicht einfach nur Lärm, Kitai konnte es in jeder Faser seines Körpers spüren, wie das Kratzen von Fingernägeln auf einer Schultafel.

Akuma begann zu rennen.

Einen leisen Aufschrei konnte Kitai bei all seiner Willenskraft nicht zurückhalten. Akuma riss ihn hinter sich her, und als seine Füße so unsanft mit dem Boden kollidierten, war dem Weißhaarigen, als würde ihm die Haut von den Sohlen gezogen werden. Oder aufplatzen. Oder in tausend eisige Fetzen explodieren. Der Schmerz war überwältigend, aber Akuma warf Kitai über die Schulter einen derart tödlichen Blick zu, dass dieser es nicht mehr wagte, auch nur irgendeinen Laut von sich zu geben. Er presste die Zähne so fest aufeinander, dass er fürchtete, sie würden ihm im Mund zersplittern, und dann folgte er stolpernd dem Samurai des Todes.

Der Pass wand sich in immer engeren Schlingen um die graublaue Haut des Berges. Kitai kam mehr und mehr ins Rutschen, stolperte am Abgrund entlang, dass ihm schwindlig wurde, und zu allem Überfluss bohrte sich erneut ein Kreischen in seine Trommelfelle. Und dann, ganz plötzlich, kam Akuma vor ihm zum Stehen. Kitai bemerkte es zunächst gar nicht, da seine Augen auf das bisschen Weg unter und vor seinen pochenden und brennenden und wie in Säure gebadeten Füßen gerichtet waren. Er konnte auch nicht mehr anhalten, sondern prallte gegen den breiten Rücken des Samurai.

Und das war sein Glück. Direkt vor ihnen endete nämlich der schmale Bergpfad abrupt. Zu Akumas Füßen tat sich zwar kein bodenloser Abgrund auf, aber immerhin ein steil abfallender Abhang, übersäht mit Geröll, das sich schon unter ihren Blicken zu lockern schien. Auch die bleiche, schimmernde Schicht, die sich über den losen Fels gelegt hatte, verhieß nichts Gutes. Kitai musste einige Male blinzeln, als er merkte, dass ihm schwindelig wurde, und auch Akuma schien die Fortsetzung ihrer sowieso schon riskanten Flucht für keine allzu gute Idee zu halten, jedenfalls lief er nicht weiter. Nicht sofort.

Stattdessen fuhr er herum und zückte noch in derselben Bewegung sein Schwert. Kitai machte einen Satz zurück, als die Klinge nur mit hauchdünnem Abstand seine Brust verfehlte. Wieder ex- oder implodierten seine Fußsohlen, doch der Ausdruck auf Akumas Gesicht war ein überzeugendes Argument, diesmal keinen Laut von sich zu geben. Das machte den Schmerz nur leider nicht weniger brutal. Das Gemälde aus Weiß, Grau und Blau, in dem Kitai gefangen war, begann vor seinen Augen zu flackern, und in seinen Ohren übertönte ein lautes Rauschen die eisige Stille. Er suchte Halt an der Felswand, taumelte glücklicherweise in die richtige Richtung und wartete darauf, dass das Schwindelgefühl vorübergehen würde.

Er wartete nicht allzu lange, bis er feststellen musste, dass es überhaupt nicht der Schwindel war, der ihm das Blut in den Ohren rauschen ließ. Das Geräusch existierte tatsächlich, und es war schlicht und ergreifend das Schlagen von Flügeln in der kalten Luft. Das Schlagen von sehr großen Flügeln. Von gigantischen Flügeln, die einen grotesken Körper trugen, einen missgestalteten Vogelleib, aus dem zwei riesenhafte Pranken hervorwuchsen, nackt, sehnig und auf abstoßende Weise verformt. Den Kopf des… Etwas konnte Kitai nicht genau erkennen, aber auch er glich einem deformierten Menschenkopf von absurder Größe, mit einem riesenhaften Mund und einem schleimig roten Auswuchs, den der Weißhaarige gar nicht näher betrachten wollte. Seine türkisblauen Augen fixierten starr das Monstrum, das sich ihnen mit beunruhigender Geschwindigkeit näherte, und irgendwo in den gefrorenen Gedanken in seinem Hinterkopf wurde die brennende Frage laut, wo um alles in der Welt er hier eigentlich gelandet war.

Dann griff das Ungetüm an. Es streckte seine klauenbewehrten Beine nach vorne, presste einen markerschütternden Schrei hervor, der Kitai beinahe den Atem nahm, und stieß zielsicher auf seine menschliche Beute herab. Kitai sah dem Ganzen zu, unfähig, das Geschehen zu begreifen oder gar darauf zu reagieren. Seine Finger streiften langsam den kalten Stein, gegen den er gesunken war, suchten nach einem kleinen bisschen Realität, das die absurde Szenerie in irgendeiner Weise akzeptabler gemacht hätte, fanden aber nichts als vereiste Felswand. Da war ein Monster wie aus einem verdammt gut gemachten Horrorfilm und es würde sie vermutlich in Kürze töten. War das möglich? Nein, war es definitiv nicht. Also wie hätte er da noch reagieren sollen?

Diese Lethargie war trotz aller Absurdität, trotz aller Unmöglichkeit sein sicheres Todesurteil. Aber glücklicherweise war da ja noch eine zweite Alptraumgestalt an seiner Seite, und die blieb nicht annähernd so untätig wie Kitai. Akuma stand am Abgrund, sein Katana fest in den Händen, das pechschwarze Auge auf den monströsen Angreifer gerichtet, regungslos wie ein dunkles, bedrohliches Standbild. Eine Wolke ekelhaften Gestankes schlug Kitai entgegen, als das geflügelte Ungetüm ihnen so nahe kam, dass der Windstoß seiner Flügelschläge ihn beinahe von den Füßen riss. Es sperrte sein geiferndes Maul weit auf, um erneut zu brüllen, und genau in diesem Augenblick schlug Akuma zu. Es sah so aus, als ob die schwarze Klinge des Schwertes das Monstrum nur streifen würde, ganz leicht, beinahe sanft, aber die Bestie wurde mit einem Kreischen zur Seite weggeschleudert. Durch die kalte Luft wirbelten blutige grauschwarze Federn. Kitai spürte eine dumpfe Übelkeit in sich aufsteigen.

Und im nächsten Moment begriff er, dass Akuma seine Fesseln losgelassen hatte.

Die Situation war fast schon wieder zum Lachen. Da war ein widerwärtiges Untier, das ihnen brüllend und stinkend nach dem Leben trachtete, da war Akuma, der mit gezücktem Schwert auf dem schmalen Grat zwischen Himmel und Erde auf einen weiteren Angriff lauerte. Und da war er selbst, wie gelähmt vor Fassungslosigkeit, gefangen in einem tödlichen, eisigen, unglaublich schmerzhaften Alptraum und – frei. Kitai wollte wenigstens die Lippen verziehen, aber sie brannten und kribbelten so sehr, dass er es doch lieber bleiben ließ.

Was aber vielleicht das Erstaunlichste an dem Ganzen war: Diesmal reagierte Kitai nicht nur schnell, sondern auch so, wie ihm das als mehr oder weniger richtig erschien. Er machte zwei vorsichtige Schritte nach vorne und schob sich mit einem Geschick, das er sich um nichts in der Welt noch zugetraut hatte, zwischen Akuma und der Felswand hindurch (und da war verdammt noch mal nicht viel Platz!). Dann rannte er los. Es war ein Lauf in den beinahe sicheren Tod, und das wusste Kitai auch. Eigentlich blieb nur noch die Frage, ob er auf dem Geröll den Halt verlieren und sich das Genick brechen, von dem geflügelten Monster zerfleischt oder von Akuma eingeholt und zu Kleinholz verarbeitet werden würde.

Trotzdem blieb Kitai nicht stehen. Der lose Schutt unter seinen tauben Fußsohlen brachte ihn ins Taumeln, aber Kitai stützte sich an der Felswand ab und bewegte sich so rasch und umsichtig wie möglich vorwärts, ohne auch nur eine Sekunde lang den Kontakt zum eisigen Stein zu verlieren. Faktisch konnte er sich daran natürlich auch nicht festhalten, aber es gab ihm eine Illusion von Sicherheit und ein gewisses Gefühl für seinen eiskalten Körper. Schon nach wenigen Metern spürte Kitai ein hässliches Stechen in seiner Bauchgegend. Er war sich nicht ganz sicher, ob es nicht schon vorher da gewesen war, aber jetzt, da er es einmal bewusst wahrgenommen hatte, fragte er sich, wie er es jemals hatte ignorieren können. Und zu allem Überfluss hörte er dann auch noch Akumas Stimme, die ihm mit einem todbringenden Klang nachrief:

„Bleib sofort stehen!“

Spontan hatte es Kitai noch ein bisschen eiliger.

„Bleib stehen!“

Ein plötzlicher Windstoß riss an Kitais Haaren und zwang ihn zum Innehalten. Das Geräusch von Schritten auf dem felsigen Untergrund brach dennoch nicht ab, und als Kitai einen kurzen Blick über die Schulter zurückwarf, sah er, dass Akuma ihm folgte. Er hielt nach wie vor sein Katana in den Händen, aber das hinderte ihn nicht daran, sich mindestens doppelt so schnell fortzubewegen wie Kitai. Der versuchte ein, zwei Sekunden lang ebenfalls, sich zu beeilen, aber sofort glitt einer seiner Füße nach hinten weg. Kitai krallte seine Fingernägel gegen einen kleinen Felsvorsprung, stemmte sich trotz aller Schmerzen mit dem anderen Fuß gegen das spitze Geröll und fand mit angehaltenem Atem, heftig pochendem Herzen und noch stärker zitterndem Körper sein Gleichgewicht wieder.

Darüber hinaus hatte ihm sein waghalsiges kleines Manöver in erster Linie eines gebracht, nämlich, dass ihm Akuma sogar noch ein bisschen näher gekommen war. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Samurai des Todes ihn einholen würde, zumal das Zittern in Kitais Körper für ein schnelles und sicheres Vorankommen nicht unbedingt von Vorteil war. Er kam jetzt bei fast jedem Schritt ins Straucheln, und zu allem Überfluss konnte er auch noch der Versuchung nicht widerstehen, sich ein weiteres Mal nach seinem Verfolger umzudrehen, nur um festzustellen, dass dieser kaum mehr einen Meter von ihm entfernt war. Kitai war sich sicher, dass Akuma ihn mit einem Schwerthieb problemlos erreichen und durchbohren konnte.

Dann aber wurde etwas vollkommen anderes durchbohrt, nämlich Kitais Trommelfell, als die kalte Luft erneut von einem markerschütternden Schrei zerrissen wurde. In den wenigen Minuten – zwei, höchstens drei –, in denen Kitai nichts mehr von dem grauenhaften Monster gehört oder gesehen hatte, war ihm dessen Existenz schon beinahe wieder so surreal vorgekommen, dass er gar nicht mehr daran gedacht hatte. Jetzt aber kam das Ungetüm erneut auf die beiden schwarzen Gestalten zugestürzt, den deformierten Leib blutüberströmt, einen seiner gewaltigen Flügel deutlich träger bewegend als den anderen, aber mit derselben tödlichen Zielstrebigkeit wie bei seinem ersten Angriff.

Akuma fuhr herum – oder wollte es vielmehr tun, aber auf dem rutschigen Boden brachte diese schwungvolle Bewegung selbst ihn aus dem Gleichgewicht. Die Klauen des Monsters verfehlten den Kopf des Samurai nur um Haaresbreite, doch eine der Schwingen prallte gegen seinen Körper und nahm ihm jede Chance, den Halt auf dem lockeren Geröll noch wiederzufinden. Akuma stürzte. Mit einer letzten Kraftanstrengung riss er seine Waffe hoch, vollführte einen haltlos taumelnden Schritt nach vorne und stieß der geflügelten Abartigkeit sein Katana tief in den gefiederten Körper.

Dann schlug er auf dem Geröll auf. Das Monstrum, immer noch von der pechschwarzen Klinge durchbohrt, zog er zu sich hinab, und seine dunkle Gestalt wurde nahezu vollständig unter der abstoßenden Masse aus Sehnen und blutigen Federn begraben. Die zuckende, kreischende Abartigkeit wurde von ihrem immensen Gewicht beinahe augenblicklich in die Tiefe gerissen. Akuma nahm sie mit sich. Kitai sah noch, wie eine bandagierte Hand unter den Federn heraus vergeblich nach einem Halt auf dem losen Bodenbelag suchte, wie das lange Haar des Samurai einem schwarzen Fluss oder einem Seidentuch gleich über das staubige Grau des Gesteins gezogen wurde, dann verschwanden beide, Teufel und Monster, in einer schmutzigen Wolke aus Staub und Dreck und aufgewirbeltem Schnee.

Kitai wandte sich ruckartig ab. Er konnte natürlich nicht sagen, ob Akuma die – vielleicht im wahrsten Sinne des Wortes – halsbrecherische Rutschpartie in die Tiefe überlebt hatte, aber der Anblick ließ ihm ganz schwindelig werden. Trotzdem musste er weiter. Falls das Ungetüm Freunde und Verwandte in der näheren Umgebung hatte, wollte Kitai diesen ganz bestimmt nicht begegnen. Immerhin hatte er jetzt keinen freiberuflichen Todbringer mehr an der Seite, der künftige Angreifer wahlweise mit Blicken oder mit scharfer Klinge Willkommen heißen und postwendend ins Jenseits befördern konnte. Außerdem war da immer noch die Kälte, diese furchtbare, unerträgliche, niederschmetternde Kälte, die vielleicht sogar noch ein bisschen gefährlicher war als so manches fliegende Ungeheuer.

Aber wenigstens hatte Kitai seine Freiheit wieder. Das war immerhin mehr, als er sich noch vor nicht allzu langer Zeit erhofft hatte. Ein so unschönes Ende hatte er seinem Entführer ganz bestimmt nicht gegönnt, aber ein Ende mit Schrecken war ja bekanntlich trotzdem besser als ein Schrecken ohne Ende. Kitai horchte noch einige Sekunden lang in sich hinein, suchte nach Betroffenheit, Erleichterung, Angst oder Hoffnung, aber so wirklich fündig wurde er in keiner Hinsicht. Also tastete er sich eben weiter mit gefesselten Händen und blutigen Füßen an der Felswand entlang, Schritt um Schritt, schließlich hatte er es jetzt ja nicht mehr ganz so eilig wie noch kurz zuvor.

Kitai richtete seinen Blick auf das bläulich schimmernde Gestein. Nun, da er keinen Führer mehr hatte, musste er eben zusehen, wie er allein einen Weg zu Kagi fand. Im weiteren Sinne. Im engeren Sinne galt es erst einmal, eine Stadt zu finden. Neue Kleidung, ein warmes Bett, eine Suppe und Tee. Einen guten Arzt. Kitai hatte zwar immer noch nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, wo er sich nun eigentlich befand – auf der anderen Seite des Spiegels, in einem komatösen Alptraum, in einem bislang noch unentdeckten Paralleluniversum –, aber angesichts der Tatsache, dass die Menschen hier offenbar einen beachtlichen Teil des Tages mit Kämpfen verbrachten, konnte er sich einfach nicht vorstellen, dass es keine Ärzte gab. Der Beruf musste hier eine ganz beachtliche Einnahmequelle sein.

Erst bei diesem Gedanken fiel Kitai auf, dass er ja überhaupt kein Geld bei sich trug. Nichts zu essen, nichts zu trinken. Nur seinen schäbigen Kimono, den etwas zu großen Hakama und ein abgewetztes Seil an den Handgelenken. Damit konnte er jedenfalls kein Hotel, kein Restaurant und keinen Arzt der Welt – vermutlich auch nicht dieser Welt – bezahlen. Die bittere Erkenntnis weckte selbst in Kitai ein leises Gefühl der Beunruhigung, und für einen Moment vergaß er vollkommen, auf den Weg zu achten.

Ob es tatsächlich diese kurze Unachtsamkeit war, die ihm letztlich zum Verhängnis wurde, oder ob ihm seine zerschundenen Fußsohlen endgültig den Dienst quittierten, konnte Kitai nicht sagen. Es spielte auch keine Rolle mehr. Der Boden schien urplötzlich einfach nachzugeben, vielleicht knickte Kitai auch einfach nur der Fuß um, ohne dass er es noch bemerkte, vielleicht löste sich tatsächlich einer der zahllosen Steine, vielleicht auch mehrere, jedenfalls verlor Kitai jeglichen Halt und es riss ihm buchstäblich die Beine unter dem Körper weg. Er versuchte, sich abzufangen, aber es gelang ihm nicht, seine zusammengebundenen Arme richtig zu koordinieren. Kitai schlug hart auf der Seite auf, wollte seine Finger, seine Füße, seine Schulter… wenigstens irgendetwas fest genug in den Boden drücken, um seinem Rutschen ein Ende zu bereiten, doch alles um ihn herum war in Bewegung geraten. Wie von einem unerbittlichen Sog wurde er in die Tiefe gerissen, schlitterte schneller und schneller den immer steiler werdenden Abhang hinab. Der aufwirbelnde Staub und die Flut von Schmerz, die durch seinen Körper wogte, führten einen erbitterten Kampf darum, wer ihm nun letztlich den Atem nehmen würde.

Dann nahm die Schlitterpartie ein jähes Ende, und auf das Rutschen folgte freier Fall.
 

Ende des zweiten Kapitels



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