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Der Geschmack von Zucker

Der Geschmack von Zucker

 

Anstelle eines Löffels rührte L mit einem Lutscher in seiner Teetasse herum, bevor er sie anhob und austrank, den Lutscher derweil noch immer zwischen den abgespreizten Fingern seiner linken Hand haltend. Mit in den Nacken gelegtem Kopf ließ er sich den letzten Tropfen seines Getränks aus der in der Luft schwebenden Tasse auf die herausgestreckte Zunge fallen. Verstohlen beobachtete Light ihn dabei, bis L abrupt aufstand.

„Ich gehe aufs Dach, frische Luft schnappen“, verkündete er den restlichen Anwesenden, die sich seit einigen Stunden müde und stumm ihren bisher ergebnislosen Recherchen gewidmet hatten. Im stets gleichbleibenden, künstlichen Licht bezeugten lediglich die Digitalanzeigen auf den Monitoren, dass bereits der Abend angebrochen war. Aizawa hatte sich verabschiedet, um zu seiner Familie zu gelangen. Nur die Polizisten Matsuda und Mogi sowie Chefinspektor Yagami waren noch anwesend. Demnächst würden auch sie sich aus der Fahndungszentrale zurückziehen. Die Suche schien in letzter Zeit keine Aussicht auf Erfolg zu versprechen. Sie waren gefangen in den immer gleichen Arbeitsabläufen. Allein Light fühlte deutlich, wie die Stunden verrannen und das Ende der Ermittlungen unaufhaltsam näher rückte.

„Willst du mich nicht begleiten?“ Aus seinen Gedanken gerissen hob Light den Kopf. Abwartend stand L neben seinem Stuhl. Dabei strahlte er nicht etwa wie am vorigen Abend, als sie im Flur zwischen den Türen gestanden hatten, jene herausfordernde Haltung aus. Nicht einmal seine Stimme klang so emotionslos wie sonst. Light war nicht bewusst, dass er neben Watari der  Einzige war, dem diese feine Nuance in Ls Stimme auffiel. „Du bekommst dafür auch einen Lutscher.“ Irritiert beäugte Light die in durchsichtiges Papier gewickelte Süßigkeit, die der Andere aus seiner Hosentasche geholt hatte und ihm nun entgegenstreckte. Erfüllt von unterschwelliger Melancholie, die er schwer erklären, aber auch nicht leugnen konnte, lächelte Light. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der Meisterdetektiv ein paar Jahre älter als er selbst, verhielt sich allerdings so, als hätte man ihm mehrere Jahre seiner Kindheit gestohlen.

„Einverstanden“, sagte Light und nahm das Geschenk an.

 

Eigentlich mochte er Süßigkeiten nicht besonders. Er mochte meistens auch keinen Zucker in seinem schwarzen Kaffee. Wie L erklärt hatte, musste er sich darauf konzentrieren, die Erinnerung an diesen Geschmack zu vergessen. Darum hatte Light sich angewöhnt, jeden Gedanken über die Menschen, die er opferte, unbeteiligt zu verdrängen, jedwedes Mitgefühl auszumerzen, auch oder besonders in Bezug auf sich selbst. Schon bald würde er diesen Geschmack nicht mehr kennen. Es gab nur eine einzige Art von Zucker, die er jetzt noch begehrte.

L stand vorgebeugt am Rande des Helikopterlandeplatzes, stützte die Unterarme auf die niedrige Brüstung und schaute über das endlose Meer von Gebäuden und Türmen. Smog schien über der Stadt zu liegen. Die Abendsonne wurde von den tiefhängenden Wolken verschluckt. In dem langsam dunkler werdenden Licht sah Ls Haut noch blasser aus als sonst, doch traten seine Augenringe dagegen nicht so deutlich hervor. Er hob eine seiner feingliedrigen Hände zu dem Lutscherstiel zwischen seinen Lippen, um ihn abwesend im Mund zu drehen. Ein auffrischender Wind strich durch sein schwarzes Haar, während er gedankenverloren in die Ferne sah.

All das nahm Light von seinem Freund wahr, während er neben ihm an der Brüstung lehnte und schwieg.

„Light-kun“, brach L schließlich unvermittelt die Stille. Seine Stimme war leise und klang ein wenig kratzig, als hätte er sie lange nicht mehr benutzt. „Weißt du, welches Verbrechen in vielen Religionen der Welt am meisten verachtet, am schlimmsten bestraft wird?“

Überrascht suchte Light nach den Augen des Anderen, doch genauso andauernd, wie dieser ihn am heutigen Mittag fixiert hatte, genauso wich L jetzt dem Blickkontakt aus. Nach mehreren Sekunden des Überlegens fragte Light schließlich kühl:

„Mord?“

„Nein.“ L schüttelte gutmütig den Kopf. Ganz leicht lächelte er sogar, als er antwortete: „Verrat.“

Gelassen nahm Light diese Anklage, die sich offensichtlich dahinter verbarg, entgegen. Er spürte das schmerzende Stechen in seiner Brust nicht. Er fühlte nicht, wie es ihm die Kehle zuschnürte. Nein, er bemerkte nicht den bitteren Geschmack auf der Zunge.

Was für ein Hohn. Light konnte L gar nicht verraten. Sie waren überhaupt nie auf derselben Seite gewesen. Von Anfang an nicht. Außerdem konnte man doch nur jemanden verraten, der einem auch vertraute. L hingegen hatte ihm nie vertraut. Er hatte Light niemals vertraut.

„Als Vertreter des Staatsrechts schützt dein Vater jeden Menschen gleichermaßen, ob unschuldig oder nicht. Selbst Kira hält er nicht für böse. Das eigentliche Unglück sieht er vielmehr in der Kraft, die ihm mit dem Death Note verliehen wurde.“ L leckte mittlerweile an seinem Lutscher, als wäre es ein Eis am Stiel, unterbrach diese Tätigkeit jedoch immer wieder zwischen seinen folgenden Aussagen. „Müsste unter dieser Voraussetzung ein Schicksal wie das des Judas nicht neu beurteilt werden? Schließlich hat Judas nach christlicher Lehre, indem er Jesus verraten hat, eigentlich einen Teil von Gottes Heilsplan verwirklicht. Wenn er als Gottes Werkzeug fungierte, war er in seinem Handeln nicht frei. Somit dürfte er nicht für den Vertrauensbruch verantwortlich gemacht werden und wäre, ganz im Gegenteil, sogar selbst ein Opfer.“

„Das Christentum ist nicht gerade dafür bekannt, sich nicht ständig selbst zu widersprechen, Ryuzaki. Das, wovon du da sprichst, sind doch zwei Grundsatzlehren des Christentums. Gott ist allwissend und der Mensch ist frei. Daraus ergibt sich schon per se ein Widerspruch, weil ein allwissender Gott, der die Welt nach seinen eigenen Vorstellungen geformt hat und der zu jeder Zeit alles über die Geschehnisse weiß, auch von vornherein wissen müsste, wo das Ganze endet. Jede Handlung des Menschen ist dann nur ein Abbild dieser Vorbestimmung, ein Resultat seines Entwurfs. Wenn ein Gott uns in die Welt geworfen hat, wäre damit bereits entschieden, wo wir landen und welche Zerstörung wir bei unserem Auftreffen anrichten.“ Light schaute hinab auf seine Hände, in denen er das Geschenk von L, den noch eingepackten Lutscher, sanft hin- und herdrehte. „Um unsere Eigenverantwortlichkeit aus der völligen Absurdität dieser Sachlage zu retten, sind die Anhänger solcher Glaubensrichtungen auf das clevere Argument gekommen, Gottes Wege seien unergründlich.“

„Dann gefällt es diesem Gott offenbar, seine Streitkräfte gegeneinander ins Feld zu führen“, stellte L gleichgültig fest. „Er sucht sich charismatische Führer aus und wirft sie der Menge zum Fraß vor. Und wofür? Damit ein Mensch für das Wohl aller stirbt. Für die Gleichberechtigung, die Revolution, die Unabhängigkeit, für die Gerechtigkeit.“

„Um die Welt zu reinigen...“ Light stockte kurz, sprach dann jedoch mit milder Zuversicht weiter. „Um die Welt zu verändern, ist ein Opfer erforderlich. Jede Revolution fordert einen Tribut, meist wohl nicht nur in Form von einem einzigen, sondern von unzähligen Opfern.“

„Oder in Form der beiden genannten Führer, die sich an der Spitze ihrer Armee gegenüberstehen. Vermutlich erinnert man sich später nur noch an diese beiden, nämlich den Märtyrer der alten Weltordnung und den Messias der neuen. So ist es schließlich jedes Mal, wenn sich eine neue Religion aus der alten herausschält. Nicht jeder sieht in Judas einen Verräter oder in Jesus einen Messias. Darüber entscheidet, wie so oft, der eigene Standpunkt.“ Während des Sprechens hielt L den Stiel seiner Süßigkeit erdwärts gesunken zwischen Daumen und Zeigefinger fest. „Wer weiß, wie es sich in Zukunft mit Kira und L verhalten wird.“

„Du bist L“, warf Light unwirsch ein. „Du weißt genau, dass ich es nicht leiden kann, wenn du von dir wie von einem Ding redest. Außerdem...“ Ernst starrte er auf den Betonboden des Daches zu seinen Füßen. „Zum Märtyrer kann man nur werden, wenn man stirbt.“

„Oh, stimmt.“ L tat erstaunt, als wäre ihm diese Tatsache wirklich erst jetzt in den Sinn gekommen. Resigniert seufzend schloss Light die Augen.

„Weil du dich als Kiras Widerpart siehst, setzt du sogar dein Leben aufs Spiel.“

„Quasi wie ein Krieg der Götter.“ In gespielter kindlicher Begeisterung zog L diesen Vergleich, als sei es eine völlige Belanglosigkeit. „Ragnarök. Ein Kampf der Titanen für die Gerechtigkeit der Welt.“ Er stieß heroisch seinen Lutscher in die Luft und verharrte einen Moment in dieser Haltung. Nach kurzer Zeit senkte er den Arm jedoch wieder und legte stattdessen grübelnd einen Daumen an die Lippen. „Mir ist, als hätte ich da was vergessen. Was war es nur...? Ach ja!“ Er schnippte mit den Fingern, als wäre ihm etwas eingefallen. Dann endlich drehte er sich zu Light um. „Wir sind Menschen, keine Götter.“

Der junge Student lächelte schmerzlich. Schaffte er es wirklich, den bitteren Geschmack auf seiner Zunge zu ignorieren? Bedacht wickelte Light jetzt den Lutscher aus der durchsichtigen Plastikfolie und schob ihn sich in den Mund, um diesen Geschmack zu überdecken und sich an jenen anderen zu erinnern.

Er sollte froh sein, dass es keinen anderen Weg mehr gab. Light hatte stets an seine Ideale geglaubt. Er glaubte noch immer daran. Er war im Recht. Er war die Gerechtigkeit. Darum musste er es tun. Er musste L töten.

Wenn das erledigt war, würde nur noch Misa an seiner Seite sein. Doch auch ihr Leben währte nicht mehr lang. Ein weiterer Vorteil, denn so musste Light sie nicht selbst töten, um darüber zu richten, dass sie als zweiter Kira Böses getan hatte. Zuvor würde Light ihr dennoch die Erinnerungen rauben. Misa hatte seine Ideale ohnehin nie wirklich verstanden. Sie war zum Kira-Anhänger geworden, weil er ihr in einer persönlichen Sache geholfen hatte, aus Sentimentalität und Selbstsucht. Ihr Tun war purer Eigennutz.

L hingegen stellte sich Kira in den Weg und riskierte sein Leben, ohne etwas dafür zu verlangen. Das war der beste Beweis dafür, dass er ganz genau verstand, um welches Ideal es hier ging, was Gerechtigkeit bedeutete. Und Selbstaufgabe.

Doch Light konnte nicht sprechen, er konnte sich L nicht anvertrauen, weil dieser gleichzeitig sein größter Feind war. L war der Mensch, der ihm am nächsten stand und den er deswegen am meisten hasste.

„Ich werde gehen, Light-kun.“ Verwirrt hob der Angesprochene den Blick. Neben ihm hatte sich L wieder nach vorn auf die Brüstung gestützt. Sein Lutscher hing zwischen seinen Fingern über dem Abgrund. „Es ist schon spät. Willst du mich heute wieder überwachen?“

Light zögerte. Den Sinn seiner vorgeschobenen Kontrolle abwägend entschied er sich rasch dagegen und schüttelte den Kopf.

„Lass mich hier noch ein bisschen bleiben.“

„Interessant.“ L malte mit dem abwärts hängenden Lutscher eine Schleife in die Luft. „Was soll mir das wohl über dich sagen, Light-kun? Vertraust du mir etwa? Oder hast du einfach nur Angst?“

„Ich habe keine Angst.“ Genervt schob Light die runde Süßigkeit im Mund von einer Seite zur anderen. Sollte ihn dieses abfällige Gerede wieder einmal provozieren? Er spürte Wut in sich aufsteigen. Die glatte Kugel auf seiner Zunge schmeckte viel zu penetrant, viel zu süß. „Ist es andersherum nicht weitaus logischer, Ryuzaki? Wenn ich dich allein lasse, zeigt das doch, wie wenig ich mich vor deinen möglichen Taten fürchte.“

„Nein, das zeigt nur, wie viel wichtiger es dir offenbar ist, mich davon zu überzeugen, dass du keine Angst haben würdest, anstatt mir als deinem Freund zuzugestehen, dass du mir vertraust.“

„Hast du nicht selbst gesagt, das würde uns verbinden? Warum sollte ich in unserer Freundschaft eines der wenigen Dinge aufs Spiel setzen, die wir überhaupt gemeinsam haben?“, konterte Light sarkastisch, wobei er sich mit dem Lutscherstiel im Mund zunehmend albern vorkam.

„Ich glaube ja“, meinte L teils belustigt, „dass du trotzdem Angst hast. Wenn schon nicht vor mir, dann doch wenigstens vor dir selbst.“

Blitzschnell griff Light an der Brüstung entlang nach dem Arm des Anderen, obwohl er sich diese zornige Affekthandlung kaum erklären konnte. Erschrocken ließ L seine Süßigkeit fallen. Er schaute ihr bedauernd hinterher und begegnete dann den grimmigen braunen Augen seines Ermittlungspartners.

„Das war mein Lutscher“, äußerte sich L verletzt. „Gib mir deinen.“ Sofort erwiderte er den Übergriff ebenso plötzlich. Binnen weniger Sekunden nahm Light einen Stoß gegen seine Schultern und gegen sein Bein wahr, danach einen auf seinen Brustkorb ausgeübten Druck, ein leichtes Schwindelgefühl durch den Verlust des Bodens unter seinen Füßen und den dumpfen Schmerz in seinem Rücken beim Aufprall. Als er benommen begriff, dass er sich liegend auf der Anhöhe vor der Absperrung befand, war ihm die Süßigkeit bereits aus dem Mund gezogen worden. „Hab keine Angst.“ L hatte mit Bedacht sein Knie auf Bauch und Becken des anderen Mannes gestemmt, um diesen am Boden zu halten. In der einen Hand hielt er triumphierend den Lutscher, die andere legte er an Lights Wange und fuhr mit dem Daumen sanft über dessen noch feucht schimmernde Unterlippe. „Es ist wirklich ganz einfach, einen Menschen zu töten, nicht wahr, Light-kun? Einen anderen oder die eigene Person.“ Voller Unbehagen und Aufregung verfolgte Light, wie L komplett ungeniert die Süße von seinem Daumen leckte, bevor er sich die fremde Süßigkeit in den Mund schob. „Man muss nur den Geschmack von Zucker vergessen.“

Damit wandte sich der Detektiv zum Gehen.

„Ist es nicht ein bisschen dreist“, fragte Light, erstarrt in seiner liegenden Position und noch immer atemlos, „jemandem ein Geschenk wieder wegzunehmen?“

L drehte den Kopf leicht zur Seite, sodass man sein schwaches Lächeln erkennen konnte, als er abschließend sagte:

„Gute Nacht, Light-kun.“

Reglos blieb dieser, nachdem L schon längst gegangen war, noch eine Weile liegen. Er starrte hinaus in das weite Firmament des Himmels, während er versuchte, sein heftig schlagendes Herz zu beruhigen.

 

Er hatte schier ewig in dieser Zelle gesessen. Leises Rauschen in den Ohren, lauter Kameras um ihn herum, erdrückende Wände, ein schmales Bett. Seine Hände waren gefesselt und schmerzten. Einzig und allein diese Stimme aus dem Lautsprecher, Ls Stimme, war eine Verbindung zur Außenwelt. Keine Luft zum Atmen, keine Privatsphäre, keine Bewegungsfreiheit.

Wie lange war er jetzt schon hier? Wie viel Zeit war vergangen? Mindestens dreißig Tage. Vierzig vielleicht? Oder fünfzig? Er war am Ende. Er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr.

Behutsam berührten ihn kalte Finger an den Handgelenken und massierten sie leicht, linderten den Schmerz.

„Los, sag es schon.“ Sehnsuchtsvoll rettete er sich von Minute zu Minute, bis er Ls Stimme wieder hörte. „Sag mir, dass du Kira bist.“

Angestrengt versuchte er zu atmen. Was sie auch reden mochte, er musste diese Stimme hören.

„Mach dir keine Hoffnungen, Light-kun. Niemand wird dir helfen.“

Längst war es schon mehr als das. Er nahm menschliche Nähe wahr, einen vertrauten Geruch nach Seife, Baumwolle und ein wenig nach Karamell. Zuerst nur ein Finger, der über seine Lippen strich, ein fremder Körper dicht an seinem eigenen, direkte Berührung ihrer Haut. L nahm sein Gesicht zwischen die kalten Hände, beugte sich hinab und leckte sanft die Süße von Lights Unterlippe.

Und auf seiner Zunge der Geschmack von Zucker.

 

Langsam öffnete Light die Augen und erwachte aus seinem Traum. Dieses Mal wusste er sofort, wo er sich befand, nämlich in seinem eigenen Zimmer, das ihm seit der Befreiung von den Fesseln zur Verfügung gestellt wurde. Rücklings blieb er auf dem Bett liegen. Er wusste nicht, ob er sich dafür verachten sollte, dass er nicht gegen die Trugbilder ankämpfte, die ihn nach und nach vollends aus dem Konzept brachten. Er konnte es nicht. Oder war es nicht eher so, dass er es nicht wollte? Nun hatte er also erneut von der wochenlangen Marter in dieser engen Zelle geträumt. Ls Präsenz hätte das eigentliche Übel sein sollen. Stattdessen war er für Light der einzige Halt, den er jetzt noch finden konnte.

Er dachte an die tot wirkenden und doch eindringlichen Augen, diese tiefschwarzen Pupillen, die ihn stets so wissend betrachteten, sodass er sich ihnen im Laufe der Zeit immer stärker ausgeliefert fühlte und je weniger er sich dagegen wehrte, desto mehr in ihnen zu versinken drohte. Dieser berechnende Blick ließ ihn nicht mehr los, das wache Interesse und die Neugier darin, der Kampfgeist und jener traurige Schmerz, der kaum merklich in manchen kurzen Momenten Ls Gesicht zeichnete und den niemand sonst zu sehen schien. Light dachte wieder an diese blassen Lippen, die sich in seltenen Gelegenheiten zu einem kindlichen oder spöttischen Lächeln, manchmal sogar schmollend verzogen hatten, die aber genauso kaltblütig sein konnten. Oft diente dieser Mund nur dazu, analytische Aussagen zu formulieren, von deren Präzision und Vielschichtigkeit sich Light zunehmend angezogen fühlte. Von Beginn an war sein Interesse geweckt, seine geistigen Fähigkeiten waren ohne Rückhalt gefordert worden. Er hatte längst ehrlich zugegeben, dass ihn diese Gespräche erfüllten und begeisterten. Damals, als L zu seinem Erstaunen nach einiger Abwesenheit wieder in der Universität aufgetaucht war, auf einer Bank sitzend, mit einem Buch in den feingliedrigen Fingern und einem stechenden, aber in der nächsten Sekunde auch erfreuten Blick auf seinen Kommilitonen. Damals hatte Light es aus Kalkül geäußert und es sich zugleich eingestanden, wie sehr er L vermisste, sich mit ihm körperlich messen wollte, wie an jenem vergangenen Tag beim Tennismatch, aber auch die Diskussionen mit ihm, an die kein anderer seiner sogenannten Freunde heranreichte, auch nicht diese Takada Kiyomi, die von allen geschätzt und begehrt wurde und die sich genauso einfach von seinem guten Aussehen und seinen dahingeworfenen schlauen Worten beeindrucken ließ. Light wusste, wie er sich andere Menschen zunutze machen konnte, aber all diese unbedeutenden Existenzen hatten ihm nie etwas geben können, das er sich nicht von sich aus hätte nehmen wollen. L hingegen überraschte ihn stets aufs Neue. Häufig hatte er Light nicht nur herausgefordert, sondern ihn auch bestärkt, beruhigt, zum Lachen gebracht oder ihm einfach stumm gezeigt, dass jemand an seiner Seite war, der ihn verstand. So viel hatten ihm diese Lippen in den letzten Monaten verraten, vor dem Light lieber seine Ohren verschlossen hätte. Gleichwohl zogen sie ihn unweigerlich auch auf andere, auf zugegebenermaßen intime Weise an. Er wollte unbedingt den Geschmack des Zuckers wieder auf der Zunge spüren, die unbekannte Leidenschaft und den wechselseitigen Besitzanspruch sowohl bei L als auch bei sich selbst, wenn sie beide einander zu unterwerfen, zu bezwingen, zu vereinnahmen versuchten. Light sehnte sich danach, seine Hände in dem schwarzen Haar zu vergraben, die dunkel umschatteten Lider mit einem kalten Kuss zu verschließen und den ungewohnt rauen Klang von Ls Stimme zu hören. Er wollte wieder diese knochigen Handgelenke umklammern, Macht ausüben und dennoch Halt spenden, sobald L schwach und verletzlich war und unwillentlich seine Zerbrechlichkeit zeigte. Light wollte sich gleichfalls festhalten lassen, wollte die langen, schlanken Finger in seinem Haar spüren, an seinem Hals, auf seiner Haut, den drahtigen Körper, der hinter der gekrümmten Haltung unerwartet viel Kraft und Agilität verbarg, besonders deutlich spürbar in solchen Situationen, in denen L seinem Partner gewaltsam, aber auch zärtlich seinen Willen aufgezwungen hatte, ihm Zuflucht gewährt hatte, sodass dieser es ersehnte, sich fallen zu lassen, sich ihm einfach hinzugeben, sich von ihm nehmen zu...

„Verdammt!“ Light gebot seinen Gedanken Einhalt. Sich im Bett aufrichtend schüttelte er energisch den Kopf, als könnte er damit auch die Bilder abschütteln, die sich vor seinem inneren Auge abspielten. Er krallte die Hände in seinem Haar fest und atmete angestrengt ein und aus. „Nicht diese Gedanken. Bloß nicht diese Gedanken. Reiß dich zusammen, verdammt!“

Seufzend schloss er die Augen. Sein Körper reagierte unweigerlich. Er konnte seine schmerzliche Sehnsucht nicht leugnen, aber Erleichterung verschaffen durfte er sich ebenso wenig. Denn wenn er sich jetzt selbst berührte, das war ihm nur allzu sehr bewusst, könnte er es nicht verhindern. Er würde dabei an L denken.

„Du musst ihn töten“, flüsterte die Stimme des Todes in seinem Nacken.

Zwanghaft stellte sich Light vor, wie er den sterbenden Körper seines Freundes in den Armen hielt, wie dessen Muskeln sich verkrampften und dann langsam erschlafften, wie der letzte Atemzug Ls Kehle verließ und sich die schwarzen Augen für immer schlossen. Anfangs ganz leise entfloh Light ein stockendes Lachen, als er fassungslos bemerkte, dass ihn selbst diese Vorstellung erregte.

All diese Träume machten ihn in letzter Zeit fertig, genauso wie die Wahnvorstellung von Ryuk, der ihn ständig wie ein imaginärer Freund begleitete, sodass sich Illusion und Wirklichkeit, Traum und Realität nach und nach vermischten. Light wusste schon fast nicht mehr, was echt war und was nicht, was richtig war und was falsch. Er vergrub die Hände in seinen Haaren und begann unkontrolliert zu lachen.

So fühlte es sich also an, wenn man langsam, aber sicher den Verstand verlor.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Venu
2013-05-30T14:06:21+00:00 30.05.2013 16:06
Oh man, die Spannung steigt! xD Nach jedem Kapitel werde ich unruhiger und auch aufgeregter. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Ende der Geschichte wissen will.. und wenn ich daran denke, dass diese FF auch irgendwann enden wird, werde ich irgendwie traurig. Von mir aus könnte die Story ewig weiter gehen. :)

Wieder ein großes Lob an dich und danke für die schnelle updates ;)

Lg Venu


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