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Opfer

Opfer

 

Seit dem Vorfall zwischen dem Detektiv und seinem sowohl Hauptverdächtigen als auch wichtigsten Mitstreiter hatten die beiden jungen Männer das Thema ihrer unerwarteten Konfrontation lediglich flüchtig, niemals direkt angesprochen. Sie hatten nicht darüber gesprochen, warum Light seinen Partner derart bedrängt und warum dieser wiederum sich nicht gewehrt hatte. Solange keiner ein Wort darüber verlor, herrschte Gleichstand. Solange sie schwiegen, war niemand im Vorteil und niemand bereits Verlierer. Entgegen aller Erwartungen war jenes Stillschweigen nicht erzwungen. Auch sonst schien sich nichts geändert zu haben.

Light wusste nicht, ob L überhaupt Gedanken daran verschwendete. Wenn der Detektiv die Situation tatsächlich für seine Ermittlungsarbeit ausnutzen wollte, dann ergriff er zumindest nicht selbst die Initiative, sondern wartete die weitere Entwicklung ab. Derweil musste sich Light darüber im Klaren werden, wo die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben verlief und welche seiner Emotionen lediglich aus Unzufriedenheit und Anspannung entsprungen waren. Immerhin sollte ihm eine Reflexion darüber, wie er, zurückgekehrt in die Normalität, handeln würde, zurzeit nicht möglich sein. Allerdings blieb es genauso fragwürdig, ob Light den Abschluss der Ermittlungen abwarten konnte. Ebenjene Ermittlungen hatten ihm schließlich erst derart zugesetzt, dass er im Umkehrschluss durch emotionale Instabilität seine Arbeit gefährden konnte.

Ein fremder Finger legte sich plötzlich an seine Stirn und fuhr mehrmals mit leichtem Druck bis zum Haaransatz, als sollte damit etwas weggewischt werden. Light war nur innerlich, in seiner Selbstbeherrschung nach außen nicht sichtbar, erschrocken und wandte seine Aufmerksamkeit von der Stadtkulisse ab und seinem Partner zu. Geraume Zeit hatte der junge Student in gerader Haltung, mit den Händen in den Taschen seiner Stoffhose, vor dem Fenster verharrt und gedankenversunken hinaus gestarrt, bis sich L dazugesellt und ihn aus ebenjenen Gedanken gerissen hatte. Jetzt stand der Detektiv mit gekrümmtem Rücken und erhobenem Arm vor ihm, um die Falten auf Lights Stirn zu glätten.

Stets zwischen Naivität und Allwissenheit schwankte der Ausdruck in Ls Gesicht, wenn er seine Mitmenschen mit leer wirkenden Augen untersuchte, um mehr deduzieren zu können, als man aus seiner eigenen Person zu lesen imstande war.

„Hast du Lust“, fragte L, „auf ein Spiel?“

Er hielt mit spitzen Fingern für einen kurzen Moment eine Spielfigur in die Luft, eine Schachfigur, wie Light zu erfassen meinte. Bevor er es allerdings genau erkennen konnte, hatte sich L bereits abgewandt und ging voran, ohne auf eine Antwort zu warten.

Nach wenigen Sekunden der Irritation folgte ihm Light. Obwohl er mittlerweile zu wissen glaubte, dass es sich vermutlich in der Tat um eine Schachfigur handelte, wusste Light nicht mit Sicherheit, welche Figur L in der Hand hielt. Vielleicht war es ein König. Vielleicht aber auch nur ein Bauer.

 

Leise raschelten die Dokumente, als der einstige Oberinspektor Yagami sie niederlegte, nachdem er das bedruckte Papier eine geraume Zeit nur noch angestarrt hatte, ohne die Informationen ein weiteres der bereits zahllosen Male zu lesen. Er wusste um den Inhalt Bescheid. Er kannte alle Fakten zum jetzigen Stand des Falles, genauso wie ihm das unwegsame Terrain klar war, auf dem sich die Sonderkommission bewegte, sodass es vor kurzem sogar zu einer Spaltung des Teams gekommen war.

„Wie kommst du voran, Vater?“ Light schaute besorgt zu ihm hinüber und vergaß dabei für einen Moment die Partie Schach, die zwischen ihm und L auf dem Tisch aufgebaut war.

Herr Yagami begegnete dem Blick seines Sohnes nur für einen kurzen Moment. Dann seufzte er verhalten, nahm seine Brille ab und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die angespannte Nasenwurzel. Anstatt verbal eine Antwort zu geben, machte er nur eine unbestimmte, wegwerfende Handbewegung. Um ihn nicht weiter unangenehm zu bedrängen, betrachtete Light seinen Vater schweigend und mit einem fast hilflosen, obzwar aufbauend gemeinten Lächeln, bevor er sich wieder dem Spiel zuwandte.

Die beiden jungen Ermittler führten ihre Schachzüge sehr rasch aus, als wollten sie kaum Überlegungen investieren. Dennoch waren die Paraden brillant. Herr Yagami lehnte sich im Sessel zurück und folgte der Partie mit halber Aufmerksamkeit. Jemand hatte im Raum eine Musikanlage eingeschaltet, aus welcher die improvisierte Melodie einer einzelnen Gitarre erklang, um das penetrante Surren der elektronischen Geräte zu übertönen.

„Noch habe ich mich nicht für eine Verhaftung entschieden“, gab plötzlich Herr Yagami nachdenklich zu. Als er sich der Formulierung seiner Aussage bewusst wurde, senkte er betreten die Lider und lockerte ein wenig den Knoten seiner Krawatte, bevor er sich korrigierte: „Das heißt, derzeitig bin ich selbstverständlich kein Polizist mehr.“ Light versuchte den Schmerz in den Worten seines Vaters nicht an sich heranzulassen. Dennoch hörte er ihm aufmerksam zu. „Es fällt mir schwer, dieses Denken abzulegen. Gewohnte Bahnen zu verlassen ist wohl besonders schwierig, wenn man die eigene Arbeit nicht nur als Beruf, sondern vor allen Dingen als Berufung auffasst. Aber immerhin habe ich noch die Möglichkeit, auf indirektem Weg die sieben Verdächtigen festnehmen zu lassen.“

„Werden Sie es tun?“, fragte L und hielt mitten in der Bewegung inne, sodass der Läufer zwischen seinen Fingern einige Sekunden lang über dem Schlachtfeld schwebte. „Ich werde Sie nicht davon abhalten, Yagami-san, wenn Sie der Meinung sind, dass Sie das Richtige tun. Aber ich habe nicht vor, die Verantwortung dafür zu übernehmen.“

„Und was ist mit der Verantwortung den Gefängnisinsassen gegenüber, die jetzt in Gefahr schweben?“, konterte der Ältere. „Sie sind nicht anonym. Können wir uns von der Schuld freisprechen, wenn einer von ihnen aufgrund unserer Vorgehensweise im nächsten Monat stirbt?“

L tauschte mit einer Hand seinen Läufer gegen einen von Lights Türmen und stellte die gegnerische Spielfigur an den Rand des Feldes. Gleichgültig ließ er verlauten:

„Ist es etwa richtig, sich in ethischen Normen zeitnah zu orientieren? Müssen wir uns nur auf den nächsten Schritt konzentrieren, wobei wir vor dem Rest des Weges die Augen verschließen? Mit der Festlegung unserer Grundsätze ist Ethik zwar sowieso auf die Zukunft ausgerichtet, aber was ist, wenn wir damit, dass wir jetzt ein paar Personen schützen, weit mehr Menschen opfern, die später folgen werden? Verstehe ich das also korrekt, wir sollen uns nicht schuldig machen für die nächstliegenden Opfer, denn wer danach stirbt, fällt nicht mehr in unseren Verantwortungsbereich?“

„So habe ich das nicht gemeint!“ Die Empörung des einstigen Polizeibeamten wurde nur von seinem Schrecken über jene gefühllosen Worte gedämpft. „Vielleicht hört es mit der Verhaftung der sieben ja auf und es gibt gar keine weiteren Opfer, an denen wir schuld sein könnten.“

„Glaubst du das denn, Vater?“, mischte sich nun Light ein. „Bei unseren bisherigen Erfahrungen mit Kira, glaubst du, dass es durch eine Inhaftierung einfach aufhören würde? Wir haben nicht einmal stichhaltige Beweise, um die Leute von Yotsuba lange festzuhalten.“

Herr Yagami beugte sich nach vorn und stützte in sitzender Haltung die Ellbogen auf seine Knie, während er die Hände ineinander verschränkte.

„Natürlich hoffe ich einfach nur auf das Beste“, räumte er ein, „obwohl mir mein Verstand sagt, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllen wird. Trotzdem kann ich nicht anders, als ein Vorgehen kategorisch abzulehnen, bei dem Menschen geopfert werden, die bereits ziemlich real sind.“

„Ah, so ist das“, warf L in gespielt unschuldigem Verstehen ein. „Wir haben es jetzt mit Individuen zu tun, nicht mit unbekannten zukünftigen Menschen. Das sind bewusste und bekannte Größen, logisch. Wenn ein Mensch stirbt, ist es tragisch, nicht wahr? Aber wenn Tausende sterben, ist es bloß Statistik.“

„Ryuzaki!“ Light stieß mit dem Pferd einen von Ls Bauern unbeabsichtigt heftig von der Kante des Schachbretts. Schnell stellte er ihn wieder auf, um ihn bei den anderen gestürzten Figuren einzureihen. „Du weißt genau, dass man das nicht pauschalisieren kann. Sogar Grundsätze lassen sich im derzeitigen Fall nicht problemlos festmachen. Wenn du anders denken würdest, hättest du nicht zugelassen, dass sich zwei Teams bilden, dann würdest du all dem Einhalt gebieten. Aber dir ist klar, dass niemand hier im Recht sein kann. Eigentlich vertrittst du doch dieselbe Meinung wie mein Vater, bloß unsere Prioritäten sind verschieden, weil wir ein späteres Ziel verfolgen.“

L starrte, während sein Kollege sprach, mit weit aufgerissenen Augen nachdenklich durch die gegenüberliegende Sessellehne hindurch. Ohne seinen fixierten Blick zu lösen antwortete er nach kurzer Stille monoton:

„Das ist die Schwierigkeit beim Wechsel vom theoretischen Grundsatz zur Praxis. Von dem Punkt, wie etwas ist, darauf zu schließen, wie es sein sollte.“

„Quasi ein naturalistischer Fehlschluss“, fügte Light nickend hinzu. „Kira tötet mit unserem Wissen weiterhin Menschen, darum müssen wir ihn jetzt daran hindern; das ist es, was uns die Moral scheinbar vorgibt. Unsere erste Prämisse hat aber keinen moralischen Wert, weshalb daraus eigentlich keine Norm abgeleitet werden kann. In Japan gibt es die Todesstrafe, wir finden es demnach nicht per se moralisch verwerflich, Verbrecher zu töten. Was wir hingegen nicht akzeptieren können, ist eine vom Staat unabhängige Exekutive. Die meisten Bürger fällen kein Urteil aufgrund komplizierter syllogistischer Gleichungen, sondern lediglich nach Gefühl. Böse Menschen dürfe man nicht töten, das wäre aus der kommunizierten Norm heraus die richtige Ansicht. Nur aufgrund dessen, dass bestimmte Abläufe in der Welt aus der Natur der Sache heraus und somit auch in unserem eigenen Handeln stets gleich ablaufen, bedeutet das nicht, dass es auch in Zukunft so sein wird.“

„In den meisten Bereichen denken wir aber nicht anders“, ergänzte L. „Wir sondieren, was wir stetig beobachten, und meinen, daraus Regeln ableiten zu können, als würde alles ausnahmslos seinen Bestimmungen folgen. Darum kommt es umgekehrt in Argumentationen oftmals zu der Verwirrung von positivem Recht und ethischer Norm, weil Grundsätze nicht leicht zum starren Gesetz formuliert werden können und einige nicht zwischen dem unterscheiden, was sie für richtig halten, und dem, was Recht ist. Trotz einer emotional eingestellten Moral brauchen wir die Theorie, die dem Gerechtigkeitsgefühl einen klaren begrifflichen Rahmen gibt.“

„Ich würde es eher“, meinte Herr Yagami mit einem Anflug von ungewohntem Sarkasmus in der Stimme, „intellektuelle Schizophrenie nennen.“

Wieder nickte Light und stimmte mit dieser Geste seinem Vater zu, bevor er sagte:

„Es ist nun einmal leichter, an die Konsequenzen dessen zu denken, was wir tun, als an die Konsequenzen dessen, was wir nicht tun.“

In dem daraufhin entstehenden einvernehmlichen Schweigen streckte L die Hand aus, um seinen König in Bewegung zu setzen.

 

Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass Kira als Instanz über all den bisher aufgetretenen Verdächtigen schwebte? Light versuchte sich auf die Frage zu konzentrieren, während sein Ermittlungspartner halbnackt neben ihm stand. Mit unbedecktem Oberkörper hatte sich L vor dem Schrank positioniert und hielt in seinen ausgestreckten Armen zwei weiße T-Shirts. Es war spät am Abend. Light hatte sich schon für die Nacht fertig gemacht. Normalerweise benötigte auch L nie so viel Zeit zum Umziehen.

Vielleicht kontrollierte Kira uneingeschränkt fremde Menschen ohne ihr Wissen, sowohl Light und Misa als auch die Mitglieder von Yotsuba. Dann wäre der Mörder selbst noch nie in Erscheinung getreten. Angestrengt starrte Light auf den Boden vor seinen Füßen, um den Gedanken nicht zu verlieren, wobei er im Augenwinkel zugleich bemerkte, wie L den Verschluss seiner Jeans öffnete, die ihm nur locker auf der Hüfte saß.

Es war nicht einmal nötig, dass Kira einen Einfluss auf Yotsuba ausübte. Wenn er in der Lage war, die Sitzungen der Geschäftsleitung mitzuverfolgen, dann hätte er die Morde ohne deren Zutun durchführen können, um zum Beispiel das Ermittlungsteam in die Irre zu führen. Passte dieses Vorgehen zu Kira? Seine ungesunde Haltung gab dem Meisterdetektiv L stets etwas Geisterhaftes, Spinnenartiges, aber auch Unbedarftes. Dieser Eindruck wurde von seinem geringen Gewicht verstärkt, obwohl seine körperliche Konstitution keineswegs schwach oder zerbrechlich wirkte.

Light seufzte still. Er nahm sich vor, am nächsten Tag, wenn Misa und Aiber ihre Vorführung bei Yotsuba gaben, noch einmal die Morde zu überprüfen, die vor und nach seiner Inhaftierung verübt worden waren. Sofort nach dem Aufwachen würde er sich mit dieser Angelegenheit beschäftigen. Vorausgesetzt, er konnte in dieser Nacht endlich wieder durchschlafen.

 

Light öffnete die Augen. Die Bilder des eben erlebten Traumes waren bereits verblasst. Trotzdem befand er sich in jenem Stadium des halben Deliriums, das ebenso dem Schlaf zugehören konnte. In liegender Position sah er eine Zimmerdecke, die ihm im ersten Moment fremd erschien, doch gleich darauf vertrauter vorkam als viele andere Umgebungen, die er in seinem bisherigen Leben als Zuhause bezeichnet hatte. Ein heißer, dann kalter Schauer glitt von seinem Nacken aus über seinen gesamten Körper und verbreitete in ihm ein merkwürdiges Gefühl, das er anfangs nicht einzuordnen vermochte. Bruchstückhaft kehrten die Illusionen und Wahrheiten seines Traumes zurück. Noch im Bewusstwerdungsprozess wanderte Lights Blick ziellos hinab.

„Verdammt!“, zischte er erschrocken, richtete sich sofort auf, um sich zu erheben und zu gehen, ohne Klarheit darüber, wohin dieses Weggehen ihn bringen sollte. Da wurde die Bewegung abrupt von der Kette an seinem Handgelenk aufgehalten. In seinem Vorhaben erstarrt blieb Light reglos auf dem Bettrand sitzen, bis die Erkenntnis, dass er nicht einfach entkommen konnte, sich langsam mit seiner Vernunft vereinbaren ließ.

Jeder weggetretene Zustand, der dem Schlaf ähnelte oder sich ihm näherte, stahl dem Menschen die Kontrolle über sich selbst. Es war ein Zustand der Enthemmung, bei dem Imaginationen viel zu leicht in der Lage waren, Einfluss auf den Verstand zu nehmen. Und auf den Körper.

Während Light diesen Gedanken verdrängte, versuchte er sich daran zu erinnern, ob der Ruck in den Handschellen von einer entgegensetzten Kraft herrührte oder nur von dem durch die Reichweite der Kette hervorgerufenen Widerstand. Er fragte sich, ob L hinter ihm hockte, die Metallfessel mit der Faust umschlossen und erwartungsvoll seinen Rücken anstarrend, um auf eine Reaktion zu warten. Konnte L es vielleicht nicht bemerkt haben?

Langsam atmete Light aus. Er entspannte seine Schultern. Weder mit Überlegungen noch mit abgekehrter Regungslosigkeit ließ sich die Situation lösen, die ohnehin nur für ihn aufgrund seiner eigenen Aufgewühltheit zum Problem geworden war. In nunmehr ausgeglichener Verfassung drehte sich Light um und begegnete sogleich dem tiefschwarzen Augenpaar des Detektivs. Dieser saß, das eine Bein angewinkelt, das andere locker gestreckt, ruhig auf dem Bett und schaute stumm zurück. Nach einem kurzen Moment lehnte sich L gegen die Wand in seinem Rücken. Anstatt seinen jungen Partner musterte er nun unaufdringlich seine nackten Füße.

„Ich habe schlecht geschlafen“, meinte Light mit relativ ausdrucksloser Stimme, ohne von L zum Reden animiert worden zu sein.

„Ich weiß“, antwortete dieser in sanfter Geduld. Dabei fing er an, abwesend mit dem Daumen über seine Unterlippe zu streichen. Light wandte den Blick ab. Die Digitalanzeige seines Weckers zeigte an, dass es kurz nach vier Uhr war. In letzter Zeit wachte er häufig zu dieser Stunde auf, obwohl er nicht behaupten konnte, ständig von Alpträumen geplagt zu werden. Es waren keine Alpträume.

Als könnte er die Gedanken des jungen Mannes lesen, sagte L in die Stille der Nacht hinein:

„Nicht nur Menschen, sondern auch viele andere Tiere verarbeiten im Schlaf die Erlebnisse des Tages, den gesamten Input des Gehirns. Hierfür werden die seichten Schlafphasen, besonders die REM-Phase benötigt, ebenso wie der Tiefschlaf, welcher der Regeneration des Körpers dient. Unter den Träumen ist ein gewisser Prozentsatz zu verzeichnen, der von den meisten Leuten als schlecht und weniger erholsam beschrieben wird. Die Anzahl von Alpträumen liegt bei dir, Light-kun, soweit ich das beobachten konnte, im normalen Bereich, wenn nicht sogar unter dem Durchschnitt. Bereits während der Überwachung in deinem Elternhaus habe ich feststellen können, dass du einen normalen und gesunden Schlaf hast.“

Im Laufe seiner Ausführung wirkte L kein einziges Mal so, als würde er Light mit seiner Aufmerksamkeit bedrängen. Es schien eher, als hielte er sich diskret zurück. Light wiederum hatte es sich auf dem Bett bequem gemacht, während er zuhörte. Müdigkeit ließ seine Augenlider schwer werden, lastete auf seinen Schultern, wirkte jedoch auch, ähnlich wie die tiefe Stimme seines Freundes, besänftigend auf seinen Geist.

„Du hast mich im Schlaf beobachtet?“, wollte Light zur Hälfte rhetorisch wissen, da er zwar an einer Antwort interessiert war, allerdings ohne noch länger emotional geplagt zu sein.

„Habe ich das nicht eben gesagt?“, fragte L und sah dabei endlich auf.

„Entschuldige, es ließe sich so auslegen, als könnte auch ein anderer Ermittler die Observation übernommen haben.“

„Nein, die meiste Zeit habe ich die Überwachung durchgeführt, obwohl dein Vater und Watari ebenfalls beteiligt waren“, erklärte L und rutschte tiefer in die Laken hinein, bevor er sich im Liegen zur Seite drehte. Ein paar wirre Haarsträhnen fielen ihm dadurch über die Augen und legten eines seiner Ohren frei. L strich das Haar zurück, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass sein Ohr vollständig bedeckt war. Mehrmals überprüfte er, ob auch kein Stück seiner Ohrmuschel hervorlugte. „Watari hat durchaus einen Hang zur Perfektion“, räumte L ein. „Er kann sehr penibel sein. Aber ein Perfektionist zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er perfekt ist, sondern dass er perfekt sein will. Wataris Aufnahmefähigkeit ist nicht mit der meinen vergleichbar. Mir fallen Abweichungen möglicherweise eher auf als ihm.“

„Und du hofftest, diese Abweichungen bei mir zu finden, weil ich mich im Schlaf weniger kontrollieren und somit leichter verraten könnte“, folgerte Light nüchtern, als ginge es um eine fremde Person. „Schließlich ist es nahezu unvorstellbar, wenn jemand dermaßen viele Opfer zu verzeichnen hat wie Kira, dass man ihm dann keinerlei Mitleid, Reue oder ähnliches anmerkt, und sei es bloß durch einen unruhigen Schlaf.“

„Außer, er kann perfekt schauspielern“, fügte L nickend hinzu, „oder er ist ein Soziopath.“

Lights Augenbrauen zuckten kurz bei diesen Worten. Er starrte vor sich auf die Bettdecke, wollte den Kopf nicht heben, wollte nicht dem eindringlichen Blick des Meisterdetektivs begegnen, den er konzentriert auf sich spürte oder zumindest zu spüren glaubte, um auch noch die geringste verdächtige Abweichung in seinem Verhalten zu erkennen. Light war bewusst, wie deutlich seine Mimik verraten musste, dass er durch Ls Aussage verletzt worden war, obwohl es dafür keinen Grund gab und er sich mit diesem Gefühl seine Schuldigkeit eingestanden hätte. Gleichermaßen wusste er, dass L diesem Gesichtsausdruck nicht glauben würde. Er würde es für Täuschung halten. Aus jedem Schweigen glaubte Light die Zweifel seines Freundes zu vernehmen: Spielst du mir nur etwas vor? Versuchst du mich hinters Licht zu führen? Würdest du mich verraten?

Light konnte diese Vorhaltungen nicht entkräften. Niemand konnte einen misstrauischen Menschen vom Gegenteil überzeugen. Außerdem ließ eine weitere Gewissheit Schuldgefühle in Light aufsteigen, für die es eigentlich keinerlei Notwendigkeit gab. Der einstig erfolgreiche Schüler, nun angesehene Student aus gutem Haus, der stets in allen Bereichen herausragende Leistungen zu bringen pflegte, zeigte seine momentane Gefühlslage nur deshalb so offensichtlich, weil er seinem Freund gegenüber ehrlich sein wollte. Das änderte jedoch, wenn er ehrlich war, nichts an der Tatsache, dass er seine Emotionen genauso einfach hätte verbergen können.

Light heftete seinen Blick auf die vom schwachen Licht der Nachttischlampe beleuchteten Wände, während er sich auf seiner Seite des Bettes auf den Rücken legte, daraufhin die Arme hinter dem Kopf verschränkte und an die Decke starrte.

„Zu den möglichen Erklärungen, warum du nicht einmal zum Schlafen deine Barrikade außer Acht lässt“, mutmaßte er dann, „gehört also neben der Angst vor einem potenziellen Soziopathen mit Gedächtnisverlust auch die Chance auf eine fortlaufende Beobachtung eines Mörders, der sich durch irgendein Verhalten verraten könnte. Anfangs kam es mir noch so vor, als kollidierte deine vermeintliche Sorge um deine eigene Sicherheit mit deiner Selbstaufopferung. Wenn ich dagegen jetzt darüber nachdenke, ergibt plötzlich vieles einen Sinn.“

„Tut es das?“, fragte L und gähnte desinteressiert. Unter den inneren Frieden, den Light oftmals durch die beruhigende Art seines Freundes verspürte, mischte sich das Verlangen, auf Konfrontationskurs zu gehen. War er unbewusst in einer gereizten Verfassung? Wollte er sich mit seinem Freund messen? War das, was unterschwellig in ihm aufstieg, eine Form ungewisser Rivalität?

Light erinnerte sich daran, dass L ihn erst vor kurzer Zeit gefragt hatte, ob er mit seinen Aussagen zugleich Drohungen aussprechen wollte. Zwar konnte Light nicht einmal sich selbst gegenüber eine Antwort darauf geben, doch stand für ihn derweil die Frage im Mittelpunkt, ob L ihn seinerseits herausforderte. Seinen Mut zusammennehmend richtete sich Light auf, um aus dem abgewandten Profil seines Partners zumindest einen Bruchteil von dessen emotionaler Verfassung erahnen zu können, und ging in die Offensive.

„Ist das ein Vabanquespiel, Ryuzaki, bei dem du dich selbst aufs Spiel setzt, indem du das Opfer oder zumindest den Köder mimst?“

„Die Mittel sind doch völlig gleich, auch wenn man selbst zu diesen Mitteln gehört, ob Bauer oder König, bloß eine Figur auf dem Schachbrett zwischen Schwarz und Weiß, eine Marionette des eigenen Plans, solange das Ziel erreicht werden kann, spielt das alles keine Rolle...“

„Ryuzaki!“ Light versuchte, die merkwürdig abwesend gesprochenen Worte des Detektivs zu unterbrechen, der offenbar mit seinen Gedanken an einem weit entfernten Ort war. Ungerührt beendete L seine Aussage:

„Was auf dem Spiel steht, wissen wir erst, wenn wir erkennen, dass es auf dem Spiel steht.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Die ethische Debatte in Hinblick auf die Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen ist an Dieter Birnbacher und Hans Jonas orientiert.
2. Ls radikale Aussage, dass der Tod von Tausenden nur Statistik sei, stammt von Josef Stalin.
3. Syllogistik ist die Kunst des Schließens nach Aristoteles. Die Grundlagen der analytischen Philosophie, wozu auch der naturalistische Fehlschluss gehört, wurden von Gottlob Frege, Bertrand Russell und George Edward Moore geschaffen.
4. Einige Inhalte verweisen erneut auf Immanuel Kant und David Hume. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Jackiieh-Chan
2011-07-25T12:29:11+00:00 25.07.2011 14:29
Okaii zu Blätterklingens Kommentar kann ich jetzt nichts sagen da mir das zu viele Wörter waren xD aber das mit Lights Emotionen ist witzig/spannend.
Ich hatte mir schon lange ein anderes Ende ausgemalt aber nie von Lights Emotionen abhängig. Hmm...

Ich finds schade das die beiden nicht wirklich Schach gespielt haben. Und ist das ganze Kap. Naja bis zu dem wo er aufwacht, jetzt sein Traum ??

Lg Jackiieh
Von:  Blaetterklingen
2011-07-23T15:36:03+00:00 23.07.2011 17:36
Ich gehe einfach chronologisch vor. Jedesmal eine Einleitung bei ein und dem selben Gesamtwerk ist ja auch irgendwie Merkwürdig und aussagen wie: das war ja mal wieder toll, nicht sonderlich hilfreich.
Lights Emotionalität, war es ja auch immer wieder, die L überhaupt erfolge in die Hand spielte. Ob nun seine Wut am Anfang, die Light L. Taylor ermorden ließ, was L seinen Suchradius massiv einschränken ließ, sein Jähzorn an der Universität, der es für L immer wahrscheinlicher machte, das Light und Kira ein und die selbe Person sein müssten und sein emotionaler Ausbruch am ende der Serie, ohne die man ihn nie etwas hätte nachweisen können.
Im Grunde genommen emfinde ich das Ende von Deathnote als ziemlich unnatürlicher Kunstgriff, da man Light so viel Selbstkontrolle dann doch zusprechen will. Wie hätte man aber sonst aus der Misere herauskommen sollen? Das gleiche Problem wie bei Goehtes Faust. Wie trickst man den Teufel aus? Ok, Goethes Ende finde ich jetzt noch etwas weiter hergeholt( haha! Ich habe den Konjunktiv 2 benutzt! Auf so etwas wäre der Teufel natürlich nie gekommen!)
Ich weiß nicht, ob die Intertextuelle Anspielung gewollt ist, ich suche ja geradezu nach so etwas, aber gleich im zweiten Absatz zeigst du ja das Problem der Emotionalität von Light in Extremsituationen auf, die du bereits für dein alternatives Ende „Umkehrschluß“ umgesetzt hast.
„ Ebenjene Ermittlungen hatten ihm schließlich erst derart zugesetzt, dass er im Umkehrschluss durch emotionale Instabilität seine Arbeit gefährden konnte.“
Du nennst es ja sogar, also wenn es gewollt ist, finde ich das genauso erbaulich, wie wenn es ungewollt ist. Ob es so ist, oder nicht, würde mich aber sehr interessieren.

Die gleiche kritische Lesart, lässt mich allerdings auch bei Aussagen wie: "Hast du Lust", fragte L, "auf ein Spiel?", aufhorchen. Man muss sich das mal lautmalerisch vorstellen, allein die logische „verruchte“ Pause, die dadurch entsteht. Naja, ich finde es auch schrecklich langweilig, wenn sich Autoren bis in die Zehenspitzen todernst nehmen.

„obzwar“ Wo kramst du immer dein teil obsoletes Vokabular aus? Ich finde das ziemlich gut, weil du mit moderner Sprache kombiniert eine riesige Menge an verständlichen Synonymen hast und damit das Spektrum deines Ausdrucks sehr weitreichend ist, ohne das du dich in überdrehter, unlesbarer Eloquenz verlierst.

Ich finde die Kraft der Worte, die du immer wieder findest beeindruckend. Man könnte meinen, das bei einer so langen Beschäftigung mit dem kleinem Ausschnitt eines Mangas sich irgendwann der Elan verabschiedet und man mehr oder weniger nur der Vollständigkeit halber weiter schreibt. Vor allem wenn das ganze bereits die Länge eines kurzen Romans an nahm.
Aussagen wie: „Stets zwischen Naivität und Allwissenheit schwankte der Ausdruck in Ls Gesicht“, sind aber derart überzeugend und frisch, als ob erst gestern begannst, dich mit unverbrauchter Leidenschaft dem Thema zu widmen.

In diesem Teil wird, im Vergleich zu den vorhergehenden, ein scheinbares Paradox in Ls vorgehen, in Hinsicht auf die Art und weise wie er Verantwortung übernimmt. Er übernimmt Verantwortung für moralisch fragwürdige Entscheidungen, weigert sich aber, die Verantwortung für eine vorzeitige Verhaftung zu übernehmen, die vielleicht vielen Menschen, das Leben retten würde. Obwohl seine Ereignisorientierte Logik hieb- und stichfest ist. Es stößt lediglich in seiner Disharmonie zu den abstrakta Menschenrechte auf, die eigentlich lediglich in persönlicher, zwischenmenschlicher Ebene Anwendung finden kann. Ansonsten würden die Länder, die diese Idee so leidenschaftlich vertreten, schuld an dem Bruch ihrer eigenen Gesetze sein. Weitergedacht, ist es eigentlich genauso absurd, wie die Begriffe Gut und Böse. Der Versuch Menschenopfer Kategorisch auszuräumenen, der Kategorische Imperativ. Moralische Handlungsvorschläge, die immer dann scheitern, wenn die Situation komplex wird. Und kaum eine Situation könnte bei Death Note als Einfach ausgelegt werden. Nicht einmal, das am Rande mögliche rumgeschwuchtel von L und Light, was für die Aussage des Werks natürlich von wahnsinnig wichtiger Bedeutung ist.
„Grundsätzte lassen sich im derzeitigen Fall nicht eindeutig festmachen“, trifft es ziemlich passend.

„"Das ist die Schwierigkeit beim Wechsel vom theoretischen Grundsatz zur Praxis. Von dem Punkt, wie etwas ist, darauf zu schließen, wie es sein sollte."“

Irgendwie stoße ich mich an der aussage. Müsste es nicht genau umgedreht sein? Der zweite Satz ist tatsächlich ein Naturalistischer Fehlschluss, wie etwa Afrika wird ausgebauetet, zum wohle der ersten Welt, da sonst das Kapitalistische Wirtschaftssystem nicht funktionieren würde, also muss das so sein. Das Akademische Problem, das Grundsätze, ja selbst Mathematik nicht problemlos auf die Realität anzuwenden ist, ist doch das genaue Gegenteil. Man denkt wie es sein sollte, und versucht dieses Prinzip auf die gegebene Realität zu übertragen, bzw. diese zu beeinflussen.
Ich nehme mal an, das ich falsch verstanden habe, was du meinst. Vielleicht könntest du es mir erklären, wo mein Denkfehler liegt.

„Wenn ein Mensch stirbt, ist es tragisch, nicht wahr? Aber wenn Tausende sterben, ist es bloß Statistik."“
Wenn du Stalin zitierst, währe es nur konsequent, die Herkunft dieses Zitats auch anzugeben, wie du es sonst so gewissenhaft tust.

Ich finde es gut, das du dein Traum und Aufwachmuster verändert hast. Es war nicht nervend und machte auch nicht den Anschein eines Wiederholungsfehlers, aber man erwartete schon, das es wieder in der Art auftaucht, und gebrochene Erwartungen, sind die besten Erwartungen.

Wie kommst du darauf, das L Nietnägel hat? Im Manga wir das nicht erwähnt, oder? Wenn nicht, hast du das mit aufgenommen um L noch etwas mehr Charakter zu geben? Weil durch Nägelkauen und ähnliches entsteht das ja eigentlich nicht, oder liege ich falsch?

Ich finde die Unbeschwertheit mit der L seinen Partner und „Erzfeind“ die ganze Zeit beobachtet, schon leicht gruselig. Weniger das er es tut, als das er es zugibt. Ich glaube das ist allerdings normal, das Kontrolle so lange erträglich ist, wie man sie nicht unter die Nase gerieben bekommt. Wenn man weiß, das Kameras in einem Raum sind, ist es etwas ganz anderes, als wenn jemand mit den Finger darauf zeigt.

Obwohl der Titel des Kapitels Opfer heißt und auch vieles der Tehamtisierung der Überschrift aufnimmt, wie das Schachspiel mit Figuren und Menschen und sich selbst, habe ich diesmal doch das Gefühl, dass es mehr um Kontrolle geht. Schon die anfängliche Darstellung, des gegenseitigen Stillschweigens impliziert, das der einzige Grund dafür ist, die Kontrolle zu behalten.
Nicht einmal ein Stück von Ls Ohr, darf durch seine Haare sichtbar sein, als der im Bett liegt, als könnte das Ohr vieles verraten, was Ls bewusst ausdruckslose Augen nicht erkennen lassen.
Andererseits fällt er teils gewollt aus der Rolle. Vielleicht auch nur ein Spiel mit der Natürlichkeit um den anderen zu ähnlichen „Fehltritten“ zu verführen. Doch selbst dann, woher soll man wissen, das es keine Finte ist? Das Machtspiel zwischen den beiden ähnelt wie einer vertrackten Beziehung. Selbst der Titel des ganzen 24/7 spielt mit der Spielart des Sm, Ganztags eine eingenommene Rolle zu erfüllen. Die frage bleibt, ob das überhaupt möglich ist. Wenn nicht, wo bricht die Ungezügelte Emotion durch die Maske und wo schauspielerisches Kalkül. Ein paranoides Mexikanisches Patt. Durch Logik, durch Kombination, durch Denken absolut nicht mehr auflösbar. Und wie im kalten Krieg nicht einfach aufhebbar. Die Zweifel würden ohnehin bleiben und selbst dann, woher sollte man wissen, das es keine List, kein trojanisches Pferd, des vermeidlichen Friedensstifters ist?
Die ganze Situation nimmt mich wirklich mit.
Zumindest giere ich auf das Ende. Auf den Showdown zwischen den beiden, es ist nicht so, das es langweilig würde, ganz im Gegenteil, aber mein Harmoniebedürfnis drängt nach der Lösung der aufgebauten Spannungsgefüge, was merkwürdig ist, wo ich doch eigentlich weiß, wie es ausgeht.
Von: abgemeldet
2011-07-21T12:39:37+00:00 21.07.2011 14:39
Ich habe deine FF vor kurzen gefunden und finde sie super.
Ich bin echt gespand wies weiter geh ^^


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