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So einfach

Yamato Ishida x Taichi Yagami / Hiroaki Ishida x Yamato Ishida
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Die Liedtexte von "Lieber allein" und "Kaltes Herz" gehören Zeraphine. Mit der Verwendung möchte ich keinerlei Urheberrechte verletzen. Komplett anzeigen

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Ich betrete mein Zimmer. Meine Wahrnehmung ist verschleiert, nur mein Blick richtet sich starr auf den Nachttisch. Wie fremdgesteuert gehe ich zu ihm hin und setze mich auf das Bett. Meine Hände greifen nach den Medikamentenschachteln, öffnen sie und entnehmen die Blisterverpackungen. Dann drücken meine Finger die einzelnen Tabletten heraus. Abwesend öffne ich die Wasserflasche, welche immer neben meinem Bett steht. Eine nach der anderen schlucke ich diese kleinen weißen Tabletten hinunter, dann lasse ich mich rückwärts auf mein Bett fallen. Ich warte, ohne einen Gedanken zu haben. Behaglich ergebe ich mich in die Leichtigkeit, lasse mich von ihr tragen. Mein Bewusstsein ist ausschließlich auf die Erwartung gerichtet. Die Erwartung, was jetzt passiert, wie es sich anfühlt. Ich schließe die Augen. In einem Moment der völligen Ergebenheit vermischt sich unerwartet Sehnsucht mit Zweifel.
 

Ich sitze im Wohnzimmer. Meine Augen folgen dem routinierten Verlauf des Sekundenzeigers der Wanduhr. Tai ist gegangen, ohne ein Wort zu sagen. Keine Reaktion auf meine Aussage, dass ich ihn nie wieder sehen möchte. Es schien fast, als würde es ihn überhaupt nicht interessieren.

Tränen füllen unbemerkt meine Augen. Dass meine Sicht auf die Uhr verschwimmt, nehme ich nicht wahr. Die Gedanken an Tai sind das Einzige, was momentan meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Warum tut es so weh, obwohl es doch meine Entscheidung war? Meine Brust schmerzt und ich kann nicht atmen, bei dem Gedanken, ihn nie wieder zu sehen. Ich weiß, dass es richtig ist, auf Abstand zu gehen. Ihn von mir fern zu halten. Ich bin nicht gut für ihn. Ich bin für niemanden gut. Tai ist schon viel zu lange mein Spielzeug gewesen. Ich habe ihn benutzt und behandelt, wie es mir gerade passte. Das habe ich jetzt erkannt. Aber wenn er mir wirklich auch etwas bedeutet, wenn da wirklich Gefühle für ihn sind, muss ich ihn loslassen. Auch wenn ich dadurch meinen letzten Halt verliere. Oder vielleicht gerade deshalb?

Lächelnd schüttele ich meinen Kopf. Warum diese Gedanken? Jetzt ist es sowieso egal. Bald wird die Wirkung einsetzen und dann ist es vorbei. Endlich. Unwiderruflich.

Entfernt nehme ich das Zufallen der Wohnungstür wahr, bevor mein Vater das Wohnzimmer betritt.

„Yamato“, höre ich ihn sagen, tue allerdings so, als hätte ich ihn nicht mitbekommen. Er läuft auf mich zu und nimmt neben mir auf dem Sofa Platz. Ich sehe ihn mit tränenverschleiertem Blick an. Dann registriere ich die Situation erst wirklich. Beschämt senke ich den Kopf, um vor meinem Vater zu verbergen, dass ich weine. Dass es dafür zu spät ist, versuche ich zu ignorieren.

„Was ist passiert?“, fragt er vorsichtig. Ich antworte nicht und bleibe reglos sitzen.

Hilflos schaut mich mein Vater an. Ich bemerke seine Unsicherheit, schaffe es aber nicht, ihm diese zu nehmen. Ich weiß, dass mein Verhalten schuld an allem war. Ich versuchte es zu ändern, doch jedes Mal entglitt es mir und verselbstständigte sich. Immer und immer wieder. Ich war völlig machtlos. Es fühlte sich an wie fremdgesteuert. Als wäre mein Handeln, Denken und Fühlen gespalten. Als wäre ich nicht mehr komplett ich.

Bei diesen Gedanken hebe ich meinen Kopf und schaue meinem Vater ins Gesicht. Seine Augen ruhen noch immer auf mir. Sie wirken müde und besorgt.

„Es tut mir leid“, flüstere ich und beginne lautstark zu weinen. Ich bemerke, wie die Arme meines Vaters mich sanft umfangen und er mich liebevoll an sich drückt. Mit seiner Hand streicht er beruhigend über meinen Kopf. Worte bringt er mir nicht entgegen.

Ich lasse die Berührungen und Gesten der Zuneigung geschehen. In diesem Moment fühle ich mich unendlich geborgen. Ich bin nicht allein, das war ich nie und trotzdem empfand ich immer wieder Einsamkeit und Leere, die dann durch Nähe aber allenfalls verschlimmert wurden. Ich kettete Menschen an mich, nur um sie von mir zu stoßen und gleichzeitig festzuhalten. Es ist beschämend. Ich bin so jämmerlich. So armselig. So erbärmlich.

„Yamato“, setzt mein Vater unerwartet an, wobei er mich noch fester an sich drückt und behutsam über meinen Ärmel streicht, „warum hast du das diesmal getan?“ Er spricht es aus ohne jeglichen Vorwurf oder Ärger in der Stimme. Ich bin wie gelähmt und erschüttert, dass er es trotz aller Vorsichtsmaßnahmen und langer Oberbekleidung so einfach mitbekommen hat, und hoffe, dass er meine Bestürzung nicht bemerkt. Was will er hören? Was soll ich ihm sagen? Die Wahrheit? Er wird es nicht verstehen. Er wird nach Gründen suchen, die es jedoch nicht gibt. Nie gegeben hat. Trotzdem wird er sich die Schuld geben. Das will ich nicht. Das ertrage ich nicht. Außer mir kann niemand etwas dafür.

„Ich weiß es nicht.“ Tränen laufen noch immer über meine Wangen. Verdammt! Ich bekomme meine Gefühle einfach nicht unter Kontrolle. Ich verabscheue mich dafür, so schwach zu sein. Überhaupt Schwäche zu zeigen. Sanft, aber bestimmt versuche ich mich aus der Umarmung meines Vaters zu lösen. Er gibt mich widerstandslos frei. Ich weiß, dass er mich nicht bedrängen möchte. Dennoch hält er mich am Arm fest, damit ich mich nicht wieder sofort zurückziehe und er die Verbindung zu mir vielleicht endgültig verliert.

„Ich habe Angst. Angst um dich. Angst davor, dass du dir erneut etwas antust und ich es nicht verhindern kann. Ich würde am liebsten die ganze Zeit bei dir bleiben, dich vor dir selbst schützen, vor einem unwiderruflichen Fehler bewahren. Ich liebe dich und möchte dich nicht verlieren!“ Jetzt weint auch mein Vater, dennoch schaut er mich unverwandt an. In seinen Augen lese ich gleichermaßen Entschlossenheit wie Unsicherheit.

„Wer sagt, dass es ein Fehler wäre?“, entgegne ich teilnahmslos. „Vielleicht wäre es ja besser für alle, wenn ich endlich verrecken würde.“ Ohne Vorwarnung schlägt mein Vater mir mit der flachen Hand ins Gesicht.

„Wach endlich auf! Weißt du eigentlich, was du den Menschen, die dich lieben, antust? Wie kannst du so leichtfertig über deinen Tod sprechen? Wie kannst du so selbstzerstörerisch mit dir umgehen? Warum tust du dir selbst solche schrecklichen, irreversiblen Dinge an?“ Er deutet auf meinen Arm.

„Halt den Mund!“ Ich bin wütend und reiße mich los. „Glaubst du, das macht mir Spaß? Ich mache das alles freiwillig? Oder absichtlich? Ich wäre froh, wenn ich nicht ich sein müsste.“ Mein Körper zittert. „Dabei wollte ich doch eigentlich nur glücklich sein.“ Mit diesen Worten verlasse ich schutzlos den Raum und lasse meinen Vater allein zurück.
 

Es schmerzt nicht mehr

Und all das berührt mich nicht mehr

Alles verändert sich und bleibt doch bestehen

Frag mich nicht

Was ich gerade denk' und wie's mir geht

Du hast keine Chance, es je zu verstehen

Ich bin lieber allein…
 

Ich sitze zitternd auf dem Boden meines Zimmers an die Wand gelehnt und schaue aus dem Fenster. Die Musik aus meinem Player nehme ich kaum noch wahr. Die Zimmertür habe ich beim Reinkommen hinter mir verschlossen. Mein Vater versucht durch abwechselndes Klopfen, Rufen und Warten, mich zum Öffnen zu bewegen. Das Zittern wird stärker. Krampfhaft halte ich mir die Ohren zu. Ich ertrage es nicht mehr. Die Vorwürfe, resultierend aus der Hilflosigkeit. Angst, die auch die meine ist. Zuneigung von meiner Familie, die mich Schmerz und Glück zugleich empfinden lässt. Liebe. Taichi. Verzweiflung. Sehnsucht… meine Gedanken werden schwerfällig. Müdigkeit überkommt mich. Ich versuche mir über die Augen zu wischen, doch meine Hände gehorchen mir nicht richtig. Ohne vollständige Kontrolle darüber lasse ich sie wieder sinken. Ich bemerke nicht, wie mein Vater seine Kontaktversuche aufgibt und sich von meinem Zimmer entfernt. Mich plagt ein unbändiger Durst. Ich schaue zu der Wasserflasche neben meinem Bett. Mein Blickfeld verschwimmt und ich kann die Konturen kaum noch erkennen. Sie verbiegen sich, kommen näher, entfernen sich wieder, werden größer und kleiner. Die Farben sind grell, die Realität unwirklich. Schwankend versuche ich mich zu erheben. Meine Beine knicken weg und ich schaffe es gerade noch, mich an der Wand festzuhalten. Für einen Moment kommt Panik in mir auf, da ich mein Zimmer nicht erkenne. Hastig sehe ich mich nach etwas mir Bekanntem um. Ich sehe die Wasserflasche. Sie kommt näher, doch als ich sie greifen will, steht sie plötzlich wieder neben meinem Bett. Meine Kehle ist trocken. Ich versuche zu sprechen, doch es schmerzt nur. Ich stütze mich von der Wand ab, um meinen Weg wieder aufzunehmen, doch es gelingt mir nicht, meine Beine unter Kontrolle zu halten. Unkoordiniert wanke ich durch mein Zimmer, ohne meinem Ziel näher zu kommen. Dann geben sie nach und ich falle unsanft zu Boden. Schmerz empfinde ich dabei nicht. Ich rolle mich auf den Rücken und schaue zur Decke. Mein Blickfeld verengt sich. Ich kneife die Augen zusammen. Erneut versuche ich mich aufzurichten. Plötzlich merke ich ein Ziehen in der Bauchgegend. Unter Schweißausbrüchen gelingt es mir, mich auf mein Bett zu setzen. Der Schmerz wird stärker, sodass ich mich nach hinten fallen lasse und auf der Seite zusammenkrümme.

Nur entfernt nehme ich das resolute Klopfen an meiner Tür wahr. Da ist eine Stimme, die ich nicht kenne, welche nachdrücklich meinen Namen ruft. Fast gleichzeitig mit dem Aufbrechen der Tür verkrampfen sich meine Eingeweide und reißen mich endgültig brutal aus der erhofften Erlösung. Naiv, wie ich war, hätte ich nicht gedacht, dass Sterben so wehtun kann. Mein Körper krümmt sich vor Schmerzen, ich winde mich auf dem Bett hin und her, unfähig, meinen Vater, die Polizisten und die Sanitäter, welche sich gewaltsam Zutritt zu meinem Zimmer verschafft haben, zu bemerken. Ich ringe nach Luft, doch etwas blockiert meine Atmung. Die Sanitäter sind inzwischen bei mir und überprüfen meine Vitalfunktionen. Einer versucht gezielt mich anzusprechen, während der andere die Medikamente eingehender betrachtet. Krämpfe beginnen mich zu schütteln und Übelkeit steigt in mir auf. Mein Körper wehrt sich gegen die kleinen Fremdkörper, die ihn zerstören wollen. Ich würge und spucke eine Mischung aus Speichel, Galle und halbverdauten Tabletten auf meinen Teppich. Die Sanitäter verständigen sich über irgendwas, während der eine mir etwas injiziert. Mein Bewusstsein trübt sich, ich sehe noch kurz den entsetzten Blick meines vor Angst gelähmten Vaters, dann wird alles dunkel.
 

Das Wasser trägt Dich nicht, wirst Du untergehen?

Die Kälte scheint für Dich nicht mal wahrnehmbar zu sein

Kein Blick zurück

Und alles hinter Dir verstummt

Vielleicht ist es ganz leicht, sich nicht umzudrehen
 

Manchmal fragst Du Dich, warum am Anfang schon das Ende steht

Alles, was Dir wichtig ist, bei anderen verloren geht

Es bleibt kein Weg zurück

Alles um Dich herum versinkt

Vielleicht ist es ganz leicht, zu gehen
 

Dringt der neue Tag in Deine Welt, um Dich zu sehen

Alles zerspringt, doch nichts vergeht, Dein kaltes Herz

Bringt der neue Tag ein wenig Licht, um Dich zu sehen

Alles zerfällt und nichts erreicht Dein kaltes Herz
 

All die Fragen sind verbrannt, Du hast sie nie gestellt

Weil die Antwort, eingerahmt, im Wind schnell von den Wänden fällt

Du siehst den Weg zurück

Du schaust nach vorn, drehst Dich nicht um

Vielleicht ist es ganz leicht, zu sehen
 

Ich verstaue gerade die letzten Sachen in meinem Koffer, als es an der Tür klopft. Eine Schwester öffnet die Tür und als ihr Blick auf mich fällt, lächelt sie.

„Herr Ishida, Ihr Vater ist bereits da.“

„Ja, ich bin sofort fertig.“ Hastig schaue ich mich noch einmal um, ob ich auch nichts vergessen habe, dann verlasse ich das Zimmer. Auf dem Flur kommt mir mein Vater entgegen und nimmt mir die schwere Tasche ab.

„Ich muss noch einmal zur Ärztin, bevor ich gehen darf. Wartest du unten in der Caféteria?“

„Natürlich.“
 

„Wie geht es Ihnen heute, Herr Ishida?“ Die Stimme der Ärztin klingt fast schon sanft.

„Gut“, antworte ich knapp.

„Wie sieht es mit suizidalen Gedanken aus?“

„Keine.“

Ihr Lächeln wandelt sich in Besorgnis.

„Ihnen ist klar, Herr Ishida, dass ich Sie nur entlasse, wenn ich sicher gehen kann, dass Sie sich nicht gleich wieder etwas antun werden, wenn Sie ohne Aufsicht sind.“

„Ja“, sage ich monoton.

Sie seufzt. „Herr Ishida, ich kann es nicht verantworten, Sie so gehen zu lassen. Gibt es etwas, worüber Sie reden wollen?“

Ich schüttele den Kopf. Doch als ich ihren analysierenden Blick sehe, gebe ich nach.

„Ich habe Angst.“

„Dachte ich es mir. Aber es ist gut, dass Sie es aussprechen. Und glauben Sie mir, es wäre schlimm, wenn Sie keine Angst hätten.“

„Aber was ist, wenn ich es wieder nicht schaffe? Wenn ich wieder an einen solchen Punkt komme?“

„Sie haben hier viel gelernt, Herr Ishida. Denken Sie immer daran und, vor allem, nehmen Sie sich

selbst ein bisschen Druck raus. Sie können nicht alles mit einem Mal ändern und es wird auch hin und wieder Rückschläge geben. Mit Sicherheit wird es nicht immer einfach sein, aber ich bin zuversichtlich, dass Sie es schaffen können.“

„Das Lithium…?“

Ihr Gesichtsausdruck wird sorgenvoll. „Dadurch, dass Sie eine Überdosis genommen haben und im Zuge dessen eine Zeitlang überhaupt keins mehr verabreicht bekamen, kann es durchaus sein, dass sie die Wirkung von früher nicht mehr erzielen. Aber das wird die Zeit zeigen. Wichtig ist, dass Sie vor allem jetzt am Anfang wieder sehr engmaschig zur Blutspiegelkontrolle gehen. Bisher haben Sie es gut vertragen, aber bei der kleinsten Veränderung suchen Sie bitte den Arzt auf, okay? Sie wissen selbst am besten, wie gering die therapeutische Breite dieses Medikaments ist.“

„Ja. Verstanden.“
 

Mit einer Kaffeetasse in der Hand sitze ich am Küchentisch, mir gegenüber mein Vater. Schweigend nippen wir an dem heißen, schwarzen Getränk. Nach einer Weile durchbricht er die Stille.

„Yamato?“

„Hmm?“

„Ist dir bewusst, wie knapp es war?“

Ich schaue ihn verdutzt an. Es ist das erste Mal seit damals, dass er das Thema anspricht.

„Ja, ich weiß.“ Ich bin bemüht, meine Stimme nicht wehmütig klingen zu lassen.

„Man erklärte mir, dass es für Lithium kein Antidot gibt, aber das war dir sicher bewusst, oder?“

„Ja, ich hatte mich belesen“, gebe ich ehrlich zur Antwort.

„Sie mussten dich narkotisieren, weil du bereits gekrampft hattest. In der Klinik haben sie dich einer Hämodialyse unterziehen müssen. Mit einem Spiegel von über drei Millimol pro Liter warst du dem Tod näher als dem Leben!“ Tränen füllen seine Augen. Mir ist die Schwere der Intoxikation durchaus bewusst. Die potentiell letale Dosis liegt bei über vier Millimol pro Liter und die hatte ich angestrebt. Doch die Wachsamkeit meines Vaters vergaß ich in meinen Plan einzukalkulieren.

„Ich weiß“, flüstere ich mit einem Kloß im Hals.

„Worauf ich hinaus möchte, ist, dass ich den Schlüssel deines Zimmers einbehalten werde. Selbstverständlich klopfe ich an, bevor ich es betrete. Ebenso möchte ich, dass du mir deine Medikamente gibst. Alle! Ich werde sie dir künftig zuteilen und für dich unzugänglich aufbewahren. Ich hoffe, du verstehst, weshalb ich so handeln muss.“

Mir bleibt der Mund offen vor Ungläubigkeit und ich will protestieren. Doch als ich die Verzweiflung in den Augen meines Vaters sehe, entscheide ich mich zu schweigen und nicke einfach nur.

„Danke.“

„Schon gut.“ Wir wissen beide, dass es ein Greifen nach einem nicht vorhandenen Strohhalm ist. Ein beklemmendes Gefühl überkommt mich. Ich stehe auf und schenke mir Kaffee nach.

„Du auch?“ Er schüttelt den Kopf.

„Danke, ich habe noch. Ach ja, Tai hat sich sehr oft nach dir erkundigt. Er würde dich gern besuchen, wenn es dir besser geht. Ich habe ihm gesagt, dass du heute wahrscheinlich entlassen wirst, aber er meinte, er wolle warten, bis du dich von selbst bei ihm meldest.“

Das beklemmende Gefühl wandelt sich in ein Gefühl der Angst. Wie soll ich ihm gegenübertreten? Ich wollte mich von ihm fernhalten, ihn nie wieder sehen, doch allein sein Name weckt in mir eine unglaubliche Sehnsucht. Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen und erschwert mir die Atmung. Sofort springt mein Vater panisch auf.

„Was ist los?“ Seine Stimme überschlägt sich und seine Augen schielen bereits zum Telefonhörer.

„Nichts. Alles okay. Wirklich!“ Mühevoll zwinge ich mich zu einem Lächeln, um ihn zu beruhigen. Es gelingt und er setzt sich wieder auf seinen Stuhl. Zitternd hebt er seine Tasse zum Mund, um hastig ein paar Schlucke zu trinken. Ihn so zu sehen tut mir weh. Ich verachte mich dafür, was ich den Menschen, die ich liebe, immer wieder antue. Dabei sollte ich doch eigentlich tot sein. Warum bin ich nur nicht gestorben?
 

Ich stehe nervös vor der Wohnungstür, neben der ein Schild mit der Aufschrift „Yagami“ angebracht ist. Zaghaft betätige ich den Klingelknopf und warte. Von drinnen sind Schritte und die Stimme einer Frau zu hören. Kurz darauf wird die Tür geöffnet und Taichis Mutter steht mir gegenüber. Als sie mich erkennt, schenkt sie mir ein mitleidiges Lächeln.

„Hallo, Yamato.“

„Hallo.“ Beschämt schaue ich zu Boden. Durch ihren Blick wird mir deutlich, dass sie über die vergangenen Ereignisse aufgeklärt ist.

„Tai müsste in seinem Zimmer sein. Du weißt ja, wo es ist.“ Sie lächelt noch immer dieses Lächeln. Ich ertrage es nicht, schiebe mich vorsichtig an ihr vorbei, murmele dabei ein kurzes „Danke“ und gehe schnellen Schrittes zum Zimmer meines Freundes. Ich öffne die Tür ohne anzuklopfen und sehe in ein überraschtes Gesicht.

„So schnell hatte ich nicht mit dir gerechnet… wenn überhaupt.“

Ich setze mich auf sein Bett und schaue ihn an. Er sieht müde und erschöpft aus. Dunkle Ringe zeichnen sich unter seinen Augen ab. Sein Körper wirkt dünner und zerbrechlicher.

„Alles in Ordnung?“, fragt er. „Du bist wieder so abwesend.“

„Ja, alles okay. Tut mir leid.“ Ich stehe auf und mache ein paar Schritte auf ihn zu. Er rührt sich nicht, folgt meinen Bewegungen aber mit seinen Augen. Direkt vor ihm bleibe ich stehen. Ich sehe ihn nicht an. Mein Körper zittert und meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich bekomme kein Wort heraus. Kraftlos sinke ich zu Boden, mit einer Hand schaffe ich es noch, mich an dem Hemd meines Freundes festzukrallen. Vor Tai kniend halte ich den Kopf gesenkt. Tränen füllen meine Augen und laufen nun unentwegt meine Wangen hinab. Meine Finger graben sich tiefer in den weichen Stoff, sodass meine Hand schmerzt. Ich beginne zu husten. Erschwert durch das Weinen verschlucke ich mich und muss erneut husten. Plötzlich spüre ich Tais Hand auf meiner und wie er sanft versucht meine verkrampften Finger von seinem Hemd zu lösen. Er kniet sich zu mir hinab, packt mich an den Schultern und redet beruhigend auf mich ein. Seine Worte dringen zwar an mein Ohr, doch sie ergeben für mich keinen Sinn. Ich hebe meinen Kopf und schaue ihn mit tränenverschleiertem Blick an. Die Umgebung ist komplett ausgeblendet, ich nehme nur noch Tai wahr. Seine Stimme, die sich in mein Gehirn gebrannt hat. Seine Berührungen, die meiner Haut bittersüßen Schmerz zufügen. Ihn selbst, der mich bis zur bedingungslosen Abhängigkeit an sich gekettet hat. Und je mehr ich versuche mich zu wehren, je mehr ich ihn von mir stoße und verletze, desto größer wird das Verlangen, die Sehnsucht nach ihm. Zittrig hebe ich meine Hand zu seiner Wange und streiche flüchtig darüber. Dann lasse ich sie fallen, geschüttelt von einem erneuten Weinkrampf. Ich sacke immer weiter in mich zusammen. Aus meinem Körper scheint jegliche Kraft gewichen zu sein. Am Rande meines Bewusstseins bekomme ich mit, wie Tai angestrengt versucht mich zu beruhigen und in einer aufrechten Position zu halten. Es gelingt ihm kaum und nur mit viel Mühe schafft er es, meinen Körper mit seinen Armen zu umfangen. Er drückt mich fest an sich, sodass sein mir wohlbekannter Duft in die Nase steigt. Ich schließe die Augen und versuche mich zu beruhigen, meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Mit zunehmender Normalisierung kehrt auch meine vollständige Wahrnehmung zurück. Ich höre und verstehe die liebevollen Worte Tais, mit denen er noch immer versucht mich zu beruhigen. Mein Sichtfeld erweitert sich wieder, sodass ich außer meinem Freund auch das Zimmer, ja sogar die Küchengeräusche durch die geschlossene Tür wieder bemerke. Einen Moment halte ich noch inne, dann versuche ich mich aus der Umklammerung zu lösen. Zögernd gibt mich Taichi frei und schaut mich mit einem seltsamen Blick an. Ich schaffe es nicht, diesem standzuhalten, und drehe mich weg. Dann stehe ich, noch immer leicht zitternd, auf und nehme wieder auf dem Bett Platz.

„Wieso…“, beginne ich, halte jedoch inne, als es an der Tür klopft und Taichis Mutter hereinkommt.

„Möchtet ihr etwas essen oder trinken? Ich habe gerade einen Karottenkuchen im Ofen. Soll ich euch etwas bringen?“

Fast zeitgleich verneinen mein Freund und ich höflich, da wir beide wissen, welche unangenehmen Auswirkungen der Genuss dieser selbstgemachten Gerichte von Tais Mutter haben können. Etwas verblüfft, dass offenbar niemand Interesse an ihrem Essen hat, verlässt sie das Zimmer wieder.

„Sie kapiert es nie“, ruft Tai aus und schlägt sich mit der Hand leicht gegen die Stirn. Ein flüchtiges Lächeln huscht über meine Lippen.

„Lass sie doch. Ist ja bisher noch nichts Ernstes passiert, oder?“

„Ja, aber nur, weil mittlerweile alle vorgewarnt sind und keine Lust haben, sich mit dem Zeug vergiften zu lassen. Ich weiß nicht, warum sie trotzdem stundenlang in der Küche steht. Letztlich isst sie es eh allein und wenn ich ehrlich sein soll, frage ich mich auch, wie sie das bisher überleben konnte.“

Jetzt muss ich richtig lachen. Es ist doch immer wieder ein Erlebnis, bei Tais Familie zu Besuch zu sein.

„Ist deine Schwester eigentlich auch da?“

„Nein, soweit ich weiß, ist Kari bei Takeru. Du weißt doch, frisch Verliebte…“ Bei diesen Worten scheint die Atmosphäre zwischen uns kälter zu werden und die Distanz größer. Ernst schauen wir uns an und keiner wagt es, den Blick zuerst abzuwenden. Tai ist es, der das Schweigen bricht.

„Was ist das jetzt eigentlich zwischen uns? Glaube nicht, dass sich für mich in den fünf Monaten, die du jetzt weg warst, irgendwas geändert hat. Ich habe deine Abstoßungsversuche von mir damals nicht akzeptiert und ich werde es auch heute nicht tun. Begreife endlich, dass du nicht immer nur weglaufen kannst.“

Mir steckt ein Kloß im Hals, als ich antworte: „Dieses Thema ist einer der Gründe, weshalb ich hier bin. Ich hatte viel Raum zum Nachdenken und lange Zeit Abstand von dir. Mir ist einiges klar geworden, aber vor allem, dass ich dich brauche. Und vermisse. Und… liebe.“ Die letzten Worte waren kaum noch mehr als ein Flüstern. Am liebsten würde ich im Boden versinken, so sehr schäme ich mich. Wie kann ich mich nur selbst so erniedrigen? Was ist nur los mit mir? Ich weiß doch, dass es für alle besser wäre, mich von ihm abzuwenden. Wieso mache ich dann gerade das genaue Gegenteil? Eine plötzliche Bewegung der Matratze lässt mich aus meinen Gedanken hochschrecken. Tai hat sich neben mich auf das Bett gesetzt und sieht mich durchdringend an.

„Du hast gerade an nichts Gutes gedacht, hab ich Recht?“

„Kommt auf den Standpunkt an, würde ich sagen“, entgegne ich kühl.

Unvermittelt hebt Tai seine Hand zu meinem Gesicht, zieht mich an sich und gibt mir einen Kuss. Ich bin zu verwirrt, um mich dagegen zu wehren. Er lächelt. Etwas unsicher stehe ich auf und drehe den Schlüssel im Schloss herum, anschließend gehe ich wieder zurück. Mit ernster Miene drücke ich meinen Freund auf das Laken. Dann öffne ich mit meinen Fingern die Knöpfe seines Hemdes. Er sieht mich unverwandt an und lässt es geschehen. Nachdem ich ihn seines Hemdes entledigt habe, beginne ich ihm die Hose auszuziehen. Mit einem Blick auf sein Gesicht sehe ich, dass er noch immer lächelt. Das verunsichert mich noch mehr und ich verpasse den Moment, in dem er den Spieß rumdreht. Mit einer schnellen Bewegung setzt er sich auf und dreht mich so, dass ich nun unter ihm liege. Geschickt entledigt er mich meiner Kleider und beginnt meine nackte Haut zu küssen. Mit seiner Zunge fährt er die zahllosen Narben nach. Meine Atmung wird schwerer vor Erregung und ich suche mit meinen Fingern in dem Laken nach Halt. Als Tai mit seinen Lippen tiefer wandert, bäume ich mich leicht auf. Hitze steigt in mir auf und vor meinen Augen beginnen Punkte zu tanzen. Mein gesamter Körper ist zum Zerreißen gespannt und ich kann ein Stöhnen nicht zurückhalten. Abrupt entzieht sich Tai und schaut zu mir auf. Dann richtet er sich über mir auf, spreizt meine Beine und winkelt sie an. Sein Grinsen weicht einem Gesichtsausdruck, in dem keine Gefühlsregung mehr erkennbar ist. Mit kalter, fast schon wahnsinniger Stimme raunt er mir ins Ohr: „Ich werde dich niemals gehen lassen. Mit jeder Faser deines Körpers werde dich an mich binden. Auch gewaltsam. Denn du gehörst mir!“
 

In meinem Zimmer auf dem Bett liegend starre ich an die Decke. Mein Körper glüht und schmerzt an den Stellen, an denen Tai mich liebkost, aber auch mir Verletzungen zugefügt hat. Gewaltsam und ohne jedes Mitleid war er in mich eingedrungen und bei jedem Stoß fragte er mich wieder und wieder mit kaltem Blick, ob es mir so gefallen würde, ob es das wäre, wonach ich suchte. Ich antwortete nicht. Mein Kopf war leer, kein einziger Gedanke war greifbar. Ich bestand nur noch aus Gefühlen. Gefühle des Ekels und Hasses gegen mich selbst, Verwirrung aufgrund dieser bizarren Situation, sowie heftiges Verlangen und unendlich zärtliche Zuneigung.

Mit den Fingern berühre ich meine Lippen, auf denen ich Tais forderndes Begehren feucht und innig zu spüren bekam. Ich schließe die Augen und bilde mir ein, seinen Duft wahrnehmen zu können. Meine Lust ist erneut entfacht. Oder ist es doch nur der Wunsch nach Triebbefriedigung? Wäre nicht jeder andere genauso gut? Ist es wirklich Taichi, um den es mir geht?

Mühsam erhebe ich mich und verlasse mein Zimmer. Im Flur auf dem Weg zur Küche treffe ich auf meinen Vater. Seit ich aus der Klinik entlassen wurde, hat er unbezahlten Urlaub genommen. Er meint, damit er für mich da sein kann. Ich finde, es ist eine nette Umschreibung für Kontrolle.

„Kaffee?“, fragt er und ich nicke.
 

Ich sitze an meinem Schreibtisch und versuche angestrengt meine Gedanken zu Papier zu bringen. Angeblich soll das helfen, sie zu sortieren, besser zu verstehen und vor allem mich an deren Umsetzung zu hindern. Ich bezweifle, dass es die gewünschte Wirkung zeigen wird, bin aber dennoch gewillt, es wenigstens zu probieren. Ich schreibe über Tai, meine Beziehung zu ihm, meine Gefühle, über meine Einstellung zum Leben und zum Tod, meine Familie.

Als ich auf die Uhr sehe, verfalle ich in Panik. Tai wird gleich hier sei. Hastig stehe ich auf, verlasse das Zimmer und betrete das Bad. Ich schließe ab, entledige mich meiner Kleider und krame ein Handtuch aus dem Schrank unter dem Waschbecken hervor. Als ich mich aufrichte, sehe ich flüchtig mein Spiegelbild und halte inne. Zufrieden, fast liebevoll betrachte ich meine Narben. Einzelne zeichne ich mit meinen Fingern nach. Als der Blick auf den Rest meines Körpers fällt, wende ich mich angeekelt ab. Er ist das Abbild meiner Seele; widerlich, hässlich und verdorben. Unruhe steigt in mir auf, ich stütze mich auf das Waschbecken und versuche kontrolliert aus- und einzuatmen. Ich fühle mein Herz schwer gegen den Brustkorb schlagen. Mit meinen Augen suche ich flehentlich nach Erlösung, schaue wild im Raum umher und verharre beim Anblick des Medizinschränkchens. Angespannt gehe ich darauf zu. Mit jedem Schritt spüre ich das stärker werdende Pulsieren in meinem Kopf. Ich presse meine Hand gegen die Schläfe und schüttele verzweifelt den Kopf, als könnte ich mich so von der quälenden Stimme befreien. Doch sie wird lauter, beginnt mich anzuschreien und versucht mein Handeln zu bestimmen. Ich möchte mich wehren, stattdessen hebe ich aber meine andere Hand und öffne die Tür des Medizinschrankes. Ich bilde mir ein, meinen Herzschlag hören zu können, schließe panisch die Augen und spüre nach einer heftigen, kopflosen Bewegung einen gleißenden Schmerz in meiner rechten Hand. Die Stimme wird ruhiger, doch sie ist noch da. Ich schaue zur Wand, gegen die ich soeben geschlagen habe, hole erneut aus und schlage wieder und wieder mit aller Kraft dagegen, bis in meinem Kopf Stille herrscht. Dann sinke ich schwer atmend zu Boden und breche weinend zusammen.
 

Frisch geduscht verlasse ich das Badezimmer, als mein Vater vom Einkaufen zurückkommt. Sofort fällt sein Blick auf meine lädierte Hand.

„Was ist passiert?“, fragt er besorgt.

„In der Dusche ausgerutscht“, antworte ich knapp. Gleichzeitig frage ich mich, warum ich versuche, ihn anzulügen. Er sagt nichts dazu, doch seinem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass meine Vermutung richtig ist. Er glaubt mir nicht. Ich beobachte ihn beim Auspacken der Einkaufstüten und ein quälendes, schlechtes Gewissen meldet sich.

„Es tut mir leid“, murmele ich.

„Schon gut“, entgegnet er, ohne mich dabei anzusehen.
 

Zurück in meinem Zimmer schaue ich erneut auf die Uhr. Tai müsste schon längst da sein. Ich setze mich wieder an meinen Schreibtisch und beginne, mein Geschriebenes noch einmal durchzulesen. Nach ein paar Sätzen lege ich es beiseite, stehe auf und gehe zum Kleiderschrank, öffne ihn, schließe ihn wieder und setze mich anschließend unruhig auf das Bett. Mehrmals fällt mein Blick auf die Uhr, während ich mir die schlimmsten Dinge ausmale, die passiert sein könnten. Nach einer gefühlten Ewigkeit voller Sorge und Angst öffnet sich die Tür zu meinem Zimmer und Tai kommt herein. Ich schaue ihn völlig aufgelöst an.

„Was ist denn mit dir los?“, fragt er irritiert, als er mich zusammengekauert auf dem Bett sitzen sieht. Ich möchte ihn anschreien, doch mit den Nerven am Ende schaffe ich es nicht, ihm eine Antwort zu geben. Er nimmt neben mir Platz, ohne mich zu berühren. Schweigend starren wir vor uns hin, bis ich endlich die Kraft aufbringen kann, ihn zu fragen: „Wo warst du?“

„Was?“ Er schaut überrascht zu mir.

„Du hättest schon längst hier sein müssen.“ Ich fixiere weiterhin einen unbestimmten Punkt in meinem Zimmer, um der Versuchung nicht zu erliegen, ihn anzusehen.

„Tut mir leid, ich hatte noch etwas zu erledigen. Hat etwas länger gedauert als erwartet.“

„Was hattest du denn noch so Wichtiges zu erledigen?“, möchte ich wissen.

Leicht verärgert entgegnet er: „Bin ich dir jetzt schon Rechenschaft schuldig, was ich tue, wenn du nicht bei mir bist?“

Wut steigt in mir auf und ich habe Schwierigkeiten, sie nicht an ihm auszulassen. Ich schlucke eine bissige Bemerkung, die mir auf der Zunge liegt, hinunter, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Gedanklich sage ich mir immer wieder vor, dass ich mich zusammenreißen muss. Es darf nicht wieder alles eskalieren, sobald ich in Tais Nähe bin!

„Yamato.“ Seine Stimme holt mich in die Realität zurück und ich blicke fragend zu ihm.

„Ich liebe dich.“

Meine Augen weiten sich. Fassungslos starre ich ihn an. Warum sagt er das? Warum gerade jetzt? Ich will etwas darauf antworten, doch ich schaffe es nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. In meinem Kopf ist vollkommene Leere und doch herrscht ein unbändiges Chaos. Seine Augen, die mich voller Liebe anschauen, brennen sich erbarmungslos in mein Hirn. Ein stechender Schmerz durchfährt meinen gesamten Körper, als er seine Worte wiederholt. Dann zieht er mich zu sich und schließt mich sanft in seine Arme. Unfähig zu begreifen, was gerade passiert, und ohne mich zu wehren, lasse ich es geschehen. Ich merke, wie ich ruhiger werde und mich langsam entspanne.

„Geht es wieder?“, durchbricht Tai die Stille.

„Ja, aber bitte lass mich noch nicht los!“
 

„Verdammt!“, ruft Tai genervt. Ich liege mit einer Decke auf dem Sofa und schaue zu, wie er sich zum vierten Mal in den Tod stürzt. Genervt legt er den Kontroller beiseite und schaut zu mir.

„Ich bekomme es einfach nicht hin! Sie springt nicht so, wie ich das möchte, aber der Weg ist der richtige. Siehst du, dieser Gegenstand dort ist rot hervorgehoben. Aber wenn ich… was?!“ Er hält inne. Sein Gesichtsausdruck ist fragend.

„Nichts.“ Ich lächle.

„Dann würdest du nicht so schauen.“

„Du fändest es nicht toll.“

„Und woher willst du das wissen?“

„Weil ich dich kenne.“

„Nun sag schon“, quengelt er. Ich seufze, setze mich auf und grinse ihn an.

„Ich dachte nur gerade daran, wie süß du bist, wenn du spielst.“ Noch ehe er protestieren kann, beuge ich mich vor und gebe ihm einen Kuss auf den Mund. Nach kurzer Verblüffung seinerseits beginnt er mehr zu fordern, indem er mit seiner Zunge über meine Lippen leckt und anschließend mein harmloses Küsschen zu einem innigen Zungenkuss ausweitet. Ich erwidere diesen leidenschaftlich, während ich mit meinen Fingern hastig seine Hose öffne. Mir ist heiß und meine Haut fühlt sich an, als würde sie vor Erregung verglühen. Tais Hände umfassen entschlossen meine Handgelenke, er löst sich von mir und drückt mich grob gegen die Sofalehne.

„Das ist, glaube ich, jetzt keine gute Idee“, flüstert er schwer atmend.

„Wieso nicht?“, will ich wissen, doch als ich keine Antwort erhalte, versuche ich mich von ihm zu lösen. Ich schaffe es nicht, da er mich fest im Griff hat und diesen auch bei meiner Gegenwehr nicht lockert.

„Tai! Was soll das?“ In meiner Stimme schwingt eine Mischung aus Panik und Verärgerung mit. Keine Regung. Er starrt mich nur unentwegt mit seinen braunen Augen an. Mein Herz schlägt schneller. Er ist unnahbar, unberechenbar. Ich fühle mich hilflos, ausgeliefert und ratlos. In meinem Kopf rasen die Gedanken, doch ich kann keinen greifen. Er fixiert mich noch immer, ohne sich zu rühren. Ein beklemmendes Gefühl steigt in mir auf. Ich schließe die Augen und drehe meinen Kopf zur Seite. Krampfhaft versuche ich mich zu beruhigen. Der Griff um meine Handgelenke ist mittlerweile so fest, dass es zu schmerzen beginnt. In meinen Fingerspitzen macht sich bereits ein Taubheitsgefühl breit.

„Tai…“ Meine Stimme klingt ungewollt flehend.

„Ich gehe mir einen Kaffee holen. Möchtest du auch einen?“, fragt er ohne jede Emotion, dann gibt er mich frei, schließt seine Hose wieder und verlässt mein Zimmer, ohne meine Antwort abzuwarten.
 

Reglos liege ich auf meinem Bett. Die Spielekonsole läuft noch immer, ich habe sie nicht ausgeschaltet. Tai ist gegangen, nachdem er den Kaffee in der Küche getrunken hatte. Er kam nicht mehr zurück, sondern verabschiedete sich mit einem Rufen aus dem Flur. Ich verstehe noch immer nicht, was geschehen ist. Wieso verhält er sich manchmal aus heiterem Himmel so merkwürdig? Dass sich ein solcher Vorfall nicht das erste Mal ereignete, macht den Sachverhalt nicht einfacher. Er ist in solchen Situationen wie ein anderer Mensch, nein, eher unmenschlich. Seine Augen sind leblos und er scheint ohne jede Emotion zu sein. So kalt. So fremd und unnahbar.

Ich frage mich, ob es nur bei mir so ist. Bringe ich ihn dazu, so zu werden? Ist es meine Schuld? Ich weiß, dass ich nicht gut für ihn bin, ihn kaputt mache. Sind diese Zustände Auswirkungen davon? Bei diesem Gedanken bekomme ich Gänsehaut, sodass ich die Bettdecke fester um meinen Körper ziehe. Vor meinen Augen flackert das Bild. Ich blinzele und eine Träne rollt mir seitlich die Wange hinab. Einmal mehr wird mir schmerzlich bewusst, was ich durch meine bloße Existenz für Schaden anrichte. Erfüllt von Selbsthass drehe ich mich auf den Bauch, drücke mein Gesicht in das Kissen und lasse meinen Gefühlen freien Lauf.
 

Schläfrig öffne ich meine Augen. Für einen Moment fehlt mir die Orientierung. Ich setze mich auf und versuche in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Die Konturen der Einrichtung sagen mir, dass ich mich in meinem Zimmer befinde. Wahrscheinlich bin ich vor Erschöpfung eingeschlafen. Schwerfällig erhebe ich mich aus meinem Bett, gehe zum Lichtschalter und betätige ihn. Die Helligkeit sticht in meinen Augen, sodass ich sie schmerzend wieder schließe. Das Rauschen in meinen Ohren ist unerträglich und ich spüre ein starkes Pulsieren in meinem Kopf. Erneut öffne ich die Augen, diesmal vorsichtig, um sie an das Licht gewöhnen zu können. Dann betätige ich die Türklinke und verlasse das Zimmer. Ich versuche leise zu sein, als ich durch den Flur laufe, um meinen Vater nicht zu wecken, doch dann vernehme ich die Geräusche des Fernsehers und deute daraus, dass er sich noch im Wohnzimmer aufhalten muss. Gähnend betrete ich das Bad, schalte das Licht an und gehe zum Medizinschrank. Ich öffne ihn und entnehme eine Schachtel Schmerztabletten. Aus einer Blisterpackung drücke ich vier Stück heraus, den Rest lege ich zurück in den Schrank. Vor dem Waschbecken drehe ich den Wasserhahn auf, nehme die Tabletten in den Mund und schlucke sie mit ein wenig kaltem Wasser herunter. Dann wasche ich mir das Gesicht. Den Hahn schließend schaue ich in den Spiegel. Zwei blaue Augen mit Schlafzimmerblick und dunklen Augenringen darunter schauen mich müde an. Die Haut sieht fahl und die Wangen eingefallen aus. Ich betaste mit meinen Fingern die Lippen, die rau und aufgerissen sind.

‚Eine fremde Person‘, geht es mir durch den Kopf. Dann wende ich mich gleichgültig ab und verlasse das Bad. Ich werfe einen vorsichtigen Blick in das Wohnzimmer und sehe meinen Vater auf dem Sofa liegen. Lautlos betrete ich den Raum und merke beim Näherkommen, dass er während des Fernsehens eingeschlafen ist. Ich mache kehrt und komme mit einer Decke wieder. Behutsam lege ich sie über den Körper meines Vaters, bedacht darauf, ihn nicht zu wecken. Dann schalte ich den Fernseher ab und gehe zurück in mein Zimmer.
 

Unruhig wälze ich mich von einer Seite auf die andere. Ich versuche eine einigermaßen erträgliche Schlafposition zu finden, doch es gelingt mir nicht. Irgendein Körperteil ist immer im Weg, die Decke ist verkrempelt oder meine Schlafsachen verdreht. Genervt setze ich mich auf und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Ein unangenehmes Kribbeln beginnt in meinen Zehen und erstreckt sich schnell bis zur Wade. Ich schüttle mein Bein, in der Hoffnung, dass es aufhört. Es kribbelt stärker und ich schüttle es erneut, diesmal energischer. Es bringt nichts. Im Gegenteil, dadurch wird es nur schlimmer und treibt mich letztlich in den Wahnsinn. Innerhalb kürzester Zeit sind auch die Arme, dann der ganze Körper betroffen. Gereizt springe ich aus dem Bett und bewege mich fahrig durch das Zimmer, innerlich flehend, dieses Gefühl abschütteln zu können. Es gelingt mir nicht. Es gelingt mir nie. Dessen bin ich mir auch bewusst und doch versuche ich es jedes Mal wieder. Ich ziehe an meinen Schlafsachen herum, spüre jede kleine Falte überdeutlich. Es drückt, kratzt, juckt und schmerzt auf der Haut, sodass ich fast hysterisch werde. Generell wird jede Berührung, jeder Hautkontakt zur Qual. Verzweifelt entkleide ich mich nach einer Weile, streiche das Bettlaken glatt und lege mich mit ausgestreckten Gliedmaßen auf den Rücken. Die rechte Hand lege ich auf meine Brust, um meinen Herzschlag spüren zu können. Ansonsten versuche ich meine Aufmerksamkeit weg von meinem Körper auf etwas Schönes zu lenken. Angestrengt krame ich in meinen Erinnerungen. Erstaunt darüber, wie viele kleine und große Dinge mir einfallen, die mir wirklich Freude bereitet haben, begebe ich mich auf eine Reise durch mein Gedächtnis. Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen. Mit der Zeit werde ich ruhiger. Langsam schließe ich die Augen. Ich fühle, wie mein Körper schwerer wird und ich falle.
 

„Wie lange bist du eigentlich noch krankgeschrieben?“, möchte Tai wissen, während er wie wild auf den Kontroller einhämmert.

Ich sitze an meinem Schreibtisch und schaue den verpassten Schulstoff durch, den Tai mir nach dem Unterricht immer vorbeibringt, wobei er dann meist bis in die späten Abendstunden bleibt.

„In drei Wochen habe ich wieder einen Termin bei meinem Psychiater, der dann entscheidet, wie es weitergeht.“

„Hmm“, brummt Tai und ist dabei, ins Nichts zu springen.

Ich wende mich erneut den Schulmaterialien zu.

„Schöne Grüße… Fuck!“ Frustriert wirft er den Kontroller beiseite und schaut mich an.

„Würdest du das bitte lassen? Die Dinger sind teuer.“ Ohne vom Schreibtisch aufzusehen, füge ich hinzu: „Was wolltest du sagen, bevor du deinen Wutanfall hattest?“

Tai sieht mich entgeistert an. „Was ist denn mit dir los? Du wirkst so unterkühlt.“

„Was soll los sein. Ich bin beschäftigt. Außerdem möchte ich nicht, dass du mein Eigentum mutwillig zerstörst.“

„Bitte? Seit wann bist du so empfindlich? Wenn du ein Problem hast, dann sag es mir ganz offen, aber lass es nicht an mir aus.“

Gereizt entgegne ich: „Habe ich es denn nicht gerade ganz offen gesagt?“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Yama. Es geht momentan nicht wirklich um diesen dämlichen Kontroller, oder?“

„Worum soll es sonst gehen?“

„Sag du es mir.“ In seinen Augen sehe ich Provokation.

„Ich weiß nicht, was du von mir willst. Du scheinst wohl eher ein Problem zu haben.“

Fassungslos starrt mein Freund mich an. Ich wälze weiterhin die Unterlagen, ohne aufzusehen. Darauf konzentrieren kann ich mich allerdings nicht mehr, viel zu sehr hat Wut von meinen Geist Besitz ergriffen. Sie vernebelt meinen Verstand und bestimmt mein Handeln. Aber es ist nicht nur Wut, sondern, neben Gefühlen wie Verzweiflung, Angst, allerdings auch Zuneigung, noch ein anderes, welches ich hingegen nicht einordnen kann. Ich spüre nur, wie mir die Situation allmählich entgleitet und ich die Kontrolle verliere.

„Ja, ich habe ein Problem“, schreit Tai mich an. „Du bist das Problem beziehungsweise dein Verhalten. Merkst du das selbst nicht?“

Zorn steigt in mir auf. „Wenn ich dir so zuwider bin, dann geh! Ich brauche dich nicht! Und du bist ohne mich sowieso besser dran.“ Meine Stimme wird kalt und ich blicke gleichgültig ins Nichts. „Ich sollte eigentlich längst tot sein. Wenn…“ Augenblicklich fühle ich einen gleißenden Schmerz auf meiner Wange. Ich verharre und genieße meinen bittersüßen Triumph. Dann höre ich wie durch einen Nebel Tais herabwürdigendes Lachen.

„Bist du schon so tief gesunken, dass du um Erniedrigung förmlich bettelst?“ Seine Stimme wird ernst und im Unterton schwingt eine tiefe Traurigkeit mit. „Warum gelingt es deinem Selbsthass, dich so zu beherrschen? Er wird dich zerstören, Yamato. Hörst du?“ Er packt mich an den Schultern und schüttelt mich, als wollte er versuchen, mich aus meiner eigenen Welt zurückzuholen. „Du wirst an ihm zugrunde gehen! Willst du das wirklich?“

Ich reagiere nicht. Mein Blick ist starr und leer. Entfernt vernehme ich noch die Worte meines Freundes, ihren Sinn begreife ich jedoch nicht. Die Umgebung ist seltsam irreal; die Konturen verschwimmen, die Größenverhältnisse wechseln irregulär und die Farben sind übersteuert. In meinen Ohren wird das Rauschen immer lauter und das Stechen in meinem Kopf intensiver.

Wie fremdgesteuert antworte ich schließlich: „Ja, dann ist das alles wenigstens endlich vorbei. Niemand muss mehr meinetwegen leiden. Und alle wären glücklich.“

Liebevoll zieht Tai mich an sich und umfängt mich mit seinen Armen. Wie aus einem Traum erwachend nehme ich auf einmal den zitternden Körper meines Freundes wahr. Ich rieche den Duft seiner Haare, den ich so liebe, spüre die Wärme seines Körpers, die mir sagt, dass er am Leben ist, und höre sein unregelmäßiges Atmen. Er weint.

„Ich nicht“, flüstert er, zu mehr scheint er derzeit nicht fähig zu sein. „Ich leide nicht deinetwegen und ich wäre nicht glücklich ohne dich. Bleib bei mir, okay? Und wenn du es im Moment nicht schaffst, für dich zu leben, dann lebe für mich. Ich weiß, ich bin egoistisch, aber wenn ich mir vorstelle dich zu verlieren, dann…“ Seine Stimme versagt und ich merke, wie sein Körper schwerer wird und in sich zusammenzusacken droht. Unter großem Kraftaufwand versuche ich ihn aufrecht zu halten, doch ich bin zu schwach. Es gelingt mir nicht. Ich kann ihn nicht stützen. Gemeinsam sinken wir zu Boden. Völlig aufgelöst und hilflos sitzen wir auf dem Teppich meines Zimmers und versuchen uns gegenseitig Halt zu geben.



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