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Dissoziation

Dissoziation
 

Nachher wie vorher. Es würde sich nichts geändert haben. Es würde sich nie etwas ändern. Nichts konnte den Lauf der Dinge, die Welt, geschweige denn die Persönlichkeit eines Menschen verändern. Veränderung war ohnehin oft keine Lösung. Veränderung war furchteinflößend und manchmal falsch. Darum war es auch egal, was er dagegen zu unternehmen versuchte. Oder nicht?

Mit schleppenden Schritten ging der von vielen geachtete, von vielen verlachte, weltbeste Detektiv langsam die Treppe herunter. Eine der Stufen schien ein bisschen wackliger zu sein als die anderen, weshalb er einen kurzen Moment taumelte und sich an der Wand neben sich abstützte.

„Guten Morgen, Ryuzaki.“

Den Kopf hebend blickte L auf.

„Guten Morgen, Mogi-san.“

Der etwas korpulente Polizist saß bereits an einem der großen Aktenberge, den er in jener ihm eigenen stoischen Weise bearbeitete. Wie zumeist hatte er offenbar im Privatbereich der Ermittlungszentrale übernachtet. Da es noch sehr früh am Morgen war, hatte sich Mogi bisher als Einziger im Hauptüberwachungsraum eingefunden. Nun allerdings, nachdem L die letzten Stufen überwunden hatte und mitten im Raum stehen blieb, waren sie binnen kurzer Zeit zu dritt.

„Mogi-san“, meldete sich Watari zu Wort, der soeben in seinem typisch geruhsamen Gang eintrat, das Haupt auf ein Kleidungsstück gesenkt, das er bedächtig in den Händen trug, „die Reinigung ihres Sakkos war zufriedenstellend. In der Seitentasche sind keinerlei Flecken mehr von der Erdbeere... Ryuzaki?“

L schärfte seinen Blick, den er, ohne es zu merken, ziellos über den Boden hatte gleiten lassen. Er fokussierte seinen Mentor, welcher ihn besorgt musterte.

„Alles in Ordnung, Ryuzaki?“

An Stelle einer verbalen Antwort streckte L ruckartig einen Arm nach vorn, mit nach oben zeigendem Daumen.

„Jawohl, Watari. Alles, was ich jetzt brauche, ist Schokolade.“

 

„Was ist der kürzeste Weg zwischen diesen zwei Punkten?“, hörte Light die vertraut ruhige und tiefe Stimme des Meisterdetektivs. Als er sich den anderen Mitgliedern der Sonderkommission anschloss, saß L gerade gegenüber von Matsuda auf der Couch, hielt mit spitzen Fingern eine Seite der heutigen Tageszeitung in die Luft und tippte mit einem Teelöffel auf zwei Kugelschreiberkreise, die jeweils am unteren und oberen Rand des Papiers aufgemalt waren.

„Eine gerade Linie?“, fragte Matsuda und runzelte nachdenklich die Stirn.

„Willkommen, Light-kun.“ Der Detektiv bedachte ihn mit seinem durchdringenden Blick. Zugleich wirkten seine Augen fragend, leer und haltlos, sodass jenes ungute, übelkeiterregende Gefühl in Light, gegen das er seit dem Morgen ankämpfte, erneut zunahm. Sein eigenes Schauspiel machte ihn so krank, wie es ihn vergnügte. Er hatte L verletzt. Er hatte ihn gedemütigt, wie er selbst von ihm gedemütigt worden war. Er hatte ihn verleugnet, wie Light sich selbst verleugnete.

„Oh, ich weiß es!“, rief Matsuda begeistert. Er riss die Zeitung an sich und malte mit dem Kugelschreiber eine Linie zum oberen Bildrand, die er am unteren fortzusetzen meinte, bis sie auf den zweiten Punkt traf. „Das ist die Lösung, nicht wahr?“

„Sagen Sie, Matsuda-san“, wollte L, auf seinem Daumennagel herumkauend, wissen, „mögen Sie eigentlich Spielfilme? Zum Beispiel Science Fiction oder Horror?“ Irritiert schwieg der junge Polizist. „Der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten“, fing L zu erklären an, griff dann jedoch, anstatt seine Erläuterung auszuführen, nach dem Zeitungsblatt, faltete es genau in der Mitte, sodass die beiden Kugelschreiberpunkte exakt übereinanderlagen, und stieß seinen Löffelstiel an dieser Stelle durch das Papier. Skeptisch begutachtete Matsuda die gesamte Aktion und fragte dann:

„Und das soll jetzt belegen, dass ich eindimensional denke?“

 

Das Bühnenstück war perfekt. Aus der stumpfsinnigen Selbstbetäubung heraus fiel es Light dankbarerweise leicht, sich zu verstellen. Seine Bewegungen waren mechanisch, seine Worte gewählt, sein Lachen einnehmend. Zumindest für die anderen Anwesenden. In Ls Miene erkannte er jedoch, wie sehr diesen das gekünstelte Verhalten abstieß. Nichtsdestotrotz spielte er ihm direkt in die Hände. Sie tauschten sich über den Fall aus, unterhielten sich über ermüdend intellektuelle Themen und machten die üblichen freundschaftlichen Scherze.

„Entitäten könnten durch ihre Starrheit begrenzt sein“, antwortete der Detektiv soeben auf eine Aussage seines jungen Kollegen, die dieser vor ein paar Sekunden ausgesprochen und sogleich wieder vergessen hatte. „Prozesse wiederum kennzeichnen die Beziehungen zwischen den Entitäten. Prädikation ist jedoch selbst keine Entität. Es gibt Objekte und Subjekte, die sich durch bestimmte Eigenschaften auszeichnen. Zum Beispiel gibt es unbelebte Objekte wie einen Stein und belebte Subjekte wie den Menschen.“

„In diesem Rahmen“, fügte Light wie einstudiert hinzu, „ist das Leben selbst lediglich eine Prädikation. Was dieses auszeichnet, ist die präzise Definition, die bloß zur Beschreibung der Entität dient. Das Leben an sich stellt keine Entität dar, an die man Fragen stellen könnte. Zu jenen, wenn man so will, Dinglichkeiten zählen physikalische Quarks genauso wie Elektronen.“

Warum ließ L sich das gefallen? Warum beteiligte er sich an dieser Schmierenkomödie? Light hatte fest damit gerechnet, dass sein Freund Widerstand leisten und versuchen würde ihn bloßzustellen. Doch nichts dergleichen geschah. Seelenruhig puzzelte L weiße Schokoladenstückchen zu verschiedenen Gebilden zusammen. Es handelte sich dabei nicht um echte Schokolade, sondern um ein aus Plastikteilen gefertigtes Denkspiel der Firma Meiji. Watari hatte es vor einiger Zeit, zusammen mit diversen Tafeln echter Schokolade, vor L auf den Tisch gelegt. Unnötigerweise fragte sich Light, ob die Wahl dieser Süßigkeiten etwas damit zu tun hatte, dass heute der dritte November und somit der Tag der Kultur sowie der Gedenktag für Kaiser Meiji war. Jedenfalls hatte L, im Gegensatz zu dem Puzzle, die essbaren Schokoladentafeln bislang nicht angerührt.

„Das klingt alles total unverständlich“, kommentierte Matsuda die Unterhaltung der beiden jungen Männer.

„Ryuzaki will nur verdeutlichen“, erklärte Light in geübter Kompetenz, „dass Prädikation nichts weiter als eine definitorische Zuschreibung ist und demnach keine Subjektbezeichnung in Form eines inhaltsschweren Namens.“

Insgeheim, in manchen Momenten der jugendlichen Schwäche, wünschte sich Light die unbeschwerte Zeit der Erinnerungslosigkeit zurück, als er sich L gegenüber noch unbefangen zeigen konnte. Denn jetzt kam ihm seine eigene zwiespältige Person, die er von einer außengelegenen Position zu begleiten schien, in dieser eigentlich gewohnten Umgebung unangenehm wirklichkeitsfern vor. Fremd, dumpf, taub, stumm verrannen die Sekunden und niemand kümmerte sich darum, dass mit jedem Ticken des Uhrzeigers auf unsichtbare Weise das Leben aus dem Meisterdetektiv entwich. Warum bemerkte es keiner? Warum sah hier niemand, wie falsch die beiden voreinander auftraten? Und warum wehrte sich L nicht endlich dagegen?

„Light-kun hat Recht. Ich will darauf aufmerksam machen, dass die basale Funktion mehr Bedeutung hat als die Bezeichnung eines Subjekts. Das unterstützt nämlich meinen vorhin erwähnten Standpunkt. L ist nicht das, was ich bin, sondern das, was ich tun kann.“

„Ist Kira denn das, was du bist, Yagami Light?“, fragte die Imagination des Todesgottes kichernd. Light konnte die Schwingen seiner Wahnvorstellung als Reflexion in den Computermonitoren erkennen. Jetzt verfolgte es ihn also schon bis hierher, wenn er sich unter Menschen befand.

„Etwas Ähnliches“, fuhr L in gleichbleibend monotoner Stimmlage fort, „hat mal jemand gesagt, den ich immer für seine heldenhafte Aufopferung bewundert habe, der für die Menschheit und im Kampf gegen die Ungerechtigkeit alles gab, ohne Anerkennung dafür zu verlangen, weil die meisten von seiner wahren Identität nichts wussten. Doch der Name, mit dem er in seiner wichtigen Funktion für die Welt auftrat, ist jedem bekannt.“ Der Meisterdetektiv schaute die anderen Anwesenden aus tiefstem Ernst an und meinte nach einer Pause: „Superman.“

Matsuda verschluckte sich an seinem Kaffee, weil er plötzlich lachen musste. Und Light fragte interessiert:

„Hat er dir das persönlich gesagt, Ryuzaki?“

„Sei nicht albern, Light-kun. Als ob er Zeit dafür hätte.“

„Wir amüsieren uns zu Tode, nicht wahr, Light?“ Ryuk gluckste zufrieden in seinem Rücken. „Denn nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man. Alle machen gute Miene zum bösen Spiel, doch unter deinem gutmütigen Lächeln lauert ein grinsendes Monster, das in dir gräbt und wütet und dich innerlich aushöhlt, bis nichts als Leere in dir herrscht. Oder ist es andersherum? Ist Kira deine Maske, unter der sich ein verleugneter, hilfloser Junge verbirgt? Vorsicht, Yagami Light, wenn man die Maske herunterreißt, kann es sein, dass sich dabei das Gesicht mit ablöst. Das wäre doch wirklich schade, bei deinem hübschen Antlitz. Aber wer weiß? Vielleicht ist dort unter der Maske schon gar nichts mehr.“

 

Mit kelchartig aneinandergelegten Händen spritzte sich Light Wasser ins Gesicht, wischte sich dann über Stirn und Wangen, bevor er wieder hinauf in den Spiegel über dem Waschbecken schaute. Er stand in einem der Waschräume, die sich in unmittelbarer Nähe zur Küche und zu einigen Konferenzräumen befanden. Durch die unnatürliche Beleuchtung schimmerte die zerfurchte braune Iris, die ihm im Glas begegnete, fast rötlich.

„Das Abbild des Schöpfers“, zischte Ryuk belustigt in sein Ohr. „Die Realität ist nur ein Schein. Die Wahrheit wird im Spiegel reflektiert. Wenn du nicht weißt, ob das hier die Wirklichkeit ist, oder doch eher das, was du ganz deutlich dort hinter den Spiegeln erkennen kannst, woher willst du dann wissen, dass du auf der richtigen Seite stehst?“

Unwirsch schlug Light mit der flachen Hand neben sich in die Luft, als könnte er damit vertreiben, was gar nicht existierte. Sofort wurde Ryuks glucksendes Lachen lauter.

„So funktioniert das nicht, Yagami Light. Je mehr du dich selbst hintergehst, desto mehr wirst du dich in deinem Wahnsinn verlieren. Merkst du es nicht, wie du dich weiter und weiter von L entfernst? Stell dir vor, was das erst für ein Spaß wird, wenn er tot ist.“

Hysterisches Lachen hallte zwischen den Wänden wider und obwohl Lights Mund fest geschlossen war, kam es ihm vor, als würde es aus seiner eigenen Kehle dringen. Schon bald, wenn L verschwunden war, würde Ryuk zurück an seiner Seite sein. Dann konnte Light wenigstens sicher sein, dass dessen Stimme keine Einbildung mehr war.

„Du willst ihn unbedingt zur Strecke bringen, nicht wahr? Du brennst regelrecht darauf, L zu besiegen und umzubringen. Am liebsten würdest du ihm eigenhändig den schmalen Brustkorb aufreißen und sein blutiges Herz heraustrennen, ist es nicht so? Warum nur, Light?“ Ryuk unterdrückte ein Kichern. „Willst du etwa gewaltsam sein Herz gewinnen? Hat er dir das nicht schon längst geschenkt?“ Erneut brach die Illusion in Gelächter aus, sodass Light seine Faust zur Seite schnellen ließ, dabei aber nur schmerzhaft hart auf die gekachelte Wand traf.

„Oh, was ist denn? Quält es dich so sehr? Das ist es doch, was du wolltest, oder nicht? Keine Sorge, es dauert nicht mehr lange. Du hast es fast geschafft. Freust du dich schon? Vorfreude ist ja bekanntlich die beste Freude, sagen die Menschen. Vergnügt es dich deshalb so sehr, dass du jetzt innerlich lachst und schreist und leidest?“

Light schaute in sein Spiegelbild. Was er sah, war ein junger Mann, der Seriosität und Glaubwürdigkeit ausstrahlte. Er lächelte nicht. Er weinte nicht. Er verzog keine Miene. Das Bild vor seinen Augen vibrierte, verschwamm, schwärzte sich.

„Das Leben ist ein Witz, der uns jeden Tag aufs Neue erzählt wird. Zugegeben, niemand hat bisher die Pointe verstanden, aber wir lachen darüber aus vollem Hals. Zumindest am Anfang. Es gibt nichts Komischeres auf der Welt als das Unglück. Aber es ist immer dasselbe. Irgendwann haben wir diesen Scherz zu oft gehört. Wir finden ihn immer gut, selbstverständlich, das Unglück ist jederzeit lustig. Trotzdem können wir nicht mehr darüber lachen.“

Light schloss die Augen und vergrub die Hand in seinem Haar, spürte die kühlende Berührung der zum Teil nassen Haarsträhnen zwischen seinen pochenden Fingerknöcheln. Wollte er wirklich wegwerfen, was er noch nicht ganz verloren hatte? Wollte er die Zeit, die ihnen blieb, verschwenden und mit weiteren Lügen vergiften, nur um sich selbst zu schützen? Konnte er L weiterhin falsch ins Gesicht lachen und zusehen, wie sehr ihn das verletzte?

„Alles in Ordnung bei dir, Light-kun?“

Einen Moment setzte sein Herzschlag aus. Ein wenig durcheinander schaute Light auf. Im Türrahmen stand L, eine Hand in der Hosentasche, die andere mit gekrümmtem Zeigefinger in der Luft, seine schwarzen Augen wirkten prüfend und besorgt.

„Ja“, antwortete der junge Student und begann, sich nervös im Spiegel betrachtend, sein braunes Haar zu ordnen. „Mir ist nur ein bisschen unwohl.“ Er fühlte den bohrenden Blick des Detektivs auf sich ruhen und versuchte, die beklemmende, obgleich erholsame Stille zu überhören, die mit dem Erscheinen von L schlagartig auch die wahnhaft eingebildeten Stimmen auslöschte. „Was ist denn, Ryuzaki? Wolltest du etwas von mir?“

„Ach, ich war nur mit meinen Gedanken noch bei dem Gespräch, das wir eben führten, weil mir ein paar Ergänzungen dazu einfielen.“ L drehte sich um und trat hinaus in den Verbindungsgang.

Geh nicht!, dachte Light für die Dauer einer Sekunde. Lass mich nicht allein mit mir. Anstatt etwas derart Absurdes von sich zu geben, folgte er seinem Freund rasch nach draußen auf den Gang und fragte:

„Wovon sprichst du denn, Ryuzaki?“

„Performatives Verhalten ist nicht automatisch aufschlussreich“, antwortete L monoton, während er den Flur entlangging. „Erstens ist es antrainiert durch die Beobachtung der Umgebung und der Verhaltensweisen seiner Mitmenschen, demzufolge ist es als Teil der Sozialisation auch nicht überall gleich. Zweitens entspricht die Performativität nicht unbedingt dem tatsächlichen Innenleben, wie man es bei einem Versprecher im Sinne Freuds annähme, wenn jemand zum Beispiel etwas bejaht, aber unwissentlich den Kopf schüttelt.“

„Warte.“ Mit ein paar schnellen Schritten hatte Light den Anderen erreicht, der gerade im Begriff war, hinter der nächsten Biegung zu verschwinden, vielleicht für immer. Zumindest kam es Light einen beängstigenden Moment lang so vor. Warum band diese verfluchte Metallkette sie nicht mehr aneinander, mit der er L hätte aufhalten, festhalten und daran hindern können, sich weiter von ihm zu entfernen?

„Passend sind die Verhaltensweisen eigentlich nur“, fuhr L scheinbar desinteressiert fort, „solange das Individuum damit umzugehen weiß, denn sobald die Emotionen stärker sind als die Kontrolle des Individuums, werden die Reaktionen oft eher dissoziativ. Die größte Verzweiflung eines Menschen zeigt sich nicht in seinen ersten Tränen, sondern in seinem letzten Lachen.“

„Warum tust du das?“ Light griff nach dem Handgelenk seines Freundes und zwang ihn, stehenzubleiben und sich zu ihm herumzudrehen. Erwartungsvoll durchdrang L ihn mit seinen dunklen Augen.

„Was meinst du, Light-kun?“

„Du...!“

„Gehen Sie ruhig, Aizawa“, war die Stimme des Chefinspektors am Ende des Gangs zu hören, neben einem gedämpften Laut, der eine Sekunde später aus der entgegengesetzten Richtung erklang, welcher jedoch von keinem der beiden Polizisten registriert wurde, die sich soeben den Fahrstühlen näherten. „Ihre Familie macht sich sicher Sorgen. Außerdem ist Ihre Tochter noch sehr jung, sie wird ihren Vater bestimmt vermissen. Sie sollten sie nicht vernachlässigen, schließlich hat Kira bisher keine weiteren Morde verübt.“

„Entschuldigen Sie bitte. Vielen herzlichen Dank für ihr Verständnis.“

„Ich werde heute ebenfalls nach Hause fahren. Aizawa, haben Sie zufällig meinen Sohn gesehen?“

Lights Schultern strafften sich. Durch den Spalt in der Tür konnte man die Stimmen der beiden Familienväter deutlich im Inneren des Konferenzraumes hören, in den Light seinen Freund, ohne lang zu überlegen, geschoben hatte. Noch immer verweilte sein Zeigefinger auf Ls Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen, während er ihn an die Wand hinter der Tür drückte. Neugierig starrte L ihn an.

„Du wartest hier“, raunte Light mit sanfter Nachdrücklichkeit, bevor er sich abwandte und festen Schrittes hinaus in den Gang trat.

„Vater“, hörte er die Worte in jungenhaft freundlicher Tonlage aus seinem eigenen Mund. Aizawa war, nachdem er die Frage seines Vorgesetzten verneint hatte, bereits in den Fahrstuhl gestiegen und hielt nun, da das jüngste Mitglied des Ermittlungsteams aufgetaucht war, abwartend eine Hand in die Lichtschranke der Tür.

„Bitte, Aizawa“, gewährte ihm der Chefinspektor zum Abschied, „ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.“

Der Polizist mit dem schwarzen Lockenkopf nickte verstehend, zog seine Hand zurück und betätigte den Schalter für das Erdgeschoss.

„Es ist gut, dass ich dich treffe, Light. Ich wollte ohnehin noch einmal mit dir reden.“ Der Sohn des Polizeichefs verabschiedete sich knapp von Aizawa, setzte dann eine selbstbewusste, interessierte Miene auf und wartete, bis sich die Fahrstuhltüren geschlossen hatten und er mit seinem Vater vermeintlich allein war. „Deine Mutter und Sayu machen sich Sorgen um dich, Light. Ich akzeptiere, dass du hierbleiben und dich auf den Fall konzentrieren willst. Glaub mir, es gibt kaum jemanden, der das besser verstehen kann als ich, obwohl es mir lieber wäre, du würdest dich nicht mehr so stark in den Fall involvieren lassen, seitdem deine Unschuld bewiesen wurde.“ Herr Yagami räusperte sich. „Jedenfalls bin ich froh, dass du hier trotzdem einen Freund gefunden hast.“

Erstaunt hob Light eine Augenbraue und fragte:

„L?“

„Ich glaube, du hattest bisher noch nie einen Freund“, meinte der ältere Mann lächelnd, „mit dem du dich so gut verstanden hast. Vielleicht kannst du gleichfalls ein wenig mehr... wie soll ich sagen?“ Er seufzte. „Mein Sohn, du solltest dich von L nicht ständig dazu nötigen lassen, Kiras Position einzunehmen, auch wenn er dein Freund ist. Und du solltest ihm bewusst machen, dass er sich von seinen Fehlschlüssen nicht entmutigen lassen darf. Ich glaube nämlich, er kann einen Freund gebrauchen, der ihn ein bisschen auf den Boden der Tatsachen zurückholt.“ Lights Miene blieb völlig unbewegt, während sein Vater mit ernster Stimme fortfuhr. „Meiner Meinung nach bezieht L ein wenig zu oft für Kira Stellung. Dabei sollte ihm doch eigentlich klar sein, wie wenig es Kira um Gerechtigkeit geht, spätestens ab dem Zeitpunkt, als dieser anfing unschuldige Menschen zu töten.“

„Redest du von den FBI-Agenten?“, fragte Light tonlos. „Wer trägt denn die Schuld daran, dass sie hatten sterben müssen?“

„Was meinst du?“

„Ist nicht wichtig.“

„Doch“, forderte Herr Yagami entschieden, „sprich dich aus.“

„Also gut.“ Light holte Luft, obwohl es ihm beinahe lästig vorkam, seinen Vater mal wieder desillusionieren zu müssen. „L hat Kira in der näheren Umgebung der japanischen Polizei gesucht und die Angehörigen durch das FBI beschatten lassen, nicht wahr? Findest du es nicht seltsam, dass er dafür nur zwölf Agenten eingesetzt hat? Warum wohl, Vater?“ Der Chefinspektor runzelte die Stirn, sodass sein Sohn ihn, die Arme ineinander verschränkend, skeptisch musterte. Begriff er wirklich nicht? „Weil L seinen Prämissen zufolge nur diejenigen Personen beschatten ließ, die dem Täterprofil entsprachen. Dass ich als dein Sohn und mit meinen hervorragenden Leistungen unter diesen Verdächtigen sein musste, war nicht weiter verwunderlich. Indem er das Untersuchungsspektrum gering hielt, ging L das Risiko ein, dass Kira ihm womöglich schon an dieser Stelle durch die Lappen gehen könnte. Für den Fortgang der Ermittlungen musste er dennoch so handeln. Genau aus diesem Grund mussten zwölf Agenten ausreichen. Kannst du dir jetzt denken, warum er das getan hat?“

„Ich verstehe noch immer nicht, worauf du hinauswillst.“

„Um den Kreis enger zu ziehen“, erklärte Light, sich ungeduldig durch das Haar fahrend, „und um die Opferzahl möglichst gering zu halten. Damit Kira sich seiner angeblichen Verfolger entledigen konnte, musste er stärker in Aktion treten. Diese Aktivität hätte ihn Fehler gekostet. Außerdem hätte Kira nicht verhindern können, Angriffsfläche zu bieten und natürlich Möglichkeiten, das Feld um ihn herum weiter einzudämmen. Genau das ist schließlich auch passiert. Dummerweise hat L nicht erwartet, dass Kira sogar das vorausgeplant und absichtlich den Verdacht auf mich gelenkt hat.“

„Light...“ Entgeistert starrte Herr Yagami seinen Sohn an. „Du willst doch nicht behaupten, L hätte auf den Tod der Agenten spekuliert?“

Der junge Student und Ermittler antwortete nicht, zuckte stattdessen mit den Schultern, begleitet von einer unbestimmten Kopfbewegung. Dann lächelte er, um seinem Vater zu vermitteln, dass er gleichfalls nur Vermutungen anstellen konnte. Herr Yagami stieß zischend die Luft zwischen seinen Zähnen aus und stemmte kopfschüttelnd die Fäuste in die Hüften. Nach einem Moment des Schweigens meinte er:

„Ob du nun richtig liegst oder nicht, ich habe schon die ganze Zeit ein ungutes Gefühl bei der Sache. Ich frage mich, haben L und Kira nicht schon beide aus den Augen verloren, dass sie der Gerechtigkeit folgen wollen? Mittlerweile scheinen sie sich nur noch gegenseitig besiegen zu wollen. Das ist nicht gut, mein Sohn. Als Freund musst du L wieder an sein ursprüngliches Ziel erinnern, damit er es nicht vergisst und sich in irgendwelchen fixen Ideen verrennt.“

„Ja, Vater“, versicherte Light automatisiert, „das werde ich.“

„Für L ist das hier in mancher Hinsicht nur ein Spiel. Er scheint den Ernst der Lage nicht zu sehen. Versteh mich nicht falsch, mein Sohn, ich vertraue L ausnahmslos. Wenn mir seine Mittel zu skrupellos und unmoralisch erscheinen, muss ich mich dennoch offen distanzieren. Das solltest du auch tun, anstatt dich davon anstecken zu lassen, in Ordnung? L nimmt den Fall mitunter ein bisschen zu gelassen und heiter.“

„Heiter?“ Light senkte verständnislos die Augenbrauen, setzte kurz darauf allerdings ein entschuldigendes Lächeln auf. „Stimmt, L war heute gut drauf, nicht wahr, Vater?“

„Ja, in der Tat.“ Herr Yagami schmunzelte. „Ich habe gar nichts dagegen. Ihr seid beide noch jung, da ist es normal, die Dinge ein bisschen lockerer und nicht so engstirnig anzugehen. Aus diesem Grund bin ich auch froh, dass du dich L gegenüber ganz natürlich verhalten kannst. Du hast all deine Freunde in der Uni und von der Schule schon länger nicht mehr treffen können. Yamamoto hat letztens sogar angerufen und nach dir gefragt.“

Yamamoto? Wer war das denn? Wahrscheinlich einer von Lights unwichtigen Bekannten. Vielleicht einer seiner Freunde aus der Schulzeit?

„Ach, Light“, fügte Herr Yagami noch hinzu, wobei er bereits den Schalter betätigte, um den Fahrstuhl zu rufen. „Vergiss nicht, dich mal wieder bei deiner Mutter zu melden.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
1. L spielt am Anfang eine Szene aus dem Film „Event Horizon“ nach und stellt mit dem durchstochenen Papier die Einstein-Rosen-Brücke bzw. ein Wurmloch dar.
2. Ich habe Ryuk ein Zitat aus „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche in den Mund gelegt: Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gründlich, tief, feierlich; es war der Geist der Schwere - durch ihn fallen alle Dinge. Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man. Auf, lasst uns den Geist der Schwere töten!
3. Die Aussage, dass beim Herunterreißen der Maske das Gesicht mitgeht, verweist auf „Dantons Tod“ von Georg Büchner.
4. Das Zitat über die im Spiegel reflektierte Wahrheit habe ich aus dem achten Band von Defense Devil entnommen, weil es gut zur Situation passte.
5. Die Worte über das Tragikomische von Leben und Unglück sind an Samuel Beckett angelehnt.
6. In diesem Kapitel war ich vor allem durch das Lied „Bastard“, aber auch „Die Maske“ von Oomph! inspiriert. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  lunaris-von-aquanta
2013-08-25T18:47:14+00:00 25.08.2013 20:47
Mal so ne Frage am Rande X_X Kennst du sämtliche Fremdwörter hier bzw deren Bedeutung oder wie machst du das, dass du die so benutzen kannst? X_X Bei den Dialogen zwischen Light und L komm ich nämlich nicht unbedingt mit....

Das ist voll der Wahnsinn was die alles bereden und vor allem welche Formulierungen die verwenden... o.o ich komm mir langsam wie Matsuda vor; steh nur daneben und hab keinen Schimmer von was die reden XD

Sind die Diaologe überhaupt wichtig für die Hauptstory (aka "muss ich jetzt alle Fremdwörter nachschlagen weils wichtig für die Handlung ist") oder macht es nichts wenn ich denen nicht folgen kann? X'''D

Hut ab im Übrigen du schaffst es konsequent mich zu fesseln *_*

chiriomiep


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