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So einfach

Yamato Ishida x Taichi Yagami / Hiroaki Ishida x Yamato Ishida
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Die Liedtexte von "Wo die Einsamkeit beginnt" und "Sanfter Tod" gehören Mantus. Mit der Verwendung möchte ich keinerlei Urheberrechte verletzen. Komplett anzeigen

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Es beginnt zu regnen, als ich die Straße zu dem Park in der Nähe unserer Wohnung überquere. Unaufhörlich prasseln die Tropfen auf mich herab und durchnässen meine Kleidung. Dennoch beschleunige ich meine Schritte nicht. Ziellos laufe ich durch die Grünanlagen. Nach einer Weile setze ich mich abwesend auf eine der Bänke und zünde mir eine Zigarette an, die allerdings binnen kürzester Zeit komplett durchweicht ist. Doch das interessiert mich nicht. Ebenso wie der Umstand, dass mein Körper durch die nasse Kleidung und die mäßigen Temperaturen auskühlt und heftig zittert. Nach dem, was gerade in der Schule passiert ist, kann ich Taichi nicht mehr in die Augen sehen. Wieso habe ich meinem Klassenkameraden gesagt, was ich für ihn fühle? Noch schlimmer ist, dass ich danach mit ihm geschlafen habe. Er nahm mich auf die gleiche Weise, wie ich Tai die ersten Male genommen habe, und obwohl ich mich zu Beginn gewehrt habe, empfand ich unerträgliche Erregung dabei. Wieder einmal zeigt sich das Ausmaß meiner Abartigkeit, denn es bereitete mir auf perverse Art Lust, so gefickt zu werden, wie ich meinen Freund anfangs vergewaltigt habe, und dabei an ihn und meine Übergriffe zu denken. Ich werfe die abgebrannte Zigarette in eine Pfütze und lausche dem zischenden Geräusch, welches entsteht, wenn die Glut mit dem Wasser in Berührung kommt und erlischt. Mein Blick fällt auf meine Schultasche, die neben mir auf der Bank liegt. Vermutlich ist der Regen bereits durch das Material gesickert und weicht gerade das Papier meiner Unterrichtsmaterialien auf. Ich schätze, es war nicht klug von mir, die Auflage des Direktors zu missachten und einfach zu gehen, ohne bei ihm gewesen zu sein. Aber ich konnte die Nähe meines Mitschülers nicht mehr ertragen. Das Verlangen nach ihm war zu groß, nach seinen Berührungen, die ganz anders sind als die von Tai und doch auch gleich. Ich hasse ihn für das, was er getan hat, dafür, dass er nicht aufgehört hat, und doch wollte ich, dass er weitermacht. Immer wenn ich mit meinem Klassenkameraden schlafe, denke ich an Taichi. Diese Tatsache ist mir bisher nie aufgefallen. Glaube ich deshalb Gefühle für meinen Mitschüler zu haben, weil ich meinen Freund in ihm wiedererkenne? Ähnlichkeiten sind auf jeden Fall erkennbar. Durch Tais Alkoholabhängigkeit hat sich unsere Beziehung verändert. Von Zeit zu Zeit ist er kaum ansprechbar, wenn er getrunken hat. Unser Umgang beschränkt sich mitunter nur auf das Nötigste und es kam auch schon vor, dass er aufgrund des Alkohols keinen hoch bekommen hat, wenn wir miteinander schlafen wollten. Meist bin ich dann aktiv geworden, doch manchmal haben wir es auch einfach dabei belassen. Aber habe ich wirklich in meinem Klassenkameraden Ersatz gesucht? Habe ich mich nicht bereits davor zu ihm hingezogen gefühlt? Verwirrt lache ich laut auf, welches sich allerdings schlagartig in krampfhaftes Weinen wandelt. Aufgelöst vergrabe ich meine Finger in meinen nass am Kopf klebenden Haaren. Schmerzlich wird mir bewusst, wie einsam ich mich ohne Taichi fühle und wie sehr ich ihn seit langem schon vermisse. Schluchzend krümme ich mich zusammen und verkrampfe meine Hand an der Stelle im Stoff meines Hemdes, wo mein Herz meinen Brustkorb zu zerbersten droht. Ich vermute, dass die Schmerzen wieder einmal psychosomatisch sind, ebenso wie in den meisten Fällen die Übelkeit und die Kopfschmerzen, schaffe es aber dennoch nicht, mich zu beruhigen. Meine Atmung ist unregelmäßig und stoßweise. Ich versuche mich unter Kontrolle zu bringen, um nicht zu hyperventilieren, was mir nach einer Weile unter Anstrengung gelingt. Erschöpft hebe ich meinen Kopf und sehe in den grauen Himmel. Der Regen wäscht die Tränen aus meinem Gesicht oder zumindest verbirgt er sie. Wie fremdgesteuert und mit leerem Blick erhebe ich mich, nehme meine Schultasche und mache mich auf den Weg zur U-Bahn-Station, um nach Shibuya zu fahren. Ich will nicht mehr denken oder fühlen müssen, auch wenn das bedeutet, Taichi wieder wehtun zu müssen, weil ich mich einmal mehr von einem fremden Mann vögeln lasse. Fest umklammere ich das Fläschchen mit dem BDO in meiner Jackentasche, als wäre es noch mein einziger Halt.
 

„Als ich neulich mit meinem Vater telefonierte, teilte er mir mit, dass er im Sommer Urlaub haben wird und plant ihn hier zu verbringen.“ Meine Worte scheinen Tai zu beunruhigen, denn er löst sich von mir und richtet sich etwas auf, um mir sorgenvoll in die Augen zu sehen.

„Weißt du schon wann?“

„Nein, einen genauen Termin konnte er mir noch nicht nennen. Hast du Angst, dass er deine Abhängigkeit vom Alkohol bemerkt?“ Ich versuche meine Frage ohne Vorwürfe in meiner Stimme zu stellen. Für einen Moment schweigt mein Freund, sodass nur die Geräusche des Fernsehers den Raum erfüllen. Es ist lange her, dass wir gemeinsam im Wohnzimmer auf dem Sofa lagen und einfach nur die Nähe des anderen genossen. Ich schließe meine Augen.

„Wenn ich Alkoholiker sein soll, bist du ein Junkie. Oder willst du deine Drogenabhängigkeit bestreiten?“

„Taichi, um mich geht es gerade doch gar nicht.“ Traurig sehe ich ihn an, hebe meine Hand und berühre seine Wange. Er schiebt sie sanft beiseite, legt sich wieder hin und nimmt mich dabei erneut in den Arm. Schutz suchend schmiege ich mich an ihn.

„Yamato, wir müssen unsere Probleme in den Griff bekommen. Dein Vater ist nicht dumm, ihm wird unser destruktives Verhalten auffallen, zumal sich Abhängigkeiten nicht so leicht verbergen lassen.“

„Du gibst also zu, dass du den Alkohol mittlerweile brauchst?“

„Und was ist mit dir?“, startet er, ohne zu antworten, eine Gegenfrage. „Wie sieht es mit deinem Drogenkonsum aus?“ Ich muss zugeben, dass mir die Frage nicht angenehm, aber durchaus berechtigt ist. Inzwischen kann ich mich nur selten einem Freier hingeben ohne drauf zu sein. Zudem habe ich immer häufiger das Bedürfnis, mithilfe des BDO der Realität zu entfliehen und mich in die Bewusstlosigkeit zu befördern. Ich seufze.

„Du hast recht. Mein Konsumverhalten entgleitet mir langsam“, gebe ich ungern und mit gedämpfter Stimme zu.

„Wenn ich an die Menge der leeren Medikamentenschachteln im Müll denke, würde ich sagen, du hast die Kontrolle schon längst verloren. Wirken die Schmerzmittel überhaupt noch?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Warum nimmst du sie dann noch?“, fragt Tai besorgt.

„Ich weiß es nicht“, gebe ich ehrlich zu. „Um mir zu schaden, schätze ich.“

„Und das andere Zeug brauchst du, um den Sex mit deinen Freiern zu ertragen, oder?“

„Ja“, sage ich tonlos.

„Das ist paradox, Yamato.“

„Ich weiß, dass es auf dich so wirken muss, aber für mich ergibt diese Widersprüchlichkeit durchaus Sinn.“

„Erkläre es mir.“ Ich streiche sanft über den Arm meines Freundes, mit dem er meinen Körper fest umschlungen hält.

„Das kann ich nicht.“

„Versuche es.“ Erstaunt bemerke ich, dass Tais Aussage eher eine Bitte als eine Aufforderung ist.

„Es ist wie mit dem Schneiden. Eine Sucht, ein Zwang, eine Impulskontrollstörung… nenn es, wie du willst. Eine Weile gelingt es mir, die Kontrolle zu behalten und dem Drang nicht nachzugeben. Aber ich schaffe es nicht, ohne diese selbstverletzenden Verhaltensweisen auszukommen. Irgendwann ist der Druck zu groß, sodass ich mir Schlimmeres antun könnte, wenn ich dem Verlangen nicht nachgebe. Doch die sexuellen Handlungen mit den Freiern sind abstoßend und pervers. Ohne Drogenrausch ertrage ich es kaum, von fremden Männern brutal gefickt zu werden. Ich empfinde keine Lust dabei, nur Ekel und Selbsthass. Vieles würde ich nicht machen oder mit mir machen lassen, wenn ich nicht unter dem Einfluss einer bewusstseinsverändernden Substanz stehen würde. Mit abflauender Wirkung fühle ich nichts als Verachtung und Abscheu für mich, was bedeutet, dass ich mein Ziel erreicht habe. Doch leider ist es ein Teufelskreis, aus dem ich auszubrechen nicht in der Lage bin, denn mit zunehmender Aversion steigert sich der Wunsch, mein dysfunktionales Verhalten auszuleben. Nur… allmählich entzieht sich alles meiner Kontrolle und ich habe das Gefühl, auch du hast längst nicht mehr alles im Griff.“

„Yamato, sei bitte ehrlich. Liebst du deinen Mitschüler?“ Mein Freund klingt resigniert. Ich halte in meinen Streicheleinheiten inne, lasse meine Hand aber auf seinem Arm ruhen.

„Nein“, sage ich so ruhig wie möglich, doch mein Körper zittert leicht. Es fällt mir schwer, zu schlucken, meine Kehle ist wie zugeschnürt. „Aber ich habe Gefühle für ihn.“

„Also hast du dich in ihn verliebt…“, vergewissert er sich ernüchtert.

„Ja.“ Dieses kleine, unscheinbare Wort kommt so zaghaft über meine Lippen, weil ich weiß, dass es die Macht hat, sowohl Taichi als auch mich zu zerstören. Mein Freund schweigt, drückt mich aber stärker an sich. Regungslos und eng umschlungen liegen wir auf dem Sofa im Wohnzimmer, während im Hintergrund noch immer der Fernseher läuft. Ich spüre Tais gleichmäßigen Herzschlag und schließe meine Augen, um nur noch ihn wahrzunehmen.

„Wie soll es jetzt weitergehen?“, höre ich meinen Freund emotionslos fragen.

„Bist du eher heterosexuell orientiert?“

„Was?“ Nun entnehme ich seinem Tonfall Irritation.

„Du betrügst mich mit Frauen und nicht mit Männern.“

„Es ist nur eine Frau.“

„Mit der du mich schon mehrfach betrogen hast.“

„Yamato…“ Ich lasse Tais Arm los und taste nach seiner Hand. Halt suchend verhake ich unsere Finger.

„Verlässt du mich?“ Ich versuche die Frage beiläufig klingen zu lassen.

„Wie kommst du darauf?“

„Du stehst eigentlich auf Frauen. Ist die Annahme da nicht naheliegend? Immerhin vögelst du scheinbar beinahe regelmäßig ein weibliches Wesen.“

„Yama…“

„Shhh.“ Ich lockere die Umarmung etwas und drehe mich, sodass ich auf meinem Freund liege und in seine Augen blicke. Liebevoll lege ich meinen Zeigefinger auf seine Lippen. „Sag nichts mehr. Ich weiß, dass du mich verlassen wirst. Unsere Beziehung ist wider deine Natur und nur zustande gekommen, weil ich dich gezwungen habe. Es wird Zeit, dass du dich von mir befreist und endlich glücklich wirst.“ Lächelnd schaue ich ihn an, während Tränen meine Wangen hinab laufen. Die Worte kamen stockend über meine Lippen, dabei wollte ich selbstsicher und gefestigt auf Taichi wirken. Zärtlich wischt er mir eine Träne aus dem Gesicht.

„Du Dummkopf, ständig verrennst du dich in irgendwelchen Fantasien, von denen du nicht mehr abzubringen bist. Ich stelle immer wieder fasziniert fest, dass du wirklich in deiner eigenen Welt lebst, die dich gefangen hält und fernab jeglicher Realität ist.“ Mit seiner Hand streicht er mir eine Strähne hinter mein Ohr, dann zieht er mich ein Stück zu sich herunter, um mich zu küssen. Der Kuss ist unsicher und verhalten und dennoch fühle ich meinen Freund unglaublich intensiv.

„Ich will und werde dich niemals verlassen. Ich liebe dich, Yamato.“ Er küsst mich erneut. „Diese Beschwörungen werde ich dir so oft sagen, bis sie in deinem hübschen Köpfchen tief verankert sind.“

„Aber…“

„Du hast recht. Ich bin eher heterosexuell veranlagt. Doch das hat mit uns nichts zutun. Das Mädchen, mit dem ich schlafe, ist eine Kommilitonin von mir. Sie ist nett, allerdings liebe ich sie nicht und bin auch nicht in sie verliebt. So gesehen bin ich ihr gegenüber ein ziemliches Arschloch, weil ich sie benutze, um mich von dir abzulenken, denke aber trotzdem an dich, während ich mit ihr Sex habe.“ Erschöpft senke ich meinen Kopf und berühre mit meiner Stirn den Brustkorb meines Freundes.

„Das alles will ich nicht wissen. Aber ich bin selbst schuld? Habe ich dich zum Fremdgehen getrieben? Und zum Trinken? Zum Schneiden?“

„In gewisser Weise, ja.“ Ich bin froh über die Ehrlichkeit und auch wenn es sich mit meiner Meinung deckt, ist es bitter. Sehr bitter.

„Ich will nur dich, Taichi! Das musst du mir glauben!“ Verzweifelt schaue ich ihn an. „Ich liebe dich!“ Tai lächelt, seine Augen allerdings sind leblos. „Werden wir es schaffen, zu uns zurückzufinden?“, frage ich in den Raum, obwohl ich weiß, dass weder mein Freund noch ich eine Antwort darauf haben. Schützend legt er seine Arme um meinen Körper. Ich dränge mich dicht an ihn. „Bitte lass mich nie wieder los!“
 

Nervös kratze ich über die Haut meines linken Unterarms. Durch den dünnen Stoff des Hemdes spüre ich deutlich die Unebenheiten, die aufgrund meiner Narben entstehen. Sehnsuchtsvoll streiche ich darüber, ertaste jede einzelne Spur der Grenzlinie zwischen Realität und Wahn. Meine Hände zittern. Ich lasse den Kopf auf die Tischplatte sinken und presse meine Stirn gegen das Holz, um einen Gegendruck zu dem Schmerz zu erzeugen. Letztlich weiß ich, dass es nichts bringt, aber anders kann ich momentan nicht agieren. Von Tag zu Tag fällt es mir schwerer, auf Schmerzmittel zu verzichten. Generell ist das Verlangen nach Selbstschädigung mittlerweile kaum noch auszuhalten. Zweieinhalb Wochen habe ich es geschafft, mich weder von Freiern ficken zu lassen, Drogen oder Tabletten zu konsumieren noch mich zu schneiden. Stolz darauf kann ich jedoch nicht sein. Meine Gedanken kreisen permanent um eine dieser für mich lebenserhaltenden Maßnahmen. Das Einzige, das ich nicht versuche mit aller Macht zu unterdrücken, ist das Rauchen. Damit kompensiere ich derzeit alles andere, wodurch mein Verbrauch deutlich gestiegen ist. Allerdings reicht es bei Weitem nicht, um meine Unruhe und mein Verlangen längere Zeit unter Kontrolle zu halten. Jeden Augenblick könnte ich den Halt verlieren und abstürzen, ich stehe gerade auf sehr wackeligen Beinen. Seufzend hebe ich meinen Kopf und schaue nach vorn, da der Lehrer nun zu seinen mündlichen Ausführungen ein paar Notizen mit Kreide an die Tafel schreibt. Mein Blick schweift ab und bleibt an meinem Klassenkameraden haften. Ich vermisse ihn. Seit ich Taichi meine Gefühle für ihn gestanden habe, gehe ich meinem Mitschüler aus dem Weg. Doch meine Sehnsucht lässt mich wanken, dabei will ich eigentlich nur noch mit Taichi schlafen. Der Gedanke, von meinem Klassenkameraden berührt zu werden, löst in mir ein aufregendes Kribbeln aus. Das Ertönen der Schulglocke holt mich aus meinen Gedanken. Pause. Ich lege mich mit dem Kopf wieder auf die Bank, vergrabe mein Gesicht in meinen verschränkten Armen. Indem ich vortäusche zu schlafen, vermeide ich angesprochen zu werden. Nur scheint meine Rechnung diesmal nicht aufzugehen. Ich fühle, wie jemand mit seinen Fingern sanft durch meine Haare streicht.

„Warum gehst du mir seit über zwei Wochen aus dem Weg?“, fragt mein Mitschüler leise, während er sich vor meinen Tisch hockt und die Arme auf der Platte verschränkt. Ich reagiere nicht. „Yamato, ich weiß, dass du wach bist.“ Ich hebe meinen Kopf erneut und blinzle ihn an.

„Es ist nichts“, antworte ich. Mir fällt es schwer, ihn abzuweisen, mich von ihm zu lösen. Anscheinend sind die Gefühle für meinen Klassenkameraden intensiver als angenommen. Das verwirrt mich. Eingehend betrachte ich das Gesicht meines Gegenübers. Obwohl er nur ein Jahr jünger ist als ich, sind seine Züge noch immer leicht kindlich, wodurch er androgyner aussieht. Trotzdem wirkt er nicht zerbrechlich.

„Warum schaust du mich so an?“, fragt mein Mitschüler irritiert. Ich schüttele den Kopf und verstärke dadurch den stechenden Schmerz. Mit den Fingern drücke ich gegen meine Schläfe.

„Es ist wirklich nichts.“ Ich lächle ihn verhalten an. „Aber ich bin dir dankbar, dass du mich neulich beim Direktor entschuldigt hast. Dadurch hast du mich vor einer härteren Strafe bewahrt.“

„Meinetwegen bist du ja nur gegangen“, meint er beiläufig. „Hast du Kopfschmerzen? Ich habe Schmerzmittel in meiner Tasche.“ Gerade als er aufstehen will, um die Tabletten zu holen, halte ich ihn am Handgelenk fest.

„Lass, es ist okay.“ Meine Stimme klingt wenig überzeugend. Skeptisch werde ich von meinem Klassenkameraden gemustert. Der Ausdruck in seinem Gesicht wandelt sich. Seine Augen sind kalt.

„Nach dem Unterricht gehen wir zu mir. Das ist keine Bitte, Yamato.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, geht er auf seinen Platz zurück. Ratlos schaue ich ihm nach. Mir ist bewusst, dass es fatale Folgen haben kann, wenn ich meinem Verlangen erneut nachgebe. Taichi scheint seit einigen Tagen keinen Alkohol mehr zu trinken. Ich möchte ihm den Entzug nicht zusätzlich erschweren und riskieren, dass er meinetwegen rückfällig wird. Unser Verhältnis ist derzeit ohnehin angespannt. Wahrscheinlich sind wir beide gereizt, weil jeder von uns mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hat. Und zwar allein. Es klingelt. Ich habe nicht mitbekommen, dass der Lehrer den Raum inzwischen betreten hat. Angestrengt sehe ich nach vorn. Es ist dumm, unsere Probleme zur selben Zeit in den Griff bekommen zu wollen. Ich fürchte, wir muten uns zu viel zu, sind mit uns selbst überfordert und somit nicht in der Lage uns gegenseitig zu unterstützen. Angst keimt in mir auf. Sucht Taichi nach Halt bei diesem Mädchen? Ich bezweifle, dass er den kompletten Entzug ohne Hilfe schaffen kann. Doch in letzter Zeit entzieht er sich mir immer häufiger und ich komme nicht an ihn heran. Die Nächte verbringt er wieder in seinem Zimmer mit der Begründung, er würde unruhig schlafen, mich aber nicht damit belasten wollen. Allerdings mache ich seitdem kaum noch ein Auge zu, liege lange wach und bin vollkommen übermüdet. Sicher haben die Schlafprobleme nicht nur Tai zur Ursache, aber ich mache mir Sorgen um ihn. Fahrig streiche ich mit den Fingern über meine Augen, dann durch die Haare. Vergeblich versuche ich mich auf den Unterricht zu konzentrieren, um nicht so viel nachdenken zu müssen. Mit der momentanen Situation komme ich einfach nicht klar. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, Taichi gegenüber, meinem Mitschüler gegenüber, mir selbst gegenüber. Müde stütze ich meinen Kopf in der Hand ab. Mein Körper wehrt sich allmählich gegen meinen Umgang mit ihm. Sämtliche Gliedmaßen fühlen sich schwer an, Schwäche zeichnet mich und ich kann mich kaum aufrecht halten. Beinahe ersehne ich einen Zusammenbruch, da es derzeit die einzige Möglichkeit zu sein scheint, der Realität zu entfliehen. Am besten wäre es, dann nicht mehr aufzuwachen. Ich habe das Leben satt. Es erschöpft mich. Egal, was ich mache, ich komme weder mit mir noch mit anderen Menschen oder dem Leben allgemein zurecht. Immer wenn ich denke, dass es besser wird und ich doch lebensfähig bin, werde ich eines Besseren belehrt. Schon wieder kreisen meine Gedanken. Und immer um dieselben Themen. Dabei weiß ich, dass es nichts bringt. Aber es passiert automatisch, wie alles in letzter Zeit. Ich habe das Gefühl, gelebt zu werden. Die Kopfschmerzen bringen mich fast um den Verstand. Ich schließe die Augen.

„Yamato, geht es dir nicht gut?“ Mit seiner Frage holt der Lehrer sich meine Aufmerksamkeit zurück. Mit halb geöffneten Augen blicke ich ihn an. „Du bist ganz blass.“

„Alles okay. Darf ich nur kurz zur Toilette gehen?“

„Ja, natürlich. Aber bist du sicher, dass du allein gehen kannst? Du siehst so aus, als würde dein Kreislauf gleich versagen. Ist dir schwindelig? Soll dich jemand begleiten?“ Er klingt aufrichtig besorgt.

„Danke, aber ich gehe allein“, entgegne ich leise und stehe auf. Das Hämmern in meinem Kopf verstärkt sich durch die Bewegung. Als ich am Tisch meines Klassenkameraden vorbeigehe, sehe ich im Augenwinkel, dass er mir einen fragenden Blick zuwirft. Ich ignoriere ihn und verlasse den Raum. Langsam schleppe ich mich über den Gang, betrete die Toiletten und schließe mich in einer Kabine ein. Kraftlos lehne ich mich mit dem Rücken gegen die Wand und rutsche an ihr herab. Die Fliesen sind kühl, sodass ich mich hinlege und abwechselnd meine Schläfen sowie meine Stirn dagegen presse. Ob Taichi gerade mit seiner Kommilitonin schläft? Trinkt er wirklich keinen Alkohol mehr? Immer wenn wir gegenwärtig zusammen sind, scheint er nüchtern zu sein, doch in letzter Zeit haben wir kaum Kontakt. Vielleicht ist das der Grund, weshalb er mir aus dem Weg geht. Er möchte nicht, dass ich mitbekomme, wann und wie viel er trinkt. Ich hasse mich für diese Gedanken. Eigentlich sollte ich meinem Freund vertrauen. Aber es fällt mir schwer. Zudem frage ich mich, ob ich ihm jemals wirklich vertraut habe. Zweifelte ich nicht schon immer aufgrund der Vergangenheit an seinen Gefühlen? Zumindest an seiner Liebe. Tief Luft holend drehe ich mich auf den Rücken und starre zur Decke. Ich halte es nicht mehr aus. Meine Gedanken treiben mich in den Wahnsinn. Ich will sterben. Endlich Ruhe vor mir selbst haben. Nur habe ich momentan weder eine Rasierklinge noch Tabletten oder Drogen bei mir. Ich verfluche mich, alle selbstschädigenden Verhaltensweisen mit einem Mal zu bekämpfen. Wenigstens eine dieser Möglichkeiten hätte ich mir offenhalten sollen. Für den Notfall. Ich überlege. Das Schuldach wäre eine Option, allerdings bin ich nicht einmal mehr in der Lage, mich zu erheben. Will ich überhaupt sterben? Jetzt? Hier? Auf diese Weise? Ohne über die Antwort nachzudenken, schließe ich meine Augen und gleite sanft in die ersehnte Bewusstlosigkeit.
 

Ein dumpfes, aber penetrantes Klopfen holt mich zurück in die Realität. Ich öffne die Augen und bin für einen kurzen Moment orientierungslos. Dann erkenne ich die Räumlichkeiten, auf deren kalten Fliesen ich mich befinde, und erinnere mich, wie ich hierherkam.

„Yamato, öffne die Tür! Yamato!“ Ich reibe mir über die geschlossenen Lider und versuche mich aufzusetzen. Mein Kopf dröhnt und ich presse meine Handballen gegen die Schläfen.

„Yamato, verdammt nochmal!“ Verzweifelt hämmert die Person auf der anderen Seite gegen das Holz. Benommen ziehe ich mich an der Klinke nach oben und drehe den Knauf, um das Schloss zu entriegeln. Sofort stößt mein Klassenkamerad die Tür auf und hält mich fest, da meine Beine nachzugeben drohen. Seine Kraft reicht jedoch nicht aus, sodass wir aneinandergeklammert zu Boden sinken. Sanft streicht er mir durch die Haare. Die Art und Weise seiner Berührungen sind mir mittlerweile vertraut, mein Körper reagiert darauf und verlangt nach mehr.

„Warum bist du hier?“, frage ich leise.

„Der Lehrer machte sich Sorgen, weil du nicht wiederkamst. Jemand sollte nach dir sehen.“ Ich gehe nicht weiter darauf ein und lehne mich mit der Stirn gegen die Schulter meines Mitschülers.

„Lass mich nicht los“, bitte ich mit brüchiger Stimme. Ich kralle meine Finger in den Stoff seiner Schuluniformjacke und drücke mich stärker an seinen Körper. „Ich kann nicht mehr. Ich packe das alles nicht. Nicht alleine. Taichi, der Entzug, unsere Beziehung, meine Gefühle für dich… das alles wächst mir über den Kopf. Ich fühle mich so hilflos, verdammt!“ Kraftlos rutsche ich etwas an ihm herab. Mein Klassenkamerad versucht mir Halt zu geben, indem er die Umarmung verstärkt.

„Was meinst du mit Entzug? Nimmt Taichi Drogen?“ Seine Frage klingt abwertend. Ich schüttle meinen Kopf, zucke allerdings aufgrund des Schmerzes durch die ruckartigen Bewegungen sofort zusammen.

„Alkohol.“ Mir ist bewusst, dass dies Themen und Probleme sind, die außer Tai und mich niemanden etwas angehen. Aber ich bin im Augenblick einfach überfordert und mit den Nerven am Ende. „Wenn ich mich von Freiern ficken lasse, dann…“

„Nimmst du Drogen? Und du verkaufst dich tatsächlich?“ Er schiebt mich etwas von sich, packt mich aber schmerzhaft hart an den Schultern und blickt mir verständnislos in die Augen.

„Ja, anders würde ich die überwiegend perversen und widerwärtigen Handlungen nicht ertragen können.“ Beschämt schaue ich zu Boden.

„Geht dein Wunsch nach Selbstverletzung und Erniedrigung wirklich so weit? Ich will gar nicht wissen, was du alles mit dir machen lässt, selbst tust oder wozu du vielleicht sogar gezwungen wirst. Ich kenne dieses Milieu und weiß, wie schmutzig es mitunter sein kann.“

„So schlimm ist es nicht. Vor allem, wenn man drauf ist, kann es für den Moment sogar sehr geil sein.“ Diese Aussage bekomme ich mit einer zwiebelnden Ohrfeige vergolten.

„Yamato, hörst du dir eigentlich selbst zu?“ Mein Mitschüler greift in meine Haare, zieht sie bestimmt nach hinten und zwingt mich ihn anzusehen. „Kein Wunder, dass ich oft das Gefühl habe, du würdest neben dir stehen.“

„Nein, in deiner Gegenwart stand ich noch nie unter Drogen. Immer habe ich mich dir mit und bei vollem Bewusstsein hingegeben.“ Ich lächle gequält. „Aber es ist nicht nur dieser Entzug, der mich in den Wahnsinn treibt. Ich habe mir vorgenommen mich von niemandem mehr ficken zu lassen, abgesehen von Taichi.“ Mein Gegenüber macht ein ernstes Gesicht.

„Gehst du mir deshalb aus dem Weg?“ Kaum merklich nicke ich und schließe meine Augen, um ihn nicht weiter ansehen zu müssen.

„Auch auf das Schneiden und die Tabletten verzichte ich. Mein Kopf scheint gleich zu explodieren, ich kann nicht mehr klar denken und der Wunsch zu sterben ist enorm. Doch ich bin nicht einmal mehr in der Lage, mir das Leben zu nehmen. Ich vegetiere vor mich hin und warte, dass es endlich vorbei ist. Und Taichi? Er ertränkt seine Probleme im Alkohol und vögelt fremde Frauen. Mir bleibt nichts, als dabei zuzuschauen. Ich habe keine Macht über meinen Freund und auch nicht das Recht, ihm Vorschriften zu machen, denn ich bin selbst nicht besser.“ Mein Körper zittert und die Worte kommen nur schwer über meine Lippen. Beruhigend streicht mir mein Klassenkamerad über den Rücken. Dann küsst er mich liebevoll auf den Mund. Ich höre, wie die Tür zu diesen Örtlichkeiten vom Flur aus geöffnet wird und mindestens zwei Jungen die Toiletten betreten. Sie unterhalten sich angeregt. Noch ehe ich mich von meinem Mitschüler lösen oder zumindest die Kabinentür schließen kann, verstummt das Gespräch der Beiden. Mein Klassenkamerad wird mit seiner Zunge fordernder, als läge er es darauf an, uns in eine prekäre Lage zu bringen. Ich bin unschlüssig, ob ich sein Spiel mitspielen soll oder ob es besser wäre, mich zu wehren. Letztlich lasse ich mich auf ihn ein und begegne ihm mit meinem lange aufgestauten Verlangen. Lüstern gleitet er mit seiner Hand zwischen meine Beine und bemerkt zufrieden meine deutliche Erregung. Ein sinnliches Stöhnen entweicht meiner Kehle, als er mit kräftigem Druck darüber streicht. Kurz unterbricht er den Kuss und schaut nach oben. Die beiden Jungen, vermutlich erstes Jahr, stehen mit einer Mischung aus Unglauben, Ekel und Faszination in ihren Gesichtern vor der Kabine und schauen auf uns herab.

„Was wollt ihr? Verzieht euch endlich!“, raunt mein Mitschüler in gereiztem Ton. Erschreckt schauen die Jungs ihn an, dann zeigt der größere ihm den Mittelfinger. Als sie sich zum Gehen wenden, dreht der sich noch einmal um.

„Widerliche Schwuchteln“, höre ich ihn sagen, dann fällt die Tür ins Schloss und ich bin wieder mit meinem Klassenkameraden allein.

„Dämliche Penner“, flucht er. „Manchmal frage ich mich, wie es sich ohne Hirn lebt. Muss echt angenehm sein.“ Ich lache, doch mein Mitschüler sieht mich ernst an. „Du wirst mir gehören. Ich werde dich ihm wegnehmen.“ Mein Lachen stirbt ab.

„Was?“, frage ich verwirrt.

„Taichi ist ein einfältiger, stumpfsinniger Idiot. Ein Alkoholiker, der zudem auf Frauen steht. Was willst du von so einem? Ich lasse nicht zu, dass du an deinen Gefühlen für ihn zugrunde gehst. Du liebst ihn, aber liebt er auch dich?“ Wütend starre ich ihn an und ziehe ihn am Kragen nah zu mir. Sein Gesicht ist so dicht vor meinem, dass ich den warmen Atem meines Gegenübers auf der Haut spüren kann.

„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du Taichi aus dem Spiel lassen sollst? Ich…“

„Es ist aber kein Spiel mehr, Yamato.“ Geschickt verdreht er meine Hand, damit ich meinen Griff von ihm löse. „Ich liebe dich.“ Er drückt mir einen verlangenden Kuss auf die Lippen, während er mich mit dem Rücken gegen die Wand drängt und mit seinen Fingern meine Hose öffnet. Ich drehe meinen Kopf zur Seite, um mich seinen Zärtlichkeiten zu entziehen.

„Hör auf“, befehle ich ihm.

„Nein.“ Mit seiner Hand gleitet er in meine Shorts. Meine Gegenwehr wird sofort energischer und ich versuche ihn von mir zu stoßen.

„Lass mich los, verdammt!“, zische ich ihn hasserfüllt an, doch mein Klassenkamerad ignoriert meine Aufforderung, zieht meine Hosen nach unten und öffnet seine eigene. Mein Kopfschmerz wird unerträglich. Ich schließe die Augen.

„Ich liebe dich, Yamato.“ Zärtlich drückt er mir einen Kuss auf die Stirn und dringt gefühlvoll in mich ein. Halt suchend schlinge ich meine Arme um den Hals meines Mitschülers und lasse mich auf den Rhythmus seiner Stöße ein. Tränen laufen mir über die Wangen, während lauter werdendes Stöhnen meiner Kehle entweicht.

„Lass mich dich spüren. Ich habe mich nach dir gesehnt“, flüstere ich.

„Dann töte deine Liebe zu Taichi. Er kann dich nicht glücklich machen.“
 

Die Worte meines Mitschülers kreisen unaufhörlich wie eine Beschwörungsformel in meinem Kopf, brennen sich in meine Gedanken und verwirren meine Gefühle. Ich schließe die Wohnungstür auf, ziehe meine Schuhe aus und gehe direkt in mein Zimmer. Dort werfe ich die Schultasche in eine Ecke und lasse mich auf das Bett fallen. Mit meinen Händen bedecke ich mein Gesicht. Warum bringen mich die Aussagen meines Klassenkameraden so sehr aus der Fassung? Es sind nicht meine Gefühle für Taichi, an denen ich zweifle. Aber ich denke, dass es ihm ohne mich besser gehen würde. Es geht nicht darum, ob er mich glücklich machen kann, sondern was ich ihm geben kann. Doch außer Verzweiflung und einem tiefschwarzen Abgrund bleibt nichts. Mühsam stehe ich auf und schalte meinen CD-Player ein, dann öffne ich das Fenster. Ich entzünde eine Zigarette. Abwesend ziehe ich daran.
 

In all diesen Stunden, wir waren uns so fremd

Viel tiefer die Wunden als man es erkennt

Ich wollte nicht schweigen, ich konnte nicht gehen

Sah dir in die Augen und konnte dich sehen
 

Dort wo die Einsamkeit beginnt

wo wir unvollkommen sind

Wo die Sehnsucht uns erfasst

Und die Welt langsam verblasst
 

Die kleinen Versprechen, die man sich geschworen

Die Unschuld des Lebens ging in uns verloren

Es gibt keine Schuld, nur die Hoffnung auf Glück

Und jeder bleibt für sich allein zurück
 

Ich inhaliere den Rauch ein letztes Mal tief in meine Lungen und werfe den Rest der Zigarette nach draußen. Als ich nach Hause kam, sah ich Tais Schuhe im Eingangsbereich stehen. Vermutlich ist er in seinem Zimmer. Ich schließe das Fenster wieder und verlasse den Raum, um in der Küche Kaffee zu kochen, in der Hoffnung, durch das Koffein die Kopfschmerzen etwas eindämmen zu können. Warum nehme ich nicht einfach wieder Tabletten? Ist es letztlich nicht sowieso egal? Resigniert nehme ich eine Tasse aus dem Schrank und fülle sie mit der fast schwarzen Flüssigkeit. Auf dem halben Weg zurück, im Flur, bleibe ich stehen. Langsam gehe ich zum Wohnzimmer und spähe hinein. Der Raum ist verlassen. Ich wende mich zur Tür von Tais Zimmer. Vorsichtig öffne ich sie. Mein Freund liegt auf seinem Bett und scheint zu schlafen. Ich stelle meine Tasse auf seinen Schreibtisch, auf dem etliche Bücher, lose Blätter und weitere Schreibutensilien verstreut liegen. Offenbar arbeitet er an mehreren Sachverhalten gleichzeitig, denn ich sehe in einem Hefter begonnene Ausführungen zu verschiedenen Trainingsmethoden, daneben liegen Arbeitsblätter über funktionelle Anatomie, Bewegungskontrolle und psychomotorisches Verhalten sowie Bücher zum Thema Sportmedizin. Eine halb ausgetrunkene Tasse mit kaltem Kaffee steht inmitten dieser Unordnung. Ich wende mich ab und setzte mich auf das Bett neben den reglosen Körper meines Freundes. Er ist mir mit dem Rücken zugewandt, sodass ich sein Gesicht nicht sehe. Vorsichtig streiche ich über Tais Arm. Keine Reaktion. Ich beuge mich leicht über meinen Freund. Seine Augen sind geschlossen, seine Atmung ist ruhig. Ein schwacher Alkoholgeruch steigt in meine Nase. Er trinkt also tatsächlich noch.

„Ich vermisse dich. Ich fühle mich so schrecklich einsam ohne dich.“ Liebevoll streiche ich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Taichi ist schön. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Seufzend berühre ich mit meiner Stirn die Schulter meines Freundes. Eine Weile verharre ich in dieser Position und genieße Tais schmerzende Nähe. Der Plan, den ich seit einiger Zeit in meinem Hinterkopf fest verankert habe, kommt mir wieder ins Bewusstsein. Es ist mittlerweile sowieso alles egal. Ich bin müde. Vielleicht ist jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt, ihn umzusetzen. Eigentlich wollte ich Taichi töten, bevor ich Selbstmord begehe. Auch er sollte sterben. Ich will ihn nicht teilen, aber letztlich habe ich nicht das Recht, über sein Leben zu entscheiden. Ich muss ihn freigeben, damit er zurück ins Leben finden kann. Zu weit habe ich meinen Freund in den Abgrund getrieben. Sanft hauche ich Tai einen Kuss auf seine Schläfe.

„Ich liebe dich! Ich liebe dich, Taichi Yagami! Bitte, werde glücklich.“ Vorsichtig stehe ich auf und schließe behutsam hinter mir die Tür zum Zimmer meines Freundes.
 

Kühler Wind streichelt sanft über meine Haut, bringt meine Haare durcheinander. Schützend umhüllt er mich, doch gleichzeitig zieht er an mir, als wollte er mich mit sich reißen. Langsam gehe ich noch ein paar Schritte auf den 238 Meter tiefen Abgrund zu. Der Blick über Tokyo ist atemberaubend schön. Diese Stadt erstreckt sich bis zum Horizont, unzählige Menschen leben hier jeden Tag stur vor sich hin und warten letztlich nur auf ihren Tod. Ich hole aus meiner Jackentasche das kleine Fläschchen mit dem durchsichtigen Glück. Bedächtig halte ich es zwischen Daumen und Zeigefinger gegen die Sonne, kneife ein Auge zu und blicke mit dem anderen durch das braune Glas. Der Inhalt misst weniger als ein Viertel, aber es dürfte reichen, um eine enthemmende Wirkung zu erzielen. Ich atme tief durch. Dann mache ich noch einige Schritte nach vorn, nur um sofort wieder zurückzugehen. Mir ist schwindelig. Ich lege mich auf die von der Sonne erwärmten Betonplatten des Hubschrauberlandeplatzes und starre in den graublauen Himmel, der von Wolken durchzogen ist. Kaum merklich ziehen sie vorbei. Ich schließe meine Augen. Die Kopfschmerzen weichen einem Liedtext, der sich in meine Gedanken brennt. Ich öffne meine Lippen, um ein letztes Mal meine Stimme zu hören. In die Zeilen lege ich Gefühle wie Schwermut, Erleichterung, Liebe und Verzweiflung, meine Gedanken an Taichi und das ersehnte Ende.
 

Alles in weiter Ferne

Alles wirkt so verschwommen

Ein seltsamer Drang von Innen

Ich fühle mich wie benommen
 

Und es sticht in meinem Herzen

Die Leere in mir drinnen

Und es rauscht in meiner Seele

Und verschleiert jeden Sinn
 

Ich tauche langsam ein

In das Abendrot

Im Morgengrauen, dort wartet

Ein sanfter Tod
 

Alles im Strom der Zeiten

Alles dreht sich im Kreis

Und es bleibt nur ein Lächeln

Jenseits der Ewigkeit
 

Und ich gleite in die Tiefe

Um mich selber zu verlieren

Um dort an der letzten Grenze

Einen Moment zu existieren
 

Die letzten Worte kamen nur noch flüsternd über meine Lippen. Mit einem Mal weicht die Leichtigkeit einer diffusen Angst. Ich krümme mich zusammen. Wütend schlage ich mit meiner Faust auf den Boden. Immer und immer wieder. Ich will den Schmerz spüren. Er hält mich am Leben. Aber wozu, wenn ich doch sterben möchte? Mühsam erhebe ich mich und gehe Schritt für Schritt zum Rand des Daches. Ich schaue auf meine Hand, die noch immer das BDO fest umklammert. Es ist nicht schwer. Ich muss nur diese Droge, wie schon oft zuvor, konsumieren und einen kleinen Moment bis zum Wirkungseintritt warten. Dann bin ich bereit zu fliegen. Vierundfünfzig Stockwerke entlang des Roppongi Hills Mori Tower in die Tiefe. Das kurze Gefühl bis zur Ohnmacht muss unbeschreiblich sein. Ich schließe die Augen und breite meine Arme aus. Gleich ist es vorbei. Noch ein letztes Mal sehe ich in den Himmel. Als ich meinen Blick senke, überkommen mich erneut Schwindelgefühle. Ich zittere. Meine Kleidung klebt durch den kalten Schweiß an meinem Körper. Vorsichtig gehe ich ein Stück zurück, weg vom Rand. Dann breche ich weinend zusammen. Ich kann es nicht. Ich schaffe es nicht, mich physisch zu töten, obwohl ich sterben möchte. So einfach ist es nicht. Laut schreie ich unter Tränen verzweifelt meinen Schmerz hinaus.

„Taichi, bitte hilf mir!“ Meine Stimme stirbt ab.
 

„Es ist spät, Yamato.“ Ich zucke zusammen, als die Stimme meines Freundes an meine Ohren dringt. Mit einem leisen Klacken fällt die Wohnungstür hinter mir ins Schloss. Ich betätige den Lichtschalter. Tai sitzt im Flur auf dem Boden, zusammengekauert und mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. „Hast du dich wieder von einem Freier durchvögeln lassen? Oder war es dieser kleine Wichser aus deiner Klasse?“ Ruhig lege ich meinen Schlüssel auf die Kommode und ziehe meine Schuhe aus.

„Und du? Hast du wieder getrunken?“, frage ich beiläufig, da ich die Antwort bereits heute Nachmittag erhalten habe. „Oder hast du einmal mehr mit diesem Mädchen geschlafen?“ Ich sehe meinen Freund müde an. Dieser erwidert meinen Blick und steht schwerfällig auf. Langsam gehe ich auf ihn zu und bleibe dicht vor ihm stehen. „Du hast aufgegeben, habe ich recht? Dich selbst, unsere Beziehung und mich.“ Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. Tai schaut zu Boden, doch sanft hebe ich seinen Kopf am Kinn wieder an. „Nein, Taichi. Sieh mich an. Sag mir ins Gesicht, dass du uns aufgegeben hast. Denn dann wird alles ganz einfach. Dann gibt es wirklich kein Zurück.“ Sehnsuchtsvoll streichle ich über den Hals meines Freundes. „Nur ein paar kleine Worte von dir…“ Die Entschlossenheit, die mir vorhin zum Sprung fehlte, spüre ich nun ganz deutlich.

„Was soll das? Schaffst du es nicht ohne mich, dir das Leben zu nehmen?“ Aus kalten, glasigen Augen blickt er mich an. „Stirb allein, Yamato.“ Ohne eine Regung stehe ich vor Taichi, nur meine Atmung ist beschleunigt und mein Herz schlägt schneller.

„Was ist? Fällt es dir doch nicht so leicht, selbst wenn ich dich freigebe? Bin wirklich ich es, der dich am Leben hält? Ich denke nicht. Das bist du selbst. Ich bin ziemlich machtlos, was deine Suizidalität betrifft. Falls dein Wille zu leben gänzlich erlischt, kann dich niemand retten, da du es verhindern würdest. Du weißt genau, wie du vorgehen musst, um zu sterben. Vielleicht hast du sogar einen Plan. Ich habe Angst vor diesem Tag und hoffe, dass er niemals kommen wird.“ Tränen laufen über die Wangen meines Freundes, trotzdem gelingt es mir nicht, mich aus meiner Starre zu lösen. Allerdings lächle ich.

„Der Tag wird kommen. Merkst du nicht, dass wir uns nur im Kreis drehen? Jetzt reden wir halbwegs vernünftig miteinander, sehen unsere Probleme klarer, wollen sie lösen, etwas ändern. Doch wie lange dauert es, bis wir einmal mehr an uns selbst zerbrechen? Reicht es nicht langsam? Willst du wirklich weitere Runden drehen?“ Liebevoll zieht Tai mich zu sich und umfängt mich mit seinen Armen. Noch immer nehme ich einen leichten Alkoholgeruch an ihm wahr.

„Du fühlst nur die Extreme, deshalb verzweifelst du auch so schnell. Aber du verzweifelst nicht am Leben, sondern lediglich an dir selbst. Und im Grunde weißt du das. Dennoch schaffst du es, deiner lebensmüden Seite entgegenzuwirken. Du bist stark genug. Auch ohne mich.“ Heftig stoße ich meinen Freund von mir, sodass er fast das Gleichgewicht verliert.

„Warum tust du das? Warum sprichst du mir ständig meine Gefühle für dich ab? Du negierst sie, indem du behauptest, ich würde dich nicht brauchen. Ich weiß, dass mein Verhalten meiner Glaubwürdigkeit nicht unbedingt zuträglich ist. Aber…“ Meine Stimme versagt und ich kann meine Tränen nicht länger zurückhalten. „Was soll ich tun, Taichi? Was soll ich tun, verdammt?“ Mein Gegenüber kommt einen Schritt auf mich zu, doch ich weiche zurück. „Nein, ich möchte eine Antwort. Wie schaffe ich es, mich zu ändern? Wie gewinne ich gegen mich selbst?“ Verzweifelt schreie ich ihn an.

„Es ist tatsächlich schwer, dir zu glauben. Durch deine Zerrissenheit bist du voller Widersprüche. Nicht immer ist es einfach, mit dir umzugehen, und du machst es einem oft auch nicht leichter, im Gegenteil. Dennoch will ich dich nicht ändern. Ich liebe dich, Yamato. In deiner ganzen Kompliziertheit. Allerdings sehe ich, dass du an dir selbst zerbrichst, und ich frage mich, welche Vorgehensweisen richtig sind. Du wandelst auf einer Grenzlinie und gerätst dabei ständig ins Wanken. Das wird vermutlich nie anders. Wie du bereits sagtest, ein endloser Kreis. Mit jeder Diskussion sind wir keinen Schritt weiter. Aber was wollen wir mit unseren Worten eigentlich erreichen? Uns der Illusion hingeben, dass alles gut werden kann? Dass es Lösungen für alles gibt? Nein, das würde an Naivität grenzen. Doch auch wenn die Unterhaltungen sinnlos erscheinen, haben sie eine wichtige Funktion. Wir geben uns dadurch gegenseitig Halt. Zudem dämmen sie deine akute Suizidalität ein. Und wir nähern uns einander an.“ Mein Freund hebt seine Hand und wischt behutsam über mein Gesicht. Seine eigenen Tränen sind bereits von allein getrocknet. Sanft küsst er mich auf den Mund. „Deine Lippen schmecken salzig“, flüstert er.

„Und deine nach Alkohol.“ Beschämt blickt Tai zur Seite. „Aber ich bin erstaunt, dass du trotzdem noch relativ klar denken kannst.“

„Ich habe nicht viel getrunken.“

„Das ist nicht das Problem und das weißt du.“ Ich schaue ihn traurig an. „Du hast mehrfach versucht zu entziehen, bist allerdings jedes Mal rückfällig geworden, nicht wahr? Darf ich dich etwas fragen?“ Mein Freund nickt, sieht mich aber weiterhin nicht an. „Ist es noch immer ausschließlich meine Schuld, wenn du dich mit Alkohol betäubst? Oder bin ich mittlerweile zugleich eine Entschuldigung?“ Taichi schweigt. Resigniert schüttle ich den Kopf.

„Ich bitte dich, sieh deine Abhängigkeit ein und die Tatsache, dass du den Entzug nicht allein schaffen kannst.“ Ein bitteres Lächeln legt sich auf die Lippen meines Freundes.

„Willst du mir etwa helfen? Wie soll das funktionieren? Du bist labil, zudem selbst drogen- und medikamentenabhängig.“

„Ja, aber nicht akut.“ Tai lacht laut auf.

„Was ist das für ein Blödsinn? Drogenabhängig ist drogenabhängig. Da gibt es kein akut, latent, rezidivierend oder chronisch.“

„Ich wollte damit nur sagen, dass ich meine Sucht im Gegensatz zu dir unter Kontrolle habe“, entgegne ich verärgert.

„Und was unterscheidet dich jetzt von mir? Du siehst deine Abhängigkeit auch nicht wirklich.“

„Verdammt nochmal, Taichi! Darum geht es doch gar nicht! Begreifst du nicht? Ich will dich nicht endgültig an diesen scheiß Alkohol verlieren!“, schreie ich aufgebracht, beruhige mich jedoch sofort und lehne mich mit der Stirn gegen den Brustkorb meines Freundes. „Ich liebe dich und mache mir furchtbare Sorgen um dich. Aber wohin soll ich mit meiner Angst, wenn ich alle schädigenden Verhaltensweisen unterlasse? Wie soll ich es ertragen, dich bei deiner Selbstzerstörung zu beobachten? Langsam werde ich wahnsinnig, Taichi. Ich frage mich, warum der gegenseitige Halt nicht ausreicht. Warum ist da unentwegt dieser Abgrund?“ Ich hebe meinen Kopf und schaue meinen Freund ernst an. „Merkst du eigentlich, dass ich längst nicht mehr der Einzige bin, der unsere Beziehung erschwert?“ Tais Miene wirkt betroffen und schuldbewusst. Eine unangenehme Pause entsteht. Ich atme tief durch. „Okay, ich möchte, dass du noch heute den kompletten Alkohol, der sich in dieser Wohnung befindet, auf den Tisch in der Küche stellst.“ Erschöpft gehe ich an ihm vorbei in Richtung meines Zimmers. Als ich meine Tür öffne, drehe ich mich noch einmal zu meinem Freund um. „Taichi, ich vertraue dir.“
 

Abwesend an die Decke starrend liege ich auf meinem Bett. Die Unterhaltung von gestern mit meinem Freund schwirrt noch immer in meinem Kopf herum und lässt mich nicht los. Wie Tai bemerkte, enden unsere Gespräche im Nichts. Was hat es also gebracht? Wie soll es weitergehen? Ich habe ihm im Bezug auf den Alkohol eine klare Ansage gemacht, dabei bin ich mir selbst nicht sicher, ob ich wirklich in der Lage bin, ihn zu unterstützen. In der Wohnung ist es mir möglich, meinen Freund zu kontrollieren, aber ich kann ihn nicht überallhin begleiten. Zudem widerstrebt es mir, Kontrolle auf ihn auszuüben, da ich aus eigener Erfahrung weiß, wie unangenehm das ist. Doch wenn ich ihm wirklich helfen will, ist diese Maßnahme unumgänglich, auch wenn ich es unter Umständen mit Tais Hass quittiert bekomme. Ohne weiteres kam er gestern zwar meiner Bitte nach und händigte mir den Alkohol aus, doch ich bezweifle, dass er mir wirklich alle Flaschen zukommen ließ. Nachdenklich drehe ich mich auf die Seite und winkle meine Beine etwas an. Den Entzug auf diese Weise durchzuführen ist ein Risiko, welches ich eingehen muss, obwohl ich weiß, dass es nicht gut gehen kann. Ich muss tatsächlich wahnsinnig sein, diese Problematik allein mit meinem Freund bewältigen zu wollen. Allerdings gibt es keine andere Möglichkeit, die ich gutheißen und akzeptieren würde. Die Klinik ist derzeit keine Option, die Familie von Tai ebenfalls nicht. Und mein Vater? Er kennt Tais selbstschädigende Neigungen nicht. Niemals würde er uns weiterhin allein lassen, wenn er wüsste, was in der Zeit seiner Abwesenheit alles passiert ist. Müde schließe ich meine Augen. Wir müssen die Probleme in den Griff bekommen, bevor mein Vater für die Zeit seines Urlaubs nach Japan zurückkehrt. Falls es uns nicht gelingt, wird er Taichis Eltern über den Sachverhalt in Kenntnis setzen und dafür sorgen, dass wir beide in eine Entzugsklinik eingewiesen werden. Er wird kein Verständnis und keine Nachsicht mehr zeigen. Sollte er zudem von meiner derzeit hohen Suizidalität, dem Plan und dessen gescheiterter Umsetzung erfahren, käme ich wahrscheinlich zunächst auf die geschlossene Station. Ich merke, dass ich zittere. Mir ist kalt, dennoch decke ich mich nicht zu. Erneut frage ich mich, warum ich nicht gesprungen bin. Es wäre doch ganz einfach gewesen. So einfach. Hätte ich mich mit der Droge enthemmt, wäre der letzte Schritt ganz leicht gewesen. Warum nur war ich gehemmt mich zu enthemmen? Hat Taichi recht? Ist es nicht so einfach zu sterben, wenn ein Teil von mir nicht sterben will? Ich krümme mich weiter zusammen, um mich mit meiner eigenen Körpertemperatur zu wärmen. Ein Gefühl der Einsamkeit ergreift Besitz von mir, ich fühle mich allein. Meine Gedanken driften zu meinem Klassenkameraden. Bei ihm könnte ich Ablenkung und ein wenig Halt finden. Ich will ihn spüren und alles vergessen. Außer Taichi. Egal wie oft ich es versuche, er ist wie eingebrannt. Tief in mir. Ein Stigma, welches schmerzt und zugleich beruhigt. Ich hatte meinen Freund einmal als eine Art Geschwür bezeichnet, krankhaftes Gewebe. Es stimmt. Er ist tatsächlich wie wucherndes Fleisch, das mittlerweile lebenswichtige Organe befallen hat. Eine Heilung ist somit nicht mehr möglich. Zu stark hat er mich inzwischen vereinnahmt. Mein Zittern verstärkt sich. Nervös setze ich mich auf. Das Verlangen, mir zu schaden, wird übermächtig, sodass ich es nicht mehr ignorieren kann. Ich muss ihm nachgeben. Hektisch schaue ich mich im Zimmer um. Die Rasierklingen habe ich weggeworfen, um leichter mit dem Schneiden aufhören zu können. Mein Tablettenvorrat ist so gut wie aufgebraucht, aus Selbstschutz habe ich ihn nicht mehr aufgestockt. Das Fläschchen BDO ist ebenfalls fast leer, wie ich auf dem Hubschrauberlandeplatz des Mori Tower bereits feststellen musste. Ich konnte mir allerdings in letzter Zeit kein neues beschaffen, da ich länger nicht in Shibuya war. Die Droge bekomme ich von einem Freier, der sie mir statt Geld als Bezahlung für meinen Körper gibt. Wenn ich Tai aber nicht noch weiter in den Abgrund reißen möchte, sollte ich darauf verzichten, mich von einem Anderen ficken zu lassen. Außerdem will ich ihm keinen Grund mehr geben, zum Alkohol zu greifen. Unruhig stehe ich auf und gehe zum Fenster, um mir eine Zigarette anzuzünden. Entnervt registriere ich, dass die Schachtel so gut wie leer ist. Ich bin froh, dass mein Vater mir seinen TASPO überlassen hat, somit erübrigt sich der Stress bezüglich der Volljährigkeit. Zwar weigerte er sich zunächst, erkannte aber schnell die Kläglichkeit seines Versuches, mich vom Rauchen abzuhalten, und gab schließlich nach. Nur am Rande meiner Wahrnehmung registriere ich, dass es an der Tür klingelt. Gierig ziehe ich an der Zigarette und den Rauch tief in meine Lungen, bis sie zu schmerzen beginnen. Mir kommt eine weitere Möglichkeit in den Sinn. Meine verschriebenen Psychopharmaka. Als mein Vater nach Berlin ging, bat er meinen Freund, die Tabletten sicher zu verwahren und mir zuzuteilen. Ich protestierte nicht, denn ich kenne die Verstecke der einzelnen Medikamente. Gelegentlich prüfe ich nach, nur für den Notfall, ob Tai etwas verändert hat, aber anscheinend rechnet er nicht mit meinem Wissen, denn die Aufbewahrungsorte sind noch immer die von meinem Vater. Nur wird es problematisch, einzelne Schachteln unbemerkt an mich zu nehmen. Erst recht, wenn Taichi zu Hause ist. Seufzend verwerfe ich den Gedanken und ziehe mehrfach an der Zigarette. Ich könnte die Reste der Substanzen kombinieren, die mir noch zur Verfügung stehen, allerdings sind die Folgen nicht abschätzbar. Vor allem, da BDO eigentlich nur rein und nicht kombiniert eingenommen werden sollte. Offenbar bleibt mir momentan nur das Rauchen. Ein Effekt ist hierbei jedoch kaum spürbar. Es beruhigt lediglich ein wenig. Nikotin ist zwar ein starkes Nervengift, in dieser Form hingegen tötet es nur sehr langsam. Wenn überhaupt. Ich werfe die heruntergebrannte Zigarette aus dem Fenster. Meine Anspannung ist unverändert, doch ich weiß ihr nichts entgegenzusetzen. Unruhig und unentschlossen stehe ich in meinem Zimmer, lasse meinen Blick ziellos durch den Raum irren. Er bleibt an meiner Gitarre haften. Zielgerichtet gehe ich auf sie zu, löse sie aus ihrer Halterung und setze mich auf das Bett. Sachte schlage ich ein paar Akkorde an. Das Instrument ist leicht verstimmt. Immer wieder drehe ich an den Stimmmechaniken, um die Spannung der Saiten zu verändern, spiele, justiere nach, doch ich bekomme es nicht hin, die richtigen Töne einzustellen. Frustriert werfe ich die Gitarre vor mich auf den Boden. Von Selbsthass gequält vergrabe ich meine Hände in den Haaren und kralle sie darin fest. Es klopft, fast gleichzeitig öffnet mein Freund die Tür. Als er die Situation erfasst, sieht er betroffen zu mir, sagt aber nichts. Sein Gesichtsausdruck spiegelt aber noch etwas anderes wider. Ich ignoriere es. Völlig überfordert stehe ich auf.

„Ich muss hier raus.“ Schnell zwänge ich mich an Taichi vorbei in den Flur. Am Eingang ziehe ich meine Schuhe an.

„Zu einem Freier? Oder deinem…“

„Zigaretten kaufen“, unterbreche ich ihn unwirsch. Genervt und zugleich herausfordernd blicke ich ihm in die Augen. „Begleite mich, wenn du mir nicht vertraust.“
 

Langsam und schweigend laufen wir die Straße entlang. Es ist später Nachmittag, aber die Dämmerung hat noch nicht eingesetzt. Menschen eilen hastig an uns vorbei, ohne auf meinen Freund oder mich zu achten. Jeder ist sich selbst der Nächste. Ich verfluche meine Dummheit, genau zur Hauptverkehrszeit die Wohnung verlassen zu haben. Würde diese sich in Shinjuku oder Shibuya und nicht in Odaiba befinden, wäre mir das vermutlich nicht passiert, denn in diesen Vierteln muss man wirklich Philanthrop sein, um überleben zu können. Ich bin allerdings eher Misanthrop und dadurch eigentlich kaum geeignet in einer Millionenmetropole wie Tokyo zu leben. Andererseits genießt man in der Stadt eine gewisse Anonymität, die in ländlichen Gegenden undenkbar wäre. Wir biegen um eine Ecke. Tai scheint zu wissen, welchen Zigarettenautomaten ich als Ziel habe, obwohl sich in der anderen Richtung ein nähergelegener Automat befindet. Ich wähle dennoch meist den längeren Weg, da es außer der Zigaretten noch einen Getränkeautomaten gibt, an dem ich mir für den Rückweg eine Dose heiße Matcha Latte ziehe. In dieser Gegend ist es der einzige, mir bekannte Automat, der Matcha Latte im Angebot hat. Diesen süßlich-herben, leicht grasigen Geschmack des Grünteepulvers mag ich außer in Milch aber auch in Schokolade und Gebäck. Ich schaue zu meinem Freund, doch der blickt stur geradeaus. Die gesamte Situation wirkt auf mich irreal und befremdlich.

„Sie ist blond und hat blaue Augen. Wie du“, durchbricht Tai plötzlich unser Schweigen.

„Was?“ Irritiert bleibe ich stehen. Mit dem Rücken zu mir gewandt hält auch er inne.

„Die Frau, mit der ich schlafe, sie ist…“

„Sei still!“, unterbreche ich ihn beinahe panisch. „Warum erzählst du mir das? Ich will es nicht wissen!“ Meine Stimme überschlägt sich und ich schreie ihn an. Einige Passanten richten ihre Aufmerksamkeit kurz auf uns, manche schütteln sogar verständnislos den Kopf. Mein Freund hat sich noch immer nicht zu mir umgedreht. „Sieh mich gefälligst an, verdammt!“ Ich trete von hinten an ihn heran und umfasse sein Handgelenk, doch durch seine unerbittliche Haltung gibt er mir zu verstehen, dass er meiner Aufforderung nicht nachkommen wird. „Es ist Absicht, nicht wahr?“, flüstere ich dicht an seinem Ohr. „Du willst mir wehtun. Mit deinen Worten, deinen Handlungen… warum, Taichi?“ Ohne zu antworten geht dieser weiter. Fassungslos starre ich ihm hinterher, nicht fähig eine Reaktion zu zeigen. Ich verliere meinen Freund aus den Augen.



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