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So einfach

Yamato Ishida x Taichi Yagami / Hiroaki Ishida x Yamato Ishida
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Die Liedtexte von "Nur ein Tag", "Du fragst nicht mehr", "Die Welt kann warten", "In der Tiefe" sowie "Falscher Glanz" gehören Zeraphine. Mit der Verwendung möchte ich keinerlei Urheberrechte verletzen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Die Liedtexte von "Lieber allein" und "Kaltes Herz" gehören Zeraphine. Mit der Verwendung möchte ich keinerlei Urheberrechte verletzen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Die Liedtexte von "Siamesische Einsamkeit" und "Die Wirklichkeit" gehören Zeraphine. Der Liedtext von "Eisige Wirklichkeit" gehört ASP. Mit der Verwendung möchte ich keinerlei Urheberrechte verletzen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Der Liedtext von "Flieg mit dem Wind" ist vom deutschen Soundtrack zu Digimon Adventure Zero Two. Mit der Verwendung möchte ich keinerlei Urheberrechte verletzen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Die Liedtexte von "Wo die Einsamkeit beginnt" und "Sanfter Tod" gehören Mantus. Mit der Verwendung möchte ich keinerlei Urheberrechte verletzen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Der Liedtext von "Unser Stern" ist vom deutschen Soundtrack zu Digimon Adventure. Mit der Verwendung möchte ich keinerlei Urheberrechte verletzen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Der verwendete Text am Ende der Geschichte stammt von Minami Ozaki und ist ein Zitat aus dem neunten Band von "Bronze - Zetsuai since 1989". Mit der Verwendung möchte ich keinerlei Urheberrechte verletzen. Komplett anzeigen

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So Einfach
 

Die Abartigkeit meiner selbst wird mir wieder einmal deutlich bewusst, als ich die Narben auf meiner Haut betrachte. Finde ich sie schön? Oder abstoßend? Jedenfalls erinnern sie mich. Daran, dass ich leben will. Dass es immer weitergeht. Aber geht es das wirklich? Oder ist am Ende doch alles sinnlos? Sicher, denn es ist egal, was wir tun. Das Ende ist immer das gleiche.

Es klingelt. Schwerfällig erhebe ich mich von meinem Bett. Ich schaue zur Uhr. Das wird Tai sein, wie immer um diese Zeit. Wie jeden Tag.

Ich überlege kurz, mir ein Hemd überzuziehen, lasse es aber. Tai ist den Anblick meines Körpers schon gewohnt. Und ich mag es, wenn seine Augen mich immer wieder unbewusst mustern, um die Zeichen, seine Zeichen, zu betrachten.

Langsam gehe ich den Flur entlang. Bedächtig, um das Pulsieren in meinem Kopf nicht zu verstärken.

Als ich die Tür öffne, schaue ich direkt in die braunen Augen Tais. Schnell senke ich den Blick.

„Komm rein.“ Ich wende mich ab und gehe in die Küche, um Kaffee zu kochen.
 

„Danke.“ Die Antwort von Tai kommt automatisch, als ich ihm die Tasse reiche. Dann schließe ich die Tür meines Zimmers, setze mich auf den Stuhl an meinem Schreibtisch und versuche beschäftigt zu wirken. Mein Freund hat auf dem Bett Platz genommen, wie immer. Ich spüre seinen Blick in meinem Rücken. Es macht mich irre, doch ich sage nichts.

Das Ticken der Uhr scheint immer lauter zu werden. Unerträglich laut. Angespannt stehe ich auf und schalte den CD-Player ein.
 

Zwischen mir und den Tagen dieser Ewigkeit

Versperren Mauern mir den Weg

Wenn nichts als Leere übrig bleibt

Erinnerung, Besessenheit

Auf der Suche nach dem zweiten Ich verbrannt
 

„Mach es aus!“, schreit Tai mich plötzlich an. Ein Schauer durchfährt meine Glieder und ich drehe mich langsam zu ihm um. Seine Augen fixieren mich. In seinem Gesicht spiegelt sich unendlicher Schmerz wider.

Ich schalte die Musik ab und lasse ihn in meinem Zimmer allein zurück.
 

Der Kopfschmerz wird stärker, als ich schwer atmend die Küche betrete. Was war das gerade? Weshalb hat er mich so angesehen? Gefühle. Verdammt, warum waren da Gefühle? Ich darf es nicht zulassen, nicht noch einmal. Weder von meiner noch von seiner Seite. So einfach ist es nicht. Ich kann ihn nicht lieben. Er kann mich nicht lieben. Wir sind nicht fähig zu solchen Gefühlen. Wir sind zu gar keinen Gefühlen fähig und doch spüren wir so unendlich viel. Es tut weh. Ich will es töten. Alles in mir. Jeden noch so kleinen Schmerz, jedes Gefühl. Und doch will ich fühlen. Ich will nicht tot sein. Nicht innerlich, wenn die Hülle noch lebt.

Ich spüre das Pulsieren in meinen Adern. Es macht mich wahnsinnig, doch es gehört zu mir. Ich identifiziere mich damit. Ohne wäre ich unvollständig. Genau wie ohne Tai. Er ist wie ein Teil von mir. Wie krankhaftes Gewebe, wie befallene Organe, die man dennoch zum Leben braucht. Man lernt, mit der Behinderung umzugehen, mit ihr zu leben. Sie gehört dazu. Sie macht einen aus. Man selbst ist die Krankheit. Vielleicht ist sie heilbar. Das faule Fleisch operativ entfernbar. Aber dann wäre man nicht mehr man selbst. Ich wäre nicht mehr ich.
 

Ich betrete das Badezimmer und drehe hinter mir den Schlüssel im Schloss. Meine Hände zittern. Ich bekomme kaum Luft. Es fühlt sich an, als würde mir jemand die Kehle abdrücken. Mir wird schwindelig und ich sacke langsam zu Boden. Ich spüre die kalten Fliesen an meinen Beinen. In meinem Kopf hämmert es immer lauter und ein Rauschen in meinen Ohren vernebelt meinen Verstand. Vor meinen Augen verschwimmt das Bild. Ich versuche nach etwas zu tasten, das mir Halt geben könnte. Meine Finger bekommen das Waschbecken zu greifen, an dem ich mich mühsam hochzuziehen versuche. Meine Beine drohen nachzugeben, aber ich schaffe es, mich einigermaßen aufrecht zu halten. Mein Blick hebt sich und starrt nun genau auf mein Spiegelbild. Die Lippen sind spröde, eingerissen und genauso weiß wie der Rest des ausgemergelten Gesichtes. Die blonden Haare hängen strähnig und ungekämmt herunter. Ein erbärmlicher Anblick.

Ich ertrage mich selbst nicht und wende mich angewidert ab.
 

Als ich mein Zimmer wieder betrete, ist mein Freund nicht da. Wahrscheinlich ist er gegangen. Erschöpft lasse ich mich auf mein Bett fallen. Tai. Verdammt! Schon wieder Tai. Warum beherrscht er in letzter Zeit so oft meine Gedanken? Ich will das nicht! Ich will nicht seine Geisel sein! Es darf keine Abhängigkeit entstehen. Abhängigkeit macht schwach und ich will nicht schwach sein! Aber ist es dafür nicht längst zu spät? Bin ich durch ihn nicht schon viel zu verletzlich? Ist er nicht schon viel zu tief in mich eingebrannt? Wie ein Stigma? Ich muss…

Durch ein Klopfen an meiner Tür werde ich aus den Gedanken gerissen. Tai? Ist er doch nicht gegangen? Ich quäle mich aus dem Bett und öffne.

„Papa.“ Ich schaue ihn verwirrt an. Er sollte doch eigentlich geschäftlich unterwegs sein, warum…

„Yamato.“ Er sieht mich besorgt an. „Bist du krank? Du siehst schlimm aus.“

„Was willst du hier?“

„Na hör mal, ich wohne hier schließlich.“ Sein Blick verfinstert sich. Ich habe jetzt keine Lust auf Grundsatzdiskussionen, schiebe mich an ihm vorbei in den Flur und ziehe Stiefel und Mantel an.

„Wohin willst du?“

„Raus“, sage ich knapp, nehme meinen Schlüssel von der Kommode und lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen.
 

Ich hab keine Angst in der Dunkelheit, die mich umgibt

Hier kann man die Tränen gar nicht sehen

Die Wellen brechen über mir

Am Meeresgrund lauf ich zu dir

Ich such nicht mehr und dennoch find ich dich
 

Der Text des Liedes, welches Tai vorhin zur Verzweiflung gebracht hat, geht mir durch den Kopf. Die Straßen sind ziemlich leer, obwohl gerade erst die Dämmerung einsetzt. Wahrscheinlich ist es den Leuten zu kalt und sie machen es sich lieber in ihren Wohnungen gemütlich. Ich mag die Kälte. Ich habe kein bestimmtes Ziel. Was sollte ich auch für eines haben? Es ist wie im Leben. Man braucht keine Ziele, um das zu erreichen, was letztlich alle erreichen. Der Tod kommt so oder so. Er ist für alle unausweichlich. Ob ich nun ein tolles Leben mit vielen Zielen und ehrenwerten Tätigkeiten habe oder ob ich ein Niemand bin… wen interessiert das? Es ist irrelevant. Wenn man stirbt, war es das. Es gibt kein Leben danach, keine Wiedergeburt oder dergleichen. Wir verfaulen in unseren Särgen unter der Erde oder werden gleich verbrannt. Und wir bekommen es noch nicht einmal mehr mit. Also, wozu das ganze Theater im Leben? Für andere? Für mich selbst? Tai. Ich… Nein!

Gewaltsam hole ich mich aus meinen Gedanken. Ich will nicht an ihn denken müssen.

Meine Schritte führen mich direkt in eine Seitengasse. Nach einigen Metern bleibe ich stehen und lehne mich erschöpft gegen die Mauer. Ich schließe meine Augen. Einige Straßengeräusche dringen an meine Ohren, hin und wieder vernehme ich Worte von Menschen, die sich unterhalten oder telefonieren. Ich zittere und merke, wie meine Beine allmählich nachgeben. Langsam rutsche ich die Mauer entlang nach unten. Mir ist schwindelig und schlecht. Meine Gedanken kreisen immer schneller und schneller. Ich kann ihnen nicht mehr folgen. Sie werden lauter. Ein Rauschen in meinen Ohren. Es dringt in meinen Kopf. Es sticht. Es pulsiert. Ich versuche, die Augen offen zu halten. Sind sie offen? Punkte. Überall Punkte. Sie tanzen. Sie werden größer. Und schwärzer. Meine Kehle. Ich will etwas sagen. Sie brennt. Es schmerzt. Trocken. Alles trocken. Kein Laut kommt hervor. Nichts. Ich versuche zu schlucken. Etwas hindert mich. Jemand hindert mich. Tai.
 

Taubheit. Etwas anderes spüre ich nicht. Langsam öffne ich die Augen. Wie viel Zeit ist wohl vergangen? Wie lange sitze ich bereits in dieser gammeligen Gasse? An die Wand des baufälligen Hauses gelehnt? Ein Haus, welches überflüssig ist, allenfalls das Gesicht der Stadt verschandelt. Es ist mir so ähnlich. Wir beide warten darauf, endlich erlöst zu werden und aus dem Bewusstsein der Menschheit zu verschwinden. Doch wie ihm wird es auch mir verwehrt.

Ich versuche meine Beine zu bewegen, um aufzustehen. Ich spüre sie nicht. Die Kälte hat sich bis zu meinen Knochen durchgenagt. Bedächtig lege ich den Kopf in den Nacken und blicke erschöpft nach oben. Der Himmel ist grau bedeckt und vereinzelt tänzeln Schneeflocken gen Erde. Diese Leichtigkeit habe ich schon immer beneidet. Unbeschwerte Freiheit. Grenzenlosigkeit. Und doch auch diese Kälte und Leblosigkeit, ebenso wie ich sie fühle. Sanfte Atemwölkchen gesellen sich zu dem Bild, welches sich meinen Augen bietet. Doch sie haben keine große Lebensspanne, denn sie lösen sich nach kurzer Zeit in Nichts auf und machen den Weg für neue frei. Es ist ein Kommen und Gehen. Leben und Sterben. Kein Kampf um Existenz. Keine kläglichen Versuche, etwas zu leisten, unvergesslich zu werden. Wozu auch. Eine gleicht der anderen. Und selbst wenn nicht, so erfüllen sie doch keinen bestimmten Zweck für das Bestehen des Universums. Sie entstehen ungefragt, lautlos und genauso gehen sie auch.

„Yama…“

Eine Stimme dringt unwirklich an mein Ohr. Wie in Trance senke ich meinen Blick und drehe meinen Kopf in die Richtung, aus der mein Name gerufen wurde. Tai. Verdammt.

„Was tust du denn da? Willst du erfrieren?“ Er schaut mich vorsichtig besorgt an. Keine schlechte Idee, aber diese Methode ist mir den Erfolg betreffend zu unsicher. Aber warum ist er hier? Warum ausgerechnet er? Ich will ihn nicht sehen. Ich darf ihn nicht sehen!

„Was willst du, Taichi?“ Meine Stimme klingt härter als beabsichtigt, woraufhin er leicht erschreckt und mich dann verzweifelt ansieht. Ich kann den Schmerz in seinen Augen lesen, doch es ist zu spät.

„Lass mich einfach in Ruhe. Ich kann dich nicht mehr ertragen. Deinen Anblick, deine Nähe, deinen Geruch, deine Berührungen, deine Stimme… all das kotzt mich an. Verstehst du? Du hinderst mich am Leben. Du erdrückst mich, nimmst mir die Luft zum Atmen… ich…“

„Nein!“ Ich sehe Tränen in seinen Augen. „Das ist nicht wahr! Das bist alles nur du selbst! Wach endlich auf, verdammt!“ Bei diesen letzten Worten dreht er sich weg. Langsam und recht wackelig setzt er sich in Bewegung und mit jedem Schritt entfernt er sich weiter von mir… bis ich ihn aus den Augen verliere.
 

Mit zitternder Hand versuche ich die Wohnungstür zu öffnen. Es brennt noch Licht, das bedeutet, mein Vater ist noch wach. Es ist spät geworden, denn ich saß noch eine gefühlte Ewigkeit an diesem maroden Haus. Ich hatte gehofft, dass ich meinem Vater nicht mehr begegnen würde, wenn ich in der Nacht erst nach Hause käme. Ich versuche mich unbemerkt in mein Zimmer zu schleichen, doch ich höre Bewegung im Wohnzimmer.

„Wo warst du so lange?“, fragt er übertrieben streng.

„Das geht dich nichts an.“

Bestimmt kommt er auf mich zu und stellt sich mir in den Weg. Er erhebt die Hand. Ich schaue ihm provozierend in die Augen und warte auf den süßlich bitteren Schmerz.

„Nimm ein heißes Bad, sonst erkältest du dich. Deine Lippen sind ganz blau und du zitterst.“ Er senkt die Hand, dreht sich um und geht ohne ein weiteres Wort zurück ins Wohnzimmer. Ich hatte mein Zittern nicht wahrgenommen, sonst hätte ich es vor ihm verborgen. Ich hasse es, wenn man mir Schwäche anmerkt. Ich hasse mich, wenn ich Schwäche zeige. Ich hasse mich, weil ich schwach bin. Ich hasse mich, weil ich ich bin.
 

Die ersten Sonnenstrahlen fallen auf mein Gesicht, als ich die Augen öffne. Benommen blicke ich auf meinen Wecker. Zu früh, um aufzustehen. Eigentlich will ich gar nicht mehr aufstehen. Wozu auch? Ich drehe mich um und ziehe die Decke über meinen Kopf. Wenn ich lange genug so liegen bleibe, ersticke ich vielleicht irgendwann. Unsinniger Gedanke. Ich hasse meine Gedanken. Tai. Seine Worte kreisen mir noch immer im Kopf herum. Im Grunde weiß ich, dass er Recht hat. Mich macht wütend, dass er es auch weiß. Mich macht wütend, dass er es laut ausgesprochen hat. Was soll ich jetzt tun? Es einfach zu ignorieren ist nicht möglich. Dabei wollte ich ihn nicht mehr sehen, nie wieder an ihn denken. Doch mit diesen Worten hat er mich an sich gebunden. War es das, was er damit bezweckte? Ist er wirklich so berechnend? War sein Verhalten bisher nur Fassade?

Ich stehe auf und schalte meinen CD-Player ein. Vielleicht hilft mir die Musik, meinen Gedanken Einhalt zu gebieten. Zurück im Bett ziehe ich die Decke wieder über meinen Kopf und lausche den Klängen des Musikstückes.
 

Der Abgrund, so nah und es hämmert in deinem Kopf

Du spürst nur noch die Kälte unter deiner Haut
 

Doch auch der Sturm verweht die Gedanken nicht

Den lebenslangen Kampf

Und auch der Regen löscht die Tränen nicht

Und dein Gesicht verbrennt - es brennt
 

Du wagst nicht, dich zu bewegen, dein Herzschlag verlangsamt sich

Die Stunden vergehen, doch es bleibt kalt
 

Doch auch der Sturm verweht die Gedanken nicht

Den lebenslangen Kampf

Und auch der Regen löscht die Tränen nicht

Und dein Gesicht verbrennt
 

Du fragst nicht mehr, was sollte sich jetzt noch ändern?

Du fragst nicht mehr, denn du trägst die Antwort in dir
 

Du kannst nichts mehr hören, das Rauschen ist längst verstummt

Dein Körper gespalten - fast alles bleibt
 

Du fragst nicht mehr, was sollte sich jetzt noch ändern?

Du fragst nicht mehr, das Blatt kann sich nicht mehr wenden

Du fragst nicht mehr, welchen Weg du gehen sollst

Du fragst nicht mehr, denn du trägst die Antwort in dir
 

Die Antwort. Ich kenne sie schon lange, doch richtig gestellt habe ich mich ihr nie. Ansätze waren immer da, kurze Überlegungen und Impulse, aber es hat nie gereicht. Wollte ich nicht? Konnte ich nicht? Was spielt das jetzt noch für eine Rolle. Letztlich wusste ich doch immer, dass es unvermeidbar sein würde. Das Ende ist immer das gleiche, ob ich mich diesem nun stelle oder nicht. Es gibt kein Entkommen, also kann ich mich dem ebenso gleich ergeben. Zu verlieren habe ich nichts, außer meinem Leben. Aber darin liegt ja auch der Sinn. Sinn… wenigstens am Ende gibt es so etwas wie Sinn. Also liegt der eher im Tod als im Leben? Den Platz für jemand anderen freimachen, niemandem mehr zur Last fallen… sich selbst nicht mehr quälen, ist das letztlich der einzige Sinn? Wozu werden wir dann geboren? Der Sinn des Lebens liegt darin, zu leben. Schöne Worte, doch ich verstehe sie nicht. Ich kann sie nicht umsetzen, so sehr ich auch wollte. Und ich wollte wirklich. Jetzt bin ich zu erschöpft, um noch irgendetwas zu wollen. Alles ist taub. Das Pulsieren in meinem Kopf ist verschwunden. Leere. Kein Gedanke. Ich bemerke noch nicht einmal, wie ich mich aus meinem Bett erhebe und mein Zimmer verlasse. Auch nicht, wie mein Vater in den Flur schaut und mir etwas zuruft. Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich spüre nur eine unbeschreibliche Leichtigkeit. So fremd und doch so sanft umhüllend. Es ist, als könnte ich zum ersten Mal frei atmen. Als würde ich zum ersten Mal fühlen. Fühlen, was es bedeutet, glücklich zu sein.
 

Eine weiße Zimmerdecke. Kahle Wände, von denen der Putz beginnt abzublättern. Trostlos, steril. Seit Wochen der gleiche Anblick. Tag für Tag. Ich liege auf meinem Bett und starre ins Nichts. Es ist einer der wenigen Momente, in denen ich ein paar Minuten für mich habe. Mein Zimmernachbar nutzt den Ausgang, um ein paar Dinge in der Stadt zu erledigen. Ich möchte gerade etwas Musik anschalten, weil ich die Stille nicht mehr ertrage, als es an der Tür klopft.

„Herr Ishida, Besuch für Sie.“ Hinter der Stationsschwester betritt Takeru, mein kleiner Bruder, den Raum. Mit den Worten „bitte vergessen Sie nicht, dass die Besuchszeit in einer halben Stunde endet und Besuch auf den Zimmern eigentlich nicht gestattet ist“ verlässt sie den Raum wieder und schließt die Tür hinter sich.

„Immer wieder freundlich!“ Takeru schaut ihr grimmig hinterher. Dann wendet er sich mir zu.

„Wie geht es dir heute?“

Ich schweige und drehe meinen Kopf weg. Draußen vor dem Fenster sehe ich Schneeflocken tanzen. Es ist noch immer Winter, dabei kommt es mir wie eine Ewigkeit vor, die ich hier bereits eingesperrt bin. Das ist meine Strafe, weil ich zu schwach war. Weil ich versagt habe. Wieder einmal. Wie so oft. Ich bin nicht fähig zu leben, aber sterben kann ich auch nicht. Wozu bin ich nütze? Wieso gibt es mich überhaupt? Ich habe Tai seit damals in dieser Gasse kein einziges Mal mehr gesehen. Habe ich Sehnsucht nach ihm? Oder ist es dieselbe Abhängigkeit wie damals? Hat sich denn nichts geändert? Ist noch alles wie zuvor? Wofür das alles dann? Wenn es letztlich doch umsonst war…

„…to! Yamato!“ Die Stimme meines Bruders reißt mich aus diesen Gedanken. Ich drehe meinen Kopf und schaue ihn an. Seine Augen sehen traurig zu mir. Er mustert mein Gesicht. Als wollte er etwas sagen, öffnet er den Mund, doch ohne ein einziges Wort schließt er ihn wieder. Dann steht er auf und öffnet die Zimmertür. Mit einem Blick zurück sagt er: „Ich komme morgen wieder.“
 

Ein weißer Raum

Die Gedanken unerkannt

Ein Hauch von Dir verdrängt die Nacht in mir
 

Vergänglichkeit rinnt durch meine Hand

Abgesehen vom Vergessen ist nichts, was bleibt
 

Was bleibt?

Ist der Morgen noch unendlich weit?
 

Die Welt kann noch warten

Im Zwang ihrer selbst

Besteht die Zeit nur aus Narben an mir

Wozu gibt es Ewigkeit?
 

Die Welt kann noch warten

Im Wahn, ungestört

Besteht die Zeit nur aus Narben an mir

Wozu gibt es Ewigkeit?
 

Dein eigenes Bild

Im Spiegel unbewegt

Die Stimme lautlos in meinem Kopf
 

Ein Meer versiegt

Und man ertrinkt darin

Abgesehen von der Zeit ist nichts, was bleibt
 

Ich öffne meine Augen, entferne die Kopfhörer aus meinen Ohren und setze mich langsam auf. Es ist dunkel im Zimmer, sodass ich nur Konturen wahrnehmen kann. Meine Gedanken sind bei Tai. Ein Traum mit ihm. Mit uns. Von der Vergangenheit. Aber irgendwie auch nicht. Ich stehe auf, gehe ins Bad und wasche mein Gesicht mit kaltem Wasser. Es nervt, dass selbst die Badzimmertür nicht abschließbar ist. Nach dem Abtrocknen verlasse ich das Bad und gehe leise aus dem Zimmer. Ich gehe nach vorn zum Schwesternzimmer. Die Nachtschwester bemerkt mich erst nach einer kurzen Weile und schaut mich fragend an.

„Herr Ishida? Können Sie nicht schlafen?“

„Doch… naja, nicht so richtig.“

„Albträume?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Ich schließe Ihnen erst einmal den Aufenthaltsraum auf und mache Ihnen einen beruhigenden Tee. Setzen Sie sich schon hinein.“

„Danke“, sage ich und leiste Folge. Normalerweise stehe ich in der Nacht nicht auf. Selbst, wenn ich nicht schlafen kann oder wirklich schlecht träumte. Doch dieser Traum von Tai… und mir… er hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen. Ich konnte nicht in diesem Zimmer bleiben. Allein mit meinen Gedanken und… Gefühlen?

„So, hier ist Ihr Tee. Lesen Sie etwas oder lösen Sie Rätsel. Das macht meist müde. Falls Sie etwas brauchen, wissen Sie, wo Sie mich finden. Wenn Sie wieder ins Bett gehen, geben Sie mir bitte Bescheid.“

Ich nicke, habe aber nur zur Hälfte zugehört. Meine Gedanken kreisen in meinem Kopf. Die Stimmen werden lauter und ein unbändiges Verlangen beginnt in mir aufzusteigen. Ich fasse mir an die Schläfen und massiere sie etwas, doch es nützt nichts. Mein Blick irrt suchend im Raum umher. Die Wirklichkeit scheint zu verschwimmen, das Sichtfeld verengt sich, alles scheint sich aufzulösen, zu verzerren, wird größer und kleiner, lauter und leiser, wie in Watte gepackt, verschleiert und doch unglaublich klar… ein lautes Klirren beendet den Wahnsinn.

Ich schaue hinab auf meine Hand, dann zur Glasscheibe der Tür, die in tausend Scherben zersprungen ist. Ich höre die eiligen Schritte der Schwester, sie kommt auf mich zu.

„Herr Ishida!“ Sie packt mich am Arm. „Herr Ishida!“ Sie dreht mein Gesicht in ihre Richtung. Dann zieht sie mich in Richtung des Schwesternzimmers. „Setzen Sie sich, Herr Ishida! Ich rufe den diensthabenden Arzt.“

Ich komme der Aufforderung nach, setze mich und starre abwesend zu Boden. Was ist passiert? Meine Erinnerungen sind verschwommen. Mein Kopf dröhnt und ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Am Rande bekomme ich mit, wie der Arzt erscheint, die Schwester ihm die Sachlage erklärt und er sich dann an mich wendet.

„Zeigen Sie mir bitte Ihre Hand, Herr Ishida.“

Ich reagiere nicht.

„Herr Ishida! Können Sie mich hören, Herr Ishida?“

Ich sehe ihn an und doch sehe ich durch ihn hindurch. Ich spüre, wie er vorsichtig meine Hand begutachtet. Mit einer Pinzette entfernt er ein paar Glassplitter.

„Es muss geröntgt werden, um auszuschließen, dass noch Glassplitter in einer der Wunden sind.“
 

„Was ist passiert, Herr Ishida? Wieso haben Sie das getan?“

Ich antworte nicht.

„Ihnen ist klar, dass das Konsequenzen haben wird, Herr Ishida?“

Ich blicke auf und der Bezugstherapeutin direkt in die Augen.

„Sie hatten sich in den letzten Wochen doch schon einiges erarbeitet? Wieso solch ein Rückfall? Aber eigentlich sollte es gar kein Suizidversuch werden, habe ich recht, Herr Ishida? Was war der Auslöser für Ihr dysfunktionales Verhalten?“

Meine Augen bleiben an ihren haften.

„Also gut. Die Folgen kennen Sie, Herr Ishida. Time out für die nächsten 24 Stunden, danach kein Ausgang ohne Begleitung, ebenso Besuchsverbot, Ihre Verhaltensanalyse ist innerhalb der nächsten zwei Stunden im Schwesternzimmer abzugeben und zur nächsten Gruppensitzung vor den anderen Patienten vorzutragen, sowie Ihre positiven Sanktionen, die Sie umzusetzen haben. Haben Sie das verstanden, Herr Ishida?“

Ihr Blick scheint mich fast zu durchbohren.

„Herr Ishida!“

Ich schaue auf meine verbundene Hand. Die Wunden pulsieren etwas. Aber nur ganz leicht. Was war nur passiert? Ich hasse mich, ich hasse Tai dafür. Es ist alles seine Schuld.

„Ja“, höre ich mich leise sagen.
 

Ich bin getaucht im stillen See

Und habe nicht um Rat gefragt

Dabei wird mir wohl jetzt erst klar

So tief hat’ ich’s noch nie gewagt
 

Erst ruhig und sanft, so eisig kalt

Dann von der Strömung hart erfasst

Die Angst, die mich begleitet

Ergreift mich nun in wilder Hast
 

In der Tiefe Deiner Träume will ich wieder bei Dir sein
 

Der Atem, wie Gedankenblasen

Steigt er auf und mischt sich nun

Mit jenem Unsichtbaren

Das all unser Tun verschlingt
 

Und ohne Sinn für jedes Ziel

Die Kraft auf falschem Weg verzehrt

Der Hoffnung alles anvertraut

Bin ich ans Licht zurückgekehrt
 

In der Tiefe Deiner Träume will ich wieder bei Dir sein
 

Und der Wind trägt mich fort, immer weiter

Die Uhren stehen still, nur das Licht vergeht
 

Zurück. In meiner Welt. Eine Welt, aus der ich eigentlich entfliehen wollte. Es fühlt sich so falsch an. Ich gehöre nicht mehr hierher. Und dennoch muss ich jetzt damit leben. Leben… falls man das so nennen kann. Warum habe ich nicht ernsthaft versucht zu gehen? Wäre dem so gewesen, hätte ich es geschafft. Was hat mich abgehalten? Oder was hat mich erst so weit gebracht? Wie konnte es dazu kommen? Wollte ich wirklich sterben? Ich weiß es nicht. Diese Zerrissenheit zwischen leben wollen und sterben frisst mich auf. Sie lähmt mich, hindert mich am Atmen, am Leben. Und doch existiere ich weiter. Ich bin ein Gefangener meiner selbst. Unfähig über mich zu richten, nicht bereit mich zu akzeptieren.

Ich erhebe mich von meinem Bett und schalte den CD-Player aus. Reglos stehe ich in meinem Zimmer. Mein Blick schweift durch den Raum. Ich sehe Dinge, die mir gehören, die mich ausmachen. Doch bin das wirklich ich? Vieles davon bedeutete mir irgendwann einmal etwas. Doch jetzt… jetzt ist da nichts mehr. Keine Gefühle der Zuneigung, noch nicht einmal Besitzanspruch. Wertlos. Genau wie ich.

Ich darf nicht nachdenken. Das ist schlecht. Ablenkung. Ich muss etwas tun, damit ich nicht denken kann. Ich verlasse das Zimmer, um in die Küche zu gehen.

„Yamato.“

Mein Vater, der am Küchentisch sitzt, sieht von seiner Zeitung auf.

„Setz dich. Möchtest du Kaffee? Er ist gerade erst durchgelaufen.“

Er steht auf, nimmt eine Tasse aus dem Schrank, füllt sie mit Kaffee und hält sie mir entgegen.

„Danke.“ Ich setze mich ihm gegenüber an den Tisch.

Die Atmosphäre ist angespannt. Ich merke, dass er um Normalität bemüht ist, doch es gelingt ihm nicht ganz. Er verkrampft, sobald er mich sieht. Er weiß nicht, wie er mit mir umgehen soll. Ich würde ihm gern sagen, dass ich kein rohes Ei bin und in Watte gepackt werden muss, doch ich schweige. Wie so oft in letzter Zeit.

„Wie läuft die Therapie?“

Ich seufze innerlich. Wieder das Thema. Es ist so sinnlos.

„Ganz gut“, lüge ich.

Stille. Wir sehen uns nicht an. Das Schweigen ist unerträglich. Draußen höre ich Autos vorbeifahren. Vor dem Fenster wiegt sich ein kahler Baum im eisigen Wind. Schutzlos trotzt er allem, was ihn zerstören will, nur damit er im Frühling neu erblühen kann. Aber wofür der ganze Kampf? Immer wieder aufs Neue? Um letztlich doch zu sterben... es gibt eben kein Entkommen, egal wie sehr man sich auch anstrengt. Egal wie stark der Lebenswille ist. Wozu also anstrengen?

„Yamato?“

Ich löse mich von meinen Gedanken und sehe meinen Vater an.

„Deine Gedanken…“

Sorge gemischt mit Angst zeichnet sich auf seinem Gesicht ab.

„Du driftest wieder ab und starrst apathisch ins Nichts.“

„Tai kommt nachher noch vorbei.“ Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, aber ohne jede Emotion.
 

Ich liege auf meinem Bett. Meine Augen sind geschlossen. Ich spüre die Wärme von Tais Körper, obwohl wir uns nicht berühren. Er liegt neben mir. Wir schweigen.

Es ist dieselbe Zeit wie immer. Wie früher. Früher… eigentlich hat sich nichts geändert. Tai besucht mich jeden Tag um die gleiche Zeit. Manchmal haben wir Sex, die meiste Zeit schweigen wir uns an. Über das, was passiert ist, reden wir nicht. Er fragt auch nicht.

„Möchtest du einen Kaffee?“ Ich stehe auf und ziehe mir ein Hemd über.

„Yamato.“ Tai setzt sich auf und sieht mich durchdringend an. „Was bin ich für dich?“

Mein Hemd langsam zuknöpfend öffne ich die Tür und gehe in die Küche. Dort angekommen setze ich Kaffee auf und während ich warte, gleitet mein Blick aus dem Fenster. Wieso diese Frage? Wieso jetzt? Es sollte so bleiben, wie es ist. Er darf es nicht wieder kaputt machen. Ich will nicht darüber nachdenken, denn sonst müsste ich mich mir selbst stellen. Meine Gefühle sind tot. Nur das hält mich am Leben. Und ich muss leben… existieren. Für meinen Vater, für meinen Bruder und meine Mutter. Für Tai?

Als ich mich gewaltsam aus meinen Gedanken hole, bemerke ich, dass Tai den Raum betreten hat und mich am Tisch sitzend beobachtet.

„Woran hast du gedacht?“, möchte er wissen. Sein Gesichtsausdruck ist kalt und ohne jegliche Regung. Schon seit unserem Wiedersehen. Er ist anders. Ich habe meinen Tai vor langer Zeit verloren. Ich weiß nicht, ob der Tai, den ich kannte, noch lebt. Aber was habe ich auch erwartet. Ich habe ihn schließlich zu dem gemacht, was er jetzt ist. Ich habe ihn dazu getrieben, so zu werden. Meine Verdorbenheit, mein Egoismus und meine Abartigkeit haben ihn mit in den Abgrund gerissen. Ich hätte ihn schützen müssen. Ich hätte mich von ihm lossagen müssen, als es noch nicht zu spät war. Ich… was denke ich? Wieso… Gefühle? Ich darf nicht…

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ich Tais Hand spüre, wie sie eine Strähne aus meinem Gesicht streicht. Sein Blick ist starr. Ich schaue ihn entsetzt an.

„Glaubst du, ich schone dich, aus Angst, du könntest dir wieder etwas antun? Du kannst nicht ewig weglaufen. Und ich lasse dich nicht sterben. Erinnerst du dich? Ich sollte dich töten. Du wolltest durch meine Hand sterben. Damals konnte ich es nicht. Doch heute…“ Seine Hand gleitet hinab zu meinem Hals. Er umfasst ihn sanft. Dann drückt er zu. Augenblicklich verändert sich meine Wahrnehmung. Das Rauschen in meinen Ohren nimmt zu und das Pulsieren in meinem Kopf wird stärker. Sein Gesicht verschwimmt vor meinen Augen. Ich schließe sie angestrengt. Meine Hände ergreifen ganz automatisch seinen Arm und krallen sich darin fest.

„Bist du jetzt glücklich? Gleich wird es vorbei sein. Ich werde dir das abnehmen, was du allein nicht geschafft hast.“ Bei diesen Worten schiebt er mit seiner freien Hand meinen Ärmel etwas nach oben und streicht behutsam über die längs verlaufende Narbe an meinem Handgelenk.

„Du wolltest mich einfach so verlassen. Warum? Was ist geschehen? Mit dir? Mit uns?“ Leichte Melancholie schwingt in seiner Stimme mit. Ich will etwas sagen, doch es gelingt mir nicht. Selbst das Schlucken ist annähernd unmöglich geworden. Ein verzweifelter Versuch bringt mich zum Husten. Ich öffne meine Augen. Ich sehe Tais Gesicht. Seine Augen sind von Tränen erfüllt. Dann verdunkelt sich meine Sicht und ich sacke zusammen.
 

Schmerz. Meine Kehle brennt. Ich versuche zu schlucken. Mit viel Anstrengung gelingt es. Ich möchte die Augen nicht öffnen. Ich weiß, dass er im Zimmer ist. Tai. Er hat sein Versprechen wieder nicht gehalten. Er hat es wieder nicht geschafft. Nur leere Worte. Bin ich enttäuscht? Wütend? Erleichtert? Glücklich? In meinem Kopf dreht sich alles. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Erst jetzt bemerke ich, dass Tai den CD-Player eingeschaltet hat. Ich versuche mich auf die Musik zu konzentrieren.
 

Bleibt falscher Glanz in Deinem Lachen, wenn alles sich wendet

Bleibt falscher Glanz in Deiner Nähe

Du schwankst, wenn die Erde Dich dreht
 

Kein Wort auf Deinen Lippen, hat die Stille Dich nicht so gestört

Nur schwarz und weiß, in Deinem Innern ist die Verteilung der Schuld längst geklärt

Du wartest noch auf die Klarheit, Du vergisst, Du bist mittendrin

Kannst Du mich sehen, falls man Dich finden will

Wird nichts Dich verändern
 

„Yamato. Ich weiß, dass du wieder bei Bewusstsein bist.“

„Du merkst aber auch alles.“ Meine Stimme klingt rau und belegt. „Wieso hast du es nicht zu einem Ende gebracht? Soll das denn ewig so weitergehen?“

„Ich weiß nicht. Sag du es mir.“

Schwerfällig setze ich mich auf. Tai muss mich in meinem Zimmer auf das Bett gelegt haben, nachdem ich das Bewusstsein verlor. Ich schaue ihn an, kann seinem Blick jedoch nicht standhalten. Merklich nervöser werdend versuche ich einen Punkt zu fixieren. Doch meine Augen irren im Raum umher. Ich spüre, dass er mich noch immer ansieht.

„Was erwartest du jetzt von mir? Was soll ich deiner Meinung nach machen? So tun, als wäre nichts gewesen, ist ja offensichtlich der falsche Weg.“

„Richtig. Gut erkannt.“ Ich bilde mir ein, Bitterkeit in seiner Stimme zu hören. Ich sehe zu ihm. Sein Blick haftet auf den verschiedenen Tablettenverpackungen, die auf meinem Nachttisch liegen. Mit einem Kopfnicken in diese Richtung fragt er: „Helfen die überhaupt? Ich habe nicht das Gefühl.“

Mit einem Schulterzucken antworte ich: „Keine Ahnung. Ich weiß ja nicht, wie es ohne wäre.“

Er schweigt. Ich versuche irgendeine Regung in seiner Mimik zu erkennen. Nichts. Dieselben kalten Augen. Seit diesem Vorfall.

„Und die Therapie? Bringt die denn was?“

Ungläubig sehe ich ihn an.

„Wie bitte?“ Ich versuche meine Gedanken zu sortieren. Mit einer solchen Frage, mit einer solchen Unterhaltung habe ich nicht gerechnet.

„Ich kann keine Verbesserung erkennen, Yamato. Du bist nur noch verschwiegener geworden.“

„Du hast doch keine Ahnung!“, schreie ich ihn an.

Ruhig gibt er zurück: „Natürlich nicht. Wie sollte ich auch. Du redest ja nicht mit mir.“

„Geh.“ Ich versuche ihn bei diesen Worten nicht anzusehen. Ich drehe mich weg. Ich will ebenso wenig, dass er mich ansehen kann. Erleichtert höre ich, wie er aufsteht und durch das Zimmer läuft. Ohne auch nur ein Wort zu sagen. Ohne jegliche Gegenwehr. Habe ich gehofft, dass er sich sträubt? Dass er um mich kämpfen würde? Dass er nicht so einfach gehen würde?

Unerwartet legt Tai seine Arme um meinen Körper. Ich spüre den warmen Atem an meinem Ohr, fühle seinen Herzschlag in meinem Rücken. Er drückt mich näher an sich. Ich möchte mich wehren, bin jedoch wie gelähmt.

Flüsternd fragt Tai, ohne sich von mir zu lösen: „Wie fühlt es sich an? Wie fühlt sich körperliche Nähe ohne Sex an? Wie fühlen sich die Gefühle eines anderen für dich an? Erträgst du sie? Kannst du sie ertragen? Willst…“

„Sei still!“, schreie ich verzweifelt.

„Sei still“, wiederhole ich es flüsternd, jedoch so leise, dass Tai es kaum verstanden haben kann. Ich möchte mich aus seiner Umarmung befreien, rühre mich jedoch nicht. Es ist, als wäre sämtliche Kraft aus mir gewichen.

„Warum wehrst du dich nicht? Du willst das alles doch gar nicht. Oder willst du es doch? Schaffst du es nicht einmal, ehrlich zu dir selbst zu sein?“

„Nein!“ Meine Stimme zittert. Ebenso wie mein Körper. „Ich schaffe es nicht. Ich darf es nicht.“

„Wieso nicht?“, möchte Tai wissen, doch ich kann ihm keine Antwort darauf geben.

Mich noch immer im Arm haltend sitzen wir auf dem Boden meines Zimmers, als die Dämmerung beginnt und die Dunkelheit langsam Einzug hält. Draußen fallen wieder erste Schneeflocken und ich sehe, wie ein einsames Blatt den verbitterten Kampf verliert, seinen sonst kahlen Baum verlässt, um durch die eisige Winterluft gewirbelt zu werden und irgendwann sanft zu Boden zu gleiten. Es ist beachtlich, dass es so lange durchhalten konnte. Anscheinend war der Wind bisher nicht stark genug, um ein totes Blatt mit sich zu reißen. Doch es war nur eine Frage der Zeit.

Ich bemerke ein starkes Schütteln meines Körpers, als ich ein Stück weit in die Realität zurückgerissen werde. Tai. Er sitzt vor mir. Seine Hände zerren an mir und ich sehe, dass seine Lippen sich bewegen und scheinbar zu mir sprechen. Ich kann ihn nicht hören. Nicht verstehen. In meinem Kopf ist völlige Leere. Die Umgebung verschwimmt. Ich fühle nichts. Nicht einmal mehr seine Berührungen. Alles ist taub und doch irgendwie seltsam intensiv. Dann durchfährt mich ein zwiebelnder Schmerz. Meine Augen sind weit aufgerissen, als ich die Silhouette Tais vor mir in der Dunkelheit erkenne. Seine Hand ist noch von der Ohrfeige, die er mir gerade verpasst hat, erhoben. Tränen laufen seine Wangen hinab.

„Wer bist du?“ Seine Stimme ist brüchig und klingt verzweifelt. „Ich erreiche dich nicht mehr! Du verschwindest in irgendeine Welt und niemand weiß, ob du je zurückkehren wirst.“

Ich schaue ihn an, unfähig etwas zu sagen. Ich verstehe seine Worte, doch ich begreife sie nicht.

„Verdammt nochmal! Rede mit mir! Yamato!“ Flehentlich sieht er mir in die Augen. Als er das Erhoffte offenbar nicht zu finden vermag, sagt er mit trauriger, aber tonloser Stimme: „Du lässt mir keine Wahl. Du reagierst auf nichts, bist nicht einmal richtig anwesend, geschweige denn ansprechbar. Ich will nicht, dass du dir wieder etwas antust. Ich will dich nicht verlieren! Es tut mir leid.“
 

Durch ein leichtes Frösteln erwache ich. Es ist noch dunkel, sodass ich nur die Konturen meines Zimmers ausmachen kann. Ich setze mich schwerfällig auf. Mit einem Blick zur Seite stelle ich die Ursache für mein Frieren fest. Tai, der neben mir liegt, hat meine Bettdecke vollständig in Beschlag genommen. Ich schlinge die Arme um meine Beine und lege meine Stirn auf die Knie. Dass ich jetzt hier sein kann, ist großes Glück. Fast hätte Tai mich wieder in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie gesperrt. Nur mit Mühe konnte ich ihn davon abbringen. Mein Herz beginnt bei dem Gedanken schneller zu schlagen. Ich muss mich zusammenreißen. Ich will auf keinen Fall zurück in die Klinik. Die vier Wochen Aufenthalt waren bereits mehr, als ich ertragen konnte. Ich habe Angst, Angst vor mir selbst, aber niemand darf mehr wissen, was ich denke, was in mir vorgeht oder was ich fühle. Und falls ich mich doch entscheiden sollte zu gehen, wird es mir dann hoffentlich leichter fallen und niemand da sein, der es verhindern kann, weil keiner damit rechnet. Es wird nicht einfach sein, zu lächeln, wenn ich lieber schreien würde. Nähe zuzulassen, wenn ich sie nicht ertrage. Aktiv zu sein, wenn ich mich lieber verkriechen würde. Aber einen Anfang habe ich bereits geschafft und es hat gut funktioniert. Als Tai die Polizei und den Notarzt rufen wollte, um mich zwangseinzuweisen, bekam ich Panik bei dem Gedanken an die Klinik. Ich schaffte es, mich aus meiner Apathie zu befreien und ihm das Telefon aus der Hand zu nehmen. Dann brach ich unter Tränen zusammen und flehte ihn an, mir das nicht anzutun. Ich werde nie vergessen, wie hilflos er in diesem Moment vor mir stand. Wie ratlos er mich anschaute. Ich fühlte mich elend, weil ich ihn so sehr manipulierte. Aber mir blieb nichts anderes übrig. Und ich werde auch in Zukunft nicht anders handeln können, falls es erneut zu solchen Situationen kommen sollte. Es sei denn, ich sage mich endgültig von Taichi los. Es wäre sowieso besser für alle Beteiligten. Ich sollte generell allein bleiben, dann würde niemand traurig sein, wenn ich eines Tages tot bin.

Das Rascheln der Bettdecke holt mich aus meinen Gedanken. Ich höre, wie Tai sich ebenfalls aufsetzt. Kurz darauf spüre ich, wie seine Hand behutsam über meinen Arm streicht.

„Wo bist du nur schon wieder? Woran hast du gedacht?“

„An die Zukunft“, lüge ich. Dass es entfernt die Halbwahrheit ist, versuche ich mir einzureden, um mein Gewissen zu beruhigen. Ich hasse es, zu lügen, werde es mir aber unangenehmerweise angewöhnen müssen.

„Eine Zukunft, in der du noch lebst oder in der du dich umgebracht hast?“, fragt er mit Bitterkeit in der Stimme.

„Was wäre dir denn lieber?“, gebe ich bissig zurück.

Seine Hand verfestigt den Griff um meinen Arm. Dann legt er seine andere Hand an meine Schulter und drückt mich hart zurück auf das Laken. Mit Gewalt dreht er meinen Körper und entblößt mein Gesäß. Als ich merke, dass er sich auch seiner Hose entledigt, werfe ich ihm kühl und mit ruhiger Stimme an den Kopf: „Willst du mich jetzt vergewaltigen?“ Tai hält inne.

„Würdest du das so empfinden?“

Ich beginne zu lachen. Es ist ein kaltes, gefühlloses Lachen.

„Tu es doch einfach! Nimm dir, was du willst. Keine Angst, ich werde dich nicht anzeigen. Mein Körper ist sowieso zu nichts anderem zu gebrauchen. Dann bin ich wenigstens zu einer Sache nütze. Und zwischen uns…“

„Ja?!“, schreit Tai. Er hat mich inzwischen losgelassen und meinen Unterleib mit der Decke verhüllt.

„Was ist zwischen uns? Du denkst, uns verbindet nichts außer Sex, hab ich Recht? Hast du das wirklich immer so empfunden? Gibt es denn kein einziges Gefühl in dir? Bist du wirklich innerlich tot?“

„Nein, verdammt! Nein!“ Ich zittere heftig am ganzen Körper und beginne zu schluchzen. In meiner Brust verkrampft sich alles. Meine Atmung geht schwer und stockend. Doch der Schmerz, den ich spüre, ist nicht körperlich. Es ist Tai. Beziehungsweise meine Gefühle für ihn.

„Da ist etwas. Da ist so viel! Es tut weh! Es zerreißt mich! Ich will das nicht, doch je mehr ich mich dagegen wehre, desto schlimmer wird es. Ich fühle, ich fühle so viel. Doch manchmal ist all das weg. Dann ist da nichts.“ Ich stocke. Dann spreche ich leise, aber immer noch schluchzend, weiter: „Ich kann das nicht steuern. Es passiert einfach. Von einem Moment auf den anderen. Ohne Grund. Ich wünschte, ich könnte alles in mir töten!“ Den letzten Satz speie ich hasserfüllt aus. Ich breche weinend zusammen. Tai sitzt neben mir. Ohne ein Wort. Ohne eine Reaktion.
 

Ich erwache aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Als ich die Augen öffne, fehlt mir für einen Augenblick die Orientierung. Mein Kopf schmerzt und als ich versuche aufzustehen, werde ich durch ein plötzliches Schwindelgefühl gezwungen, mich wieder zu setzen. Ich hasse meinen Körper. Er widert mich an. Ich wage einen zweiten Versuch, mich zu erheben. Nur mühsam gelingt es mir und schwerfälligen Schrittes schleppe ich mich ins Bad. Vor dem Waschbecken sehe ich im Spiegel meine erbärmliche Gestalt. Da ich nicht weiß, ob Tai oder mein Vater noch in der Wohnung sind, schließe ich die Tür und drehe den Schlüssel im Schloss. Aus dem Medizinschränkchen neben der Dusche hole ich eine kleine Packung, die ich hinter ein paar Verbandsmaterialien versteckt hatte. Es wundert mich, dass mein Vater es noch nicht gefunden hat. Vorsichtig entnehme ich ein kleines Papierplättchen und öffne es. Die Rasierklinge sieht in meiner Hand so harmlos und unscheinbar aus. Kaum zu glauben, wie viel Macht sie doch besitzt. Kaum zu glauben, dass sie Leben zerstören und auslöschen kann. Ich setze mich auf die kalten Fliesen. Es fällt mir schwer, mich auf meinen Beinen zu halten. Bedächtig ziehe ich das Hemd aus und lege es neben mich auf den Boden. Mein Blick fällt auf meinen linken Unterarm. Mit den Fingern zeichne ich einige der Narben nach, manche sind bereits vollständig verblasst, andere schimmern noch rosa. Ich drücke die Klinge auf eine noch freie Stelle der Haut und ziehe sie langsam ein Stück darüber. Die Wunde klafft ein wenig auseinander. Ich sehe darin weißes Fleisch, bevor sie sich mit Blut füllt und allmählich überquillt. Rote Bahnen verlaufen ungleichmäßig über meinen Arm und enden in einer kleinen Lache am Boden. Ich beobachte die fallenden Tropfen. Sie sehen so schön aus. So ruhig und friedlich. Es wäre ganz leicht. Ich könnte jetzt so einfach gehen. Einfach so. Stattdessen schneide ich wieder und wieder in mein Fleisch, einmal mit mehr Druck, dann wieder mit weniger. Ich denke nichts. In meinem Kopf herrscht völlige Leere. Meinen Körper spüre ich nicht. Es existiert kein einziges Gefühl in mir und gleichzeitig bin ich erfüllt von Schmerz, Verzweiflung, Traurigkeit, Wut, Selbsthass und Gleichgültigkeit, aber auch Freude, Zuneigung und Liebe. Diese Zerrissenheit treibt mich in den Wahnsinn. Ich hasse mich für alles, was ich bin. Auch deshalb muss ich diesen Körper zerstören. Jeder muss sofort meine Hässlichkeit erkennen können. Aus dem rauschähnlichen Zustand erwachend betrachte ich das Ergebnis eingehend. Blut strömt unablässig aus den Wunden. Ich rutsche auf den Knien zur Toilette und mit etwas Zellstoff wische ich über meine Haut. Kurz kommen die zahlreichen Schnitte zum Vorschein. Wankend erhebe ich mich und bewege mich angestrengt Richtung Waschbecken. Während ich meinen linken Arm unter laufendes Wasser halte, um ihn zu säubern, angele ich mit der freien Hand nach den Verbandsmaterialien. Ich versorge die Wunden, ziehe mein Hemd wieder über und beginne die Spuren meines Tuns zu beseitigen. Dann atme ich tief durch und verlasse den Raum.

Ich gehe durch den Flur in die Küche, um mir eine Tasse Kaffee zu holen. Am Küchentisch sitzt Tai. Er schaut aus dem Fenster und scheint mich nicht zu bemerken. Ich bleibe stehen, betrachte ihn. Seine braunen Haare, die seitlichen Konturen des Gesichtes, die Linie des Halses übergehend zu seinen breiten Schultern. Ich möchte ihn berühren. Ich möchte seine großen, sanften Hände auf meiner Haut spüren. Doch das darf nicht mehr geschehen. Es würde ihm nur wehtun. Ich würde ihm nur wehtun. Ich muss mich von ihm lösen. Endgültig. Es ist besser so. Für alle Beteiligten. Das Pulsieren in meinem Kopf wird unerträglich.

Ich betrete mein Zimmer. Meine Wahrnehmung ist verschleiert, nur mein Blick richtet sich starr auf den Nachttisch. Wie fremdgesteuert gehe ich zu ihm hin und setze mich auf das Bett. Meine Hände greifen nach den Medikamentenschachteln, öffnen sie und entnehmen die Blisterverpackungen. Dann drücken meine Finger die einzelnen Tabletten heraus. Abwesend öffne ich die Wasserflasche, welche immer neben meinem Bett steht. Eine nach der anderen schlucke ich diese kleinen weißen Tabletten hinunter, dann lasse ich mich rückwärts auf mein Bett fallen. Ich warte, ohne einen Gedanken zu haben. Behaglich ergebe ich mich in die Leichtigkeit, lasse mich von ihr tragen. Mein Bewusstsein ist ausschließlich auf die Erwartung gerichtet. Die Erwartung, was jetzt passiert, wie es sich anfühlt. Ich schließe die Augen. In einem Moment der völligen Ergebenheit vermischt sich unerwartet Sehnsucht mit Zweifel.
 

Ich sitze im Wohnzimmer. Meine Augen folgen dem routinierten Verlauf des Sekundenzeigers der Wanduhr. Tai ist gegangen, ohne ein Wort zu sagen. Keine Reaktion auf meine Aussage, dass ich ihn nie wieder sehen möchte. Es schien fast, als würde es ihn überhaupt nicht interessieren.

Tränen füllen unbemerkt meine Augen. Dass meine Sicht auf die Uhr verschwimmt, nehme ich nicht wahr. Die Gedanken an Tai sind das Einzige, was momentan meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Warum tut es so weh, obwohl es doch meine Entscheidung war? Meine Brust schmerzt und ich kann nicht atmen, bei dem Gedanken, ihn nie wieder zu sehen. Ich weiß, dass es richtig ist, auf Abstand zu gehen. Ihn von mir fern zu halten. Ich bin nicht gut für ihn. Ich bin für niemanden gut. Tai ist schon viel zu lange mein Spielzeug gewesen. Ich habe ihn benutzt und behandelt, wie es mir gerade passte. Das habe ich jetzt erkannt. Aber wenn er mir wirklich auch etwas bedeutet, wenn da wirklich Gefühle für ihn sind, muss ich ihn loslassen. Auch wenn ich dadurch meinen letzten Halt verliere. Oder vielleicht gerade deshalb?

Lächelnd schüttele ich meinen Kopf. Warum diese Gedanken? Jetzt ist es sowieso egal. Bald wird die Wirkung einsetzen und dann ist es vorbei. Endlich. Unwiderruflich.

Entfernt nehme ich das Zufallen der Wohnungstür wahr, bevor mein Vater das Wohnzimmer betritt.

„Yamato“, höre ich ihn sagen, tue allerdings so, als hätte ich ihn nicht mitbekommen. Er läuft auf mich zu und nimmt neben mir auf dem Sofa Platz. Ich sehe ihn mit tränenverschleiertem Blick an. Dann registriere ich die Situation erst wirklich. Beschämt senke ich den Kopf, um vor meinem Vater zu verbergen, dass ich weine. Dass es dafür zu spät ist, versuche ich zu ignorieren.

„Was ist passiert?“, fragt er vorsichtig. Ich antworte nicht und bleibe reglos sitzen.

Hilflos schaut mich mein Vater an. Ich bemerke seine Unsicherheit, schaffe es aber nicht, ihm diese zu nehmen. Ich weiß, dass mein Verhalten schuld an allem war. Ich versuchte es zu ändern, doch jedes Mal entglitt es mir und verselbstständigte sich. Immer und immer wieder. Ich war völlig machtlos. Es fühlte sich an wie fremdgesteuert. Als wäre mein Handeln, Denken und Fühlen gespalten. Als wäre ich nicht mehr komplett ich.

Bei diesen Gedanken hebe ich meinen Kopf und schaue meinem Vater ins Gesicht. Seine Augen ruhen noch immer auf mir. Sie wirken müde und besorgt.

„Es tut mir leid“, flüstere ich und beginne lautstark zu weinen. Ich bemerke, wie die Arme meines Vaters mich sanft umfangen und er mich liebevoll an sich drückt. Mit seiner Hand streicht er beruhigend über meinen Kopf. Worte bringt er mir nicht entgegen.

Ich lasse die Berührungen und Gesten der Zuneigung geschehen. In diesem Moment fühle ich mich unendlich geborgen. Ich bin nicht allein, das war ich nie und trotzdem empfand ich immer wieder Einsamkeit und Leere, die dann durch Nähe aber allenfalls verschlimmert wurden. Ich kettete Menschen an mich, nur um sie von mir zu stoßen und gleichzeitig festzuhalten. Es ist beschämend. Ich bin so jämmerlich. So armselig. So erbärmlich.

„Yamato“, setzt mein Vater unerwartet an, wobei er mich noch fester an sich drückt und behutsam über meinen Ärmel streicht, „warum hast du das diesmal getan?“ Er spricht es aus ohne jeglichen Vorwurf oder Ärger in der Stimme. Ich bin wie gelähmt und erschüttert, dass er es trotz aller Vorsichtsmaßnahmen und langer Oberbekleidung so einfach mitbekommen hat, und hoffe, dass er meine Bestürzung nicht bemerkt. Was will er hören? Was soll ich ihm sagen? Die Wahrheit? Er wird es nicht verstehen. Er wird nach Gründen suchen, die es jedoch nicht gibt. Nie gegeben hat. Trotzdem wird er sich die Schuld geben. Das will ich nicht. Das ertrage ich nicht. Außer mir kann niemand etwas dafür.

„Ich weiß es nicht.“ Tränen laufen noch immer über meine Wangen. Verdammt! Ich bekomme meine Gefühle einfach nicht unter Kontrolle. Ich verabscheue mich dafür, so schwach zu sein. Überhaupt Schwäche zu zeigen. Sanft, aber bestimmt versuche ich mich aus der Umarmung meines Vaters zu lösen. Er gibt mich widerstandslos frei. Ich weiß, dass er mich nicht bedrängen möchte. Dennoch hält er mich am Arm fest, damit ich mich nicht wieder sofort zurückziehe und er die Verbindung zu mir vielleicht endgültig verliert.

„Ich habe Angst. Angst um dich. Angst davor, dass du dir erneut etwas antust und ich es nicht verhindern kann. Ich würde am liebsten die ganze Zeit bei dir bleiben, dich vor dir selbst schützen, vor einem unwiderruflichen Fehler bewahren. Ich liebe dich und möchte dich nicht verlieren!“ Jetzt weint auch mein Vater, dennoch schaut er mich unverwandt an. In seinen Augen lese ich gleichermaßen Entschlossenheit wie Unsicherheit.

„Wer sagt, dass es ein Fehler wäre?“, entgegne ich teilnahmslos. „Vielleicht wäre es ja besser für alle, wenn ich endlich verrecken würde.“ Ohne Vorwarnung schlägt mein Vater mir mit der flachen Hand ins Gesicht.

„Wach endlich auf! Weißt du eigentlich, was du den Menschen, die dich lieben, antust? Wie kannst du so leichtfertig über deinen Tod sprechen? Wie kannst du so selbstzerstörerisch mit dir umgehen? Warum tust du dir selbst solche schrecklichen, irreversiblen Dinge an?“ Er deutet auf meinen Arm.

„Halt den Mund!“ Ich bin wütend und reiße mich los. „Glaubst du, das macht mir Spaß? Ich mache das alles freiwillig? Oder absichtlich? Ich wäre froh, wenn ich nicht ich sein müsste.“ Mein Körper zittert. „Dabei wollte ich doch eigentlich nur glücklich sein.“ Mit diesen Worten verlasse ich schutzlos den Raum und lasse meinen Vater allein zurück.
 

Es schmerzt nicht mehr

Und all das berührt mich nicht mehr

Alles verändert sich und bleibt doch bestehen

Frag mich nicht

Was ich gerade denk' und wie's mir geht

Du hast keine Chance, es je zu verstehen

Ich bin lieber allein…
 

Ich sitze zitternd auf dem Boden meines Zimmers an die Wand gelehnt und schaue aus dem Fenster. Die Musik aus meinem Player nehme ich kaum noch wahr. Die Zimmertür habe ich beim Reinkommen hinter mir verschlossen. Mein Vater versucht durch abwechselndes Klopfen, Rufen und Warten, mich zum Öffnen zu bewegen. Das Zittern wird stärker. Krampfhaft halte ich mir die Ohren zu. Ich ertrage es nicht mehr. Die Vorwürfe, resultierend aus der Hilflosigkeit. Angst, die auch die meine ist. Zuneigung von meiner Familie, die mich Schmerz und Glück zugleich empfinden lässt. Liebe. Taichi. Verzweiflung. Sehnsucht… meine Gedanken werden schwerfällig. Müdigkeit überkommt mich. Ich versuche mir über die Augen zu wischen, doch meine Hände gehorchen mir nicht richtig. Ohne vollständige Kontrolle darüber lasse ich sie wieder sinken. Ich bemerke nicht, wie mein Vater seine Kontaktversuche aufgibt und sich von meinem Zimmer entfernt. Mich plagt ein unbändiger Durst. Ich schaue zu der Wasserflasche neben meinem Bett. Mein Blickfeld verschwimmt und ich kann die Konturen kaum noch erkennen. Sie verbiegen sich, kommen näher, entfernen sich wieder, werden größer und kleiner. Die Farben sind grell, die Realität unwirklich. Schwankend versuche ich mich zu erheben. Meine Beine knicken weg und ich schaffe es gerade noch, mich an der Wand festzuhalten. Für einen Moment kommt Panik in mir auf, da ich mein Zimmer nicht erkenne. Hastig sehe ich mich nach etwas mir Bekanntem um. Ich sehe die Wasserflasche. Sie kommt näher, doch als ich sie greifen will, steht sie plötzlich wieder neben meinem Bett. Meine Kehle ist trocken. Ich versuche zu sprechen, doch es schmerzt nur. Ich stütze mich von der Wand ab, um meinen Weg wieder aufzunehmen, doch es gelingt mir nicht, meine Beine unter Kontrolle zu halten. Unkoordiniert wanke ich durch mein Zimmer, ohne meinem Ziel näher zu kommen. Dann geben sie nach und ich falle unsanft zu Boden. Schmerz empfinde ich dabei nicht. Ich rolle mich auf den Rücken und schaue zur Decke. Mein Blickfeld verengt sich. Ich kneife die Augen zusammen. Erneut versuche ich mich aufzurichten. Plötzlich merke ich ein Ziehen in der Bauchgegend. Unter Schweißausbrüchen gelingt es mir, mich auf mein Bett zu setzen. Der Schmerz wird stärker, sodass ich mich nach hinten fallen lasse und auf der Seite zusammenkrümme.

Nur entfernt nehme ich das resolute Klopfen an meiner Tür wahr. Da ist eine Stimme, die ich nicht kenne, welche nachdrücklich meinen Namen ruft. Fast gleichzeitig mit dem Aufbrechen der Tür verkrampfen sich meine Eingeweide und reißen mich endgültig brutal aus der erhofften Erlösung. Naiv, wie ich war, hätte ich nicht gedacht, dass Sterben so wehtun kann. Mein Körper krümmt sich vor Schmerzen, ich winde mich auf dem Bett hin und her, unfähig, meinen Vater, die Polizisten und die Sanitäter, welche sich gewaltsam Zutritt zu meinem Zimmer verschafft haben, zu bemerken. Ich ringe nach Luft, doch etwas blockiert meine Atmung. Die Sanitäter sind inzwischen bei mir und überprüfen meine Vitalfunktionen. Einer versucht gezielt mich anzusprechen, während der andere die Medikamente eingehender betrachtet. Krämpfe beginnen mich zu schütteln und Übelkeit steigt in mir auf. Mein Körper wehrt sich gegen die kleinen Fremdkörper, die ihn zerstören wollen. Ich würge und spucke eine Mischung aus Speichel, Galle und halbverdauten Tabletten auf meinen Teppich. Die Sanitäter verständigen sich über irgendwas, während der eine mir etwas injiziert. Mein Bewusstsein trübt sich, ich sehe noch kurz den entsetzten Blick meines vor Angst gelähmten Vaters, dann wird alles dunkel.
 

Das Wasser trägt Dich nicht, wirst Du untergehen?

Die Kälte scheint für Dich nicht mal wahrnehmbar zu sein

Kein Blick zurück

Und alles hinter Dir verstummt

Vielleicht ist es ganz leicht, sich nicht umzudrehen
 

Manchmal fragst Du Dich, warum am Anfang schon das Ende steht

Alles, was Dir wichtig ist, bei anderen verloren geht

Es bleibt kein Weg zurück

Alles um Dich herum versinkt

Vielleicht ist es ganz leicht, zu gehen
 

Dringt der neue Tag in Deine Welt, um Dich zu sehen

Alles zerspringt, doch nichts vergeht, Dein kaltes Herz

Bringt der neue Tag ein wenig Licht, um Dich zu sehen

Alles zerfällt und nichts erreicht Dein kaltes Herz
 

All die Fragen sind verbrannt, Du hast sie nie gestellt

Weil die Antwort, eingerahmt, im Wind schnell von den Wänden fällt

Du siehst den Weg zurück

Du schaust nach vorn, drehst Dich nicht um

Vielleicht ist es ganz leicht, zu sehen
 

Ich verstaue gerade die letzten Sachen in meinem Koffer, als es an der Tür klopft. Eine Schwester öffnet die Tür und als ihr Blick auf mich fällt, lächelt sie.

„Herr Ishida, Ihr Vater ist bereits da.“

„Ja, ich bin sofort fertig.“ Hastig schaue ich mich noch einmal um, ob ich auch nichts vergessen habe, dann verlasse ich das Zimmer. Auf dem Flur kommt mir mein Vater entgegen und nimmt mir die schwere Tasche ab.

„Ich muss noch einmal zur Ärztin, bevor ich gehen darf. Wartest du unten in der Caféteria?“

„Natürlich.“
 

„Wie geht es Ihnen heute, Herr Ishida?“ Die Stimme der Ärztin klingt fast schon sanft.

„Gut“, antworte ich knapp.

„Wie sieht es mit suizidalen Gedanken aus?“

„Keine.“

Ihr Lächeln wandelt sich in Besorgnis.

„Ihnen ist klar, Herr Ishida, dass ich Sie nur entlasse, wenn ich sicher gehen kann, dass Sie sich nicht gleich wieder etwas antun werden, wenn Sie ohne Aufsicht sind.“

„Ja“, sage ich monoton.

Sie seufzt. „Herr Ishida, ich kann es nicht verantworten, Sie so gehen zu lassen. Gibt es etwas, worüber Sie reden wollen?“

Ich schüttele den Kopf. Doch als ich ihren analysierenden Blick sehe, gebe ich nach.

„Ich habe Angst.“

„Dachte ich es mir. Aber es ist gut, dass Sie es aussprechen. Und glauben Sie mir, es wäre schlimm, wenn Sie keine Angst hätten.“

„Aber was ist, wenn ich es wieder nicht schaffe? Wenn ich wieder an einen solchen Punkt komme?“

„Sie haben hier viel gelernt, Herr Ishida. Denken Sie immer daran und, vor allem, nehmen Sie sich

selbst ein bisschen Druck raus. Sie können nicht alles mit einem Mal ändern und es wird auch hin und wieder Rückschläge geben. Mit Sicherheit wird es nicht immer einfach sein, aber ich bin zuversichtlich, dass Sie es schaffen können.“

„Das Lithium…?“

Ihr Gesichtsausdruck wird sorgenvoll. „Dadurch, dass Sie eine Überdosis genommen haben und im Zuge dessen eine Zeitlang überhaupt keins mehr verabreicht bekamen, kann es durchaus sein, dass sie die Wirkung von früher nicht mehr erzielen. Aber das wird die Zeit zeigen. Wichtig ist, dass Sie vor allem jetzt am Anfang wieder sehr engmaschig zur Blutspiegelkontrolle gehen. Bisher haben Sie es gut vertragen, aber bei der kleinsten Veränderung suchen Sie bitte den Arzt auf, okay? Sie wissen selbst am besten, wie gering die therapeutische Breite dieses Medikaments ist.“

„Ja. Verstanden.“
 

Mit einer Kaffeetasse in der Hand sitze ich am Küchentisch, mir gegenüber mein Vater. Schweigend nippen wir an dem heißen, schwarzen Getränk. Nach einer Weile durchbricht er die Stille.

„Yamato?“

„Hmm?“

„Ist dir bewusst, wie knapp es war?“

Ich schaue ihn verdutzt an. Es ist das erste Mal seit damals, dass er das Thema anspricht.

„Ja, ich weiß.“ Ich bin bemüht, meine Stimme nicht wehmütig klingen zu lassen.

„Man erklärte mir, dass es für Lithium kein Antidot gibt, aber das war dir sicher bewusst, oder?“

„Ja, ich hatte mich belesen“, gebe ich ehrlich zur Antwort.

„Sie mussten dich narkotisieren, weil du bereits gekrampft hattest. In der Klinik haben sie dich einer Hämodialyse unterziehen müssen. Mit einem Spiegel von über drei Millimol pro Liter warst du dem Tod näher als dem Leben!“ Tränen füllen seine Augen. Mir ist die Schwere der Intoxikation durchaus bewusst. Die potentiell letale Dosis liegt bei über vier Millimol pro Liter und die hatte ich angestrebt. Doch die Wachsamkeit meines Vaters vergaß ich in meinen Plan einzukalkulieren.

„Ich weiß“, flüstere ich mit einem Kloß im Hals.

„Worauf ich hinaus möchte, ist, dass ich den Schlüssel deines Zimmers einbehalten werde. Selbstverständlich klopfe ich an, bevor ich es betrete. Ebenso möchte ich, dass du mir deine Medikamente gibst. Alle! Ich werde sie dir künftig zuteilen und für dich unzugänglich aufbewahren. Ich hoffe, du verstehst, weshalb ich so handeln muss.“

Mir bleibt der Mund offen vor Ungläubigkeit und ich will protestieren. Doch als ich die Verzweiflung in den Augen meines Vaters sehe, entscheide ich mich zu schweigen und nicke einfach nur.

„Danke.“

„Schon gut.“ Wir wissen beide, dass es ein Greifen nach einem nicht vorhandenen Strohhalm ist. Ein beklemmendes Gefühl überkommt mich. Ich stehe auf und schenke mir Kaffee nach.

„Du auch?“ Er schüttelt den Kopf.

„Danke, ich habe noch. Ach ja, Tai hat sich sehr oft nach dir erkundigt. Er würde dich gern besuchen, wenn es dir besser geht. Ich habe ihm gesagt, dass du heute wahrscheinlich entlassen wirst, aber er meinte, er wolle warten, bis du dich von selbst bei ihm meldest.“

Das beklemmende Gefühl wandelt sich in ein Gefühl der Angst. Wie soll ich ihm gegenübertreten? Ich wollte mich von ihm fernhalten, ihn nie wieder sehen, doch allein sein Name weckt in mir eine unglaubliche Sehnsucht. Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen und erschwert mir die Atmung. Sofort springt mein Vater panisch auf.

„Was ist los?“ Seine Stimme überschlägt sich und seine Augen schielen bereits zum Telefonhörer.

„Nichts. Alles okay. Wirklich!“ Mühevoll zwinge ich mich zu einem Lächeln, um ihn zu beruhigen. Es gelingt und er setzt sich wieder auf seinen Stuhl. Zitternd hebt er seine Tasse zum Mund, um hastig ein paar Schlucke zu trinken. Ihn so zu sehen tut mir weh. Ich verachte mich dafür, was ich den Menschen, die ich liebe, immer wieder antue. Dabei sollte ich doch eigentlich tot sein. Warum bin ich nur nicht gestorben?
 

Ich stehe nervös vor der Wohnungstür, neben der ein Schild mit der Aufschrift „Yagami“ angebracht ist. Zaghaft betätige ich den Klingelknopf und warte. Von drinnen sind Schritte und die Stimme einer Frau zu hören. Kurz darauf wird die Tür geöffnet und Taichis Mutter steht mir gegenüber. Als sie mich erkennt, schenkt sie mir ein mitleidiges Lächeln.

„Hallo, Yamato.“

„Hallo.“ Beschämt schaue ich zu Boden. Durch ihren Blick wird mir deutlich, dass sie über die vergangenen Ereignisse aufgeklärt ist.

„Tai müsste in seinem Zimmer sein. Du weißt ja, wo es ist.“ Sie lächelt noch immer dieses Lächeln. Ich ertrage es nicht, schiebe mich vorsichtig an ihr vorbei, murmele dabei ein kurzes „Danke“ und gehe schnellen Schrittes zum Zimmer meines Freundes. Ich öffne die Tür ohne anzuklopfen und sehe in ein überraschtes Gesicht.

„So schnell hatte ich nicht mit dir gerechnet… wenn überhaupt.“

Ich setze mich auf sein Bett und schaue ihn an. Er sieht müde und erschöpft aus. Dunkle Ringe zeichnen sich unter seinen Augen ab. Sein Körper wirkt dünner und zerbrechlicher.

„Alles in Ordnung?“, fragt er. „Du bist wieder so abwesend.“

„Ja, alles okay. Tut mir leid.“ Ich stehe auf und mache ein paar Schritte auf ihn zu. Er rührt sich nicht, folgt meinen Bewegungen aber mit seinen Augen. Direkt vor ihm bleibe ich stehen. Ich sehe ihn nicht an. Mein Körper zittert und meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich bekomme kein Wort heraus. Kraftlos sinke ich zu Boden, mit einer Hand schaffe ich es noch, mich an dem Hemd meines Freundes festzukrallen. Vor Tai kniend halte ich den Kopf gesenkt. Tränen füllen meine Augen und laufen nun unentwegt meine Wangen hinab. Meine Finger graben sich tiefer in den weichen Stoff, sodass meine Hand schmerzt. Ich beginne zu husten. Erschwert durch das Weinen verschlucke ich mich und muss erneut husten. Plötzlich spüre ich Tais Hand auf meiner und wie er sanft versucht meine verkrampften Finger von seinem Hemd zu lösen. Er kniet sich zu mir hinab, packt mich an den Schultern und redet beruhigend auf mich ein. Seine Worte dringen zwar an mein Ohr, doch sie ergeben für mich keinen Sinn. Ich hebe meinen Kopf und schaue ihn mit tränenverschleiertem Blick an. Die Umgebung ist komplett ausgeblendet, ich nehme nur noch Tai wahr. Seine Stimme, die sich in mein Gehirn gebrannt hat. Seine Berührungen, die meiner Haut bittersüßen Schmerz zufügen. Ihn selbst, der mich bis zur bedingungslosen Abhängigkeit an sich gekettet hat. Und je mehr ich versuche mich zu wehren, je mehr ich ihn von mir stoße und verletze, desto größer wird das Verlangen, die Sehnsucht nach ihm. Zittrig hebe ich meine Hand zu seiner Wange und streiche flüchtig darüber. Dann lasse ich sie fallen, geschüttelt von einem erneuten Weinkrampf. Ich sacke immer weiter in mich zusammen. Aus meinem Körper scheint jegliche Kraft gewichen zu sein. Am Rande meines Bewusstseins bekomme ich mit, wie Tai angestrengt versucht mich zu beruhigen und in einer aufrechten Position zu halten. Es gelingt ihm kaum und nur mit viel Mühe schafft er es, meinen Körper mit seinen Armen zu umfangen. Er drückt mich fest an sich, sodass sein mir wohlbekannter Duft in die Nase steigt. Ich schließe die Augen und versuche mich zu beruhigen, meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Mit zunehmender Normalisierung kehrt auch meine vollständige Wahrnehmung zurück. Ich höre und verstehe die liebevollen Worte Tais, mit denen er noch immer versucht mich zu beruhigen. Mein Sichtfeld erweitert sich wieder, sodass ich außer meinem Freund auch das Zimmer, ja sogar die Küchengeräusche durch die geschlossene Tür wieder bemerke. Einen Moment halte ich noch inne, dann versuche ich mich aus der Umklammerung zu lösen. Zögernd gibt mich Taichi frei und schaut mich mit einem seltsamen Blick an. Ich schaffe es nicht, diesem standzuhalten, und drehe mich weg. Dann stehe ich, noch immer leicht zitternd, auf und nehme wieder auf dem Bett Platz.

„Wieso…“, beginne ich, halte jedoch inne, als es an der Tür klopft und Taichis Mutter hereinkommt.

„Möchtet ihr etwas essen oder trinken? Ich habe gerade einen Karottenkuchen im Ofen. Soll ich euch etwas bringen?“

Fast zeitgleich verneinen mein Freund und ich höflich, da wir beide wissen, welche unangenehmen Auswirkungen der Genuss dieser selbstgemachten Gerichte von Tais Mutter haben können. Etwas verblüfft, dass offenbar niemand Interesse an ihrem Essen hat, verlässt sie das Zimmer wieder.

„Sie kapiert es nie“, ruft Tai aus und schlägt sich mit der Hand leicht gegen die Stirn. Ein flüchtiges Lächeln huscht über meine Lippen.

„Lass sie doch. Ist ja bisher noch nichts Ernstes passiert, oder?“

„Ja, aber nur, weil mittlerweile alle vorgewarnt sind und keine Lust haben, sich mit dem Zeug vergiften zu lassen. Ich weiß nicht, warum sie trotzdem stundenlang in der Küche steht. Letztlich isst sie es eh allein und wenn ich ehrlich sein soll, frage ich mich auch, wie sie das bisher überleben konnte.“

Jetzt muss ich richtig lachen. Es ist doch immer wieder ein Erlebnis, bei Tais Familie zu Besuch zu sein.

„Ist deine Schwester eigentlich auch da?“

„Nein, soweit ich weiß, ist Kari bei Takeru. Du weißt doch, frisch Verliebte…“ Bei diesen Worten scheint die Atmosphäre zwischen uns kälter zu werden und die Distanz größer. Ernst schauen wir uns an und keiner wagt es, den Blick zuerst abzuwenden. Tai ist es, der das Schweigen bricht.

„Was ist das jetzt eigentlich zwischen uns? Glaube nicht, dass sich für mich in den fünf Monaten, die du jetzt weg warst, irgendwas geändert hat. Ich habe deine Abstoßungsversuche von mir damals nicht akzeptiert und ich werde es auch heute nicht tun. Begreife endlich, dass du nicht immer nur weglaufen kannst.“

Mir steckt ein Kloß im Hals, als ich antworte: „Dieses Thema ist einer der Gründe, weshalb ich hier bin. Ich hatte viel Raum zum Nachdenken und lange Zeit Abstand von dir. Mir ist einiges klar geworden, aber vor allem, dass ich dich brauche. Und vermisse. Und… liebe.“ Die letzten Worte waren kaum noch mehr als ein Flüstern. Am liebsten würde ich im Boden versinken, so sehr schäme ich mich. Wie kann ich mich nur selbst so erniedrigen? Was ist nur los mit mir? Ich weiß doch, dass es für alle besser wäre, mich von ihm abzuwenden. Wieso mache ich dann gerade das genaue Gegenteil? Eine plötzliche Bewegung der Matratze lässt mich aus meinen Gedanken hochschrecken. Tai hat sich neben mich auf das Bett gesetzt und sieht mich durchdringend an.

„Du hast gerade an nichts Gutes gedacht, hab ich Recht?“

„Kommt auf den Standpunkt an, würde ich sagen“, entgegne ich kühl.

Unvermittelt hebt Tai seine Hand zu meinem Gesicht, zieht mich an sich und gibt mir einen Kuss. Ich bin zu verwirrt, um mich dagegen zu wehren. Er lächelt. Etwas unsicher stehe ich auf und drehe den Schlüssel im Schloss herum, anschließend gehe ich wieder zurück. Mit ernster Miene drücke ich meinen Freund auf das Laken. Dann öffne ich mit meinen Fingern die Knöpfe seines Hemdes. Er sieht mich unverwandt an und lässt es geschehen. Nachdem ich ihn seines Hemdes entledigt habe, beginne ich ihm die Hose auszuziehen. Mit einem Blick auf sein Gesicht sehe ich, dass er noch immer lächelt. Das verunsichert mich noch mehr und ich verpasse den Moment, in dem er den Spieß rumdreht. Mit einer schnellen Bewegung setzt er sich auf und dreht mich so, dass ich nun unter ihm liege. Geschickt entledigt er mich meiner Kleider und beginnt meine nackte Haut zu küssen. Mit seiner Zunge fährt er die zahllosen Narben nach. Meine Atmung wird schwerer vor Erregung und ich suche mit meinen Fingern in dem Laken nach Halt. Als Tai mit seinen Lippen tiefer wandert, bäume ich mich leicht auf. Hitze steigt in mir auf und vor meinen Augen beginnen Punkte zu tanzen. Mein gesamter Körper ist zum Zerreißen gespannt und ich kann ein Stöhnen nicht zurückhalten. Abrupt entzieht sich Tai und schaut zu mir auf. Dann richtet er sich über mir auf, spreizt meine Beine und winkelt sie an. Sein Grinsen weicht einem Gesichtsausdruck, in dem keine Gefühlsregung mehr erkennbar ist. Mit kalter, fast schon wahnsinniger Stimme raunt er mir ins Ohr: „Ich werde dich niemals gehen lassen. Mit jeder Faser deines Körpers werde dich an mich binden. Auch gewaltsam. Denn du gehörst mir!“
 

In meinem Zimmer auf dem Bett liegend starre ich an die Decke. Mein Körper glüht und schmerzt an den Stellen, an denen Tai mich liebkost, aber auch mir Verletzungen zugefügt hat. Gewaltsam und ohne jedes Mitleid war er in mich eingedrungen und bei jedem Stoß fragte er mich wieder und wieder mit kaltem Blick, ob es mir so gefallen würde, ob es das wäre, wonach ich suchte. Ich antwortete nicht. Mein Kopf war leer, kein einziger Gedanke war greifbar. Ich bestand nur noch aus Gefühlen. Gefühle des Ekels und Hasses gegen mich selbst, Verwirrung aufgrund dieser bizarren Situation, sowie heftiges Verlangen und unendlich zärtliche Zuneigung.

Mit den Fingern berühre ich meine Lippen, auf denen ich Tais forderndes Begehren feucht und innig zu spüren bekam. Ich schließe die Augen und bilde mir ein, seinen Duft wahrnehmen zu können. Meine Lust ist erneut entfacht. Oder ist es doch nur der Wunsch nach Triebbefriedigung? Wäre nicht jeder andere genauso gut? Ist es wirklich Taichi, um den es mir geht?

Mühsam erhebe ich mich und verlasse mein Zimmer. Im Flur auf dem Weg zur Küche treffe ich auf meinen Vater. Seit ich aus der Klinik entlassen wurde, hat er unbezahlten Urlaub genommen. Er meint, damit er für mich da sein kann. Ich finde, es ist eine nette Umschreibung für Kontrolle.

„Kaffee?“, fragt er und ich nicke.
 

Ich sitze an meinem Schreibtisch und versuche angestrengt meine Gedanken zu Papier zu bringen. Angeblich soll das helfen, sie zu sortieren, besser zu verstehen und vor allem mich an deren Umsetzung zu hindern. Ich bezweifle, dass es die gewünschte Wirkung zeigen wird, bin aber dennoch gewillt, es wenigstens zu probieren. Ich schreibe über Tai, meine Beziehung zu ihm, meine Gefühle, über meine Einstellung zum Leben und zum Tod, meine Familie.

Als ich auf die Uhr sehe, verfalle ich in Panik. Tai wird gleich hier sei. Hastig stehe ich auf, verlasse das Zimmer und betrete das Bad. Ich schließe ab, entledige mich meiner Kleider und krame ein Handtuch aus dem Schrank unter dem Waschbecken hervor. Als ich mich aufrichte, sehe ich flüchtig mein Spiegelbild und halte inne. Zufrieden, fast liebevoll betrachte ich meine Narben. Einzelne zeichne ich mit meinen Fingern nach. Als der Blick auf den Rest meines Körpers fällt, wende ich mich angeekelt ab. Er ist das Abbild meiner Seele; widerlich, hässlich und verdorben. Unruhe steigt in mir auf, ich stütze mich auf das Waschbecken und versuche kontrolliert aus- und einzuatmen. Ich fühle mein Herz schwer gegen den Brustkorb schlagen. Mit meinen Augen suche ich flehentlich nach Erlösung, schaue wild im Raum umher und verharre beim Anblick des Medizinschränkchens. Angespannt gehe ich darauf zu. Mit jedem Schritt spüre ich das stärker werdende Pulsieren in meinem Kopf. Ich presse meine Hand gegen die Schläfe und schüttele verzweifelt den Kopf, als könnte ich mich so von der quälenden Stimme befreien. Doch sie wird lauter, beginnt mich anzuschreien und versucht mein Handeln zu bestimmen. Ich möchte mich wehren, stattdessen hebe ich aber meine andere Hand und öffne die Tür des Medizinschrankes. Ich bilde mir ein, meinen Herzschlag hören zu können, schließe panisch die Augen und spüre nach einer heftigen, kopflosen Bewegung einen gleißenden Schmerz in meiner rechten Hand. Die Stimme wird ruhiger, doch sie ist noch da. Ich schaue zur Wand, gegen die ich soeben geschlagen habe, hole erneut aus und schlage wieder und wieder mit aller Kraft dagegen, bis in meinem Kopf Stille herrscht. Dann sinke ich schwer atmend zu Boden und breche weinend zusammen.
 

Frisch geduscht verlasse ich das Badezimmer, als mein Vater vom Einkaufen zurückkommt. Sofort fällt sein Blick auf meine lädierte Hand.

„Was ist passiert?“, fragt er besorgt.

„In der Dusche ausgerutscht“, antworte ich knapp. Gleichzeitig frage ich mich, warum ich versuche, ihn anzulügen. Er sagt nichts dazu, doch seinem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass meine Vermutung richtig ist. Er glaubt mir nicht. Ich beobachte ihn beim Auspacken der Einkaufstüten und ein quälendes, schlechtes Gewissen meldet sich.

„Es tut mir leid“, murmele ich.

„Schon gut“, entgegnet er, ohne mich dabei anzusehen.
 

Zurück in meinem Zimmer schaue ich erneut auf die Uhr. Tai müsste schon längst da sein. Ich setze mich wieder an meinen Schreibtisch und beginne, mein Geschriebenes noch einmal durchzulesen. Nach ein paar Sätzen lege ich es beiseite, stehe auf und gehe zum Kleiderschrank, öffne ihn, schließe ihn wieder und setze mich anschließend unruhig auf das Bett. Mehrmals fällt mein Blick auf die Uhr, während ich mir die schlimmsten Dinge ausmale, die passiert sein könnten. Nach einer gefühlten Ewigkeit voller Sorge und Angst öffnet sich die Tür zu meinem Zimmer und Tai kommt herein. Ich schaue ihn völlig aufgelöst an.

„Was ist denn mit dir los?“, fragt er irritiert, als er mich zusammengekauert auf dem Bett sitzen sieht. Ich möchte ihn anschreien, doch mit den Nerven am Ende schaffe ich es nicht, ihm eine Antwort zu geben. Er nimmt neben mir Platz, ohne mich zu berühren. Schweigend starren wir vor uns hin, bis ich endlich die Kraft aufbringen kann, ihn zu fragen: „Wo warst du?“

„Was?“ Er schaut überrascht zu mir.

„Du hättest schon längst hier sein müssen.“ Ich fixiere weiterhin einen unbestimmten Punkt in meinem Zimmer, um der Versuchung nicht zu erliegen, ihn anzusehen.

„Tut mir leid, ich hatte noch etwas zu erledigen. Hat etwas länger gedauert als erwartet.“

„Was hattest du denn noch so Wichtiges zu erledigen?“, möchte ich wissen.

Leicht verärgert entgegnet er: „Bin ich dir jetzt schon Rechenschaft schuldig, was ich tue, wenn du nicht bei mir bist?“

Wut steigt in mir auf und ich habe Schwierigkeiten, sie nicht an ihm auszulassen. Ich schlucke eine bissige Bemerkung, die mir auf der Zunge liegt, hinunter, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Gedanklich sage ich mir immer wieder vor, dass ich mich zusammenreißen muss. Es darf nicht wieder alles eskalieren, sobald ich in Tais Nähe bin!

„Yamato.“ Seine Stimme holt mich in die Realität zurück und ich blicke fragend zu ihm.

„Ich liebe dich.“

Meine Augen weiten sich. Fassungslos starre ich ihn an. Warum sagt er das? Warum gerade jetzt? Ich will etwas darauf antworten, doch ich schaffe es nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. In meinem Kopf ist vollkommene Leere und doch herrscht ein unbändiges Chaos. Seine Augen, die mich voller Liebe anschauen, brennen sich erbarmungslos in mein Hirn. Ein stechender Schmerz durchfährt meinen gesamten Körper, als er seine Worte wiederholt. Dann zieht er mich zu sich und schließt mich sanft in seine Arme. Unfähig zu begreifen, was gerade passiert, und ohne mich zu wehren, lasse ich es geschehen. Ich merke, wie ich ruhiger werde und mich langsam entspanne.

„Geht es wieder?“, durchbricht Tai die Stille.

„Ja, aber bitte lass mich noch nicht los!“
 

„Verdammt!“, ruft Tai genervt. Ich liege mit einer Decke auf dem Sofa und schaue zu, wie er sich zum vierten Mal in den Tod stürzt. Genervt legt er den Kontroller beiseite und schaut zu mir.

„Ich bekomme es einfach nicht hin! Sie springt nicht so, wie ich das möchte, aber der Weg ist der richtige. Siehst du, dieser Gegenstand dort ist rot hervorgehoben. Aber wenn ich… was?!“ Er hält inne. Sein Gesichtsausdruck ist fragend.

„Nichts.“ Ich lächle.

„Dann würdest du nicht so schauen.“

„Du fändest es nicht toll.“

„Und woher willst du das wissen?“

„Weil ich dich kenne.“

„Nun sag schon“, quengelt er. Ich seufze, setze mich auf und grinse ihn an.

„Ich dachte nur gerade daran, wie süß du bist, wenn du spielst.“ Noch ehe er protestieren kann, beuge ich mich vor und gebe ihm einen Kuss auf den Mund. Nach kurzer Verblüffung seinerseits beginnt er mehr zu fordern, indem er mit seiner Zunge über meine Lippen leckt und anschließend mein harmloses Küsschen zu einem innigen Zungenkuss ausweitet. Ich erwidere diesen leidenschaftlich, während ich mit meinen Fingern hastig seine Hose öffne. Mir ist heiß und meine Haut fühlt sich an, als würde sie vor Erregung verglühen. Tais Hände umfassen entschlossen meine Handgelenke, er löst sich von mir und drückt mich grob gegen die Sofalehne.

„Das ist, glaube ich, jetzt keine gute Idee“, flüstert er schwer atmend.

„Wieso nicht?“, will ich wissen, doch als ich keine Antwort erhalte, versuche ich mich von ihm zu lösen. Ich schaffe es nicht, da er mich fest im Griff hat und diesen auch bei meiner Gegenwehr nicht lockert.

„Tai! Was soll das?“ In meiner Stimme schwingt eine Mischung aus Panik und Verärgerung mit. Keine Regung. Er starrt mich nur unentwegt mit seinen braunen Augen an. Mein Herz schlägt schneller. Er ist unnahbar, unberechenbar. Ich fühle mich hilflos, ausgeliefert und ratlos. In meinem Kopf rasen die Gedanken, doch ich kann keinen greifen. Er fixiert mich noch immer, ohne sich zu rühren. Ein beklemmendes Gefühl steigt in mir auf. Ich schließe die Augen und drehe meinen Kopf zur Seite. Krampfhaft versuche ich mich zu beruhigen. Der Griff um meine Handgelenke ist mittlerweile so fest, dass es zu schmerzen beginnt. In meinen Fingerspitzen macht sich bereits ein Taubheitsgefühl breit.

„Tai…“ Meine Stimme klingt ungewollt flehend.

„Ich gehe mir einen Kaffee holen. Möchtest du auch einen?“, fragt er ohne jede Emotion, dann gibt er mich frei, schließt seine Hose wieder und verlässt mein Zimmer, ohne meine Antwort abzuwarten.
 

Reglos liege ich auf meinem Bett. Die Spielekonsole läuft noch immer, ich habe sie nicht ausgeschaltet. Tai ist gegangen, nachdem er den Kaffee in der Küche getrunken hatte. Er kam nicht mehr zurück, sondern verabschiedete sich mit einem Rufen aus dem Flur. Ich verstehe noch immer nicht, was geschehen ist. Wieso verhält er sich manchmal aus heiterem Himmel so merkwürdig? Dass sich ein solcher Vorfall nicht das erste Mal ereignete, macht den Sachverhalt nicht einfacher. Er ist in solchen Situationen wie ein anderer Mensch, nein, eher unmenschlich. Seine Augen sind leblos und er scheint ohne jede Emotion zu sein. So kalt. So fremd und unnahbar.

Ich frage mich, ob es nur bei mir so ist. Bringe ich ihn dazu, so zu werden? Ist es meine Schuld? Ich weiß, dass ich nicht gut für ihn bin, ihn kaputt mache. Sind diese Zustände Auswirkungen davon? Bei diesem Gedanken bekomme ich Gänsehaut, sodass ich die Bettdecke fester um meinen Körper ziehe. Vor meinen Augen flackert das Bild. Ich blinzele und eine Träne rollt mir seitlich die Wange hinab. Einmal mehr wird mir schmerzlich bewusst, was ich durch meine bloße Existenz für Schaden anrichte. Erfüllt von Selbsthass drehe ich mich auf den Bauch, drücke mein Gesicht in das Kissen und lasse meinen Gefühlen freien Lauf.
 

Schläfrig öffne ich meine Augen. Für einen Moment fehlt mir die Orientierung. Ich setze mich auf und versuche in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Die Konturen der Einrichtung sagen mir, dass ich mich in meinem Zimmer befinde. Wahrscheinlich bin ich vor Erschöpfung eingeschlafen. Schwerfällig erhebe ich mich aus meinem Bett, gehe zum Lichtschalter und betätige ihn. Die Helligkeit sticht in meinen Augen, sodass ich sie schmerzend wieder schließe. Das Rauschen in meinen Ohren ist unerträglich und ich spüre ein starkes Pulsieren in meinem Kopf. Erneut öffne ich die Augen, diesmal vorsichtig, um sie an das Licht gewöhnen zu können. Dann betätige ich die Türklinke und verlasse das Zimmer. Ich versuche leise zu sein, als ich durch den Flur laufe, um meinen Vater nicht zu wecken, doch dann vernehme ich die Geräusche des Fernsehers und deute daraus, dass er sich noch im Wohnzimmer aufhalten muss. Gähnend betrete ich das Bad, schalte das Licht an und gehe zum Medizinschrank. Ich öffne ihn und entnehme eine Schachtel Schmerztabletten. Aus einer Blisterpackung drücke ich vier Stück heraus, den Rest lege ich zurück in den Schrank. Vor dem Waschbecken drehe ich den Wasserhahn auf, nehme die Tabletten in den Mund und schlucke sie mit ein wenig kaltem Wasser herunter. Dann wasche ich mir das Gesicht. Den Hahn schließend schaue ich in den Spiegel. Zwei blaue Augen mit Schlafzimmerblick und dunklen Augenringen darunter schauen mich müde an. Die Haut sieht fahl und die Wangen eingefallen aus. Ich betaste mit meinen Fingern die Lippen, die rau und aufgerissen sind.

‚Eine fremde Person‘, geht es mir durch den Kopf. Dann wende ich mich gleichgültig ab und verlasse das Bad. Ich werfe einen vorsichtigen Blick in das Wohnzimmer und sehe meinen Vater auf dem Sofa liegen. Lautlos betrete ich den Raum und merke beim Näherkommen, dass er während des Fernsehens eingeschlafen ist. Ich mache kehrt und komme mit einer Decke wieder. Behutsam lege ich sie über den Körper meines Vaters, bedacht darauf, ihn nicht zu wecken. Dann schalte ich den Fernseher ab und gehe zurück in mein Zimmer.
 

Unruhig wälze ich mich von einer Seite auf die andere. Ich versuche eine einigermaßen erträgliche Schlafposition zu finden, doch es gelingt mir nicht. Irgendein Körperteil ist immer im Weg, die Decke ist verkrempelt oder meine Schlafsachen verdreht. Genervt setze ich mich auf und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Ein unangenehmes Kribbeln beginnt in meinen Zehen und erstreckt sich schnell bis zur Wade. Ich schüttle mein Bein, in der Hoffnung, dass es aufhört. Es kribbelt stärker und ich schüttle es erneut, diesmal energischer. Es bringt nichts. Im Gegenteil, dadurch wird es nur schlimmer und treibt mich letztlich in den Wahnsinn. Innerhalb kürzester Zeit sind auch die Arme, dann der ganze Körper betroffen. Gereizt springe ich aus dem Bett und bewege mich fahrig durch das Zimmer, innerlich flehend, dieses Gefühl abschütteln zu können. Es gelingt mir nicht. Es gelingt mir nie. Dessen bin ich mir auch bewusst und doch versuche ich es jedes Mal wieder. Ich ziehe an meinen Schlafsachen herum, spüre jede kleine Falte überdeutlich. Es drückt, kratzt, juckt und schmerzt auf der Haut, sodass ich fast hysterisch werde. Generell wird jede Berührung, jeder Hautkontakt zur Qual. Verzweifelt entkleide ich mich nach einer Weile, streiche das Bettlaken glatt und lege mich mit ausgestreckten Gliedmaßen auf den Rücken. Die rechte Hand lege ich auf meine Brust, um meinen Herzschlag spüren zu können. Ansonsten versuche ich meine Aufmerksamkeit weg von meinem Körper auf etwas Schönes zu lenken. Angestrengt krame ich in meinen Erinnerungen. Erstaunt darüber, wie viele kleine und große Dinge mir einfallen, die mir wirklich Freude bereitet haben, begebe ich mich auf eine Reise durch mein Gedächtnis. Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen. Mit der Zeit werde ich ruhiger. Langsam schließe ich die Augen. Ich fühle, wie mein Körper schwerer wird und ich falle.
 

„Wie lange bist du eigentlich noch krankgeschrieben?“, möchte Tai wissen, während er wie wild auf den Kontroller einhämmert.

Ich sitze an meinem Schreibtisch und schaue den verpassten Schulstoff durch, den Tai mir nach dem Unterricht immer vorbeibringt, wobei er dann meist bis in die späten Abendstunden bleibt.

„In drei Wochen habe ich wieder einen Termin bei meinem Psychiater, der dann entscheidet, wie es weitergeht.“

„Hmm“, brummt Tai und ist dabei, ins Nichts zu springen.

Ich wende mich erneut den Schulmaterialien zu.

„Schöne Grüße… Fuck!“ Frustriert wirft er den Kontroller beiseite und schaut mich an.

„Würdest du das bitte lassen? Die Dinger sind teuer.“ Ohne vom Schreibtisch aufzusehen, füge ich hinzu: „Was wolltest du sagen, bevor du deinen Wutanfall hattest?“

Tai sieht mich entgeistert an. „Was ist denn mit dir los? Du wirkst so unterkühlt.“

„Was soll los sein. Ich bin beschäftigt. Außerdem möchte ich nicht, dass du mein Eigentum mutwillig zerstörst.“

„Bitte? Seit wann bist du so empfindlich? Wenn du ein Problem hast, dann sag es mir ganz offen, aber lass es nicht an mir aus.“

Gereizt entgegne ich: „Habe ich es denn nicht gerade ganz offen gesagt?“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Yama. Es geht momentan nicht wirklich um diesen dämlichen Kontroller, oder?“

„Worum soll es sonst gehen?“

„Sag du es mir.“ In seinen Augen sehe ich Provokation.

„Ich weiß nicht, was du von mir willst. Du scheinst wohl eher ein Problem zu haben.“

Fassungslos starrt mein Freund mich an. Ich wälze weiterhin die Unterlagen, ohne aufzusehen. Darauf konzentrieren kann ich mich allerdings nicht mehr, viel zu sehr hat Wut von meinen Geist Besitz ergriffen. Sie vernebelt meinen Verstand und bestimmt mein Handeln. Aber es ist nicht nur Wut, sondern, neben Gefühlen wie Verzweiflung, Angst, allerdings auch Zuneigung, noch ein anderes, welches ich hingegen nicht einordnen kann. Ich spüre nur, wie mir die Situation allmählich entgleitet und ich die Kontrolle verliere.

„Ja, ich habe ein Problem“, schreit Tai mich an. „Du bist das Problem beziehungsweise dein Verhalten. Merkst du das selbst nicht?“

Zorn steigt in mir auf. „Wenn ich dir so zuwider bin, dann geh! Ich brauche dich nicht! Und du bist ohne mich sowieso besser dran.“ Meine Stimme wird kalt und ich blicke gleichgültig ins Nichts. „Ich sollte eigentlich längst tot sein. Wenn…“ Augenblicklich fühle ich einen gleißenden Schmerz auf meiner Wange. Ich verharre und genieße meinen bittersüßen Triumph. Dann höre ich wie durch einen Nebel Tais herabwürdigendes Lachen.

„Bist du schon so tief gesunken, dass du um Erniedrigung förmlich bettelst?“ Seine Stimme wird ernst und im Unterton schwingt eine tiefe Traurigkeit mit. „Warum gelingt es deinem Selbsthass, dich so zu beherrschen? Er wird dich zerstören, Yamato. Hörst du?“ Er packt mich an den Schultern und schüttelt mich, als wollte er versuchen, mich aus meiner eigenen Welt zurückzuholen. „Du wirst an ihm zugrunde gehen! Willst du das wirklich?“

Ich reagiere nicht. Mein Blick ist starr und leer. Entfernt vernehme ich noch die Worte meines Freundes, ihren Sinn begreife ich jedoch nicht. Die Umgebung ist seltsam irreal; die Konturen verschwimmen, die Größenverhältnisse wechseln irregulär und die Farben sind übersteuert. In meinen Ohren wird das Rauschen immer lauter und das Stechen in meinem Kopf intensiver.

Wie fremdgesteuert antworte ich schließlich: „Ja, dann ist das alles wenigstens endlich vorbei. Niemand muss mehr meinetwegen leiden. Und alle wären glücklich.“

Liebevoll zieht Tai mich an sich und umfängt mich mit seinen Armen. Wie aus einem Traum erwachend nehme ich auf einmal den zitternden Körper meines Freundes wahr. Ich rieche den Duft seiner Haare, den ich so liebe, spüre die Wärme seines Körpers, die mir sagt, dass er am Leben ist, und höre sein unregelmäßiges Atmen. Er weint.

„Ich nicht“, flüstert er, zu mehr scheint er derzeit nicht fähig zu sein. „Ich leide nicht deinetwegen und ich wäre nicht glücklich ohne dich. Bleib bei mir, okay? Und wenn du es im Moment nicht schaffst, für dich zu leben, dann lebe für mich. Ich weiß, ich bin egoistisch, aber wenn ich mir vorstelle dich zu verlieren, dann…“ Seine Stimme versagt und ich merke, wie sein Körper schwerer wird und in sich zusammenzusacken droht. Unter großem Kraftaufwand versuche ich ihn aufrecht zu halten, doch ich bin zu schwach. Es gelingt mir nicht. Ich kann ihn nicht stützen. Gemeinsam sinken wir zu Boden. Völlig aufgelöst und hilflos sitzen wir auf dem Teppich meines Zimmers und versuchen uns gegenseitig Halt zu geben.

Entspannt sitze ich auf einer Bank im Park, habe mich zurückgelehnt und halte die Augen geschlossen. Ich versuche mir noch einmal die soeben beendete Therapiestunde ins Gedächtnis zu rufen. Es ging um den Umgang mit Gefühlen und die rechtzeitige Erkennung von dissoziativen Zuständen sowie Skillstraining. Wie bereits die Sitzungen zuvor. Entweder bin ich zu blöd oder das Ganze hat einfach keinen Sinn. Ich kann zumindest nicht feststellen, dass sich irgendetwas verbessert hat. Es ist nur ein an mich verschwendeter Platz, den jemand anderes mit Sicherheit dringender gebrauchen könnte. Die Sonne scheint mir warm ins Gesicht und kitzelt sanft auf meiner Haut. Es scheint ewig her, dass ich so lange Zeit an der frischen Luft war. Bewusst atme ich ein und aus und versuche dabei den Duft des Sommers in mich aufzusaugen. Ich nehme den belebenden Geruch des Rasens und der Erde wahr sowie den des Holzes der Bäume. Durch einen erfrischenden Windstoß, der etwas Abkühlung von der aufkommenden Mittagshitze bringt, dringt das Rascheln der Blätter an mein Ohr. Vögel zwitschern aufgeregt und flattern ruhelos umher. Ich öffne langsam meine Augen, kneife sie aber sofort zusammen. Die Sonne blendet mich, sodass ich die Hand vor mein Gesicht halte und warte, bis ich mich an die Helligkeit gewöhnt habe. Dann lasse ich meinen Blick durch den Park schweifen. Vereinzelt gehen Leute mit einem Hund spazieren, Jogger drehen ihre Runden sowie Fahrradfahrer, die das Rad durch den Park allerdings schieben müssen. Jeder von ihnen lebt sein eigenes Leben. Ihre Wege kreuzen sich hier zufällig, vielleicht zum ersten und letzten Mal, vielleicht schon des Öfteren. Aber für einen winzigen Augenblick nehmen sie am Leben des Anderen teil und wahrscheinlich ist es ihnen noch nicht einmal wirklich bewusst. Vermutlich interessiert es sie auch nicht. Direkt an mir vorbei geht ein älterer Mann und spricht vor sich hin. Ich schaue mich um. Weit und breit ist niemand zu sehen, mit dem er reden könnte. Ich drehe den Kopf wieder und sehe ihm nach. Unbeirrt läuft er weiter und führt Selbstgespräche oder er sieht eine Person, die ich und wahrscheinlich auch viele andere nicht sehen können. Anscheinend ist er sehr einsam, wenn nicht sogar allein. Leider gibt es viele solcher Existenzen, die von niemandem beachtet, allenfalls blöd angeschaut werden. Warum diese Menschen so geworden sind, fragt keiner, weil es auch niemand wissen will. Man müsste über den Rand seiner eigenen, kleinen, heilen Welt hinausschauen, wozu nur die wenigsten bereit sind. Mir steht es jedoch nicht zu, jemanden zu verurteilen, auch ich werde diese Welt nicht retten können. Ich möchte ja nicht einmal in ihr leben. Ich kann nicht in ihr leben. Es fühlt sich falsch an. Ich passe nicht hinein. Selbst wenn ich wollte.

Allmählich spüre ich die brennende Hitze auf meiner Haut. Als ich versuche aufzustehen, wird mir schwindelig, sodass ich mich wieder setze. Das sind die einzigen Momente, in denen ich meine Narben verfluche, denn somit bleibt mir kurze Kleidung verwehrt und die Wärme staut sich noch mehr. Ich bin nicht der Meinung, dass es egal ist, ob andere die Male sehen. Es geht niemanden etwas an, außer Tai vielleicht. Generell frage ich mich, weshalb ich in den Park gekommen bin. Sicher, er liegt auf dem Weg zu meiner Therapie, aber das ist nicht erst seit heute so und sonst hat er mich auch nicht interessiert. Zudem hasse ich den Sommer eigentlich und bin froh, wenn ich mich zu Hause bei heruntergelassenem Rollo verkriechen kann. Ist es möglicherweise doch eine kleine Veränderung? Ist es vielleicht doch nicht so sinnlos, wie ich dachte? Oder ist es nur eine von vielen Launen, die bei mir immer mal wieder durchkommen?

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ich spüre, dass sich jemand neben mich auf die Bank setzt. Ich schaue zur Seite und direkt in das stark zerfurchte Gesicht einer alten Frau. Sie lächelt mich an.

„Hallo, junger Mann“, sagt sie in freundlichem Ton.

„Guten Tag“, gebe ich verlegen zurück. Es fällt mir schwer, mit solchen Situationen umzugehen.

„Ja, das ist es wahrlich. Ein guter Tag. Herrliches Wetter… ist Ihnen nicht warm in Ihren langen und noch dazu schwarzen Sachen?“ Sie mustert mich verwundert und zugleich interessiert.

Wie ich diese Frage hasse. Ich versuche zu lächeln und mir nicht anmerken zu lassen, dass ich kurz vor einem Hitzschlag stehe.

„Nein“, erwidere ich versucht gelassen, sehe aber bereits leicht doppelt. Ich muss so schnell wie möglich aus der Sonne. Aber die Frau tut mir leid. Es ist offensichtlich, dass sie in den Park kommt, um mit jemandem reden zu können. Dabei spielt es keine Rolle, wer ihr Gegenüber ist oder ob sie ihn kennt. Es geht einfach nur um den Kontakt zu anderen Menschen. Vielleicht hat sie keine Verwandtschaft, wahrscheinlicher ist allerdings, dass ihre Verwandten nichts mehr von ihr wissen wollen oder nie Zeit haben.

„Kommen Sie öfter hierher? Der Park ist so wundervoll. Ich bin eigentlich jeden Tag hier, wenn das Wetter es zulässt. Hier geht die Zeit noch etwas langsamer. Menschen, die diesen Ort aufsuchen, sind meist nicht in Eile. Sie suchen Ruhe, Natur, wollen dem Alltag entfliehen… Weshalb sind Sie hier?“

Mein Blick richtet sich in die Ferne. Einen Moment schweige ich, dann sage ich mit nachdenklicher Stimme: „Ich weiß es nicht.“
 

Bedächtig öffne ich die Wohnungstür. Der hämmernde Schmerz in meinem Kopf lähmt mich und meine Bewegungen. Die Gedanken stehen still. Meine Handlungen sind wie programmiert. Ich schließe noch nicht einmal die Türen hinter mir. Im Badezimmer öffne ich den Medizinschrank und hole die Schmerzmittelpackung heraus. Ein Schwindelgefühl zwingt mich, Halt am Waschbecken zu suchen. Mich mit einer Hand abstützend drücke ich die Tabletten einer Blisterpackung heraus, nehme sie einzeln auf und schlucke sie ohne Wasser hinunter. Schwer atmend greife ich mir an die Brust und versuche durch Druck auf den Brustkorb das krampfartige Herzstechen zu lindern. Ich merke, wie meine Beine zu zittern beginnen. Das Kreiseln in meinem Kopf fängt an sich mit einem die Sinne verhüllenden Nebel zu vermischen, wobei das Dröhnen mich allmählich in den Wahnsinn treibt. Mit großer Anstrengung gelingt es mir, mich aufrecht zu halten. Ich entnehme der kleinen Schachtel noch eine Blisterpackung, aus der ich erneut die kleinen, weißen Arzneimittel eine nach der anderen herausdrücke und hastig mit meinen inzwischen ebenfalls zitternden Händen zum Mund führe und hinunterschlucke. Mit einem Mal überwältigt die Schwäche meinen Körper, ich verliere das Gleichgewicht, schaffe es nicht mehr, mich weiterhin am Waschbecken festzuhalten, und falle unsanft auf die kalten Fliesen. Ich bleibe liegen, unfähig mich zu bewegen. Mein Kopf ist abgesehen von den Schmerzen und dem Nebelschleier vollkommen leer. Mein Bewusstsein beginnt in das Nichts abzudriften, als plötzlich starke Übelkeit in mir aufsteigt. Krampfhaft versuche ich, meinen Körper in Richtung Toilette zu bewegen, doch er verweigert sich mir. Meine Gliedmaßen sind schwer wie Blei und fremd, so als wären sie kein Teil von mir. Ich habe jegliche Kontrolle über mich verloren. Unweigerlich setzt der Würgereflex ein und ich erbreche ein Gemisch aus Speichel, Galle und Medikamenten neben mich auf die Fliesen. Tränen füllen meine Augen, während ich leblos in meinem eigenen Erbrochenen liege.
 

Ich öffne meine Augen und versuche mich zu orientieren. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich im Bad zusammengebrochen bin und mich übergeben musste. Dann habe ich offenbar das Bewusstsein verloren. Mein Blick schweift durch den Raum, den ich als mein Zimmer erkenne. Ich liege auf dem Bett, auf der Stirn ein kalter Waschlappen. Es ist angenehm, da mein Kopf nach wie vor stark schmerzt. Ich will mich bewegen, doch mein Körper ist noch immer wie gelähmt, die Arme und Beine kaum fühlbar, aber mit einem leichten Kribbeln. In der Hoffnung, es ignorieren zu können, schließe ich die Augen wieder. Gerade als ich meine Gedanken etwas sortieren will, höre ich meinen Vater den Raum betreten und merke, wie er sich auf meine Bettkante setzt. Ich sehe ihn an.

„Yamato, ein Glück.“ Er scheint erleichtert zu sein. „Wie geht es dir?“

Es fällt mir schwer, etwas zu sagen. Meine Kehle ist trocken. Zudem habe ich einen schalen Geschmack im Mund.

„Es ging schon besser“, gebe ich mit kläglicher Stimme zu. „Kann ich bitte etwas Wasser bekommen?“

„Natürlich.“ Er nimmt ein Glas von meinem Nachttisch, welches er wahrscheinlich schon in weiser Voraussicht dort hingestellt hat. Behutsam hilft er mir, mich ein wenig aufzurichten, stützt mich mit der einen Hand, während er mir vorsichtig mit der anderen das Glas an die Lippen hält, damit ich in kleinen Schlucken daraus trinken kann. Dann stellt er es wieder beiseite, streichelt mir liebevoll über den Rücken, bevor er mich zurück auf das Betttuch legt.

„Kannst du dich erinnern, was passiert ist?“ Seine Besorgnis ist nicht zu überhören.

„Ich glaube schon“, überlege ich. „Ich war bei der Therapie und auf dem Rückweg habe ich eine Pause im Stadtpark eingelegt. Vermutlich war ich etwas zu lange in der Sonne. Als ich nach Hause kam, war mir bereits schwindelig und mein Kopf schmerzte außergewöhnlich stark. Dann weiß ich nur noch, dass ich mich im Badezimmer nicht mehr auf den Beinen halten konnte und mich übergeben musste.“

„Das klingt verdächtig nach einem Sonnenstich. Wichtig ist jetzt, dass du dich nicht überanstrengst. Bleib am besten noch eine Weile liegen. Ich werde dich erst einmal in Ruhe lassen, damit du etwas schlafen kannst.“

Er streicht mir sanft über die Wange, dann erhebt er sich.

„Papa?“, frage ich mit beinahe flehender Stimme. „Kann ich bitte eine Kopfschmerztablette bekommen?“

Er schaut mich mitleidig an. Seine Augen sehen traurig und unglaublich müde aus. Im Allgemeinen wirkt er sehr erschöpft. Die Schultern hängen schlaff herunter, die Haltung ist leicht gebeugt und sein Gang schleppend. Auch habe ich meinen Vater schon lange nicht mehr von Herzen lachen hören. Das Lächeln, welches er mir hin und wieder schenkt, strahlt eher Traurigkeit als Frohsinn aus. Plötzlich überkommt mich ein unbeschreibliches Gefühl von Zuneigung und ich würde ihn gern umarmen. Sein Blick ruht noch immer auf mir, nimmt jetzt aber strengere Züge an.

„Nein, Yamato.“

„Was?“ Entsetzt und ungläubig zugleich schaue ich ihn an.

„Du hast schon verstanden. Soweit ich es erst einmal verhindern kann, gibt es für dich keine Schmerzmittel mehr. Als ich dich im Bad gefunden habe, lagst du in deiner eigenen Kotze, oder eher Medikamentengalle, denn du hattest ja wieder einmal nichts gegessen. Du hast zwanzig Schmerztabletten geschluckt, auf nüchternen Magen! Yamato, was ist nur los mit dir? Willst du dich mit aller Macht zugrunde richten? Egal mit welchen Mitteln?“ Betrübt unterbricht er sich und Tränen füllen seine Augen. Schuldbewusst drehe ich meinen Kopf weg, ich schaffe es nicht mehr, ihn anzusehen. Mit zitternder Stimme spricht er weiter: „Ich weiß, ich kann dich nicht dazu zwingen, zu essen. Ich weiß, ich kann dich nicht davon abhalten, Tabletten zu schlucken. Ich weiß, ich kann nicht verhindern, dass du dir mit einer Rasierklinge tiefe Wunden zufügst. Aber bleibt mir wirklich nichts, außer dir beim Sterben zuzusehen?“

Die eintretende Stille im Raum wird nur vom Schluchzen meines Vaters unterbrochen. Ich liege von ihm abgewandt wie versteinert auf meinem Bett. Eine Antwort gebe ich nicht.
 

Mein Blick ist auf die Seiten eines Buches gerichtet, welches ich gerade zu lesen versuche. Bereits zum dritten Mal beginne ich den Absatz. Meine Augen nehmen die Buchstaben zwar auf, doch deren Bedeutung wird von meinem Gehirn nicht erkannt. Ich lasse das Buch sinken und schaue geistesabwesend aus dem Fenster. Die Worte meines Vaters hängen mir noch immer nach. Seine Hilflosigkeit und Verzweiflung, sein Blick, seine Tränen, zeigen mir das verheerende Ausmaß meiner Existenz. Ich hindere ihn nicht nur am Leben, sondern zerstöre ihn auch. Ebenso wie Tai, äußerst brutal vergewaltige ich seine Seele, wieder und wieder. Ich sehe zu, wie er an mir zerbricht. Aber statt ihn vor mir zu schützen, füge ich ihm weitere abscheuliche Verletzungen zu. Ich will ihn an mich ketten, sodass er sich nicht befreien kann, selbst wenn er wollte. Meine Abhängigkeit soll auch die seine sein. Er wird mir gehören, bis in den Tod. Wenn nötig mit Gewalt.

Ein Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken, doch bevor ich etwas sagen kann, öffnet sich die Tür und Tai betritt mein Zimmer. Er wirft seine Schultasche vor das Sofa und setzt sich zu mir an das Bett.

„Und, wie geht es dem Patienten heute? Ich habe von deinem Vater erfahren, was passiert ist. Und das, obwohl du sonst nie freiwillig in die Sonne gehst und soweit ich weiß wegen des Lithiums auch gar nicht darfst. Was war los?“

Noch gar nicht ganz anwesend schaue ich meinen Freund an. Seine dunklen Augen sehen mich fragend an. Mein Blick wandert zu seinem leicht geöffneten Mund, dann hinab zu seinem Hals. Erregung überkommt mich, als ich in meiner Vorstellung seinen Nacken sanft mit meinen Fingern liebkose, diese dann zärtlich um seine Kehle lege und erbarmungslos zudrücke.

Tais Hand an meiner Wange holt mich zurück in die Realität. Doch bevor ich die Situation komplett erfassen kann, spüre ich seinen warmen Atem und seine Lippen, die flüchtig die meinen berühren. Bevor ich auf den Kuss eingehen kann, entzieht Tai sich mir geschickt.

„Wieder da?“, fragt er mit einem eigenartigen Lächeln.

„Ich…“ Unfähig mich zu sammeln, sitze ich angespannt in meinem Bett, während sich meine Finger außerhalb von Tais Sichtfeld tief in dem Laken verkrampfen. Die Hand meines Freundes ruht wegen des Kusses neben meinen Beinen. Als er sie wegziehen möchte, streicht er dabei wie zufällig darüber, hält inne und betrachtet mich mit einem merkwürdigen Grinsen.

„Wenn ich jetzt zwischen deine Beine greifen würde, was würde sich mir da offenbaren, Yamato?“

Meine Augen weiten sich und ich fühle, wie Hitze in mir aufsteigt. Verlegen schaue ich zur Seite.

„Du bist erregt, habe ich Recht?“, raunt er, während er sich mir nähert. Mit seiner Zunge leckt er sinnlich über meinen Hals, bevor er erbarmungslos hineinbeißt. Eine Mischung aus lustvollem Stöhnen und Schmerzensschrei entweicht meiner Kehle.

Von mir ablassend, aber in seiner Position verharrend flüstert er: „Das gefällt dir, was?“ Er lässt seine Hände fühlbar über meinen Körper gleiten und legt dann seine Finger um meinen Hals. „Die Frage ist nur, ob dich der Sex oder die Gewalt geil macht. Oder ist es eine Mischung aus beidem?“

Ich sehe ihn an. Die Lust beherrscht noch immer meinen Körper, doch meine Stimme klingt emotionslos: „Nichts von beidem. Bei jedem Anderen lässt mich sowohl das eine als auch das andere kalt. Es sind normalerweise nur Mittel, um mich zu spüren und meinen Selbsthass zu steigern.“

Tai lässt nicht von mir ab, fragt aber skeptisch: „Und was ist bei mir anders?“

Ich schweige. Der Druck auf meinen Kehlkopf verstärkt sich leicht.

„Also gut, du hast die Wahl. Soll ich dich jetzt bis an die Grenze zur Vergewaltigung ficken oder mit meinen eigenen Händen töten?“ Seine Augen sind eiskalt. Einmal mehr habe ich das Gefühl, dass mein Freund nicht mehr er selbst ist. Ich frage mich, ob er die Situation noch erfassen kann und ob er wirklich die Option, mich zu töten, umsetzen würde.

„Drück zu“, gebe ich zur Antwort. Seine Reaktion interessiert mich.

„Verstehe, du entscheidest dich für den Tod und somit gegen mich.“ Er lässt mich noch immer nicht los. Ich muss lachen.

„Und so etwas wie eine Vergewaltigung wäre eine Entscheidung für dich? Klingt makaber, findest du nicht?“ Die Kälte in seinen Augen weicht nun einem schmerzvollen Ausdruck.

„Ich würde alles tun, um dich am Leben und bei mir zu behalten. Verstehst du denn noch immer nicht? Ich liebe dich, Yamato.“

Ich umfasse mit meinen Händen seine Handgelenke und löse somit seinen Griff. Dann ziehe ich ihn zu mir, umschließe ihn mit meinen Armen und drücke ihn fest an mich. Ich möchte ihm antworten, bringe jedoch kein Wort heraus.
 

Tai hat sich mit dem Oberkörper über die Sofalehne gebeugt und beobachtet mich beim Sortieren der Unterrichtsmaterialien.

„Bist du sicher, dass du nächste Woche wieder zur Schule gehen wirst?“, fragt er zweifelnd. „Ich finde nicht, dass du schon so weit bist.“

„Das entscheidet der Arzt und nicht du“, entgegne ich ohne aufzusehen.

„Schon, aber wie fühlst du dich denn? Denkst du, du schaffst es?“

„Das wird sich zeigen.“ Meine Stimme klingt liebloser als beabsichtigt. Tai sieht mich abschätzig an.

„Du bist sauer, oder?“

„Warum sollte ich?“ Ich versuche beschäftigt zu wirken.

„Weil ich vorhin nicht mit dir geschlafen habe. Weil ich dir weder in sexueller noch in gewalttätiger Richtung Befriedigung verschafft habe.“

Ich sage nichts, halte aber in meinem Tun inne.

„Yamato, sieh mich an. Du bist körperlich noch geschwächt.“

„Na und? Das ist unwichtig. Wie kannst du mich erst heiß machen und dann fallen lassen?“ Unglauben zeichnet sich auf Tais Gesicht ab.

„Das ist nicht dein Ernst. Du verlangst nicht wirklich von mir, dass ich dich hart nehme, wenn du krank bist.“

„Ich bin nicht krank, aber selbst wenn, wieso nicht?“

„Ganz einfach, weil es mir keinen Spaß macht, wenn du dich nicht wehrst. Und wenn du zu schwach bist…“

„Du bist pervers“, unterbreche ich ihn. Er lächelt mich an.

„Du wohl nicht?“
 

Ich schließe die Tür auf und betrete die Wohnung. Als ich einen Blick in die Küche werfe, sitzt mein Vater mit der Morgenzeitung bei einem ausgiebigen Frühstück. Ich nehme mir eine Tasse Kaffee und geselle mich zu ihm. Er schaut auf, sieht mich an, als wolle er etwas sagen, schweigt dann aber. Ich weiß, worauf er hinaus möchte, ignoriere es aber. Enttäuscht widmet er sich erneut seiner Zeitung.

„Ich werde nächste Woche wieder zur Schule gehen“, durchbreche ich die angespannte Atmosphäre.

„Hältst du das für eine gute Idee?“ Seine Augen mustern mich kritisch.

„Der Arzt meinte, wenn ich es mir zutraue, wäre es sogar gut, wieder unter Menschen zu kommen.“

„Seit wann bist du gern unter Menschen?“, fragt er argwöhnisch.

Ich stelle meine Kaffeetasse ab. „Was soll das denn heißen?“

„Yamato, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dir nach allem, was passiert ist, noch vertrauen kann?! Und so, wie du dich gerade verhältst, läuten bei mir schon wieder alle Alarmglocken.“

Ich lache laut auf. Wütend erhebt sich mein Vater, macht ein paar Schritte auf mich zu und gibt mir eine kräftige Ohrfeige. Mein Lachen verstummt und ich sehe beschämt zu Boden.

„Du merkst schon gar nicht mehr, wie sehr du die Menschen, die dich lieben, verletzt. Versuchst du auf diese Weise alle von dir zu stoßen, damit du dich, wenn du niemanden mehr hast, ruhigen Gewissens umbringen kannst?“ Er dreht sich weg und geht zur Tür. Bevor er den Raum verlässt, wendet er sich merklich aufgewühlt noch einmal an mich: „Takeru hat angerufen. Er möchte heute nach der Schule vorbeikommen.“

Bestürzt bleibe ich allein zurück und die Frage, ob mein Vater mit seinen Behauptungen und Vermutungen Recht hat, ergreift quälend Besitz von meinen Gedanken.
 

Erschöpft lasse ich mich auf das Sofa fallen. Mit der Fernbedienung schalte ich den Fernseher ein, dann starre ich auf den Bildschirm, ohne zu registrieren, welches Programm gerade läuft. Der Nachmittag mit meinem Bruder war zwar schön, aber gleichzeitig sehr anstrengend. Auch er versuchte noch einmal, mich davon abzuhalten, wieder zur Schule zu gehen. Wahrscheinlich hat mein Vater ihn zuvor darum gebeten. Denn ebenso wollte er Verständnis für sein Verhalten in mir wecken. Es ist ja nett, dass mein Vater sich um mich sorgt, doch diese ständigen Kontrollen gehen mir unglaublich auf die Nerven. Andauernd schleicht er um mich herum und beobachtet, was ich tue. Allem steht er skeptisch gegenüber. Und letztlich der Unsinn mit den Tabletten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ernsthaft glaubt, dass ich nicht weiß, wo er sie aufbewahrt.

Es klopft an der Tür und auf mein eher undeutlich genuscheltes „Ja“ steckt jener eben Bedachte seinen Kopf in mein Zimmer. Als er mich erblickt, tritt er einen Schritt herein.

„Hey“, kommt es leise über seine Lippen.

„Hey“, erwidere ich schlicht.

„Hast du Lust, mit mir zu Abend zu essen? Ich würde uns etwas bestellen.“ Er schaut mich eindringlich an.

„Nein, danke. Ich habe keinen Hunger“, antworte ich, ohne ihn anzusehen. Um weitere Diskussionen zu vermeiden, richte ich meine Aufmerksamkeit stur auf den Fernseher und höre kurz darauf, wie die Tür meines Zimmers wieder geschlossen wird.

Ich versuche krampfhaft mir das schlechte Gewissen auszureden, welches im Begriff ist, sich einzuschleichen. Ich verstehe dieses plötzlich aufkommende Gefühl nicht, zumal mein Verhalten nicht abnorm war. Und doch ist da etwas, das mich nicht loslässt. Mir kommen Augenblicke von früher in den Sinn. Damals habe ich immer für uns beide gekocht und wenn mein Vater abends erschöpft von der Arbeit kam, stand schon alles bereit. Es war schön, mit ihm zusammenzusitzen und über alles Mögliche zu reden. Aber auch da gab es schon Situationen wie diese, Situationen des Rückzugs, des Unverständnisses sowie meinen auffallend zerstörerischen Selbsthass. Nur war das eine Sache, über die wir uns zu jener Zeit meist ausschwiegen. Wahrscheinlich weil keiner von uns wusste, wie er damit umgehen sollte. Die Klinikaufenthalte haben das Eis wohl gebrochen, doch ob der jetzige Zustand besser ist, wage ich zu bezweifeln.

Mein Kopf dröhnt. Bedächtig erhebe ich mich von dem Sofa. Ich bin wie erschlagen. Langsam versuche ich ein paar Schritte zu gehen. Meine Beine fühlen sich an wie Pudding und ich habe die Befürchtung, dass sie das Gewicht meines Körpers nicht mehr lange tragen können. Zielgerichtet bewege ich mich auf meine Tasche zu und krame zittrig die Schachtel mit den Schmerzmitteln heraus, welche ich heute Morgen auf dem Weg zum Arzt in einer Apotheke gekauft habe. Hastig entnehme ich vier Tabletten, dann verstaue ich die Verpackung wieder in den Tiefen meiner Tasche. Ich wende mich um und greife nach der Wasserflasche neben meinem Bett. Mit gierigen Schlucken spüle ich die kleinen weißen Medikamente herunter. Komplett außer Atem setze ich die Flasche ab, verschließe sie wieder und stelle sie zurück neben das Bett. Dann lasse ich mich vollends kraftlos zu Boden sinken und bleibe reglos liegen.
 

„Yamato! Hey, Yamato!“, höre ich eine Stimme sagen. Langsam öffne ich die Augen und registriere allmählich, dass ich noch immer auf dem Boden meines Zimmers liege. Meine Gliedmaßen fühlen sich starr an, als ich versuche sie zu bewegen.

„Yamato! Soll ich den Notarzt rufen? Was ist denn passiert?“

„Papa! Jetzt komm mal wieder runter!“, flüstere ich genervt. „Ich bin nur eingeschlafen.“

„Auf dem Fußboden?!“ Er klingt misstrauisch.

Langsam erhebe ich mich, bedacht darauf, ihm nicht meine Schwachheit zu zeigen, und setze mich auf das Bett. Aus müden Augen schaue ich ihn an.

„Du siehst schlimm aus, mein Sohn.“ Besorgt streicht er mir durch das Haar. Ich drehe meinen Kopf etwas zur Seite und mein Blick fällt auf die geöffnete Zimmertür. Im Türrahmen steht Tai und mustert mich herablassend.

„Ich mache dir jetzt eine Hühnerbrühe und die wird ohne Widerrede gegessen! Hast du verstanden?“ Die Strenge in der Stimme meines Vaters lässt erkennen, dass er wirklich keine Proteste mehr duldet. „Und du legst dich erst einmal hin“, fügt er etwas sanfter hinzu, dreht sich um und will das Zimmer verlassen, als er vor meinem Freund leicht verwirrt zum Stehen kommt. Er wendet sich noch einmal an mich: „Ach ja, Taichi ist hier.“ Dann verlässt er den Raum in Richtung Küche.

Tai betritt mein Zimmer und schließt hinter sich die Tür. Ohne ein Wort und ohne die Augen von mir abzuwenden, setzt er sich zu mir an das Bett. Ich habe das Gefühl, von seinem Blick durchbohrt zu werden.

„Setz dich auf“, sagt er unerwartet kalt. „Oder bist du selbst dazu zu schwach?“

Entgeistert schaue ich ihn an, gehorche aber. Ich merke, dass es mir schwer fällt, mich zu bewegen, versuche es aber vor meinem Freund zu verbergen. Dieser packt mich plötzlich am Arm und zieht mich grob zu sich. Mit der anderen Hand zieht er meinen Kopf brutal ein Stück nach hinten, indem er seine Finger in meinen Haaren festkrallt. Sein Gesicht ist jetzt ganz nah vor meinem, sodass ich fühle, wie sein warmer Atem meine Haut kitzelt.

„Das gefällt dir, nicht wahr?“, flüstert er mir ins Ohr. „Aber glaubst du, dass mir das auf Dauer Spaß macht?“ Ich spüre, wie er noch stärker an meinem Haar zieht. Meine Kopfhaut schmerzt bereits und ich kann ein leises Keuchen nicht unterdrücken. Heftig stößt er mich wieder von sich, als auf dem Flur Schritte zu hören sind und kurz darauf mein Vater mit einem Teller Suppe hereinkommt. Er reicht sie mir mit den Worten: „Die wird aufgegessen.“

„Ich werde schon darauf achten, Herr Ishida“, verspricht Tai mit einem vielsagenden Blick auf mich.

„Also gut, dann werde ich euch mal allein lassen, aber ich verlasse mich auf dich, Taichi“, sagt er während des Gehens noch einmal eindringlich und schließt hinter sich die Tür. Nach einem Moment des Schweigens steht mein Freund auf und dreht den Schlüssel im Schloss. Als er dann zu mir schaut, kann ich nur Entschlossenheit in seinen Augen erkennen. Ich versuche diesen Blick zu deuten, kann ihm allerdings nicht lange standhalten. Irritiert schaue ich auf meinen Teller Suppe.

„Iss!“ Tais Aussage ist als Befehl und nicht als Bitte gedacht. Das war deutlich zu hören.

„Sag mal, geht’s noch? Ich bin doch nicht dein Sklave!“ Wut steigt in mir auf.

Tai kommt auf mich zu, nimmt mir den Teller aus der Hand und stellt ihn auf den Nachtschrank. Ich will ansetzen etwas zu sagen, doch mein Freund ist schneller. Er presst mich gegen die Wand, an der ich mit meinem Kissen lehne, und setzt sich rittlings auf meine Beine, um mich so festnageln zu können. Ich sehe ihm entsetzt ins Gesicht, welches direkt vor meinem ist. Mit einer Hand streicht er leicht über meine Wange und langsam hinab zum Hals.

„Willst du dich nicht wehren? Oder kannst du nicht, weil du keine Kraft mehr hast?“, fragt Tai ungewöhnlich zärtlich. Jedoch ohne eine Antwort abzuwarten, verpasst er mir eine Ohrfeige. Ein zwiebelnder Schmerz durchfährt meine Wange, doch bevor ich mich sammeln kann, zerrt mein Freund mich mit brutaler Gewalt aus dem Bett, sodass ich unsanft zu Boden falle.

„Steh auf“, ruft er unnachgiebig und schleift mich mit festem Griff ein Stück über den Teppich durch das Zimmer. Ich halte den Kopf gesenkt, denn ich schaffe es tatsächlich nicht, mich zu wehren. Mit einem Mal stoppt Taichi sein Vorhaben und kniet sich zu mir herab.

„Yamato?“, fragt er liebevoll. Als keine Reaktion meinerseits kommt, merke ich, wie er langsam seine Hände unter mein Oberteil schiebt. Mit seinen Fingern gleitet er sinnlich über meine Haut. Meine Atmung wird schwerer und ich möchte mich den Berührungen hingeben. Tai entledigt mich meines Oberteils und schaut mich dann teils schockiert, teils bestätigt an.

„Yamato“, sagt er noch einmal, diesmal weniger liebevoll. Ich rühre mich noch immer nicht und bekomme es mit Taichis Gewalttätigkeit quittiert. Er reißt mich erbarmungslos nach oben, stellt sich hinter mich und hält mich so fest, dass ich gezwungen bin, mich im Spiegel meines Zimmers zu betrachten.

„Sieh hin, Yamato!“, schreit er mich nun fast an. „Sieh dir deinen Körper an!“

Angewidert schaue ich hin. Da steht ein Mensch mit freiem Oberkörper. Seine Haut ist hell, aber übersät mit alten Narben und frischen Wunden. Die Knochen des Brustkorbes und des Schlüsselbeines zeichnen sich deutlich ab, ebenso wie die Hüftknochen. Auch die Arme sind dünn und knochig und mit zahlreichen Schnitten versehen. Das Gesicht der Person ist ausgemergelt, die Wangenknochen kommen leicht zum Vorschein, die Gesichtsfarbe ist blass mit dunklen Ringen unter den Augen. An einigen Stellen weist die Haut Irritationen mit Rötungen auf und die Lippen sind rau und aufgesprungen, teils blutig, teils bereits verkrustet. Ungewaschenes, blondes Haar hängt strähnig und glanzlos vom Kopf herab. Dann sehe ich der Person zum ersten Mal direkt in die Augen. Sie sind müde und leblos, zeigen keinerlei Regung oder Erkennen.

„Siehst du dich?“, fragt mein Freund nun ganz ruhig.

„Nein“, entgegne ich monoton, fast apathisch.

Tai lockert seinen Griff und schließt mich in seine Arme.
 

Ich stehe am geöffneten Fenster und schaue hinaus. Die Nacht ist klar, sodass die Sterne gut zu sehen sind. Verlangend sauge ich die warme Sommerluft ein, doch sie ist nicht befreiend, sondern gibt mir das Gefühl, zu ersticken. Ich fühle mich schwer und meine Arme hängen schlaff an mir herunter. Mit viel Anstrengung gelingt es mir, den linken zu heben, um das Fenster zu schließen. Aus einem längs verlaufenden Schnitt fließt unaufhörlich Blut, welches in kurzen Abständen zu Boden tropft. Mein Blick fällt auf die andere Hand und auch dort klafft am Handgelenk eine tiefe Wunde. Ich sehe noch einmal aus dem Fenster, dann wende ich mich ab. Gerade als ich mich zu meinem Bett begeben will, öffnet sich die Tür und Tai betritt den Raum. Er schließt ab und verstaut den Schlüssel in seiner Hosentasche. Ohne ein Wort kommt er auf mich zu. Sein Blick ist durchdringend und wie von Sinnen. Hart packt er mich am Handgelenk. Trotz der tiefen Verletzung spüre ich keinen Schmerz. Mit seinem Körper drängt er mich ein paar Schritte zurück, bis ich durch das Fenster und die Wand auf Widerstand stoße. Er presst sich an mich, sodass ich seine Erregung spüren kann. Dann hebt er meine Hand zu seinem Mund und benetzt seine Lippen mit meinem Blut, als er die Wunde zu küssen beginnt. Ich hebe meine freie Hand unter sein Kinn und ziehe ihn mit meinen Fingern zurück auf Augenhöhe und dicht vor mein Gesicht. Mit meiner Zunge fahre ich begierig über die Lippen meines Freundes. Ein süßlich-metallischer Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. Dicht an mich gedrängt fordert er mehr und verwickelt mich in einen berauschenden Zungenkuss. Ich spüre, wie er seine Hände forschend über meinen Körper gleiten lässt. Erregung und Hitze steigen in mir auf. Ich kralle meine Nägel in den Stoff von Tais Shirt und versuche, meine Atmung unter Kontrolle zu halten. Seine Finger umfassen sanft meinen Hals, dann drückt er rücksichtslos zu. Erschrocken schaue ich ihm in die Augen, doch sein Blick ist starr. Ich fühle, wie die Kraft immer weiter aus meinem Körper weicht, die Schnittwunden und der Sauerstoffmangel sind zu viel für ihn. Meine Arme entkrampfen und fallen nutzlos nach unten. Das Bild vor meinen Augen verengt und schwärzt sich, die tanzenden Punkte werden immer mehr. In meinen Ohren wird das Rauschen lauter, der Druck in meinem Kopf ist beinahe unerträglich. Es ist mir unmöglich, zu schlucken, womit sich reflexartig ein starkes Husten einstellt. Tai bleibt davon unbeirrt und drückt noch fester zu. Seine Augen sind ohne jede Emotion. Ich versuche zwischen den Hustenanfällen etwas zu sagen, doch es gelingt mir nicht. Dann merke ich, wie ich allmählich das Bewusstsein verliere. Entfernt nehme ich noch Tais Stimme wahr, in der ich jetzt unendliche Liebe und Zuneigung zu hören glaube: „Gleich ist es vorbei, mein Liebling.“

Ich öffne die Augen. Für einen kurzen Moment fehlt mir die Orientierung. Nach einer Weile begreife ich, dass ich in meinem Zimmer bin und dieses merkwürdige Szenario nur ein Traum war. Noch immer etwas benommen, fahre ich mir mit der Hand über das Gesicht. Dann greife ich nach der Flasche neben meinem Bett. Meine Kehle ist so trocken, dass es schmerzt. Durstig nehme ich ein paar Schlucke und stelle sie wieder zurück auf ihren Platz. Mit einem tiefen Seufzer drehe ich mich um und versuche erneut Schlaf zu finden.
 

Es klopft an meine Zimmertür. Nach einem kurzen Moment wird sie geöffnet und mein Vater schaut hinein. Ich bin gerade dabei, meine Schulsachen in meiner Schultasche zu verstauen.

„Tai wird gleich da sein.“

Schweigen.

„Willst du wirklich schon wieder zur Schule gehen? Du siehst noch sehr krank aus und wirkst kraftlos.“

„Ich werde gehen. Hier verliere ich langsam den Verstand.“

Wieder Schweigen.

Plötzlich durchdringt das Läuten der Türklingel die unangenehme Stille. Mein Vater verlässt eilig das Zimmer. Ich wende mich wieder meiner Schultasche zu und packe die letzten Sachen zusammen. Dann erhebe ich mich und gehe zu meinem Kleiderschrank. Vor dem Spiegel bleibe ich stehen. Als ich hineinsehe, erblicke ich Tai. Er steht hinter mir und schaut über den Spiegel direkt in meine Augen.

„Bist du fertig? Wir müssen langsam los.“
 

Erschöpft lasse ich mich auf den Stuhl an meinem Platz sinken. Der Schulweg war anstrengender, als ich erwartet hatte. Ich fühle mich zittrig und meine Glieder schmerzen unangenehm. Müde schließe ich die Augen.

„Hey, Yamato. Schön, dass es dir besser geht.“

Schläfrig öffne ich meine Lider wieder und schaue in die Gesichter meiner Bandkollegen.

„Hey.“ Mehr kommt nicht über meine Lippen.

„Ähm… wir müssen dann mal wieder in unsere Klassen. Der Unterricht fängt gleich an. Aber es würde uns wirklich freuen, wenn du bald zur Band zurückkehren könntest.“ Ich glaube ein mitleidiges Lächeln in ihren Gesichtern zu erkennen, bevor sie sich abwenden und schnellen Schrittes den Raum verlassen. Im selben Moment läutet die Schulglocke.
 

Entnervt schaue ich zum wiederholten Mal auf die Uhr. Diese Stunde kommt mir unendlich lang vor. Das Hämmern in meinem Kopf wird immer stärker und der Schmerz in meinem Hals, mit dem ich heute Morgen aufwachte, bereitet mir Probleme beim Schlucken. Mein Blick fällt auf die Tafel. Ich muss ernüchtert feststellen, dass meine lange Abwesenheit nicht ohne Folgen geblieben ist. Dies merkte ich bereits beim Durcharbeiten der Materialien, die Tai mir mitbrachte. Ich hatte ziemliche Schwierigkeiten beim Verstehen einiger Zusammenhänge und nun bleibt mir der bittere Geschmack der Gewissheit. Die Schulglocke reißt mich aus meinen Gedanken.

„Yamato.“ Irritiert sehe ich mich um. Der Lehrer ist die einzige Person, die mich ansieht. „Yamato. Ich hatte während der gesamten Stunde das Gefühl, du wärst nicht bei der Sache gewesen. Bist du sicher, dass du schon wieder zur Schule gehen kannst? Du siehst noch alles andere als gesund aus.“

Hinter mir höre ich ein paar Mitschüler kichern und tuscheln. Ich versuche sie zu ignorieren.

„Es tut mir leid, ich…“

„Schon gut. Du sollst zum Direktor.“
 

Das Gesicht in meinen Händen vergraben sitze ich auf einer Bank auf dem Schulhof. Der Pausenlärm dringt an mein Ohr, doch ich nehme ihn kaum war. Noch immer schwirrt mir das Gespräch mit dem Direktor im Kopf herum. Ich bin jetzt im letzten Jahr der Oberstufe, doch den Abschluss werde ich nicht bekommen. Aufgrund der Klinikaufenthalte habe ich zu viele Fehlzeiten, sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als die Klasse zu wiederholen. Ungünstig ist, dass das Schuljahr bereits begonnen hat und ich mitten im Schuljahr die Klasse wechseln muss. Da die Sommerferien bald beginnen, war der Vorschlag des Direktors, die Rückstufung danach vorzunehmen. Eigentlich hatte ich mit einem solchen Verlauf gerechnet. Es wäre blauäugig gewesen, zu denken, dass alles beim Alten bleiben würde. Und doch wünschte ich es mir. Aber wünsche ich mir das wirklich? Nein, ich habe nicht einen Gedanken daran verschwendet. Es ist mir egal. Nur wieso stellt sich bei dem Gedanken an mein weiteres Leben immer wieder so ein seltsames Gefühl ein? Ist es das Wissen, versagt zu haben? Der endlose Fall ohne Boden, selbst wenn ich denke, aufrecht zu stehen? Die Gewissheit, dass ich mein Leben nie in den Griff bekommen werde? Oder die Angst vor dem Leben ganz allgemein? Aber da ist noch etwas. Etwas ganz Wesentliches.

„Hey.“ Tai klopft mir freundschaftlich auf die Schultern und nimmt neben mir Platz. Nach einem kurzen Zusammenzucken sehe ich ihn mit großen Augen an, doch mit dem Erkennen wende ich meinen Blick wieder ab und schaue vor mich auf den Boden.

„Es ist selten, dich so allein zu sehen. Zumindest in der Schule. Wo sind die Jungs aus deiner Band oder die Mädchen, die dich normalerweise anhimmeln und denen du meist vergeblich zu entkommen versuchst?“

Ich hebe meinen Kopf und sehe meinen Freund an. Seine braunen Haare glänzen in der Sonne und seine Haut schimmert bronzefarben. Ich möchte ihn berühren, von ihm berührt werden. Verlangen steigt in mir auf.

„Wen interessiert das?“ Diese Worte sind ein Versuch, uns beide von meiner Gleichgültigkeit zu überzeugen. Ohne Erfolg.

„Wenn du meinst“, ist Tais einzige Entgegnung.

Den Rest der Pause verbringen wir schweigend nebeneinander auf der Bank sitzend.
 

In Gedanken versunken laufe ich den Schulflur entlang. Ich bemerke nicht die Blicke, die mir Mitschüler entgegenbringen. Meine Aufmerksamkeit gilt allein meinem Vorhaben. Die Unsicherheit in meinem Inneren nimmt zu, als meine Schritte sich dem Proberaum meiner Band nähern. Nervös bleibe ich vor der verschlossenen Tür stehen. Von der anderen Seite erklingen vereinzelte Riffs der Gitarren und des Keyboards. Ich schließe meine Augen und lehne mich gegen die Wand. Erinnerungen steigen in mir auf und machen mir schmerzlich bewusst, wie sehr sich mein Leben durch die Klinik verändert hat. Nicht aufgrund der Ereignisse oder meiner Umwelt, sondern durch mich selbst. Es hat etwas in mir ausgelöst, was mich nicht zurückkehren lässt. Nach außen scheint alles mehr oder weniger wie zuvor zu sein, doch so fühlt es sich nicht mehr an. Mir fällt auf, wie die Menschen meiner Umgebung sich bemühen, mir Sicherheit und Normalität geben zu wollen, aber das schürt in mir nur die Verzweiflung. Die Verzweiflung, dem gerecht zu werden sowie am Leben bleiben zu müssen. Ein Leben, in dem ich mich fremd fühle.

Mit einem Seufzen beende ich meinen Gedankengang, kehre der Tür den Rücken zu und mache mich auf den Weg, das Schulgebäude zu verlassen.

Draußen scheint die Sonne unerbittlich und brennt in meinen Augen. Als ich das Schultor passiere, erblicke ich meinen Freund Tai. Er steht an die Mauer gelehnt und hat die Augen geschlossen.

„Wartest du auf mich?“ Ich bleibe vor ihm stehen. Blinzelnd sieht er mich an.

„Ja. Ich habe gesehen, wie du zum Proberaum gegangen bist. Konntest du mit deiner Band alles klären?“

Ich nicke, wende mich rasch von ihm ab und gehe ein paar Schritte voraus. Er folgt mir auf dem Fuß.

„Warte doch mal. Wieso hast du es denn so eilig?“

„Das Wetter nervt. Mir ist warm.“

„Dann zieh doch deine Jacke aus.“

Ich bleibe stehen und schaue ihn verständnislos an.

„Oh… sorry. Dumm von mir.“

„Allerdings“, ist das Einzige, was ich ihm entgegenbringe, bevor ich meinen Weg fortsetze.

„Wie verlief denn dein erster Schultag?“

„Okay.“

„Und wie haben deine Mitschüler reagiert? Wie haben sie sich dir gegenüber verhalten?“

Erneut bleibe ich stehen.

„Was soll das eigentlich? Wieso interessiert dich das?“

„Ich… tut mir leid. Vergiss es einfach.“

Ich laufe weiter, als hätte diese Unterhaltung niemals stattgefunden.

„Wie geht es dir? Du siehst nicht gut aus.“

Wieder bleibe ich stehen. Zorn steigt in mir auf.

„Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?“ Es fällt mir schwer, die Lautstärke meiner Stimme unter Kontrolle zu halten.

„Du bist ziemlich gereizt. Hat das einen bestimmten Grund?“

Ich hebe wütend die Hand, um meinem Freund eine Ohrfeige zu verpassen, doch er ist schneller und hält meine Hand am Handgelenk fest.

„Lass mich los“, zische ich ihn hasserfüllt an.

Er schüttelt den Kopf, zieht mich zu sich heran und umarmt mich liebevoll.

„Hast du sie noch alle?“ Empörung und Verzweiflung schwingen in meiner Stimme mit, als ich versuche, mich aus Tais Umklammerung zu befreien. Doch mit zunehmender Gegenwehr meinerseits verstärkt er seinen Griff und den Druck auf meinen Körper nur weiter.

„Yamato“, flüstert er in mein Ohr. „Warum bist du mir gegenüber so abweisend und verschlossen?“

Ich spüre, wie Schüler, die an uns vorbeigehen, uns mit seltsamen Blicken mustern, doch es interessiert mich nicht. Tais Geruch vernebelt mir die Sinne und die Nähe seines Körpers bringt mich fast um den Verstand. Meine Atmung ist stockend. Mein Hals schmerzt. Ich spüre, dass mein Kreislauf langsam versagt. Mir wird schwindelig. Tai bemerkt meinen drohenden Zusammenbruch. Sanft drückt er mich zu Boden und lehnt mich mit dem Rücken an die Wand. Dann holt er aus seiner Schultasche eine Flasche mit Wasser, öffnet sie und hält sie mir auffordernd entgegen.

„Trink etwas. Dein Kreislauf versagt.“

Hastig nehme ich ein paar Schlucke zu mir. Als ich die Flasche wieder absetze, spüre ich Tais Hand, seinen Daumen, der leicht über meine mit Wasser benetzen Lippen streicht.

„Sie sind ganz bleich, jegliche Farbe ist aus ihnen gewichen.“ Mit diesen Worten beugt er sich vor und küsst mich leicht auf den Mund. Ich lasse es teilnahmslos geschehen.
 

Meine Hand zittert, als ich versuche den Schlüssel in das Schlüsselloch der Wohnungstür zu stecken. Es war schwierig, Tai davon zu überzeugen, dass es mir so gut geht, dass ich es allein nach Hause schaffe. Endlich gelingt es mir, die Tür zu öffnen. Im Eingangsbereich entledige ich mich meiner Schuhe. Dann gehe ich in die Küche, setze Kaffee auf und durchsuche meine Schultasche nach einem Brief. Diesen lege ich auf den Küchentisch an den Platz meines Vaters, bevor ich den Raum verlasse, um in mein Zimmer zu gehen. Ich stelle meine Tasche in die Ecke, ziehe die Vorhänge zu, lasse das Rollo herunter und tausche meine Schulkleidung gegen eine schwarze Hose und ein langärmliges Hemd in der gleichen Farbe. Dann schalte ich den Fernseher ein. Das Pulsieren in meinem Kopf wurde durch den Kreislaufkollaps noch verstärkt, zudem fällt mir das Schlucken zunehmend schwerer. Ich gehe ins Bad und als ich mit weit geöffnetem Mund vor dem Spiegel stehe, erkenne ich, dass die Mandeln weiß belegt sind. Vom Bad aus gehe ich wieder in die Küche, um mir eine Tasse Kaffee zu holen. Zurück in meinem Zimmer nehme ich die Schmerzmittel aus meiner Tasche und drücke vier Tabletten aus einer Blisterpackung. Mit dem mittlerweile leicht abgekühlten Kaffee schlucke ich sie hinunter, stelle die Tasse vor mir auf den Tisch und lege mich anschließend rücklings auf das Sofa. Es interessiert mich nicht, was für ein Programm gerade läuft, ich bekomme es ohnehin nicht mit. Der Fernseher dient mir lediglich dazu, die unerträgliche Stille im Raum zu durchbrechen. Musik ertrage ich derzeit nicht. Zu viele Erinnerungen. Zu viel Schmerz. Verlangen steigt in mir auf. Das Verlangen, mir selbst Schmerz zuzufügen. Körperlichen Schmerz. Meine Atmung wird schwerfälliger. In meinen Fingern steigt ein Kribbeln auf, welches sich binnen kurzer Zeit auf die Arme und den gesamten Körper ausweitet. Nervös schaue ich auf die Haut meines Armes, betrachte die verschiedenen Narben, einige älter, manche noch ganz frisch, und fahre mit meiner Hand immer wieder liebevoll über die Unebenheiten. Meine Sehnsucht nach dem Gefühl, wenn die Klinge die

Haut zerteilt, wird fast unerträglich. Ich schließe meine Augen und bemühe mich, kontrolliert ein- und auszuatmen. Krampfhaft versuche ich meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Doch immer wieder keimt in mir die Frage auf, weshalb ich dem Verlangen nicht einfach nachgebe. Warum versuche ich mich dagegen zu wehren? Letztlich ist das doch das Einzige, was mir noch geblieben ist. Das einzige Gefühl, welches einordbar und erträglich ist.

Ich spüre immer mehr Unruhe in mir aufsteigen. Bilder von Wunden, Blut und Rasierklingen tauchen unwillkürlich vor meinen Augen auf. Unter Panik öffne ich sie und starre vollkommen unbewegt an die Decke meines Zimmers. Schüttelfrost erfasst meinen Körper. Mein Kopf glüht und ich spüre, wie mir heiße Tränen seitlich das Gesicht hinab laufen.
 

Gehetzt laufe ich den Schulflur entlang. Zu beiden Seiten stehen Schüler, die lachend mit dem Finger auf mich zeigen. Ich versuche sie zu ignorieren, indem mein Blick stur nach vorn gerichtet ist. Am Ende des Ganges bleibe ich schwer atmend vor einer großen Flügeltür stehen. Als ich den Knauf drehe, muss ich feststellen, dass sie verschlossen ist. Angst steigt in mir auf und ich drehe mich vorsichtig um. Ein großer Raum umgibt mich, ohne Fenster, ohne Türen. In der Mitte hängt eine Glühbirne, eingedreht in die Fassung, von der Decke und bildet die einzige Lichtquelle. Außer mir befindet sich nichts in diesem Zimmer. Die Wände sind schwarz gestrichen. Ich gehe ein paar Schritte, dann bleibe ich stehen. Vor mir steht Tai. Er sieht mich an. Seine Arme sind mit tiefen Schnittwunden versehen, doch es fließt kein Blut aus den Verletzungen. In der Hand hält er ein Skalpell, sauber und silbern glänzend. Ich schaue in den Spiegel, der neben mir an der Wand hängt, und sehe meinen Vater. Blut läuft aus seinen Ohren, er lächelt mich an. Ein markerschütternder Schrei lässt mich zusammenfahren. Ich drehe mich um und setze mich erschöpft auf das Sofa in meinem Zimmer. Der Fernseher ist eingeschaltet und mein Vater ist so vertieft in sein Videospiel, dass er mich gar nicht bemerkt. Eine Weile schaue ich ihm zu, dann wird meine Aufmerksamkeit von Tai abgelenkt, der plötzlich hastig an mir vorbeiläuft. Ich folge ihm. Er wirkt panisch, blickt sich immer wieder um, als würde er verfolgt werden. Dann bleibt er unerwartet stehen, dreht sich zu mir und schreit mich an. Ich verstehe ihn nicht, schließe die Augen und halte mir verzweifelt die Ohren zu. Etwas beginnt an mir zu zerren, ich versuche mich loszureißen, schlage um mich. Dann folgt Stille. Ich schaue mich um. Nichts. Langsam sinke ich zu Boden. Außer meinem Atem ist nichts zu hören. Es wird kalt und ich schlinge schützend meine Arme um meinen Körper. Ich schaue zum Himmel und sehe, wie vereinzelt Schneeflocken hinab fallen. Sie tänzeln leicht im Wind und umgeben mich mit ihrer Reinheit. Ruhig nehme ich die Rasierklinge in die Hand und ziehe sie mit viel Druck längs über die Haut meines linken Armes. Sofort teilt sich das Fleisch und hinterlässt eine weit auseinander klaffende Wunde, doch auch aus ihr fließt kein Blut. Tränenüberströmt blicke ich Tai in die Augen. Er sitzt mir gegenüber und lächelt mich traurig an. Liebevoll hebt er meinen verletzten Arm an seine Lippen. Mit zärtlichen Küssen schließt er die Wunde. Dann streicht er mir sanft die Tränen aus dem Gesicht. Ich schaue ihn an und als mein Blick auf seinen Unterarm fällt, sehe ich meine Wunde. Erschreckt hebe ich den Kopf. Vor mir sitzt mein Vater. Auch er lächelt mich traurig an. Und auch er trägt meine Wunde. Angst ergreift Besitz von mir. Ich zittere. Panisch versuche ich mich aus dem Schnee an die Oberfläche zu wühlen. Meine Finger sind bereits taub von der Kälte. Meine Lunge schmerzt und der Druck auf sie hindert mich am Atmen. Ich versuche zu schreien, bleibe jedoch stumm. Entschlossen drücke ich die Eins, um in den dritten Stock zu gelangen. Die Tür des Fahrstuhls schließt sich und er setzt sich ruckartig in Bewegung. Neben mir steht Tai.

„Du kannst nicht fliehen.“

Ich öffne die Augen. Für einen kurzen Moment fehlt mir die Orientierung. Die Dunkelheit in meinem Zimmer lässt vermuten, dass die Sonne bereits untergegangen ist. Aus dem Fernseher dringen für mich unverständliche Geräusche. Kalter Schweiß durchtränkt meine Kleidung und lässt mich frösteln. Zittrig fahre ich mir mit der Hand über das verschwitzte Gesicht und durch die feuchten Haare. Ich bemühe mich aufzustehen, muss aber feststellen, dass meine Kraft kaum ausreicht. Noch immer leicht verwirrt von dem Traum schleppe ich mich in mein Bett, schlucke noch meine Psychopharmaka und versuche erneut Schlaf zu finden.
 

Es ist dunkel. Mein Hals ist trocken und schmerzt. Erneut ist meine Kleidung vollkommen durchgeschwitzt. Mühsam erhebe ich mich aus meinem Bett. Ein Kälteschauer läuft mir über die Haut und ich beginne zu zittern. Langsam gehe ich zu meinem Schrank, nehme ein paar frische Kleidungsstücke heraus und schleppe mich schwerfällig ins Bad. Leise schließe ich die Tür hinter mir, da ich meinen Vater nicht wecken möchte. Mit fahrigen Bewegungen entledige ich mich der nassen Sachen, lasse das warme Wasser der Dusche laufen und stelle mich mit klappernden Zähnen darunter. Stück für Stück drehe ich den Hebel nach rechts, um die Temperatur nach oben zu regeln, dennoch schaffe ich es nicht, das Beben meines Körpers unter Kontrolle zu bekommen. Das Zittern ist zu einem Schlottern übergegangen und allmählich merke ich, wie meine Beine mir ihren Dienst versagen. Langsam rutsche ich die Fliesen entlang nach unten. Am Boden sitzend sacke ich schließlich gänzlich in mich zusammen. Ich habe den Eindruck, als würde mein Körper verglühen, er brennt von innen heraus und doch fühlt es sich so an, als wäre ich kurz davor, den Kältetod zu sterben. Am Rande meiner Wahrnehmung bemerke ich, wie mein Vater erst gegen die Tür klopft und, ohne auf eine Antwort zu warten, eintritt. Verschwommen sehe ich sein angsterfülltes Gesicht, als er meine erbärmliche Gestalt zusammengekauert in der Duschkabine entdeckt.

„Yamato!“ Ich höre Panik in seiner Stimme. Schnellen Schrittes kommt er auf mich zu, stellt das Wasser ab und beugt sich zu mir hinunter.

„Verdammt, Yamato! Willst du dich umbringen?“ Er steht wieder auf, um ein Badetuch aus dem Schrank zu holen. Dann zieht er mich unsanft am Arm aus der Dusche und wickelt meinen Körper in den Stoff. Mit einer beruhigenden Umarmung versucht er mir Halt und Wärme zu geben.

„Was ist nur los mit dir, mein Sohn? Das Wasser war kochend heiß, deine Haut ist feuerrot. Wolltest du dich verbrühen? Ist das jetzt eine neue Methode, dir selbst Verletzungen zuzufügen?“ Vorwürfe, Wut, aber auch große Besorgnis schwingen in seinem Tonfall mit.

Ich antworte nicht und versuche mich halbherzig aus seiner Umarmung zu befreien. Angestrengt versuche ich das Zittern zu unterdrücken, doch es gelingt mir nicht ganz.

„Du frierst, oder? Zieh dir etwas an und geh ins Bett, sonst erkältest du dich noch. Zudem ist es mitten in der Nacht und du musst morgen wieder zur Schule. Wir reden weiter, wenn ich von der Arbeit zurück bin, also sei bitte am Abend zu Hause.“

Ich nicke kaum merklich und sehe meinem Vater nach, als er das Bad verlässt, die Tür hinter sich aber nur anlehnt. Zähneklappernd, weil die entstandene tropische Hitze nun entweichen kann, tupfe ich vorsichtig die restlichen Wasserperlen von meiner schmerzenden Haut und streife anschließend mit Bedacht meinen Schlafanzug über. Durch den beschlagenen Spiegel ist mein Abbild nicht zu erkennen, weshalb ich den Raum sofort verlasse. Als ich den Flur in Richtung meines Zimmers entlanglaufe, spüre ich deutlich die Schwäche in meinen Beinen. Auch die Schmerzen beim Schlucken kehren mit dem Nachlassen der Wirkung des Schmerzmittels allmählich zurück. Erschöpft betrete ich mein Zimmer und schließe die Tür. Mir fällt ein, dass ich den Wecker für die Schule noch nicht aktiviert habe, nehme ihn zur Hand und ein Blick darauf verrät mir, dass es bereits nach drei Uhr ist. Ich stelle ihn zurück auf meinen Nachttisch, hole aus meiner Schultasche vier schmerzstillende Tabletten, schlucke sie mit etwas Wasser aus meiner Flasche herunter und lege mich kraftlos ins Bett. Die Decke ziehe ich straff um meinen Körper. Meine Haut schmerzt noch immer und das Zittern hört nicht auf. Ich versuche meinen Kopf auszuschalten und an nichts zu denken. Tausend Gedanken und Bilder scheinen mich zu umkreisen. Das Rauschen in meinen Ohren lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Nervosität und eine diffuse Angst steigen in mir auf, doch ehe ich mich näher damit

auseinandersetzen kann, fallen mir die Augen zu.
 

Meinen Kopf in den Armen vergraben, liege ich auf meiner Bank und versuche das Dröhnen in meinem Schädel vom Pausenlärm der Klasse zu unterscheiden, nachdem ich verzweifelt feststellen musste, dass ein Ausblenden nicht möglich ist. Die Frage, weshalb ich mir das überhaupt antue, keimt in mir auf. Ich richte mich auf und lasse meine Augen über meine Mitschüler schweifen. Ein paar verstummen und drehen sich hastig weg, als unsere Blicke sich treffen, doch die meisten gehen ihren eigenen Interessen nach. Einige brüten angestrengt über den Hausaufgaben für die anstehende Stunde, andere sehen sich in der Gruppe Zeitschriften an oder unterhalten sich über die gestrigen Fernsehsendungen und deren Darsteller. Immer wieder stelle ich fest, dass diese Welt nicht die meine ist. Ein Tippen auf meine Schulter trennt mich von dem Gedanken.

„Hey.“

„Hallo, Tai“, entgegne ich, ohne ihn anzusehen. Mein Traum von der letzten Nacht kommt mir wieder in den Sinn und ein unangenehmes Hitzegefühl gesellt sich zu dem leichten Frösteln.

„Du siehst noch immer nicht besonders gut aus.“ Er schaut mich besorgt an.

„Geht schon wieder“, lächle ich ihn an.

Mein Freund zieht sich den Stuhl vom derzeit unbesetzten Nachbartisch heran und nimmt neben mir Platz.

„Dein Bandkollege, der, der in meine Klasse geht, fragt, ob du bald wieder zur Probe kommst. Ich dachte, du wärst gestern bei denen gewesen, um alles zu klären.“ Ich schaue ihn an und versuche in seinem Gesicht so etwas wie Vorwürfe zu lesen, doch nichts dergleichen ist zu erkennen. Seine Augen zeigen nur Zuneigung und Besorgnis.

„Ja… ich… nein, also… ich meine…“ Ich komme ins Stottern, da ich es nicht schaffe, meine Gedanken zu sammeln und zu sortieren.

„Ist okay. Du bist mir keine Rechenschaft schuldig. Wenn…“

„Doch!“, unterbreche ich ihn kopflos. „Doch…“

Eine unbeabsichtigte Pause entsteht.

„Was ist los, Yamato?“

„Ich muss mit dir reden.“ Tai möchte etwas sagen, doch ich bedeute ihm zu schweigen. „Nicht hier und nicht jetzt, okay?“ Liebevoll streiche ich ihm eine Strähne aus dem Gesicht, als die Schulglocke ertönt und er reflexartig aufspringt, um in seine Klasse zu gelangen. Ich schaue ihm lange nach und bemerke nicht, dass der Lehrer mit dem Unterricht bereits begonnen hat.
 

Ich liege auf meinem Sofa und warte darauf, dass die Wirkung der Schmerztabletten einsetzt, welche ich vor ein paar Minuten, als ich nach Hause kam, geschluckt habe, während ich mich sinnlos vom Fernsehprogramm berieseln lasse. In den letzten Tagen ist das in meiner Freizeit zur Dauerbeschallung geworden. Ich ertrage die ansonsten vorherrschende Stille nicht, da sind diese nutzlosen Sendungen genau das Richtige, um den Kopf nicht einschalten zu müssen beziehungsweise gar nicht erst in Versuchung zu kommen. Plötzlich erscheint Tai vor meinem inneren Auge. Warum musste ich ihm sagen, dass ich mit ihm reden will? Und was genau soll ich ihm sagen? Ich bin mir selbst noch nicht einmal im Klaren, was ich eigentlich will, nur, dass es so nicht weitergehen kann. Dieses Gefühl, machtlos zu sein, zwischen Leben und Tod festzustecken, wird langsam unerträglich. Ich befinde mich in einem Schwebezustand. Ich werde gelebt. Von anderen. Doch ich unternehme nichts dagegen. Weil ich niemanden verletzen will. Aber warum, wenn mir doch eigentlich alles egal ist? Menschen sind mir nicht wichtig. Ich fühle mich nicht wohl unter ihnen, verstehe die meisten nicht. Und doch gibt es jemanden, bei dem es nicht so ist. Jemand, der mir unendlich viel bedeutet. Ich würde es ihm gern zeigen, aber etwas blockiert. Etwas lässt mich nicht sein, wie ich sein will, nicht handeln, wie ich handeln will. Immer existiert dieser Zwiespalt zwischen Handeln, Denken und Fühlen. Es tut weh, die Verzweiflung und Traurigkeit in seinen Augen zu sehen und zu wissen, dass es meine Schuld ist, dass ich der Grund bin, weshalb er nicht richtig leben kann. Die letzte Nacht zeigte wieder mehr als deutlich, wie viel ich bereits durch mein Verhalten zerstört habe.

Es klopft und mein Vater schaut zur Tür herein.

„Kommst du essen? Ich habe uns Sushi bestellt.“

Ich stehe auf, schalte den Fernseher aus und folge ihm in die Küche.

„Das sieht lecker aus“, sage ich, während ich mich auf meinen Stuhl setze und die Essstäbchen zur Hand nehme. Mein Vater setzt sich mir gegenüber und beginnt ebenfalls zu essen.

„Ich dachte, es wäre schön, wieder einmal so zusammenzusitzen. Und du magst Sushi doch sehr, oder?“

„Ja. Danke.“ Ich lächele. Ich weiß, dass er eine Atmosphäre schaffen möchte, in der das anstehende Gespräch etwas entspannter verlaufen kann.

„Ich habe die Einladung deines Direktors gelesen. Er schrieb kurz, worum es gehen wird. Mich würde interessieren, wie du darüber denkst.“

Ich lege das Maki, welches ich mir gerade in den Mund stecken will, zurück auf den Teller und schaue meinen Vater bestürzt an.

„Ich denke, ich habe keine Wahl.“ Es fällt mir schwer, die Bitterkeit in meiner Stimme zu verbergen. Mit traurigen Augen mustert er mich, dann angelt er sich eines der Nigiri. Eine Weile sitzen wir schweigend da. Der Appetit ist mir vergangen, zumal auch die Schmerzen in meinem Hals allmählich zurückkehren. Behutsam lege ich die Stäbchen beiseite.

„Bist du schon satt?“, kommt die Frage, die ich befürchtet habe. „Ich habe wegen heute Nacht noch einmal nachgedacht. Ich ließ dich überhaupt nicht zu Wort kommen und habe einfach geurteilt. Würdest du mir erklären, was eigentlich los war? Kannst du dich noch an dein Handeln erinnern?“

„Ich bin mir nicht sicher.“ Ich schaffe es nicht, ihn anzuschauen, sondern halte den Kopf gesenkt. „Mir war kalt und ich wollte nur, dass es aufhört. Es tut mir leid, ich habe nicht nachgedacht, aber ich tat es nicht in der Absicht, mir zu schaden. Zumindest nicht bewusst.“

„Und da liegt das Problem. Mir bereiten weniger die Momente Sorgen, in denen du weißt, was du tust. Da vertraue ich dir. Aber diese unbewussten Handlungen finde ich gefährlich. Ich habe das Gefühl, dass dich dann nichts mehr erreicht, dass dir nichts mehr wichtig ist. Ich habe Angst, dass du dir in einer solchen Situation wieder etwas antust und ich will…“

„Papa!“, schreie ich ihn beinahe an. „Bitte, hör auf!“ Tränen laufen mir über die Wangen. Mein Vater legt seine Stäbchen aus der Hand, steht auf und macht ein paar Schritte auf mich zu. Ruhig streicht er mir über das Haar. Diese Geste bringt meine ohnehin beschädigte Fassade endgültig zum Einstürzen. Ungehemmt fange ich an zu weinen. Ich fühle mich schwach und schutzlos. Mit einer liebevollen Umarmung versucht mein Vater mir Halt zu geben. Beruhigend streichelt er mir über den Rücken.

„Es tut mir alles so leid!“ Ich schaffe es nicht, mein Schluchzen unter Kontrolle zu bringen. „Ich will nicht, dass du meinetwegen unglücklich bist. Aber ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, dass du stolz auf mich sein kannst. Das Leben ist so schwer. Ich packe das nicht. Es fühlt sich alles so falsch an. Egal, was ich tue. Ich fühle mich falsch an. Es läuft eben immer wieder alles auf den Tod…“

„Shhh!“, unterbricht er meinen aus Verzweiflung hemmungslosen Redeschwall. „Diese Gedanken sind… nein, es ist eher ein Gefühl, oder? Aber es ist nicht rational. Letztlich weißt du, dass es anders ist… du weißt es nicht, weil du es nicht fühlst. Ich… im Grunde begreife ich es nicht. Es tut mir leid, ich möchte dich verstehen, wissen, was in dir vorgeht, doch ich kann nur zusehen. Und versuchen, so gut es geht, für dich da zu sein. Doch es ist schwer, wenn ich nur mitbekomme, dass du dich mehr und mehr kaputt machst, in der Hoffnung, dass es irgendwann vorbei ist. Ich will dir keine Vorwürfe oder Schuldgefühle machen… eigentlich möchte ich dir nur sagen, dass ich dich liebe.“

Mein ganzer Körper bebt durch das Weinen. Halt suchend drücke ich mich fester an meinen Vater.

„Ich weiß“, flüstere ich. Mir kommen die Gedanken von vorhin in den Sinn. „Ich liebe dich auch.“ Meine Stimme versagt. Erneut werde ich von einem Weinkrampf geschüttelt und ich habe den Eindruck, keine Luft zu bekommen. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und in meiner Brust zieht sich alles zusammen. Es tut weh. Das Gefühl, jemanden zu lieben, ist fast unerträglich schmerzhaft. Tai. Plötzlich taucht sein Bild vor mir auf und eine unbeschreibliche Wärme durchströmt mich. Doch warum kommen mir Zweifel, wenn ich an ihn denke? Und woran zweifle ich? Ich merke, wie ich mich langsam wieder beruhige. Die Situation hat mir etwas die Augen geöffnet, doch ein bitterer Nachgeschmack bleibt.
 

Den Kopf in meine Hand gestützt, sitze ich auf meinem Platz und schaue aus dem Fenster. Es nervt mich, dass ich einen Platz in der Mittelreihe bekommen habe, denn so kann ich nur den derzeit leicht bewölkten Himmel und ein wenig von den im Wind wiegenden Bäumen sehen. Vermutlich würde es mich weniger stören, wenn sich der Unterrichtsraum nicht im dritten Stock befände und der Ausblick somit etwas abwechslungsreicher wäre. Das Rascheln des Laubes ist durch die geöffneten Fenster zu hören. Ein paar Mädchen aus meiner Klasse lehnen sich hinaus, geben Zeichen, um anscheinend untenstehenden Freunden etwas zu signalisieren. Hin und wieder rufen sie etwas, in der Annahme, von dem Anderen gehört zu werden. Es ist ein warmer Sommertag, sodass gelegentlich kühle Brisen eine willkommene Abwechslung darstellen. Manchmal fliegt ein Vogel auf einen der Äste, vielleicht um Schutz vor der Sonne zu finden. Ein Frösteln durchfährt meinen Körper. Ich lasse meinen Kopf sinken und berühre mit der Stirn die Tischplatte. In dieser Position verharre ich einen Moment. Die Stimmen und Geräusche um mich herum hallen unangenehm laut und verworren in meinem Schädel wider. Ohne darüber nachzudenken, halte ich mir die Ohren zu. Noch vier Stunden. Entschlossen richte ich mich auf, packe hastig meine Sachen zusammen und verlasse fluchtartig den Raum. Die Zurufe einiger Klassenkameraden registriere ich kaum. Am Ende des Flures sehe ich Tai stehen, der sich angeregt mit mehreren Leuten unterhält, anscheinend Freunde von ihm. Schnellen Schrittes biege ich in den Gang neben mir ein, in der Hoffnung, von ihm nicht gesehen zu werden. Ich laufe zielgerichtet zu den Treppen, diese hinab und durch einen der Nebeneingänge verlasse ich das Gebäude. Die Wärme berührt angenehm meine Haut, doch die Kälte, die sich mittlerweile bis in meine Knochen gefressen hat, vermag sie nicht zu vertreiben. Ebenso das Gefühl, zu verbrennen, wird dadurch nicht gelindert. Ohne noch einmal anzuhalten, laufe ich über das Schulgelände und verlasse es mit einem letzten, kurzen Blick zurück.

Das Telefon klingelt. Für einen kurzen Moment überlege ich aufzustehen, um das Gespräch entgegen zu nehmen, entscheide mich dann aber dagegen. Ich hasse Telefonieren und außer Tai würde ich niemand wichtigen verpassen. Meinen Vater vielleicht noch, aber ich denke, dass keiner von beiden versuchen würde mich anzurufen, da sie wissen, dass ich in den meisten Fällen sowieso nicht rangehe. Zudem müssten beide denken, dass ich noch im Unterricht sitze. Oder hat Tai erfahren, dass ich bereits gegangen bin? Möglicherweise hat er mich in der Klasse besuchen wollen und die anderen sagten ihm, dass ich nach der dritten Stunde verschwand. Dann macht er sich eventuell Sorgen und will wissen, ob ich zu Hause bin. Sicher kommt er sofort nach dem Unterricht her. Ich habe diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, da klingelt es an der Wohnungstür. Seufzend erhebe ich mich vom Bett und laufe den Flur entlang. Ohne durch den Spion zu schauen, öffne ich die Tür und blicke direkt in das Gesicht meines Freundes.

„Tai?“, frage ich überrascht, doch eigentlich war ich mir sicher, dass er es ist.

„Darf ich reinkommen?“

Ich mache einen Schritt zur Seite und bedeute ihm einzutreten. Wir gehen in mein Zimmer. Während er auf dem Sofa Platz nimmt, setze ich mich wieder auf mein Bett. Einen Moment herrscht Stille, Tai sieht sich gelangweilt um, ich beobachte ihn kurz, dann breche ich das peinliche Schweigen:

„Müsstest du nicht eigentlich noch in der Schule sein?“

„Und du?“, kommt rasch die Antwort, ohne dass er mich ansieht.

„Ich habe eine Krankschreibung. Ich war vorhin beim Arzt.“

„Aha. Wieso, was hast du denn?“ Er wirkt distanziert.

„Pharyngitis bakteriellen Ursprungs. Ohne Schmerzmittel kann ich kaum richtig schlucken und es wird nicht besser.“

„Fieber?“

„Phasenweise. Momentan geht es aber.“ Ich schaue meinen Freund an. Sein Blick ist unergründlich. Langsam steht er auf und kommt auf mich zu. Er beugt sich zu mir hinab, packt mich fest an den Schultern und raunt mit vulgärer Stimme in mein Ohr:

„Schade. Ich hätte dich, verschwitzt und im Fieberwahn, gern einmal so richtig rangenommen.“

Ich frage mich, ob Tai in diesem Zustand die Realität erkennen kann. Ist das auch eine Art Dissoziation? Und ist er sich dessen bewusst?

„Weißt du, dass es mir gefallen würde, dich gegen deinen Willen zu ficken?“, flüstere ich emotionslos zurück.

„Ja, aber du kannst es nicht. Ich bin dir körperlich weit überlegen. Gegen mich kommst du inzwischen nicht mehr an und das ist dir bewusst.“

„Sicher? Sollen wir es auf einen Versuch ankommen lassen?“ Fest umgreife ich Tais Handgelenke, ziehe ihn zur Seite und nagele ihn rücklings auf dem Bett fest, indem ich mich in Reiterstellung auf seine Oberschenkel setze. Ein süffisantes Lächeln legt sich auf die Lippen meines Freundes.

„Willst du mich wieder vergewaltigen? Aber weißt du, ich steh nicht so darauf, die Kontrolle zu verlieren.“ Mit diesen Worten bäumt er sich auf und versucht sich aus meiner Umklammerung zu lösen. Es gelingt ihm nicht, da ich mein gesamtes Gewicht auf die Arme verlagert habe, um ihn festhalten zu können. Ich beuge mich zu ihm hinab, dicht vor seinem Gesicht halte ich inne.

„Dir wird dein Lächeln schon noch vergehen“, hauche ich herausfordernd, bevor ich wollüstig über seine Lippen lecke. Ich spüre, wie Lust in mir aufsteigt und zwinge meinem Freund einen Kuss auf, den er sogleich ohne große Gegenwehr leidenschaftlich erwidert. Plötzlich merke ich, dass er meine Unaufmerksamkeit ausnutzt, blitzschnell seine Handgelenke aus meinen Händen windet, mich an den Hüften packt und den Kuss unterbricht.

„Ich könnte das Blatt jetzt ganz leicht wenden.“ Mit diesen Worten hebt er seinen Arm und umfasst meinen Hals. Er drückt leicht zu. Ich schließe die Augen und genieße den Schmerz, der sich bereits jetzt durch die Krankheit einstellt. Mit meiner linken Hand suche ich die meines Freundes, um ihn zu spüren. Er verhakt unsere Finger und verstärkt zugleich den Druck auf meine Kehle. Ich schaue ihn, ein Husten unterdrückend, an. Seine Augen sind, wie immer in diesem Zustand, kalt. Unerwartet lässt er mit einem Mal sowohl meine Hand als auch meinen Hals los und umschließt stattdessen meine Taille. Mit etwas Kraftaufwand hebt er mich von sich herunter und kehrt die Situation um. Nun liege ich unter ihm, langsam beginnt er, meine Hose zu öffnen, wobei er mich genau beobachtet. Ich versuche, mir meine Begierde nicht anmerken zu lassen, habe aber das Gefühl, vor Verlangen zu verglühen.

„Tai“, stöhne ich.

„Was ist? Hast du Schmerzen? Oder überwältigt dich die Lust gerade?“

Ich hebe meine Hand zu seinem Gesicht und streiche flüchtig über seine Wange.

„Ich liebe dich.“ Meine Stimme zittert. Tai hält in seinem Tun inne und sieht mich fragend an. Dann entledigt er mich meiner Hose und knöpft mein Hemd auf.

„Warte.“ Ich setze mich auf und sehe ihn auffordernd an. „Zieh dich aus.“

„Ist das ein Befehl?“, fragt mein Freund irritiert. Die Kälte in seinem Ausdruck ist verschwunden.

„Sieh es, wie du willst, aber diesmal werde ich dich nehmen.“

Ein leichtes Lächeln zeichnet sich bei ihm ab, während er beginnt, sich zu entkleiden. Als er fertig ist, geht er zur Tür und dreht den Schlüssel im Schloss.

„Du kannst nicht fliehen.“ Tai lächelt noch immer. Kurz habe ich das Gefühl eines Déjà-vu, schiebe den Gedanken jedoch beiseite und ziehe meinen Freund am Arm zu mir.

„Ich weiß, dass du die Kontrolle nicht gern verlierst, aber lass mich dir ein Stück von meiner Welt zeigen. Ebenso möchte ich in deine Welt eintauchen.“

Tai nickt und ich spüre Nervosität und Erregung in mir aufsteigen.

„Aber ich werde dir alles zeigen.“
 

Ich liege schweigend neben Tai und beobachte ihn. Er liegt auf dem Rücken, seine Augen sind geschlossen. Gleichmäßig hebt und senkt sich sein Brustkorb, ein Zeichen, dass er noch am Leben ist. Mein Körper bebt noch immer von dem Adrenalinstoß, welcher durch die Gewalt, vielleicht auch durch den Sex, ausgelöst wurde. Ich hatte vollends die Kontrolle verloren. Ich war wie im Rausch und es fühlte sich ganz anders an als die Dissoziationen, die ich normalerweise habe. Beinahe hätte ich eine Grenze überschritten, denn ich war bereit, meinen Freund zu töten. Zumindest schaffte ich es nicht, meinen Griff zu lockern, als er langsam das Bewusstsein zu verlieren schien. Es war vermutlich sein Überlebenstrieb, der ihn die Kraft aufbringen ließ, mich von sich zu stoßen. Reglos blieb ich neben ihm sitzen, während er das Husten zu unterdrücken versuchte. Nachdem Tai sich wieder gefangen hatte, blickte er mich mitfühlend an und richtete folgende Worte mit einem Lächeln an mich: „Nicht jetzt. Und nicht hier.“

Aber Tai irrt sich. Es war der perfekte Moment. Nun ist es zu spät, dabei wäre es so einfach gewesen.
 

Ich sitze in der Küche, mit einer Tasse Kaffee vor mir. Meine Gedanken sind bei Tai, der noch immer schlafend in meinem Bett liegt. Inzwischen ist auch mein Vater nach Hause gekommen. Als er eine Unterhaltung mit mir beginnen wollte, fragte ich ihn, ob wir es auf später verschieben könnten, da ich mich momentan nicht so gut fühle. Ich erkannte Besorgnis in seinen Augen, deshalb sagte ich ihm, dass Tai hier wäre. Er nickte verstehend. Offenbar denkt er, dass wir uns gestritten haben. Nun sitzt er im Wohnzimmer und schaut fern. Ich nippe an meiner Tasse und stelle fest, dass der Kaffee inzwischen kalt ist. Ich stehe auf und schütte ihn in das Spülbecken. Normalerweise mag ich kalten Kaffee, doch im Moment ist er mir zuwider.

„Was ist denn mit dir? Du verzichtest freiwillig auf deine Dosis Koffein?“

Ich zucke zusammen.

„Tai…“, flüstere ich mit belegter Stimme. Dann gelingt es mir, mich wieder zu fangen. Entschlossen sehe ich ihn an. „Gehen wir in mein Zimmer.“

Nach Betreten des Raumes schließe ich die Tür hinter mir ab.

„Was hast du denn vor?“, fragt mein Freund skeptisch. Ungeachtet dessen gehe ich an meine Schultasche, hole mein Portemonnaie heraus und aus diesem meine Rasierklinge für den Notfall. Dann wende ich mich Tai zu.

„Komm, setz dich zu mir.“ Ohne zu Zögern nimmt er mir gegenüber auf dem Boden Platz. Ich entfalte das Papier und nehme vorsichtig das kleine, metallisch glänzende Werkzeug heraus. Mein Freund hatte nur seine Hose angezogen, weshalb sein Oberkörper noch nackt ist.

„Dein Arm“, sage ich ruhig.

„Hast du dich unter Kontrolle?“, fragt er ebenso ruhig, streckt mir zeitgleich aber seinen Arm entgegen. Ich sehe ihn an. Dann setze ich die Klinge auf seine Haut und ziehe sie mit starkem Druck durch. Die Wunde verläuft quer über den Arm. In den ersten Sekunden sind nur weißes Fleisch und Sehnen zu sehen, doch schnell quillt unaufhörlich Blut heraus. Ich starre darauf, ohne mich zu regen. Dann sehe ich zu Tai. Dieser scheint keine Schmerzen zu haben, denn er wirkt ganz ruhig und betrachtet seinen Arm. Plötzlich erfasse ich die Situation.

„Scheiße!“, schreie ich auf und suche panisch nach etwas, womit ich die Blutung stillen kann. Vor Angst gelähmt stehe ich mitten im Zimmer. Jetzt laufen mir Tränen über das Gesicht.

„Scheiße, scheiße, scheiße!!!“, sage ich immer wieder. Mein Körper bebt.

„Yamato!“, spricht Tai mich laut an. „Bleib ruhig, okay?“

Entsetzt sehe ich zu ihm, sehe in sein schmerzverzerrtes Gesicht. Ich atme durch und versuche mich zu beruhigen. Es gelingt mir nur mäßig.

„Yamato, jetzt überleg bitte, wo du deine Verbandsmaterialien aufbewahrst. Hol sie her. Und ruf bitte den Notarzt an. Ich denke nicht, dass es ohne geht.“ Er hält seinen verletzten Arm mit dem anderen fest, um das Zittern in den Griff zu bekommen. Auf seiner Hose und dem Teppich hat sich mittlerweile eine Blutlache gebildet, die das Ausmaß des Blutverlustes deutlich macht.

„Yamato! Könntest du dich bitte beeilen! Das tut verflucht weh.“

Ich löse mich aus meiner Starre und renne zur Tür. Durch das Zittern meiner Hände habe ich Schwierigkeiten den Schlüssel im Schloss zu drehen. Als es mir endlich gelingt, stürme ich aus dem Zimmer, brülle meinem Vater zu, er soll einen Krankenwagen rufen, suche im Bad sämtliche Verbandsmaterialien zusammen und renne zu meinem Freund zurück. Er blutet noch immer sehr stark. Sein Gesicht ist inzwischen bleich und er sieht aus, als stehe er kurz vor der Ohnmacht. Ich setze mich vor ihn und versuche durch einen Druckverband die Blutung zu stoppen.

„Was ist denn los?“ Mein Vater steckt fragend den Kopf in mein Zimmer. Ungläubig sehe ich ihn an.

„Hast du noch keinen Krankenwagen gerufen? Verdammt nochmal! Schnell!“, gehe ich ihn unbeherrscht an. Entsetzt erfasst er die Situation und verlässt eilig das Zimmer.

„Tai…“, versuche ich ein Gespräch anzufangen, während ich noch immer den Verband anlege, der allerdings bereits blutgetränkt ist.

„Ich bekomme das Zittern nicht unter Kontrolle“, sind seine einzigen Worte.

„Sie sind gleich da“, informiert uns mein Vater, als er zurückkommt. „Was ist denn passiert?“

Diese Worte sind eindeutig an mich gerichtet.

„Ich…“ Mein Kopf ist vollkommen leer. Was soll ich sagen? Die Wahrheit? Wenn er erfährt, dass es sich um eine vorsätzliche Körperverletzung handelt, möchte ich seine Reaktion nicht erleben. Vermutlich lässt er mich dann wegen Unzurechnungsfähigkeit wieder einweisen. Und falls die Eltern meines Freundes von meiner Tat erführen, gäbe es sicher zusätzlich eine Anzeige. Allerdings, wenn Tai sterben sollte… Meine Gedanken werden von einem Klingeln an der Tür unterbrochen. Innerlich atme ich auf, einen Aufschub für die Erklärung zu bekommen. Mein Vater öffnet und führt die Sanitäter zu Tai. Dieser sitzt noch immer ganz ruhig auf dem Boden und hält sich den nach wie vor blutenden Arm. Der Verband ist komplett durchweicht und das Blut tropft unablässig auf den Teppich. Während mein Freund behandelt wird, stehe ich starr daneben und betrachte ihn. Wusste er, dass so etwas passieren würde? Hat er damit gerechnet und es in Kauf genommen? Warum? Warum hat er so bereitwillig seinen Arm hingehalten? Und seine Frage…

„Wir nehmen ihn erst einmal mit ins Krankenhaus. Die Wunde muss definitiv genäht werden. Wie ist das eigentlich passiert?“, fragt einer der Sanitäter.

Meine Augen weiten sich und mein Herz klopft, als wollte es zerspringen. Ein Kloß im Hals behindert nun zusätzlich zu der Krankheit mein Schlucken. Übelkeit steigt in mir auf.

„Ich habe mich geschnitten“, höre ich Tai sagen.

„Und woran?“, fragt der Sanitäter weiter und schaut sich im Raum um. Ich folge seinem Blick und erschrecke, als ich die Rasierklinge auf dem Boden liegen sehe.

„Glas. Mein Freund hat es aber schon entsorgt“, lügt Tai. Er sieht mich nicht an.

„Das ist ein ziemlich glatter Schnitt und Splitter sind auch keine darin“, bemerkt der Sanitäter abschließend und wirft mir einen skeptischen und zugleich vielsagenden Blick zu. Sie bringen Tai nach draußen und als er im Krankenwagen sitzt und die Türen geschlossen werden, stehe ich davor, in der Hoffnung, noch einmal in seine Augen sehen zu können. Er schaut nicht zu mir, sondern hält seinen Blick starr auf den Boden gerichtet. Nach der Abfahrt stehe ich noch lange auf der Straße. Zufällig sehe ich nach unten und bemerke meine blutverschmierten Hände. Ich hebe sie ein Stück und betrachte sie eingehend. Sie sind bedeckt von braunem, klebrig verkrustetem Blut. Wie fremdgesteuert kehre ich in die Wohnung zurück. Mein Vater steht im Flur und sieht mich fragend an. Ohne ihn zu beachten, gehe ich an ihm vorbei zu meinem Zimmer. Es riecht stark nach Blut. Im Türrahmen stehend starre ich auf den großen Fleck getrockneten Blutes, in dessen Nähe noch immer die Rasierklinge liegt. Erneut steigt Übelkeit in mir auf. Ich drehe mich um und will ins Bad rennen, remple allerdings direkt gegen meinen Vater. Er will mich festhalten, aber ich stoße ihn beiseite und schließe mich im Badezimmer ein. Würgend knie ich über der Toilettenschüssel, spucke jedoch nur Speichel und Galle aus. Dann fällt mein Blick wieder auf meine Hände. Tais Blut klebt noch immer daran. Ich stolpere zum Waschbecken, drehe den Wasserhahn bei der heißesten Temperatur auf volle Stufe und schrubbe sie gründlich mit Seife und Bürste. Selbst als sie zu schmerzen beginnen, sodass ich es kaum noch ertrage, kann ich nicht aufhören. Erst als ich mein eigenes Blut auf meinen Händen sehe, schaffe ich es, die Bürste beiseite zu legen und das Wasser abzustellen. Mit einem Mal versagen mir meine Beine den Dienst. Ich sacke zusammen und bleibe apathisch an die Toilette gelehnt sitzen. Der Duft von Tais Blut haftet noch immer in meiner Nase und an meinen Händen.
 

Ich liege im Wohnzimmer auf der Couch. Vor mir auf dem Tisch steht eine Tasse mit Beruhigungstee, den mein Vater mir gekocht hat. Eine von den Ärzten für solche Fälle verschriebene Tablette will er mir nicht geben. Teilnahmslos fixiere ich die Uhr, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Ich bin verwirrt, weil ich nicht begreifen kann, was eigentlich passiert ist. Tai wurde verletzt und es ist meine Schuld. Allerdings wollte ich ihn verletzen. Ich wollte ihm etwas von mir geben. Etwas, dass ihn an mich bindet. An mich erinnert. Selbst wenn er mich hassen sollte. Oder ich ihm gleichgültig bin. Vergessen kann er mich jetzt nicht mehr. Aber ist mir die Kontrolle tatsächlich entglitten? Und warum hat Tai mich nicht mehr angesehen? Ich bezweifle, dass er sauer auf mich ist, schließlich wusste er, worauf er sich einlässt. Mein Körper vibriert noch immer, auch wenn die Anspannung langsam nachlässt. Ich bereue nicht, was ich getan habe. Es ist zwar etwas heftiger abgelaufen, aber im Grunde ist die entstandene Wunde ein viel schöneres Stigma, als ich es geplant hatte.

„Yamato, trink deinen Tee.“ Die Worte meines Vaters holen mich in die Realität zurück. Er nimmt neben mir Platz und schaut mich besorgt an.

„Wie geht es dir?“

Ich setze mich auf, nehme die Tasse und trinke einen Schluck von dem Tee. Dann stelle ich sie wieder ab und antworte tonlos: „Geht schon.“

„Ich habe im Krankenhaus angerufen. Tai geht es soweit gut. Die Wunde musste, wie der Sanitäter bereits sagte, genäht werden. Seine Eltern wurden informiert und haben ihn abgeholt. Er ist jetzt zu Hause.“

Ich schweige, stattdessen schweift mein Blick ins Nichts.

„Yamato? Was ist eigentlich wirklich passiert?“, fragt mein Vater vorsichtig in die drohende Stille. Meine Augen weiten sich und mein Körper erstarrt vor Schreck.

„Yamato, antworte“, sagt er jetzt in bestimmtem Ton.

„Ich…“ Meine Stimme bricht ab. Ich höre meinen Vater seufzen, dann hält er mir eine blutverkrustete Rasierklinge hin.

„Die gehört dir, oder?“

Ich nicke zögerlich. Angst steigt in mir auf und mein Magen verkrampft sich.

„Hast du sie benutzt oder war Tai es selbst?“, fragt er weiter. Ich antworte nicht. Meine Kehle ist wie zugeschnürt, sodass ich keine Luft bekomme. Ich habe das Gefühl, zu ersticken. Unregelmäßig atme ich aus und ein.

„Du warst es, hab ich recht?“ Seine Frage klingt, als würde er hoffen eine andere Antwort zu erhalten. Konzentriert versuche ich die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken und meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Ich trinke erneut einen Schluck Tee und schaffe es zögerlich, mich zu beruhigen. Dann sehe ich meinem Vater direkt in die Augen.

„Ich war es. Ich habe Tai verletzt. Absichtlich.“

Unglauben macht sich im Gesicht meines Vaters breit. Für einen Moment ist er wie erstarrt. Müsste ich seinen Anblick beschreiben, dann würden Entsetzen, Erschütterung und Fassungslosigkeit zusammen bei Weitem nicht ausreichen. So habe ich ihn noch nie gesehen. Schuldbewusst senke ich den Kopf.

„Aber warum?“ Seine Frage ist kaum mehr als ein Flüstern. Ich überlege, ob ich ihm die Wahrheit wirklich zumuten sollte. Oder ob Schweigen besser wäre.

„Weil ich ihn liebe“, sage ich schließlich ohne nachzudenken. Erst im Nachhinein wird mir bewusst, welche Bedeutung meine Worte eigentlich haben.

„Was?“ Seine Verwirrung ist ihm deutlich anzumerken, doch auch, dass er versucht sich wieder zu sammeln. „Wenn du ihn liebst, warum tust du ihm so etwas an? Yamato, das ist krank.“ Kaum hat er diesen Satz ausgesprochen, sehe ich das Erschrecken über sich selbst in seinen Augen.

„Schon okay, Papa. Ich finde es gut, dass du endlich aussprichst, was du wirklich denkst.“ Ich stehe auf und verlasse den Raum. Auf seine Bitte, zurückzukommen, reagiere ich nicht mehr.
 

Wie versteinert sitze ich in meinem Zimmer und betrachte den eingetrockneten, rostroten Fleck auf dem Teppich. Tai muss viel Blut verloren haben. Eine so tiefe Wunde habe ich real noch nie gesehen. Ich schaue unwillkürlich auf meinen Arm, schiebe den Ärmel des Hemdes hoch und mustere meine eigenen, teils verheilten, Schnitte. Verlangen steigt in mir auf, welches durch den noch immer in der Luft liegenden Geruch nach Tais Blut weiter gesteigert wird. Ich nehme eine der Rasierklingen in die Hand, welche ich vorhin aus dem Badezimmerschrank mitgebracht habe. Es wundert mich, dass mein Vater sie scheinbar noch nicht entdeckt hat, sonst hätte er sie mit Sicherheit beschlagnahmt. Fasziniert betrachte ich eines dieser unscheinbaren und doch gefährlichen Dinger. Hätte ich nicht die Oberseite von Tais Arm, sondern die Innenseite, wie ich es kurz in Erwägung zog, gewählt, wäre er vermutlich gestorben. Er wäre vor meinen Augen verblutet. Eine Gänsehaut überkommt mich bei diesem Gedanken. Leicht fahre ich schräg mit der flachen Seite der Klinge darüber, bevor ich sie zum Schneiden ansetzte. Völlig unerwartet wird mein Körper von einer starken Unruhe erfasst und eine diffuse Angst stellt sich ein. Ich sehe Tais Arm vor mir, die zerteilte Haut, das weiße Fleisch mit den Sehnen, die auf den ersten Blick auch Knochen sein könnten, und letztlich das Blut, welches rasch alles bedeckt und unablässig fließt. In meinen Ohren höre ich immer wieder das leise Geräusch, welches beim Zerteilen von Fleisch entsteht. Ein Geräusch, das mich fast in den Wahnsinn treibt. Gelähmt sitze ich da, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Die Klinge gleitet mir aus der Hand und fällt zu Boden. Wie von Sinnen starre ich auf meinen Arm und die zahllosen Male darauf. Plötzlich hebe ich meine rechte Hand und beginne beinahe zwanghaft mit meinen Fingernägeln die verschorften Wunden wieder aufzukratzen. Sie fangen erneut zu bluten an, doch mein Selbsthass ist noch nicht gestillt. Unablässig reiße ich frische Verletzungen in meine Haut, wie ein wildes Tier, welches sich erbarmungslos über seine Beute hermacht. Meine ganze Verachtung bezüglich meiner Schwäche und meiner Person spiegelt sich in diesem Delirium wider. Ich muss erkennen, dass der Vorfall mit Tai Spuren hinterlassen hat, da ich deutlich Hemmungen habe, eine Rasierklinge zu benutzen. Sogar bei mir selbst. Als ich meinen Verstand wiedererlange, sehe ich erst das Ergebnis meines Anfalls. Viele der Wunden sind wieder offen, bluten mehr oder minder stark. Rote Linien ziehen sich über den Arm und laufen an der Unterseite zusammen, wo sie schließlich in Tropfen zu Boden fallen. Ich stehe auf und gehe zu den Verbandsmaterialien, welche noch immer in meinem Zimmer liegen. Gewohnheitsmäßig beginne ich mit der Wundversorgung. Dann ziehe ich meinen Ärmel über den Verband, verstecke die Rasierklingen in meinem Schreibtisch und verlasse das Zimmer.

In der Küche sitzt mein Vater, den Kopf in seinen Händen vergraben. Als ich eintrete, schaut er mich an, sagt jedoch nichts. Schweigend setze ich mich zu ihm. Die Atmosphäre ist unangenehm, denn wir wissen beide, dass unsere Beziehung sich verändert hat.
 

Als ich in meinem Zimmer am Schreibtisch ein paar Gedanken in mein Skillsbuch schreiben möchte, fehlt mir jegliche Konzentration. Ich schaue auf die leere Seite und ziehe mit meinen Augen die Gitterlinien des blau karierten Aufdrucks nach. Meine Krankheit ist aufgrund des Antibiotikums inzwischen weitestgehend abgeklungen. Einerseits bin ich froh darüber, weil mich diese Einschränkung genervt hat, doch andererseits bemerke ich immer wieder, dass ein schlechter Zustand meines Körpers meiner Psyche gut tut. Vor allem die Suizidalität sinkt in diesem Zeitraum auffallend. Eine Erklärung für dieses Phänomen habe ich nicht, als ich jedoch meiner Therapeutin vor einiger Zeit davon berichtete, meinte sie, dass diese Tatsache das Ausmaß meines Selbsthasses verdeutlicht.

Unruhig rutsche ich auf meinem Stuhl herum, versuche Gedanken an ein wiederholtes Abstürzen mit anschließender Einweisung zu unterbinden. Kurzfristig schaffe ich es und schreibe einige Sätze auf das Papier, dann setze ich allerdings den Stift ab und werfe einen Blick auf die Uhr. Der große Zeiger steht auf der Fünf, während der kleine bald die Acht komplett für sich beansprucht. Heute wird Tai ebenfalls nicht herkommen. Im Krankenwagen sitzend sah ich ihn das letzte Mal, mit gesenktem Kopf, als wollte er mir ausweichen. Danach habe ich kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Im Grunde sind erst vier Tage vergangen, aber in Anbetracht der Situation kommt mir diese Zeit unendlich lang vor. Morgen endet meine Krankschreibung und ich muss wieder zur Schule. Wird er da sein, sodass ich ihn sehen kann, oder hat er eine Bescheinigung vom Arzt erhalten?

Ich höre den Schlüssel im Schloss und wie mein Vater die Wohnung betritt. Er kommt heute ungewöhnlich spät von der Arbeit. Seit der letzten Unterhaltung haben wir kaum ein Wort miteinander gewechselt. Dazu, dass ich krank geschrieben bin, sagte er ebenso wenig wie zu dem Gespräch, welches er inzwischen mit meinem Direktor geführt hat. Normalerweise begrüßt mich mein Vater, wenn er nach Hause kommt, die vergangenen Tage ging er jedoch direkt ins Wohnzimmer. Wütend schlage ich mit der Faust auf das Holz der Tischplatte. Am liebsten würde ich mich, im Angesicht meiner Schuld, bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln. Allerdings klingt die Wut ebenso schnell wieder ab, wie sie aufgekommen ist, und weicht einer riskanten Leere. Ich kenne das Gefühl der Einsamkeit, selbst wenn viele Menschen um mich herum sind, aber zum ersten Mal fühle ich mich wirklich allein. Ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem ich gehen kann, ohne jemandem, der mir wichtig ist, Schmerz zuzufügen?
 

Tai steht vor mir und schaut mich hasserfüllt an. Langsam gehe ich einen Schritt auf ihn zu, doch er weicht zurück, damit ich ihn nicht erreiche. Er scheint zu schweben, so leicht gleitet er über den Boden. Verzweifelt versuche ich ihn zu fassen, doch er entwischt mir, als wäre er ein Geist und ich würde durch ihn hindurch greifen. Als ich verstehe, lasse ich mich kraftlos auf die feuchte Erde fallen. Das Grab, auf dem ich sitze, scheint erst vor Kurzem gegossen worden zu sein. Weiße Blumen umranken meine Beine, als wollten sie mich am Weglaufen hindern. Tai lächelt. Gemächlich kommt er auf mich zu und schlägt mir hart mit der Faust ins Gesicht. Meine Lippe platzt auf und der süßlich-metallische Geschmack von Blut verteilt sich rasch in meinem Mund. Ich zeige keine Reaktion und halte meinen Kopf weiterhin gesenkt. Dies bekomme ich mit einem Tritt in den Magen quittiert. Ich keuche auf und krümme mich, den Bauch haltend, nach vorn. Plötzlich spüre ich einen gleißenden Schmerz in der Nierengegend. Mir stockt der Atem und ich breche vollends zusammen. Reglos liege ich im Dreck, warte auf Linderung. Der Himmel ist unnatürlich blau, keine einzige Wolke ist zu sehen. In der Ferne, an einen Baum gelehnt, steht mein Vater. Tai hockt sich neben mich und streicht mir sanft durch das Haar, dann krallt er seine Finger darin fest und reißt meinen Kopf brutal nach oben. Ich blicke ihm in die Augen, kann jedoch keine Bewusstseinsspaltung darin erkennen. Er ist bei klarem Verstand. Erneut schlägt er mir ins Gesicht. Ich sammle das Blut in meinem Mund, spucke es ihm entgegen und treffe Nase und Wange. Unbeeindruckt wischt mein Freund es mit seinem Ärmel weg.

„Fängst du jetzt doch an, dich zu wehren? Ich dachte schon, du hättest endgültig aufgegeben.“ Tai lässt mich los und ich falle zurück auf das Grab. Schwerfällig setze ich mich auf. Mein gesamter Körper schmerzt, doch ich genieße es. Mein Freund scheint das zu bemerken.

„Du bist krank.“

Ich schlage die Augen auf. Verstört taste ich im Dunkeln nach meinem Wecker. Dem beleuchteten Display entnehme ich, dass es vier Uhr dreizehn ist. Zu früh, um aufzustehen. Ich rolle mich auf den Rücken und starre die Zimmerdecke an. Eigentlich habe ich erreicht, worauf ich die ganze Zeit hingearbeitet habe. Es ist mir gelungen, die Menschen, die ich liebe, durch mein Verhalten von mir abzustoßen, um leichter gehen zu können. Ich hatte gedacht, dass bei Eintreten der Situation alles einfacher werden würde und der letzte Schritt nur noch ein kleiner ist. Aber ich habe mich geirrt.
 

„Wir müssen reden, Yamato“, beginnt mein Vater, als er mein Zimmer betritt. Er ist gerade erst nach Hause gekommen und ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mich aufsuchen würde. Umso erstaunter bin ich über die deutliche Aufforderung. Ungefragt setzt er sich auf mein Bett. Ich bleibe auf dem Sofa sitzen, schalte aber den Fernseher leiser. Fragend schaue ich ihn an.

„Du warst seit einigen Tagen nicht mehr in der Schule. Und zur Therapie gehst du auch nicht. Erkläre mir, warum?“ Sein Tonfall ist ungewohnt sachlich.

„Wozu? Ist doch egal.“ Um meinen Vater zu provozieren, versuche ich gleichgültig zu klingen, zucke allerdings zurück, als er sich vom Bett erhebt und auf mich zukommt.

„Na komm, schlag zu. Das habe ich doch verdient“, grinse ich ihn herausfordernd an und frage mich analog, was dieses paradoxe Verhalten eigentlich soll. Ohne es zu wollen, füge ich mit einem Lachen hinzu: „Oder bin ich dir zu krank, sodass du mir lieber feige aus dem Weg gehst.“ Mein Lachen wandelt sich in Zorn und die letzten Worte speie ich meinem Vater giftig entgegen. Ich kann sehen, wie er die Fassung verliert und mich bestürzt ansieht.

„Nein, Yamato. Aber ich frage mich ernsthaft, ob du gerade zurechnungsfähig bist.“

„Ah, verstehe. Du willst mich wieder einsperren lassen. Auch eine gute Methode, um den ungeliebten, wahnsinnigen Sohn ganz einfach loszuwerden“, schreie ich ihm entgegen und zerbreche innerlich an meinen Aussagen.

„Du wirst ausfallend, Yamato.“

„Ach ja? Ist es nicht das, was du denkst?“

„Nein.“ Mein Vater hebt seine Hand, ergreift mich am Arm und zieht mich in eine Umarmung. Ich will mich wehren, gebe aber schnell meinen Widerstand auf.

„Ich habe nicht vor, dich noch einmal in die Obhut der Psychiatrie zu geben. Aber wenn du eine Gefahr für dich oder andere darstellst, lässt du mir keine Wahl. Es liegt also an dir, wie sich deine Zukunft gestaltet.“ Ich spüre den Herzschlag und die Wärme meines Vaters. Gedankenverloren schaue ich ins Nichts und murmele kaum hörbar: „Ich sehe keine Zukunft.“
 

Rücklings liege ich auf dem Boden in meinem Zimmer, direkt neben der Stelle, an der Tai vor elf Tagen gesessen hat, ganz ruhig, aber mit schmerzverzerrtem Gesicht. Dieser Anblick hat sich ebenso in mein Gedächtnis gebrannt wie die aufklaffende Wunde, die ich ihm zugefügt habe. Seitdem habe ich meinen Freund weder gesehen noch gehört. Ich hatte zwar oft den Telefonhörer in der Hand, doch ich schaffte es nicht, seine Nummer zu wählen. Tausend Gründe fielen mir ein, es nicht zu tun. Zuletzt dachte ich, dass ich ihm Zeit lassen sollte und dass er sich meldet, falls er mich sehen will. Doch eigentlich sind es nur Ausreden, um meine Feigheit zu kaschieren. Ich laufe vor Tai weg, da ich nicht weiß, wie ich ihm gegenübertreten soll. Selbst zur Schule gehe ich derzeit nicht, obwohl mein Vater mich ausdrücklich darum gebeten hat. Generell hat sich seit dem Gespräch mit ihm vor einigen Tagen nichts geändert. Ich vegetiere in meinem Zimmer vor mich hin, verlasse kaum noch die Wohnung und habe auch sonst, abgesehen von meinem Bruder, keinen Kontakt zur Außenwelt. Und selbst der ist in letzter Zeit sehr sporadisch geworden. Plötzlich stört mich die Stille und löst ein beklemmendes Gefühl in mir aus. Träge erhebe ich mich. Es sind nur wenige Schritt bis zu meinem CD-Player, aber sie erschöpfen mich bedenklich schnell. Zum ersten Mal seit meiner letzten Entlassung aus der Klinik schalte ich das Gerät ein und setze mich anschließend auf mein Sofa.
 

Der Regen in mir ertränkt das leere Herz

Ein Vakuum, das nicht pulsiert und nicht mehr schmerzt

Nächtelang bin ich schreiend aufgewacht

Nur die Wahrheit bleibt verbannt

Verborgen in Deiner Ewigkeit
 

Dein letztes Wort zu mir verklingt in meinem Kopf

Doch Dein Blick hat mehr gesagt

Als jedes Wort es wohl vermag

Kein Wiederkehren

Um unerträglich frei zu sein

Meine Tränen sind verbrannt

Verloren in Deiner Ewigkeit
 

Siamesische Einsamkeit
 

Zu tief gefallen

Und doch kein Stück bewegt

Und schon viel zu weit entfernt

Gestorben in Deiner Ewigkeit
 

Siamesische

Einsamkeit
 

Den Rest der CD nehme ich nur noch entfernt wahr, denn meine Gedanken schweifen ab. Das Lied löste heftige Gefühle für Tai in mir aus. Wut, Trauer, Hass und Liebe sind vorherrschend, doch als sich die Befürchtung als Gewissheit aufdrängt, dass ich ihn nie wiedersehen werde, glaube ich zu spüren, wie sämtliche Kraft aus meinem Körper entweicht. Der Antrieb, weiterzukämpfen, ist endgültig erloschen. Im Kopf gehe ich sorgfältig meine Möglichkeiten durch und wäge ab. Falls ich gehe, werde ich Taichi keinem anderen überlassen.
 

Ich stehe im Bad und bin gerade damit fertig geworden, den Verband an meinem linken Arm zu wechseln, als es an der Tür klingelt. Verwundert ziehe ich mein Hemd über, verlasse den Raum und gehe den Flur entlang zum Eingang. Ich schaue durch den Spion. Mein Kopf ist vollkommen leer, als ich die Tür langsam öffne.

„Tai…“, entweicht es mir leise, obwohl ich eigentlich schweigen wollte.

Er tritt ohne Aufforderung ein und geht geradewegs in mein Zimmer. Ich schließe die Tür und folge ihm. Nervosität keimt in mir auf. Auf diese Situation bin ich nicht vorbereitet. Nach über zwei Wochen habe ich nicht mehr mit einem Lebenszeichen seinerseits gerechnet, von einem Besuch ganz zu schweigen. Meine Gedanken rasen. Wie soll ich mich ihm gegenüber verhalten? Und wie schaffe ich es, meinen Plan in die Tat umzusetzen? Die Ausgangssituation ist eher ungünstig für mich.

Bedacht ruhig schließe ich meine Zimmertür, denn ich habe bemerkt, dass mein Freund direkt hinter mir steht. Ich verharre in meiner Position und drehe mich nicht um.

„Hast du Angst?“, flüstert er in mein Ohr. Sein Körper drängt meinen dichter gegen das Holz. Mir wird bewusst, dass es kein Entkommen gibt.

„Sollte ich?“, frage ich verächtlicher, als ich eigentlich wollte.

Tai legt seine Arme um mich, schiebt seinen rechten Ärmel ein Stück nach oben und reißt das große Pflaster ab, welches die Wunde noch schützen soll.

„Sieh hin“, fordert er mich auf. Gefügig senke ich meinen Blick und sehe den großen, mittlerweile verschlossenen Schnitt, welcher sich an den Rändern leicht wölbt und quer über den Arm verläuft. An den Seiten sind noch die Einstichpunkte von der Naht zu sehen und rings umher ist die Haut rötlich-gelb vom Jod verfärbt. Narbengewebe hat sich bisher nicht gebildet.

„Ich war gerade beim Fädenziehen. Schau es dir an. Es ist schließlich dein Werk.“

„Tai… was soll das?“ Ein beklemmendes Gefühl beschleicht mich, als mein Freund seinen Körper noch näher an mich drückt.

„Yamato…“ Seine Stimme klingt sanft, aber er wirkt auf mich unberechenbar. Vorsichtig zieht er seinen Ärmel wieder nach unten, dann dreht er mich zu sich um und drückt mich mit dem Rücken fest gegen die Tür, seinen unverletzten Arm gegen meine Kehle gepresst.

„Bist du zufrieden? Jetzt gehöre ich ganz dir.“

„Ist das so?“ Durch den Druck auf meinen Kehlkopf fällt es mir schwer, zu sprechen, dennoch versuche ich Entschlossenheit in meinen Tonfall zu legen. „Dann werde ich dich jetzt töten.“

Für einen Moment sehe ich Entsetzen in Tais Augen, dann nehmen sie einen ernsten Ausdruck an.

„Kannst du das?“

„Lassen wir es darauf ankommen.“

„Okay“, sagt mein Freund mit einem Lächeln und lässt mich los. Ich stehe vor ihm, irritiert und verunsichert. Meine Gedanken sind schwer wie Blei, ergeben keinen Sinn und tragen mich weg von jeglicher Realität. Ein Messer, mein Klappmesser. Nein, zu unsicher. Rasierklinge und Tabletten kommen ebenfalls nicht in Frage. Springen… nein, keine Öffentlichkeit. Erhängen beziehungsweise Erwürgen… ja, das ist es. Ich werde ihm die Luft abdrücken. Wie neulich. Nur diesmal gibt es kein Zurück. Ich werde ihn töten. Hitze steigt in mir auf und mein Herzschlag beschleunigt sich rasant. Tai schaut mich noch immer an. Seine braunen Augen mustern mich aufmerksam. Sie sind schön, ebenso wie sein Gesicht. Niemand außer mir soll ihn bekommen.

„Komm. Leg dich auf das Bett.“ Bei diesen Worten spüre ich das Begehren, das mein Freund in mir auslöst. Die Berührung seiner Lippen, die Liebkosung seiner Haut, sein Duft und sein Geschmack, all das gehört mir. Jedes seiner Haare, jede noch so kleine Hautzelle, ich habe ihn gezeichnet und mit der Ewigkeit an mich gekettet. Nun hat er keine Wahl mehr. Bevor ich mich aber ihm widme, gehe ich noch einmal zum CD-Player, um ein letztes Lied einzuschalten.
 

Raumlos irren die Gedanken umher

Unerreichbar

Atemlos rennst Du hinterher

Hoffnungslos

Wie schwarzes Wasser rauscht die Zeit vorbei

Sie reißt Dich mit

Lässt Dich fallen, ich brenne, zerreiß mich, geh weiter
 

Die Wirklichkeit

Sie ist der Untergang für mich

Vergib der Zeit

Im 'morgen' finden wir uns nicht
 

Liebe - lange - ewig Lüge - einsam

Aber nicht allein

Trümmer - alles selbst zerstört - zu viel riskiert

Lebenslanges sich neu Erfinden

Schreiend, jedoch ungehört

Der Spiegel brennt, alle Seiten - Du siehst Dich

Alles so verkehrt
 

Die Wirklichkeit

Sie ist der Untergang für mich

Vergib der Zeit

Im 'morgen' finden wir uns nicht
 

... sie ist der Untergang für mich

... ein 'morgen' gibt es nicht
 

Während der Titel ‚Die Wirklichkeit‘ lief, hielt Tai die Augen geschlossen. Er wirkt entspannt. Ich streiche ihm voller Liebe über die Wange, beuge mich dann zu ihm hinab und flüstere:

„Spürst du die Leichtigkeit?“ Ruhig umschließe ich seinen Hals und drücke stark auf die Halsschlagader, um die Sauerstoffzufuhr zu behindern. Als sein Überlebenstrieb einsetzt und er sich zu wehren beginnt, verstärke ich den Druck. Er öffnet die Augen, scheint mich aber nicht mehr sehen zu können. Auf seinen Lippen glaube ich ein Lächeln zu erkennen, bis allmählich die Gegenwehr nachlässt und seine Augen sich schließen.
 

„Yamato! Hörst du mich?“ Ich kenne die Stimme, die meinen Namen ruft. Als ich mich bewege, fühle ich mich schwerfällig, wie erschlagen. Meine Gliedmaßen schmerzen und es kommt mir so vor, als wäre ich Jahre gelähmt gewesen. Benommen öffne ich die Lider und brauche einen Moment, um mich an die Helligkeit, das künstliche Licht, das in meinen Augen brennt, zu gewöhnen.

„Du warst lange ohne Bewusstsein. Ich vermute etwa vierzehn Stunden. Es war nicht einfach, deinen Vater davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung ist. Besonders, dass du tagsüber fest schlafend im Bett liegst und ich ihn frage, ob ich bei euch übernachten darf, machte ihn stutzig. Ich erklärte kurz, dass wir ein paar Dinge aus den letzten Wochen zu klären hätten, und es sah so aus, als ob er mir glaubte. Ich denke, er hat nicht mitbekommen, dass du dich wieder mit Medikamenten zugedröhnt hast. Die Packung, die noch neben dir lag, als ich wieder zu mir kam, habe ich verschwinden lassen und dein Vater kam erst später nach Hause. Aber was wolltest du mit dem Schlucken von zehn Schlaftabletten erreichen? Ein Suizidversuch war es jedenfalls nicht, denn ich gehe davon aus, dass du genau weißt, welche Dosis für einen Erfolg nötig ist.“

Ich schaue Tai müde an. An seinem Hals zeichnen sich leicht rot-bläuliche Würgemale ab. Zaghaft hebe ich meine Hand und fahre behutsam mit den Fingern darüber.

„Nachdem du dich nicht mehr bewegt hast, wollte ich nur noch der Realität entfliehen.“ Das Sprechen fällt mir schwer, da meine Kehle trocken ist und nach Wasser verlangt. Flüsternd füge ich hinzu: „Ich kann dich nicht töten. Es ist dein Leben. Aber…“ Ich muss husten. Mein Freund hält mir die Wasserflasche, welche immer neben meinem Bett steht, entgegen. In seinem Gesicht erkenne ich keine Regung. Ich trinke einen Schluck.

„Aber?“, hakt er nach.

„Aber du gehörst mir. Ich will und werde dich nicht wieder freigeben!“

Ein Lächeln schleicht sich auf Tais Lippen.

„Wie kommst du darauf, dass du das musst? Nur…“ Er streicht mit seinem Daumen leicht über meine Lippen. „…was nütze ich dir im Tod? Warum siehst du immer nur die Extreme?“

Ich setze mich mühsam auf. Die Nachwirkungen der Tabletten stecken mir noch in den Knochen.

„Wenn du lebst, kannst du mich jederzeit verlassen.“

„Ich werde dich aber nicht verlassen“, entgegnet mein Freund unbeirrt auf meine Aussage.

„Woher willst du das wissen? Bei meinem Verhalten und meinem Charakter ist es doch nur eine Frage der Zeit! Ich mache dir das Leben zur Hölle, um dich an mich zu binden, nur um dich dann wieder von mir zu stoßen, damit es leichter für alle ist, falls ich es endlich schaffe, mich umzubringen. Doch ich schaffe es nicht! Ich kann nur reden und alle terrorisieren, bin zu nichts nütze und zu schwach, um mich und die Welt von mir zu erlösen!“ Verzweiflung steigt in mir auf und meine Worte sind fast geschrien.

„Ich kann es nicht wissen, aber ich denke, ich kenne dich besser als jeder andere. Glaubst du wirklich, dass ich dich jetzt noch verlassen kann? Du hast dich wie ein Parasit in mir eingenistet, bedeutest für mich Tod und Leben zugleich.“ Er zieht mich in eine Umarmung. „Aber in einem hast du recht. Du schaffst es momentan weder mich noch dich zu töten. Das liegt aber nicht daran, dass du zu schwach bist, und wenn du ehrlich zu dir selbst bist, weißt du das auch. Noch ist dein Lebenswille stärker als der Wille zu sterben, auch wenn es sich wahrscheinlich oft nicht so anfühlt.“

Bei der letzten Aussage füllen sich meine Augen mit Tränen. Ich verstehe die dadurch entstandenen Gefühle nicht, eine Mischung aus Erleichterung, Angst, Zuversicht, Schmerz und Aussichtslosigkeit. Dennoch nicke ich, bevor ich ihn leicht von mir schiebe. Es tut im Augenblick weh, von ihm berührt zu werden und ich bekomme keine Luft. An Tais Mimik erkenne ich, dass er Verständnis für meine Geste hat. Dann ändert sich sein Gesichtsausdruck plötzlich in Ernsthaftigkeit.

„Ein Problem habe ich allerdings noch“, bringt er vorsichtig an.

„Welches?“

„Im Sommer kann ich doch unmöglich Rollkragenpullover tragen.“

Irritiert sehe ich ihn an, dann fällt mein Blick auf seinen Hals. Mein Lachen erfüllt das gesamte Zimmer.

„Das ist nicht witzig, Yamato!“, schmollt Tai, kann ein Lachen aber auch nicht mehr unterdrücken. Lange schaffen wir es nicht, uns wieder zu beruhigen, vielleicht, um ein unangenehmes Schweigen zu vermeiden, denn wir wissen beide, dass dieses Gespräch zu viele Dinge unausgesprochen im Raum stehen gelassen hat.
 

Ich blättere gerade die Seite meiner Zeitschrift um, als ein Schrei das Schweigen bricht.

„Ja! Geschafft!“, jubelt Tai. Ich blicke ihn an, dann richte ich meine Augen auf den Bildschirm. Diesem kann ich entnehmen, dass er seine Mission erfolgreich beendet hat. Ich schaue wieder zu meinem Freund. Er grinst, als er mir stolz von seiner neuen Errungenschaft erzählt.

„Siehst du, jetzt habe ich sogar einen AH56A-R. Ich hätte gleich die FIM-43 Redeye verwenden sollen, um den Heli vom Himmel zu holen.“ Sogleich wendet er sich erneut dem Spiel zu. Eine Weile beobachte ich ihn, dann widme ich mich wieder meiner Zeitschrift. Maschinengewehre, Granaten und Raketen bilden die einzigen Geräusche im Raum, hin und wieder begleitet vom Fluchen meines Freundes.

„Warum spielst du eigentlich nicht mehr?“, fragt Tai plötzlich, ohne jedoch sein Spiel zu unterbrechen.

„Wie bitte?“, frage ich irritiert.

„Gitarre. Oder auch der Gesang. Deine Band. Die Musik allgemein.“

Ich lege meine Zeitschrift beiseite. Schweigend schaue ich ihm dabei zu, wie er seinen Handheld malträtiert, den er momentan als Kontroller benutzt, da er per Kabel über den Fernsehbildschirm spielt.

„Willst du nicht antworten? Oder kannst du nicht?“

„Ich weiß es nicht. Ich glaube, das alles hat einfach irgendwann an Bedeutung verloren.“

Eine kurze Pause entsteht, bevor Tai besorgt zu mir sieht.

„Ist es sinnvoll, zu fragen, ob überhaupt noch etwas Bedeutung für dich hat?“

Ich versuche seinem Blick standzuhalten, schaffe es jedoch nicht lange und schaue stattdessen verlegen nach unten auf meine Hände. Sie zittern leicht. Ich bin froh, als ich merke, dass mein Freund nicht weiter nachhakt, sondern unkommentiert sein Spiel wieder aufnimmt. Ich lenke meine Aufmerksamkeit ebenfalls auf den Bildschirm. Nachdem die Hauptfigur einen feindlichen Wachposten unschädlich gemacht hat, steht sie auf dessen Beobachtungsturm und zielt mit einer M21 auf die Patrouillen am Boden. Kurz ist ein roter Punkt am Kopf eines Gegners zu sehen, dann hört man das Geräusch des sich lösenden Schusses. Der anvisierte Soldat stöhnt kurz auf, bevor er tot umfällt. Ein in der Nähe stehender Kamerad wird aufmerksam, der Alarm geht los.

„Scheiße!“, flucht Tai. „Den hatte ich irgendwie übersehen.“

„Knallst du den Rest auch noch ab oder gehst du in Deckung?“

„Hm, ich überlege noch. Ich könnte sie auch nur betäuben und dann rekrutieren.“

„Von denen du die meisten doch sowieso wieder feuerst, weil sie beschissene Werte haben.“

„Ich habe nun einmal nicht so viel Platz auf meiner Basis. Sie ist immerhin noch im Ausbau.“

Inzwischen wurden fast alle gegnerischen Soldaten betäubt und abgeholt. Einige waren allerdings zu zäh, sodass es für sie keine Gnade gab.

„Tai?“, frage ich nach einem Moment des Schweigens.

„Hmm?“, kommt beiläufig zurück.

„Bekommst du diese Zustände eigentlich mit?“

„Welche Zustände?“

„Die, in denen du von jetzt auf gleich umswitcht und dann völlig verändert auf mich wirkst. Ich frage mich, ob du die Situationen als solche erfasst.“

Tai drückt die Pausetaste. Seine Augen versuchen Kontakt zu mir herzustellen. Ich löse meinen Blick vom Bildschirm und lenke meine Aufmerksamkeit auf meinen Freund.

„Du meinst, ob ich dann weiß, was ich tue?“

„Ich möchte wissen, ob diese Momente der Wahrheit entsprechen.“

Als wäre er plötzlich störend, legt Tai seinen Handheld beiseite, steht auf und setzt sich zu mir auf das Bett.

„Ich bekomme alles mit. Ich handele aktiv, aber du weißt selbst, wie das mit der Kontrolle ist, oder?“ Er streicht mir behutsam eine Strähne aus dem Gesicht. Ich habe das Gefühl, mich in seinen Augen zu verlieren. Meine Umgebung verschwimmt, nur Tais Konturen sowie seinen Geruch nehme ich deutlich wahr. Eigentlich wollte ich mehr über diese Dissoziationen meines Freundes erfahren, denn ich bin nach wie vor der Meinung, dass es genau das ist, was er da erlebt, doch meine Gedanken sind kaum noch greifbar. Ich spüre weitere Berührungen an meinem Körper, die Stellen brennen wie Feuer und ich scheine zu verglühen. Warm fühle ich Tais Atem auf meinen Lippen, dann die Feuchte seiner eigenen auf meinen. Mit sanfter Gewalt drückt der mich nach hinten, sodass ich unter ihm zum Liegen komme. Ich möchte mich wehren, doch mein Körper gehorcht mir nicht. Meine Gliedmaßen kribbeln von innen, als würden tausende Ameisen hindurch laufen. Ich möchte sie abschütteln, schaffe es aber nicht, meine Lähmung zu durchbrechen. Tais Liebkosungen sind wie schmerzende Wunden. Ich schließe meine Augen.

„Sieh mich an“, fordert mein Freund mich auf und nimmt meinen Kopf zwischen seine Hände.

„Mach bitte weiter. Hör nicht auf!“, höre ich mich sagen. Übelkeit steigt in mir auf. Ich ekle mich vor mir selbst.
 

Ausgelaugt sitze ich in der Küche. Es ist mitten in der Nacht und dunkel im Raum. Das Licht schalte ich absichtlich nicht ein, da ich zum einen nicht auf mich aufmerksam machen möchte und zum anderen die Helligkeit in meinen Augen zusätzlich schmerzen würde. Mein Kopf dröhnt ohnehin schon. Ich nehme die Hände vom Gesicht und schaue auf die Tasse Kaffee und die Packung Schmerzmittel vor mir. Vorhin habe ich bereits vier Stück genommen, doch sie helfen nicht. Dabei hatte ich gehofft, dass das Koffein die Wirkung verstärken würde. Ich nehme die Schachtel zur Hand und öffne sie. Acht Stück sind noch enthalten, welche ich nun entnehme und akribisch vor mir auf dem Tisch aufreihe. Einen Augenblick lang betrachte ich sie, dann schlucke ich eine nach der anderen mit etwas kaltem Kaffee hinunter. Die leere Packung lasse ich in meiner Hosentasche verschwinden. Mir ist das Risiko zu hoch, dass mein Vater sie durch Zufall im Hausmüll entdeckt. Ich trinke meine Tasse leer, schiebe sie von mir und lasse meinen Kopf auf die Tischplatte sinken. Ich fühle mich erschöpft und müde, obwohl kein akzeptabler Grund dafür ersichtlich ist. Seit einiger Zeit gibt es keine nennenswerten Vorfälle mehr, die Beziehung zu meinem Vater und Tai ist auch wieder besser. Warum spüre ich dann kein Glück? Keine Zufriedenheit? Warum ist da keine Leichtigkeit, keine Unbeschwertheit? Stattdessen fühle ich mich in mir selbst eingeengt, kann kaum atmen und betäube sämtlichen Schmerz mit Tabletten. Ich verstehe nicht, was mein Problem ist. Dass ich eigentlich kein Problem habe? Ich wünsche mir keine Probleme, ich wünsche mir nur, dass es anders ist. Dass ich anders… oder einfach weg bin. Oft denke ich, ich fühle wahrscheinlich falsch. Wo es angebracht ist, etwas zu fühlen, spüre ich nur Leere, aber wenn es besser wäre, etwas weniger Emotionen zu empfinden, überfluten sie schmerzhaft meinen ganzen Körper und ich glaube, zu zerspringen. Doch es gibt nur diese beiden Optionen, quälendes Gefühlschaos oder todgleiche Leere und ich ertrage beides nicht. Ich komme einfach nicht zurecht, nicht mit der Welt und schon gar nicht mit mir selbst. Ständig regiert in meinem Inneren die blanke Verzweiflung und ich fühle mich ihr hilflos ausgeliefert. Doch so einfach gehen kann ich nicht. Nicht mehr.

Tränen laufen mir über die Wangen.

„Verdammt!“ Wütend wische ich sie mit meinem Ärmel weg. „Jetzt versinke ich schon im Selbstmitleid. Ich bin wirklich das Letzte!“ Voller Selbstverachtung stehe ich auf und verlasse die Küche. Ich bemühe mich leise zu sein, um meinen Vater oder Tai, der in meinem Bett schläft, nicht zu wecken. Im Flur ziehe ich meine schwarzen Low Chucks an und auch wenn es Nacht ist, wird es draußen ausreichend warm sein, sodass ich auf meine Lederjacke verzichte. Ich nehme den Schlüssel und das Portemonnaie meines Vaters von der Kommode und verlasse lautlos die Wohnung.
 

Du hast die Augen aufgeschlagen

Kannst das Licht doch nicht ertragen

Wie um die Schmerzen fortzujagen

Schlägst du nach dem Neonstrahl

Selbst die Luft schmeckt dir verrußt

Denn ganz egal, was du auch tust

Wenn du sie atmest

Musst du husten

Hättest du nur eine Wahl
 

Von überall drängt an deine Ohren

Ein beständiges Rumoren

Und du fühlst dich so verloren

Und du wünschst dich ganz weit weg

Deine Haut beginnt zu jucken

Deine Augen stark zu zucken

Willst dich in die Schatten ducken

Doch du findest kein Versteck
 

Viele längst vergessene Geister

Heißen dich Willkommen

In der eisigen Wirklichkeit
 

Alle Ängste mitgereist

Wer hat sie mitgenommen

In die eisige Wirklichkeit
 

So viele Jahre war dein Streben

All dein Tun und Worte Weben

Auf ein großes, neues Leben

In der Freiheit konzentriert

Nun bist du endlich obenauf

Denn alles schien so gut gelaufen

War es teuer nicht erkauft

Wenn dich am Ende wieder friert?
 

Das Lied geistert mir im Takt pulsierend durch den Kopf, als ich ohne Ziel durch die Stille der Nacht die Straße entlanglaufe. Diese Ruhe und Verlassenheit ist angenehm und beängstigend zugleich. Ich bleibe stehen. Ich erkenne das vor mir liegende baufällige Gebäude und die Seitengasse wieder. Es erscheint mir wie eine Ewigkeit, dass mich meine Schritte ähnlich wie heute in diese Gegend führten. Damals war es kalt, gerade Winter, und es begann zu schneien. Ich biege in die kleine Straße ein. Bewusst setze ich mich an dieselbe Stelle, an der ich schon einmal saß, schließe die Augen und versuche mir die Situation von einst wieder ins Gedächtnis zu rufen. Es schmerzt. Seit damals ist viel geschehen und doch ist alles wie zuvor. Es scheint egal zu sein, welche Veränderungen passieren, meinen ewigen Kreislauf kann ich doch nicht durchbrechen. Diese Erkenntnis kommt mir immer und immer wieder und es ist bitter. Bitter auch, weil mir mit jedem Mal meine Unfähigkeit und Widerwärtigkeit vor Augen geführt wird.

Fahrig krame ich aus meiner Hosentasche eine Schachtel Zigaretten. Es ist mein Glück, dass mein Vater noch Gelegenheitsraucher ist und einen TASPO besitzt. Dadurch war es einfach, an die Tabakware zu gelangen. Ich öffne die Packung und entnehme eine der Zigaretten. Mit dem Feuerzeug, welches ich schon seit einer Weile bei mir trage, entzünde ich sie. Es interessiert mich, ob das Nikotin wirklich beruhigend wirkt, und inhaliere den Rauch tief. Ein leichtes Brennen in den Lungen und ein Kratzen im Hals machen sich bemerkbar, vergehen jedoch nach ein paar Zügen rasch. Abgespannt lehne ich mich mit dem Rücken gegen die Wand. Die beruhigende Wirkung scheint sich zu bestätigen, ist aber eher wie ein kurzes Durchatmen, eine kleine Auszeit und nichts anhaltend Langfristiges. Positiver Nebeneffekt ist jedoch die Selbstschädigung. Auch der Geschmack stößt mich nicht ab, dieser leicht bittere Rauch sowie das sanfte prickelnd beißende Gefühl auf der Zunge. Allmählich spüre ich, wie Schwindelgefühle einsetzen. Die Umgebung verzerrt sich leicht, in meinem Kopf beginnt ein Kreiseln und mein Körper scheint zu schwanken, obwohl ich auf dem Boden sitze. Ich ziehe erneut an der Zigarette. Warum ist Tai meinen Fragen bezüglich seiner Dissoziationen ausgewichen? Eigentlich habe ich es in dem Moment nicht so empfunden, doch mit etwas Abstand betrachtet, drängt sich mir der Gedanke auf. Ist er sich seiner doch nicht bewusst oder will er nicht mit mir darüber reden? Ich nehme einen letzten Zug, die Zigarette ist bereits soweit heruntergebrannt, dass es heiß an den Lippen wird, und werfe sie neben mich in den Staub. Ein Gefühl der Angst kommt in mir auf. Ich versuche, den Ursprung zu erkennen, kann jedoch keinen Bezug herstellen. Zittern erfasst meinen Körper. Ich schlinge die Arme um meine Beine und vergrabe mein Gesicht in meinen Knien. Von Schluchzern geschüttelt, bricht erneut Verzweiflung über mich herein. Am Himmel verdrängen die ersten Sonnenstrahlen die letzten Sterne und begrüßen zuversichtlich den neuen Tag.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

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Ich öffne meine Augen. Für einen Moment bin ich verwirrt und orientierungslos. Mein Körper ist wie gelähmt und ich schaffe es nur unter großer Anstrengung, mich zu bewegen. Langsam registriere ich, dass ich mich nach wie vor auf dem Boden liegend in meinem Zimmer befinde. Die Sonne ist noch nicht untergegangen, wodurch ich erleichtert erkenne, dass es nicht allzu spät sein kann. Mein Vater dürfte also nicht zu Hause sein. Sonst hätte er mich wahrscheinlich bewusstlos und zugedröhnt vorgefunden und ich wäre mit Sicherheit in einem Bett der Klinik wieder zu mir gekommen. Schwindel macht sich bemerkbar, als ich probiere aufzustehen. Ich taste an meinem Bett nach Halt, ziehe mich ein Stück daran hoch und lasse mich völlig entkräftet auf die Matratze sinken. Ich versuche mich zu erinnern, was zu diesem erneuten Zusammenbruch geführt hat, doch in meinem Kopf herrscht nichts als ein pulsierender Schmerz, der alles andere überdeckt. Erschöpft schließe ich die Augen und schlafe sofort ein.
 

Schweren Schrittes gehe ich in die Küche.

„Papa“, sage ich überrascht, als ich meinen Vater zeitunglesend am Tisch vorfinde. Er schaut auf und betrachtet mich ernst.

„Du hast lange geschlafen“, bemerkt er mit Misstrauen in der Stimme. „Ich habe dich für heute in der Schule krank gemeldet.“ Irritiert sehe ich ihn an.

„Weit über zwanzig Stunden“, ergänzt er. Ich schweige und weiche seinem Blick aus.

„Yamato. Wie viele Tabletten hast du diesmal geschluckt?“

„Keine. Mir ging es einfach nur nicht gut.“ Es fällt mir schwer, meinen Vater anzulügen. Ich nehme mir eine Tasse aus dem Schrank, fülle sie mit Kaffee und setze mich ebenfalls an den Tisch. Vorsichtig trinke ich einen Schluck, da noch Dampf aufsteigt und ich mir nicht die Lippen verbrühen möchte. Dann puste ich ein paar Mal, wobei ich meinen Vater betrachte. Er scheint in einen Artikel vertieft zu sein.

„Müsstest du nicht eigentlich auf Arbeit sein?“, frage ich verwundert und um die unangenehme Stille zu durchbrechen. Vorwurfsvoll sieht mein Vater zu mir.

„Ich habe mir frei genommen, um auf meinen Sohn aufpassen zu können.“ Verbittert lächle ich ihn an.

„Dann sollte ich wirklich verrecken, damit du dein Leben endlich wieder...“ Außer sich vor Wut springt mein Vater auf und schlägt mir so fest ins Gesicht, dass ich vom Stuhl falle und mit dem Kopf hart gegen den Küchenschrank stoße. Benommen bleibe ich kurz liegen, dann richte ich mich ein wenig auf und schaue ihm direkt in die Augen. Als ich darin außer Schmerz nichts erkennen kann, schnürt sich meine Brust zu und ich kann kaum atmen. Weinend steht mein Vater vor mir und wirkt dabei unglaublich verletzlich. Ich wische mir das Blut von der Lippe, welche durch die Heftigkeit des Schlages wieder aufgeplatzt ist. Mühsam versuche ich aufzustehen, werde aber von einem starken Schwindelgefühl und hämmernden Kopfschmerzen daran gehindert. Allerdings schaffe ich es, mich gegen den Schrank zu lehnen und so in einer sitzenden Position zu halten.

„Taichi rief vorhin an. Er hat Angst um dich und bat mich, auf dich Acht zu geben. Dein Freund wirkte panisch, so habe ich ihn noch nie erlebt. Was ist passiert, Yamato? Verdammt noch mal…“ Bei der Erwähnung von Tais Namen spüre ich, wie mich sämtliche Kraft verlässt und ich nervlich komplett zusammenbreche.

„Es tut so weh“, schluchze ich, während ich mich auf dem Boden zusammenkrümme.

„Yamato! Was hast du?“ Hastig kommt mein Vater zu mir und nimmt mich behutsam in seine Arme. Verzweifelt suche ich nach Halt und kralle mich in seinem Hemd fest.

„Bitte, lass mich nicht los! Papa! Halt mich fest! Halt mich fest!“ Ich spüre, dass mein Vater mich noch dichter an seinen Körper drückt, sodass ich seinen Herzschlag hören kann. Beruhigend streicht er mir über den Rücken.

„Nein, ich lasse dich nicht los, mein Sohn. Ich bin hier, hörst du?“, sagt er eindringlich und voller Zuneigung, doch ich höre ihn kaum. Der Schmerz wird übermächtig und bringt meinen Verstand an den Rand des Wahnsinns.

„Ich kann nicht atmen“, japse ich, während ich mir an den Hals greife und beinahe hysterisch an meinem Hemdkragen zerre. Sofort hält mein Vater seine Hände schützend über meine und verhindert, dass ich mich selbst verletzen kann.

„Shh! Ruhig, Yamato.“

„Ich ersticke.“ Mein Vater streicht mir leicht über die Wange. Ich fühle seine Tränen, die sanft auf meine Haut tropfen und sich mit meinen eigenen vermischen. Allmählich erschlafft mein Körper.

„Du erstickst nicht. Du steigerst dich nur hinein.“ Die Stimme meines Vaters ist nicht mehr als ein Flüstern und klingt, als wäre sie unendlich fern. Ich reagiere nicht, liege nur leblos in seinen Armen, die Augen starr auf einen unbestimmten Punkt gerichtet.

„Bist du noch da? Yamato!“ Ich bemerke, dass ich geschüttelt werde und mein Vater mich fast anschreit.

„Yamato! Yamato!“ Der Schmerz in meiner Brust kehrt durch die Verzweiflung meines Vaters zurück, als ich gewaltsam wieder in die Realität geholt werde. Erneut laufen mir Tränen über die Wangen.

„Papa“, sage ich erstickt. „Es tut mir leid.“

„Yamato!“ Voller Erleichterung presst er mich fest an sich, sodass ich glaube zu zerbrechen. Einmal mehr erfahre ich, wie sehr Liebe schmerzt, doch ich wehre mich nicht und lasse es geschehen. Meine Gedanken scheinen ungewöhnlich klar zu sein und ich bekomme das Gefühl, etwas Wichtiges begriffen zu haben.

„Papa. Ich liebe dich!“ Dieser schweigt kurz, dann streicht er mir durch das Haar und seufzt.

„Yamato…“
 

Unruhig und ohne Sinn laufe ich durch mein Zimmer. In meinem Kopf pulsiert es so stark wie selten zuvor, woran der akute Schlafmangel nicht ganz unbeteiligt sein dürfte. Seit meinem Zusammenbruch vor vier Tagen stehe ich unter der strengen Beobachtung meines Vaters. Er versprach mir, mich nicht in die Klinik abzuschieben, wenn ich im Gegenzug seinen Bedingungen Folge leiste. Damit er mich rund um die Uhr beaufsichtigen kann, sagte mein Vater seine Geschäftsreise ab und nahm meinetwegen erneut unbezahlten Urlaub. Er brachte mich zum Arzt, um eine Krankschreibung für die Schule zu bekommen, doch als er von meinen Eskapaden der letzten Zeit berichtete, wollte der Arzt sofort die Einweisungspapiere fertigmachen. Glücklicherweise versicherte mein Vater ihm, dass dies nicht nötig sei, woraufhin der Arzt zögerlich den Krankenschein ausstellte. Eine weitere Bedingung war die Aushändigung sämtlicher Medikamente. Ich beteuerte ihm, dass ich die Tabletten ausschließlich in meiner Schultasche aufbewahren würde, dennoch bestand mein Vater darauf, meinen Schrank sowie den Schreibtisch zu überprüfen. In der hinteren Ecke eines Schubfaches fand er meine Mundharmonika, die ich inzwischen beinahe vergessen hatte, und hielt sie mir mit einem Lächeln entgegen. Zögernd nahm ich sie an mich. Dummerweise lag darin auch mein Klappmesser, welches er sofort konfiszierte, wobei sein Lächeln verschwand und er mich mit einem fragenden Blick bedachte. Bei dieser Gelegenheit teilte er mir auch mit, dass er die Rasierklingen im Bad gefunden habe. Nur die in meinem Portemonnaie entdeckte er nicht. Außerdem darf ich die Wohnung ohne seine Begleitung nicht verlassen. Einzig die Zigaretten hat er mir zugestanden. Ich gehe zum Fenster, öffne es und zünde mir fahrig eine davon an. Gierig sauge ich den Rauch in mich ein, aber das Nikotin schafft es kaum, mich ruhiger werden zu lassen. Mein Körper ist zittrig und ich fühle mich kraftlos. Zeitweise fällt es mir schwer, mich überhaupt auf den Beinen zu halten. Mein Vater allerdings bleibt unnachgiebig. Außer den verordneten Psychopharmaka bekomme ich keine einzige Tablette von ihm. Ich werfe die aufgerauchte Zigarette aus dem Fenster und zünde mir eine weitere an. Seit ich mich von Taichi getrennt habe, erhielt ich kein Lebenszeichen mehr von ihm. Ich weiß aber, dass er mit meinem Vater in Verbindung steht. Durch Zufall bekam ich ein Telefonat mit, in dem sie offenbar über die aktuelle Sachlage sprachen. Ich frage mich, ob die Beiden schon häufiger Kontakt hatten, denn mein Vater ging sehr vertrauensvoll mit Tai um. Gedankenverloren ziehe ich an meiner Zigarette. Ich bereue die Trennung von meinem Freund, denke aber nach wie vor, dass es besser so ist. Auch wenn der Gedanke, ihn nie wieder berühren zu dürfen, unvorstellbar für mich ist. Wie konnte es passieren, dass meine Abhängigkeit von Taichi unüberwindbar wird? Wie konnte er mich so fest an sich binden? Und wann sind meine Gefühle für ihn so intensiv geworden? Früher dachte ich, dass unsere Empfindungen füreinander auf einer Lüge aufbauen, dass wir ein perfides Spiel spielen, doch es war nichts weiter als Unsicherheit, Angst und falscher Stolz. Schon damals gab es kein Zurück mehr. Schon damals gingen meine Gefühle für Tai weit über Liebe hinaus. Mein Freund hatte Recht, als er meinte, ich wäre besessen. Ich will alles von ihm, seinen Körper, seine Seele, er soll nur mir gehören. Ich ertrage es nicht, wenn er sich mit anderen unterhält oder von anderen berührt wird. Dann möchte ich ihn wegsperren und mit Gewalt an mich binden. Aufgrund des Zwiespaltes verzweifelnd trete ich vor Wut mit dem Fuß gegen die Wand. Schmerz zieht mein Bein hinauf, doch ich beachte ihn nicht. Verlangend ziehe ich mehrfach kurz hintereinander an der Zigarette und werfe sie dann weg. Ich schließe das Fenster und gehe in Richtung meines Bettes. Auf halben Weg komme ich ins Wanken, mir knicken die Beine weg und ich sacke zusammen. Meine Hände beginnen unkontrolliert zu zittern und das Bild vor meinen Augen verschwimmt. Ich setze mich auf den Boden, lehne mich gegen das Sofa, schließe die Augen und atme tief durch. Übelkeit steigt in mir auf und fast im selben Moment würge ich bittere Galle hoch, die ich auf den Teppich erbreche. Nach einigen Minuten lässt das Würgen nach und ich breche körperlich komplett zusammen. Zum wiederholten Mal beweise ich mir meine eigene Erbärmlichkeit, wodurch ich die Verachtung für mich weiter nähre. Der Selbsthass wird übermächtig, doch ich bin nicht einmal in der Lage mich zu bewegen, um die Rasierklinge aus meinem Portemonnaie zu holen. Leblos bleibe ich auf der Seite liegen und starre ins Nichts. Ich hoffe inständig, dass mein Vater mich nicht in diesem desolaten Zustand findet. Womöglich würde er falsche Schlüsse ziehen und denken, ich hätte Tabletten zurückgehalten und mich wieder zugedröhnt. Oder er schätzt die Situation allgemein schlimmer ein, als sie ist, und nimmt aus diesem Grund sein Versprechen, mich nicht einweisen zu lassen, zurück. Letztlich würde es wahrscheinlich sowieso immer darauf hinauslaufen. Hinzu kommt, dass sich seit einiger Zeit meine Zusammenbrüche häufen, die psychischen, die physischen, doch meist eine Kombination aus Beidem. Ich rolle mich auf den Rücken und fixiere die weiße Zimmerdecke. Eine Weile bleibe ich regungslos liegen. Dann schließe ich die Augen, nur um sie gleich wieder zu öffnen. Mit viel Anstrengung gelingt es mir, mich auf das Sofa zu setzen. Langsam bekomme ich die Kontrolle über meinen Körper zurück. Das Zittern sowie das Schwindelgefühl lassen nach und weichen einem unangenehmen Kribbeln, welches einer anfänglichen Taubheit ähnelt. Kalter Schweiß bildet sich auf meiner Haut, was mich zugleich frieren und schwitzen lässt. Ich muss unwillkürlich laut lachen, denn ich fühle mich wie ein Junkie auf Entzug. Dabei besteht noch nicht einmal eine Abhängigkeit. Außer der zu Taichi. Tai… ich muss ihn sehen, sonst werde ich vollends wahnsinnig. Nur ein letztes Mal will ich ihn spüren.
 

Ich bin gerade mit der Reinigung meines Teppichs fertig, als Tai ohne zu klopfen mein Zimmer betritt. Hinter sich schließt er die Tür ab. Einen Moment steht er unbewegt da und schaut mich mit seinen wunderschönen braunen Augen und diesem alles durchdringenden, intensiven Blick an. Ich lasse mich davon gefangen nehmen, wie so oft. Unfähig und unwillig mich dagegen zu wehren. Voller Zuneigung betrachte ich meinen Freund. Seine bronzefarbene Haut, die ich schon unzählige Male berührt habe. Seine Lippen, mit denen er so oft meinen Körper liebkoste. Tai besitzt eine Anziehung, derer ich mich nicht erwehren kann. Und dessen ist er sich bewusst, denn ich merke immer wieder, dass mein Freund sich diese Tatsache zunutze macht. Er spielt ein gefährliches Spiel. Provokant kommt er auf mich zu, presst seinen Körper eng an meinen und legt wollüstig den Arm um meine Hüfte. Mit der anderen Hand zieht er meinen Kopf am Kinn dicht vor sein Gesicht. Ich spüre seinen warmen Atem auf meiner Haut und Erregung kommt in mir auf. Tai lächelt. Dann drückt er mir verlangend einen Kuss auf den Mund, der sich schnell zu einem fordernden Zungenkuss entwickelt. Energisch drängt mich mein Freund in Richtung des Bettes, ohne von mir abzulassen. Mit seinen Fingern beginnt er meine Hose zu öffnen. Ich bleibe stehen, denn das Bettgestell hindert mich am weiteren Rückwärtsgehen. Schwer atmend lösen wir uns voneinander. Tai lächelt erneut und stößt mich gebieterisch auf die Matratze.

„Zieh dich aus“, sagt er im Befehlston und schaut auf mich herab. Ich erwidere den Blick mit einer Mischung aus Verwirrung, Trotz und Zuneigung, reagiere jedoch nicht. Mein Freund kommt über mich, drückt mich nach unten und flüstert in mein Ohr:

„Töte mich. Na los… deshalb bin ich hier, oder?“ Er legt seine Finger um meinen Hals und drückt zu. „Oder willst du, dass ich dich töte?“ Ich muss husten, da Tai sowohl Druck auf die Schlagader als auch auf den Kehlkopf ausübt. Er streicht mir ein paar Haare aus dem Gesicht. Um Luft ringend sehe ich ihm in die Augen, doch er ist nicht er selbst. Sein Blick ist leer, emotionslos, kalt.

„Taichi…“, flüstere ich fast stimmlos. „Lass bitte los.“

„Willst du nicht sterben?“ Er drückt fester zu. Meine Wahrnehmung verändert sich, das Gesichtsfeld wird kleiner und schwarze Punkte beginnen zu tanzen. Das Pulsieren in meinem Kopf wird stärker und in meinen Ohren setzt unangenehmes Rauschen ein. Alles klingt weit entfernt. Ich sehe ein Lächeln auf den Lippen meines Freundes.

„Ich will dich nicht verlieren. Aber du lässt mir keine Wahl, wenn du dich mir entziehst. Ich liebe dich und du gehörst mir. Wenn du stirbst, dann nur durch meine Hand. Sieh das endlich ein, mein Schatz.“ Ich spüre, dass die Kraft meinen Körper verlässt. Meine Atmung ist nur noch unregelmäßig und flach. Als letztes Aufbegehren umfasse ich mit meinen Händen die Handgelenke von Tai.

„Taichi…“ Ein schwaches Husten ist das Einzige, was mir noch über die Lippen kommt. Ich schließe meine Augen und gebe mich dem Schwindelgefühl hin. Die Situation erregt mich und ich lasse mich vollends fallen. Meine Hände sinken kraftlos auf die Matratze.

„Nein, Yamato. So einfach ist es nicht.“ Er lässt mich los. Sofort schnappe ich gierig nach Luft und muss erneut stark husten. Tai zeigt keine Regung. Allmählich schaffe ich es, mich zu beruhigen, meine Atmung normalisiert sich. Ich ziehe meinen Freund zu mir hinab und küsse ihn liebevoll.

„Ich weiß“, antworte ich auf seine Aussage. Mit seinem Daumen fährt er leicht über die Verletzung an meiner Lippe.

„Das sieht schlimm aus. Habe ich so hart zugeschlagen?“, fragt Tai leise. Ich sehe ihn an, sage aber nichts. Stattdessen küsse ich ihn erneut. Ohne das Zungenspiel zu unterbrechen, setze ich mich auf und gleite mit meinen Händen unter das Shirt meines Freundes. Sanft streiche ich über seine Haut. Dann breche ich den Kuss ab und flüstere mit einem Lächeln:

„Du hast recht. Ich will dich töten. Während wir miteinander schlafen.“ Tai lacht laut auf.

„Wie kommst du darauf, dass ich mit dir schlafe, nachdem du dich von einem anderen hast ficken lassen?“ Trotz seiner Worte bleibt meine Mimik gleichgültig.

„Ich nehme dich auch gegen deinen Willen, nur wird es dann wahrscheinlich schmerzhafter.“

„Du willst mich vergewaltigen?“ Noch immer höre ich Belustigung in der Stimme meines Freundes.

„Wenn es sein muss.“ Durch meinen abgeklärten Blick bedeute ich ihm, dass ich es ernst meine. Mit den Fingern öffne ich Tais Hose, greife mit meiner Hand hinein und hole ihm einen runter. Amüsiert betrachte ich die Veränderungen seines Gesichtsausdruckes. Er schließt seine Augen. Leises Stöhnen entweicht seiner Kehle. Die Sinnlichkeit und Hingabe meines Freundes erregen mich. Ich erhöhe das Tempo, wodurch seine Atmung nur noch kurz und stoßweise geht. Mit seinen Fingern sucht er nach Halt und krallt sich in meinem Ärmel fest.

„Nimm meine Hand“, weise ich an. Tai kommt dem nach und ich verhake unsere Finger. Ohne mit meinen manuellen Bewegungen aufzuhören, beuge ich mich vor, um ihn zu küssen. Dann flüstere ich:

„Siehst du, ich muss keine Gewalt anwenden, wenn ich mit dir schlafen möchte, Taichi.“ Ich halte in meinem Tun inne, drücke meinen Freund auf das Laken und entledige ihn seiner Kleidung. Anschließend entkleide ich mich selbst und lege mich neben ihn auf das Bett. Mit meinem Arm umschlinge ich Tais Körper und schmiege mich dicht an ihn. Ich spüre seine Wärme und das leicht beschleunigte Klopfen seines Herzens.

„Was ist los, Yamato?“, höre ich meinen Freund in die Stille sagen. Ich presse mich stärker an ihn.

„Ich weiß es nicht“, gebe ich ehrlich zu. „Ich bin tot, obwohl ich atme und mein Herz schlägt. Nur wenn ich mit dir schlafe, dich berühre oder einfach nur bei dir bin, fühle ich schmerzhaft intensiv, was es bedeutet, zu leben.“ Taichi streichelt mir gefühlvoll durch die Haare.

„Was bezweckst du dann mit deinem selbstschädigenden Verhalten, wenn du dich dadurch nicht lebendiger fühlst?“ Behutsam fährt er mit seinen Fingern über den Verband an meinem linken Arm.

„Ich brauche es, um am Leben zu bleiben. Wenn ich dem Selbsthass nachgebe, fühle ich mich etwas besser und ich schaffe es, die Suizidalität einigermaßen unter Kontrolle zu halten.“ Nach einem kurzen Moment des Schweigens nimmt mein Freund das Gespräch wieder auf.

„Findest du es nicht paradox, dass du nur am Leben bleiben kannst, wenn du dich selbst zerstörst?“ Ich sage nichts, bin mir der Absurdität aber durchaus bewusst.

„Taichi…“, sage ich, nachdem wir eine Weile eng umschlungen Zärtlichkeiten ausgetauscht haben. „Ich möchte noch einmal mit dir schlafen. Ganz normal, ohne Gewalt.“ Mein Freund setzt sich auf und sieht mich an. Dann rutscht er vor mich und zieht meinen Körper an den Beinen zu sich heran und in die richtige Position. Vorsicht dringt er in mich ein. Ich schließe die Augen und versuche mich auf meine Empfindungen zu konzentrieren. Ich spüre, wie Tai sich sachte in mir bewegt. Als hätte er Angst, mich zu zerbrechen.

„Yama, öffne deine Augen und sieh mich an.“ Verlegen suche ich den Blickkontakt. Allmählich beschleunigt er seine Bewegungen und unser Keuchen erfüllt den Raum. Ich betrachte das Gesicht meines Freundes, es ist leicht verschwitzt und unbeschreiblich anziehend. Meine Sicht verschwimmt, als Tränen meine Augen füllen.

„Es reicht nicht“, flüstere ich mit zitternder Stimme. „Es tut mir leid, Taichi.“ Er hält inne, zieht sich aber nicht aus mir zurück.

„Es ist okay.“ Mit einer unglaublich sanften Geste wischt er mir die Tränen aus dem Gesicht. Dann lächelt er mich an.

„Ehrlich gesagt stehe ich auch nicht auf Blümchensex.“ Ein paar Mal stößt er kraftvoll zu, dann bedeutet mir mein Freund, mich rumzudrehen, damit er mich von hinten nehmen kann. Seine Hände auf meine Hüften legend dringt Tai erneut mit einem kräftigen Stoß in mich ein. Seine Bewegungen haben jegliche Zärtlichkeit verloren, jetzt nimmt er mich wieder mit der gewohnten Gewalt. Ich fühle Hitze in mir aufsteigen und die Erregung macht sich deutlich bemerkbar. Mein Atem geht schnell und stoßweise und ich kann ein Stöhnen nicht mehr unterdrücken. Tai packt mich an den Haaren und zieht meinen Kopf ein Stück nach hinten.

„Ja, darauf stehst du.“ Mit den Fingernägeln der anderen Hand kratzt er über meinen Rücken. Ich ziehe die Luft zwischen den Zähnen scharf ein, da ich unvorbereitet war.

„Du doch auch“, presse ich keuchend hervor. Mein Freund intensiviert seine Stöße, als wäre das seine Antwort.

„Tai…“ Ich kralle meine Finger im Laken fest. Ein schimmernder Schweißfilm bedeckt meine Haut und ein leichtes Schwindelgefühl stellt sich ein. „Ich will dich spüren. Ganz tief in mir.“

„Soll ich dich so hart vögeln, dass du nicht mehr laufen kannst?“ Neben Erregung spüre ich jetzt auch Schmerz, als Tai mehrmals grob zustößt. Ich verliere mich in meinen Gefühlen und bin unfähig, einen Gedanken zu fassen. Allmählich merke ich, wie die Kraft in meinen Beinen nachlässt und sie zu zittern beginnen. Ich wusste zwar, dass mein Freund eine gute Ausdauer hat, aber langsam glaube ich, er schafft es wirklich, mich um den Verstand zu vögeln. Kribbeln setzt in meinem ganzen Körper ein und verstärkt sämtliche Empfindungen. Der Schmerz in meinem Unterleib wird ebenfalls stärker und ich frage mich, ob Tai seine Aussage in die Tat umsetzen möchte. Ich sacke ein wenig zusammen.

„Hast du genug?“, fragt er schwer atmend. „Du blutest wieder.“ Ich lächle gequält. Ohne meine Antwort abzuwarten, zieht sich mein Freund aus mir zurück. Erschöpft lasse ich mich auf das Bett sinken, ebenso wie Tai. Es dauert eine Weile bis sich unsere Atmung normalisiert hat, währenddessen schweigen wir. Nur unsere Hände sind fest ineinander geschlungen.
 

Etwas schwach auf den Beinen betrete ich die Küche. Mit zitternden Händen setze ich Kaffee auf, dann nehme ich auf einem der Stühle Platz und warte. Tai hielt Wort, das Laufen fällt mir momentan aufgrund leichter Schmerzen wirklich etwas schwer. Und wieder ist Blut auf meinem Bettlaken. Wenn ich Pech habe, verlangt mein Vater eine Erklärung. Ich reibe mir mit dem Zeigefinger die Schläfe, in der Hoffnung, die Kopfschmerzen ein wenig lindern zu können. Seit ich keine Tabletten mehr nehme, sind sie um ein Vielfaches stärker geworden. Ich könnte meinen Kopf permanent gegen die Wand schlagen. Wenn nicht bald etwas geschieht, werde ich wahnsinnig. Tröstend ist, dass mein Vater mich nicht ewig in dieser Wohnung festhalten kann. Irgendwann muss ich wieder zur Schule und er zur Arbeit gehen. Ich hoffe, dass ich es bis dahin noch aushalte. Als hätte er meine Gedanken gelesen, kommt mein Vater in den Raum. Er sieht mich an, dann zur Kaffeemaschine.

„Ist Taichi noch da?“, fragt er, während er sich mir gegenüber setzt.

„Ja, er spielt ein Konsolenspiel.“ Mein Vater nickt verstehend.

„Und wie geht es dir? Wie kommst du ohne Tabletten zurecht?“

„Gut“, behaupte ich, schaue ihn allerdings bewusst nicht an.

„Yamato.“ Seine Stimme klingt mahnend.

„Tut mir leid. Okay, ich habe ein wenig Kopfschmerzen. Aber es geht schon“, lenke ich seufzend ein. An seinem Gesichtsausdruck erkenne ich, dass er noch immer skeptisch ist, jedoch schweigt. Ich stehe auf und nehme zwei Tassen aus dem Schrank, fülle Kaffee hinein und stelle sie auf den Tisch. Mein Vater nimmt eine der Tassen an sich, pustet und trinkt vorsichtig ein paar Schlucke. Ich tue es ihm gleich.

„Yamato, dürfte ich dich um etwas bitten?“ Ich bin erstaunt, dass er offenbar von sich aus das Thema wechselt, und verwundert, dass er dabei so merkwürdig zurückhaltend ist.

„Ja“, antworte ich argwöhnisch.

„Könntet ihr bitte etwas leiser sein, wenn ich zu Hause bin?“

„Wie meinst du das?“, frage ich sichtlich verwirrt. Mein Vater räuspert sich.

„Auch wenn ich nichts gegen eure Beziehung habe, muss ich nicht unbedingt wissen, wann und wie oft du mit Taichi schläfst.“ Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. Verlegen schaue ich auf die Tasse in meinen Händen. Dass mein Vater sich zurzeit auch fortwährend in der Wohnung aufhält, hatte ich in dem Moment vergessen, als Tai vor mir stand. Ich war ausschließlich auf ihn fixiert.

„Hast du es nur dieses Mal mitbekommen?“ Die Frage kommt beinahe schüchtern über meine Lippen.

„Nein“, kommt unvermittelt die Antwort. Weiterhin beschämt und starr nach unten blickend versuche ich meine Fassung wiederzuerlangen.

„Wann gibst du deine Observierung eigentlich auf? Ich meine, du kannst mich nicht ewig einsperren“, bemerke ich ablenkend.

„Empfindest du das so? Ich glaube nicht, dass du ein Gefangener von mir bist, sondern vielmehr von deinen autoaggressiven Verhaltensweisen. Und da du nicht bereit bist, dich in einer Klinik behandeln zu lassen, musst du meine Maßnahmen erdulden.“

„Und du meinst, das bringt etwas“, stelle ich das Unterfangen nüchtern infrage. „Letztlich wird mir das auch nicht helfen.“ Mein Vater sieht mich streng an.

„Was bitte soll ich sonst tun? Du sträubst dich gegen jede Art von Hilfe. Deine Therapie hast du mittlerweile auch gänzlich abgebrochen, oder? Bisweilen denke ich, du willst nichts ändern, dir soll es nicht besser gehen. Hältst du so verbissen an dem fest, was du kennst, weil du Angst davor hast, mit den Veränderungen nicht klarzukommen?“ Ich schweige betreten, denn ich muss mir eingestehen, dass mein Vater mit seinen Vermutungen recht hat. Es fällt mir schwer, Glück und positive Gefühle anzunehmen und zu verarbeiten. Meist geht das mit negativen Emotionen einher, die jedoch immer übermächtig werden. Ich habe aufgehört, mich dagegen zu wehren, ebenso wie ich aufgehört habe zu kämpfen. Ich habe mich aufgegeben.

„Du verschwendest deine Zeit“, sage ich kalt. „Ich bin es nicht einmal wert, dass du dich so sehr um mich bemühst.“ Entsetzt blickt mein Vater zu mir.

„Hast du mir eigentlich jemals richtig zugehört, wenn ich mit dir gesprochen habe? Manchmal habe ich das Gefühl, gegen eine Wand zu reden. Kommt irgendwas von meinen Worten bei dir an, Yamato? Merkst du nicht, dass es immer derselbe Kreislauf ist? Und wenn es doch einmal besser zu werden scheint, ist diese fragile Hoffnung ganz schnell zerstört. Warum tust du das? Und warum erreiche ich dich einfach nicht? Was mache ich falsch?“ Teilnahmslos und unberührt registriere ich, dass mein Vater sehr aufgewühlt ist.

„Dein Sohn ist eben missraten. Finde dich damit ab.“ Ich lächle ihn provozierend an. „Lass mich einfach weitermachen wie bisher, dann bist du mich vielleicht bald los.“ Ungehalten steht mein Vater auf und macht ein paar Schritte auf mich zu.

„Schlag zu, so fest du kannst, damit meine Lippe noch einmal aufplatzt“, fordere ich ihn heraus. Er schlägt tatsächlich zu und zwar mit so viel Kraft, dass ich erneut vom Stuhl falle. Geschockt bleibe ich auf dem Boden sitzen und starre apathisch ins Nirgendwo.

„Es tut mir leid, dass ich dich schon wieder geschlagen habe, aber du legst eine derart provokative Art an den Tag… anders erreiche ich dich überhaupt nicht mehr. Du wirst immer erst zugänglich, wenn man Gewalt anwendet. Liegt das an deinem Hang zur Selbstzerstörung oder befindest du dich dann in einem dissoziativen Zustand?“ Ich reagiere nicht. Meine gesamte Aufmerksamkeit ist auf den Blutgeschmack in meinem Mund und auf meine schmerzende Wange gerichtet. Am Rande meiner Wahrnehmung bekomme ich mit, dass mein Vater mich an den Schultern packt und zu schütteln beginnt.

„Yamato! Hörst du mich noch? Komm zurück und wach endlich auf! Du kannst nicht vor dir selbst weglaufen, auch wenn du es noch so sehr versuchst.“ Behutsam umfängt er mich mit seinen Armen und drückt mich fest an sich. Einmal mehr laufen Tränen über meine Wangen.

„Papa, bitte gib mich nicht auf, auch wenn ich es getan habe.“

„Hast du nicht, Yamato. Nicht ganz“, höre ich Tais Stimme sagen. Er steht im Türrahmen und betrachtet das Szenario.

„Herr Ishida, ich denke, dass beide Theorien stimmen. Es ist eine Mischung aus Selbstzerstörung und Dissoziation. Aber das ist in meinen Augen keine Entschuldigung. Yamato. Dein Selbstmitleid widert mich an.“ Tai sieht unverwandt zu mir. Seine Augen zeigen kein Erbarmen. Ich begegne dem Blick mit Trotz. Am Arm meines Vaters ziehe ich mich nach oben und bleibe neben ihm stehen. Mit meiner Zunge lecke ich etwas Blut von meiner Lippe.

„Taichi…“, spricht mein Vater meinen Freund an.

„Nein Papa!“, unterbreche ich ihn forsch, ohne Tai aus den Augen zu lassen. Dann richte ich bissig das Wort an meinen Gegenüber:

„Du verwechselst Selbstmitleid mit Selbsthass, denn ich habe kein Mitleid mit mir. Warum auch? Meine Leben ist gut, nur kann ich es nicht annehmen, nicht fühlen. Ich bin das einzige Problem und das ist nicht bemitleidenswert, sondern nur hassenswert.“ Im Augenwinkel sehe ich, dass ich von meinem Vater aufmerksam beobachtet werde. Ein Gefühl der Einengung kommt in mir auf. Auf den Lippen meines Freundes zeichnet sich ein Lächeln ab.

„Siehst du, hättest du wirklich komplett aufgegeben, würdest du dich nicht mehr rechtfertigen. Es wäre dir schlicht egal. Aber du kämpfst noch, wenn auch nicht kontinuierlich.“ Anspannung und Überforderung ergreifen Besitz von mir. Unruhig beginne ich mit meinen Fingern zu spielen. Der Drang, mich zu verletzen, wird stärker und ich suche nach Möglichkeiten, um dem nachgeben zu können.

„Yamato, du driftest mit deinen Gedanken schon wieder ab“, schaltet sich mein Vater ein, da ich reglos und stumm in der Küche stehe.

„Tut mir leid“, entschuldige ich mich abwesend. „Mir wird gerade alles zu viel.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, verlasse ich wie in Trance den Raum und gehe in mein Zimmer.
 

Ich liege im Bett und presse das Kissen auf meinen Kopf, in der Hoffnung die Schmerzen eindämmen zu können. Doch es bringt nichts. Fieberhaft wälze ich mich herum, dann stehe ich genervt auf und laufe nervös im Zimmer umher. In Gedanken spiele ich verschiedene Möglichkeiten durch bezüglich meiner weiteren Vorgehensweise. Kurzerhand fasse ich einen Entschluss. Ich gehe zur Tür, öffne sie einen Spalt und versuche die Geräusche in der Wohnung zu lokalisieren. Aus dem Wohnzimmer vernehme ich Stimmen. Offenbar sind Tai und mein Vater in eine Unterhaltung vertieft. Ich schlüpfe auf Zehenspitzen aus meinem Zimmer, darauf bedacht, nicht auf mich aufmerksam zu machen. Schleichend gehe ich durch den Flur, ziehe leise meine Schuhe an und nehme anschließend meinen Schlüssel und das Portemonnaie von der Kommode. Behutsam öffne ich die Wohnungstür, stecke das kleine, silberfarbene Metall von außen in das Schlüsselloch und drehe es ein wenig, während ich über die Schwelle trete. Lautlos schließe ich die Tür. Im Treppenhaus gehe ich zügig Stufe für Stufe nach unten, versuche dabei allerdings meinen Kopf keinen großen Erschütterungen auszusetzen. Draußen halte ich einen Moment inne und atme die frische Luft tief ein. Es dämmert bereits und der Himmel leuchtet in verschiedenen Rottönen. Die Temperaturen sind deutlich zurückgegangen, aber es ist noch angenehm warm. Das Laub der Bäume beginnt langsam sich zu färben und der Spätsommer zeigt sich von seiner schönsten Seite. Ich muss mich beeilen, da ich nicht einschätzen kann, wie lange es dauert, bis mein Fehlen auffällt. Hastig zünde ich mir eine Zigarette an und laufe schnellen Schrittes die Straße entlang, ohne auf andere Passanten zu achten, vorbei an dem Park, in dem ich schon häufiger saß, und wechsle schließlich auf die andere Straßenseite. Außer Atem erreiche ich mein Ziel. Es ist erschreckend, wie schlecht meine Kondition inzwischen ist. Ich werfe die Zigarette weg und organisiere ohne zu Zögern die benötigten Dinge, vier Packungen Schmerzmittel, zwei Schachteln Schlaftabletten und ein Päckchen Rasierklingen. Auf dem Rückweg ziehe ich mir an einem Automaten eine Dose Kaffee, öffne sie, schlucke den Inhalt einer kompletten Blisterpackung Schmerztabletten gierig hinunter und spüle nach. Die restlichen Tabletten verstaue ich wieder in der Tüte. Zwei Packungen Schmerzmittel, eine Schachtel der Schlaftabletten sowie die Rasierklingen teile ich jedoch zur Sicherheit auf meine Hosentaschen auf. Schnell laufe ich zur Wohnung und hoffe, dass die Beiden sich noch immer im Wohnzimmer aufhalten. Vorsichtig schließe ich die Tür auf und stelle erleichtert fest, dass sie tatsächlich im Wohnzimmer sitzen. Ich ziehe meine Schuhe wieder aus, lege Portemonnaie und Schlüssel an ihren Platz zurück und schleiche in mein Zimmer. Erschöpft, aber mit beschleunigtem Herzschlag setze ich mich auf das Bett und überlege, wo ich meine Einkäufe am sichersten verwahre. Einer Eingebung folgend stehe ich auf und gehe zum Schreibtisch. Dort verstecke ich die angefangene Schachtel der Schmerzmittel sowie eine weitere und eine Packung Schlafmittel in einem Schubfach in der hinteren Ecke unter einem Stapel Papier. Dann bewege ich mich auf meinen Kleiderschrank zu. Sorgfältig verteile ich die restlichen Medikamente und die Rasierklingen in die Taschen verschiedener Kleidungsstücke. Nachdem ich alles untergebracht habe, gehe ich zum Fenster, öffne es und zünde mir eine Zigarette an. Ich spüre, wie ich mich allmählich etwas beruhige und die Kopfschmerzen langsam halbwegs erträglich werden. Gedankenverloren blicke ich nach draußen, während ich den Rauch der Zigarette inhaliere. Plötzlich klopft es an der Tür, fast zeitgleich kommt Tai auch schon herein.

„Geht es dir ein wenig besser?“, will er besorgt wissen. Ich nicke kaum merklich.

„Also hat dir der Spaziergang gut getan“, stellt er fest. Innerlich fluche ich, bleibe aber nach außen gelassen.

„Was meinst du?“

„Hältst du uns für blöd, Yamato?“ Ich höre die Empörung in seinen Worten.

„Schickt dich mein Vater?“

„Nicht direkt. Ich bot ihm an erst einmal mit dir zu reden.“ Tais Blick ist durchdringend. „ Yamato! Dein Vater ist verdammt sauer. Er will seine Androhung nun wahr machen, da du gegen die Auflagen verstoßen hast.“ Mein Freund schaut mich vorwurfsvoll an. „Ich konnte ihn vorerst besänftigen.“

„Danke“, sage ich ehrlich gemeint.

„Du bist mir was schuldig.“ Er kommt ein paar Schritte auf mich zu. Ich nehme einen letzten Zug und werfe die Zigarette aus dem Fenster. Mit seiner Hand streicht Tai mir behutsam über die Wange, hinab zu meinem Mund. Ich zucke unwillkürlich zusammen.

„Dein Vater hat ganz schön hart zugeschlagen. Deine Wange ist noch immer sehr gerötet und du kannst froh sein, wenn sie sich nicht blau verfärbt. Auch deine Lippe ist ziemlich geschwollen und blutig.“ Ich winke ab.

„Es war ja nicht unbegründet. Zudem ist die Verletzung an der Lippe ursprünglich dein Werk.“ Ein Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht.

„Wir sind noch nicht fertig, Yamato.“ Am Tonfall meines Freundes erkenne ich, dass es jetzt unangenehm wird. Ich schaue ihn abwartend an.

„Wo warst du und was hast du gemacht, als du draußen warst?“

„Du sagtest es bereits. Spazieren“, lüge ich eiskalt, aber unglaubwürdig.

„Willst du mich verarschen?“ Tai sieht mich wütend an. „Okay, machen wir es kurz. Du entgehst der Klinik nur, wenn du kooperierst. Dein Vater hat mir, und somit auch dir, nur diese eine Chance gegeben. Du hast dir Tabletten besorgt, hab ich recht? Ich wusste bis vor kurzem gar nicht, dass du medikamentenabhängig bist. Dein Vater erzählte es mir.“

„Ich bin nicht süchtig nach dem Zeug“, protestiere ich genervt.

„Nicht süchtig, aber abhängig. Ich habe zwar mitbekommen, dass du hin und wieder Tabletten gegen Kopfschmerzen geschluckt hast, fand es aber nicht bedenklich. Wie viele nimmst du eigentlich?“

„Zurzeit gar nichts.“

„Und normalerweise?“ Ich schweige, schaue ihn aber unverwandt an. Mein Freund seufzt.

„Warum sprichst du nicht mit mir?“ Er klingt traurig. Mit seiner Hand greift er nach meiner, hält sie fest und zieht mich dichter an sich heran. Er haucht mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen.

„Irgendwann erkläre ich es dir. Aber momentan fällt es mir schwer, zu denken und mich zu artikulieren. Bitte…“

„Schon gut. Ich vertraue dir.“ Liebevoll lächelt er mich an. Dann hält er die Hand auf. Ich zögere, doch schließlich gehe ich zu meinem Schreibtisch und hole die zwei Packungen Schmerzmittel und die Schachtel Schlaftabletten heraus. Widerwillig händige ich sie meinem Freund aus.

„Ist das alles?“, fragt er misstrauisch.

„Ja“, versuche ich ihn zu überzeugen. Am Blick meines Freundes sehe ich, dass er mir nicht glaubt. Dennoch lässt er es dabei bewenden. Er gibt mir noch einen Kuss, dann entfernt er sich von mir.

„Ich bin gleich wieder da. Hoffentlich genügt es deinem Vater, dass du letztlich eingelenkt und die Medikamente herausgegeben hast.“

„Ich habe aber bereits welche eingenommen“, gebe ich ehrlich zu bedenken.

„Das dachte ich mir und er sich garantiert auch. Du wirst ohnehin nicht um ein Gespräch mit ihm herumkommen. Aber ich glaube, im Augenblick wäre es nicht sinnvoll. Ich bringe ihm jetzt erst einmal das hier, dann sehen wir weiter.“ Er deutet auf die Schachteln in seiner Hand. „Warte kurz, ja?“ Mit diesen Worten verschwindet er aus meinem Zimmer. Ich schaue wieder aus dem Fenster und zünde mir noch eine Zigarette an. Tief ziehe ich den Rauch ein. Taichis Worte, dass er mir vertraue, klingen in meinem Kopf nach und hinterlassen gemischte, aber überwiegend negative Gefühle.
 

Ich stehe, eine Zigarette rauchend, am Schultor und warte. Fast zwei Wochen blieb ich auf Wunsch meines Vaters zu Hause, weil er meinte, auf diese Weise meine vermeintliche Medikamentenabhänigkeit in den Griff bekommen zu können. Doch letztlich hat sich nichts geändert. Wenn ich Kopfschmerzen habe, schlucke ich nach wie vor Tabletten, ebenso wenn ich nicht schlafen kann. Ich sehe darin kein Problem und bin der Meinung, dass mein Vater übertreibt. Das Gespräch, welches wir nach meiner Aktion schließlich führten, war mehr als unangenehm. Tai hatte recht. Mein Vater war sauer, aber vor allem enttäuscht. Er schrie mich nicht an, im Gegenteil, sein Verhalten war abweisend und kühl. Seltsamerweise drohte er mir nicht, wie erwartet, mit einer erneuten Einweisung. Ich hatte eher das Gefühl, er appellierte an mein schlechtes Gewissen. Zum Teil funktionierte das, doch auch wenn es mir leid tut, kann ich oft nicht anders handeln. Oder ich will es nicht. Ich verachte mich dafür, denn ich weiß, wie sehr ich meinen Vater verletze und was ich ihm antue. Wieder kommt mir der Gedanke, dass er ohne mich glücklich werden und richtig leben könnte. Ich werfe die bis auf den Filter gerauchte Zigarette auf den Boden. Es müsste bald zum Unterricht klingeln. Ein Seufzen kommt über meine Lippen.

„Ich dachte, sie haben dich wieder in die Klapse gebracht und dort für immer weggeschlossen.“ Verwundert schaue ich in die Richtung, aus der die Äußerung kam. Mein Klassenkamerad kommt auf mich zu und bleibt vor mir stehen. Ich grinse ihn an.

„Tut mir leid, dass ich dich enttäusche. Oder hörte ich Erleichterung darüber, dass ich noch da bin, in deiner Stimme?“ Ich ziehe ihn am Arm zu mir heran und streiche demonstrativ über seine Wange.

„Lass mich los“, zischt mein Mitschüler drohend. Dann erwidert er mein Grinsen. „Verstehe, du willst deine Perversion ausleben. Soll ich dich wieder ficken? Mit oder ohne Gegenstand?“ Mein Gesichtsausdruck wird ernst. Ich lasse sein Handgelenk nicht los, stattdessen umgreife ich es fester.

„Nein, diesmal will ich dich nehmen.“ Die Augen meines Gegenübers werden groß, Entsetzen legt sich auf sein Gesicht.

„Du bist abartig!“, beschimpft er mich, seine Fassung wiedererlangend. Ich gebe ihm einen Kuss auf die Stirn, dann lasse ich ihn los.

„Ja, ich weiß“, gebe ich zu. Einen Moment sehen wir uns nur an, bevor ich fortfahre:

„Ich mag deine Reaktionen, wenn ich dich mit diesem Thema konfrontiere. Aber du solltest dir über deine Gefühle im Klaren werden, denn es ist eindeutig, dass du nicht nur Hass für mich empfindest. Sonst hättest du wohl kaum mit mir geschlafen.“

„Das war…“, setzt mein Mitschüler an. Ich unterbreche ihn.

„Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich will und werde auch nicht noch einmal mit dir schlafen. Im Gegensatz zu dir habe ich durch unseren Sex Antworten gefunden.“

„Meinst du, das interessiert mich? Ich sagte, ich würde dir das Leben zur Hölle machen. Ich muss mir über keine Gefühle im Klaren werden. Ich weiß, dass ich dich hasse.“ Am Kragen packend drückt er mich gegen die Schulmauer. Ich registriere, dass einige Schüler, die an uns vorbeilaufen, neugierig schauen. Dann lenke ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen Klassenkameraden.

„Na los, schlag mich“, provoziere ich ihn.

„Das hättest du gern, aber den Gefallen tue ich dir nicht. Es gibt etwas, mit dem ich dir richtig wehtun kann.“ Mit einem verächtlichen Lachen lässt er von mir ab und geht ohne ein weiteres Wort in Richtung Schulgebäude. Irritiert sehe ich ihm nach, ordne dabei meine Kleidung und zünde mir erneut eine Zigarette an. Ich werde aus diesem Menschen nicht schlau.

„Was wollte dieser Penner schon wieder?“ Ich blicke zur Seite und direkt in die braunen Augen meines Freundes.

„Keine Ahnung“, sage ich seufzend und zucke mit den Schultern. Tief ziehe ich den Rauch der Zigarette ein.

„So sah es aber nicht aus“, kommt vorwurfsvoll zurück.

„Seit wann hast du uns denn beobachtet?“

„Ich schätze, zu lange.“ Er geht an mir vorbei. „Wir sehen uns später.“

Kurz überlege ich, Tai aufzuhalten, entscheide mich allerdings dagegen. Ich kehre der Schule den Rücken und mache mich auf den Weg nach Hause. Mein Bedarf an Interaktionen mit Menschen ist für heute gedeckt.
 

Angespanntes Schweigen beherrscht die Atmosphäre in meinem Zimmer. Seit Tai vor einer halben Stunde bei mir angekommen ist, wechselten wir abgesehen von der Begrüßung kein Wort miteinander. Reglos sitzt er auf dem Sofa und schaut aus dem Fenster. Die Stille ist unangenehm, doch mir fehlen Ansatzpunkte für eine Unterhaltung, also schweige ich. Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, dass etwas zwischen uns steht. Ich überlege, versuche eine Situation zu finden, die der Auslöser für unser unterkühltes Verhältnis sein könnte.

„Du warst heute nicht in der Schule“, äußert sich mein Freund unerwartet.

„Nein“, gebe ich knapp zur Antwort. Ich sehe zu ihm, aber er schaut weiterhin aus dem Fenster. Wieder schweigen wir. Nach einer Weile richtet sich Tai erneut an mich, verweilt jedoch in seiner abweisenden Position.

„Du wirst deinen Schulabschluss nicht schaffen.“ Er spricht diesen Satz nicht als Vermutung, sondern als Gewissheit aus.

„Vielleicht“, sage ich gleichgültig.

„Wenn es dir egal ist, warum gehst du dann überhaupt noch hin? Du gehst jetzt schon nur sporadisch.“

„Ist das dein Ernst?“, frage ich erstaunt. „Deinetwegen.“ Mein Freund dreht sich zu mir, seine Mimik ist ausdruckslos.

„Dann gehst du nächstes Jahr gar nicht mehr zur Schule? Du brichst also ab?“

„Wie kommst du darauf?“ Ich wundere mich über Tais offenkundige Unterstellung.

„Weil ich nicht mehr da sein werde.“ Für einen Moment höre ich auf zu atmen. Angst ergreift Besitz von mir und lähmt mich.

„Warum schaust du mich so entgeistert an? Du weißt doch, dass ich in einem halben Jahr meinen Abschluss mache.“ Ich hatte es vergessen. Oder verdrängt. Aufgrund meiner Wiederholung beenden wir die Schule nicht im selben Jahr. Mein Freund geht ein Jahr eher ab.

„Was wirst du dann tun?“ Das Schlucken fällt mir schwer und meine Stimme ist belegt.

„Studieren. Ich werde hier in Tokyo bleiben, überlege aber, in ein Wohnheim zu ziehen.“ Fassungslos starre ich ihn an.

„Du willst was?“ Ich spüre, wie Panik in mir aufsteigt. Gleichzeitig stelle ich mir die Frage, warum ich schon die ganze Zeit während unserer Unterhaltung so extrem und vor allem übertrieben reagiere. Allerdings schaffe ich es nicht, mich zu beruhigen.

„Da gibt es andere Studenten, fremde Menschen. Wenn du Pech hast, musst du dir das Zimmer mit jemandem teilen. Vielleicht gibt es auch nur Gemeinschaftsduschen, dann…“

„Yamato! Komm wieder runter. Wo ist dein Problem?“

„Mein Problem ist, dass ich dich nicht teilen will. Und das werde ich auch nicht.“ Entschlossen stehe ich auf und gehe zu Tai. Grob presse ich ihn an den Schultern gegen die Sofalehne und zwinge ihm einen Kuss auf. Die anfängliche Zurückhaltung meines Freundes wandelt sich schnell und er lässt sich auf mein forderndes, nahezu brutales Zungenspiel ein. Erst als wir zu ersticken drohen, lösen wir uns schwer atmend voneinander.

„Leg dich hin“, befehle ich in kaltem Tonfall. Tai gehorcht, sieht mich dabei unverwandt und ausdruckslos an. Ich öffne seine Hose, umfasse seine Hüfte und hebe das Becken etwas an, um das Ausziehen zu erleichtern. Anschließend beginne ich ihm einen zu blasen. Die Atmung meines Freundes wird schneller und geht in ein leises Stöhnen über. Mit seinen Fingern sucht er nach Halt. Letztlich krallt er sich in meinen Haaren fest und zieht daran, als wolle er mir bedeuten, aufzuhören. Ich unterbreche mein Tun und sehe zu ihm auf. Tais Gesicht ist von Erregung gezeichnet, doch ich erkenne noch etwas anderes darin. Verachtung.

„Wie viele Schwänze hast du eigentlich schon gelutscht? Und wie viele von denen waren in dir? Oder fickst du deine Spielgefährten?“

„Was?“ Ich starre ihn ungläubig an. Es dauert einen Moment, bis ich mich wieder etwas gefangen habe. Mit meinem Handrücken wische ich mir über den Mund, dann setze ich mich auf.

„Kannst du das wiederholen?“, fordere ich ihn ernst auf.

„Ich denke, du hast mich verstanden“, erwidert mein Freund kalt. Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen.

„Du bist eifersüchtig, Taichi.“

„Nein, Yamato. Du irrst dich. Aber es gefällt mir nicht, dass du ein kleiner, billiger Stricher geworden bist, der seinen Körper für alles und jeden hergibt.“

„Sagtest du nicht, dass du mir nicht verbieten kannst und willst mit anderen zu schlafen? Das klingt jetzt aber ganz anders. Und im Übrigen bezeichnet man dein Verhalten als Eifersucht.“ Ich beuge mich zu ihm hinüber und streiche ihm über die Wange. „Warum sagst du nicht einfach, was du wirklich willst. Ganz direkt.“ Tais Augen fixieren mich mit einem dieser unbeschreiblich intensiven Blicke. Ohne mich dagegen wehren zu können, verfalle ich ihm. Wie so oft.

„Ich will dich. Und zwar für mich allein. Du gehörst mir und ich verbiete dir, Sex mit anderen zu haben. Ich bin sowieso der Einzige, der dir geben kann, was du brauchst.“ Mein Freund steht auf und zieht mich gebieterisch mit sich. Ohne ein Wort zu sagen, wirft er mich auf die Matratze und setzt sich auf meine Oberschenkel. Er löst die Krawatte seiner Schuluniform und fesselt mich mit den Handgelenken an das Bettgestell. Dann entledigt er mich meiner Hose sowie Unterhose.

„Du brauchst nur mich! Hast du verstanden? Ich werde dich niemals gehen lassen! Und ich werde dich nicht mehr teilen. Dein Körper wird nur noch nach mir verlangen, wenn ich mit dir fertig bin.“ Wahnsinn hat von Tai Besitz ergriffen. Seine Augen funkeln mich an und verraten seine Unzurechnungsfähigkeit. Er lächelt, hebt meine Beine auf seine Schultern und dringt Stoß um Stoß immer tiefer in mich ein. Schmerz durchzieht meine Lendengegend, aber ich genieße das Gefühl, Taichi in mir zu spüren. Ich schließe meine Augen. Die Bewegungen meines Freundes werden intensiver.

„Mach die Augen auf und sieh mich an“, sagt Tai ohne jedes Gefühl in der Stimme. Ich leiste Folge und blicke in das erregte Gesicht meines Freundes. Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn und durchfeuchten allmählich sein zerzaustes, braunes Haar. Unser Stöhnen nimmt zu und erfüllt mein Zimmer.

„Du bist schön, Yamato. Deine tiefblauen Augen, die immer so abwesend ins Nichts starren. Deine samtige, helle Haut, fast durchscheinend und überzogen von Malen der Verzweiflung. Dein Gesicht, so fein geschnitten wie das eines Mädchens. Und dein Haar, welches dir momentan vom Schweiß verklebt im Gesicht hängt. Nur ich darf dich so sehen. Deine Traurigkeit, deine Verzweiflung, deine Gleichgültigkeit und deine Erregung.“ Die Worte meines Freundes kommen stockend, seine Atmung ist schwer und stoßweise. Ich versuche zu lächeln, doch die Intensität von Tais Stößen wandelt sich in Schmerz. Ich bäume mich auf und versuche die Fesseln an meinen Handgelenken zu lösen.

„Was ist los, Yamato? Kannst du nicht mehr?“, keucht Tai. Ich antworte nicht. Vor meinen Augen tanzen mittlerweile Punkte, meine Finger und die gesamte Haut beginnen zu kribbeln. Mein Hemd ist inzwischen durchgeschwitzt und klebt unangenehm an mir. Ich ziehe erneut an meinen Fesseln, merke allerdings, wie meine Kraft schwindet. Tai penetriert mich weiter, seine Ausdauer scheint noch nicht erschöpft. Ich schließe die Augen und lasse den Schmerz und die Erregung auf mich wirken. Unser Stöhnen ist beinahe rhythmisch.

„Yamato. Du gehörst mir! Hast du das endlich verstanden?“

„Tai…“, flüstere ich leise und außer Atem. „Ich liebe dich.“ Mein Freund stößt noch ein paar Mal kraftvoll zu, dann zieht er sich aus mir zurück und lässt seinen Körper erschöpft auf meinen sinken.

„Dein Herz schlägt unglaublich schnell“, stellt Tai fest. Angestrengt versuche ich meine Atmung und mein Bewusstsein zu normalisieren. Ich fühle mich wie elektrisiert, aber auch wehrlos und schwach.

„Warum hast du nicht ernsthaft versucht dich zu befreien?“ Mein Freund setzt sich auf und löst meine Fesseln. Ich reibe über meine Handgelenke.

„Ich hätte keine Chance gehabt. Wenn du dich in einem solchen Zustand befindest, bist du zu allem fähig. Außerdem wollte ich dich in mir spüren.“ Tai legt sich neben mich und streicht mir sanft durch die nassen Haare.

„Du wirst auch niemand anderen mehr spüren wollen. Das eben war nur ein kleiner Vorgeschmack. Wenn du mit anderen rumvögelst, wird es zukünftig wesentlich schmerzhafter.“

„Das klingt verlockend“, grinse ich.

„Das wirst du anders sehen, wenn ich mit dir fertig bin.“ Der Tonfall meines Freundes ist ernst, nahezu drohend.

„Dann habe ich aber auch eine Bedingung. Du ziehst nicht in ein Wohnheim.“ Für einen Moment herrscht Stille. Tai legt seine Finger unter mein Kinn und zieht mein Gesicht zur Seite. Er küsst mich, bevor er mir einen Vorschlag unterbreitet.

„Lass uns zusammenziehen.“

Ich stehe im Badezimmer und betrachte die Person, die ich darin sehe. Da steht ein junger Mann mit nassen, blonden Haaren. Unzählige Wassertropfen laufen die helle Haut hinab, welche einen schönen Kontrast zu den vielen blassrosa bis dunkelroten Narben bildet. Ganz frische Verletzungen zieren weder den linken Arm noch den Oberkörper, was darauf hindeutet, dass seit längerem keine Rasierklingen zum Einsatz kamen. Mein Blick wandert weiter über den Körper. Er ist dünn, aber noch nicht bedenklich abgemagert. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Langsam öffne ich sie wieder und schaue meinem Gegenüber direkt ins Gesicht. Dunkle Schatten zeugen von wenig Schlaf.

„Das bin ich“, versuche ich mir laut zu verdeutlichen. Diese Worte klingen merkwürdig und fremd in meinen Ohren. Ein unangenehmes Gefühl stellt sich ein.

„Das bin ich“, wiederhole ich meine Aussage, um deren Sinn zu begreifen. „Das ist der Mensch, den ich abgrundtief hasse, der gleichzeitig aber von Taichi geliebt wird.“ Ein bitteres Lachen entweicht meiner Kehle. „Was für ein Paradoxon.“ Angewidert wende ich mich ab. Einmal mehr muss ich feststellen, dass ich es nicht schaffe, meinen Selbsthass auszublenden. Rasch ziehe ich mir einen Bademantel über und verlasse zügig das Badezimmer, um dem aufkommenden Verlangen nach Schmerz und Selbstschädigung nicht nachgeben zu können.
 

Die Klingel ertönt und verkündet das Ende der Stunde. Sofort packe ich meine Sachen zusammen, verlasse den Raum und laufe die Stufen hinab auf den Hof. Es ist kühler geworden, sodass ich meine Jacke anziehe, welche ich, über den Arm gelegt, getragen habe. Am Schultor bleibe ich stehen und blicke mich um. Gerade als ich mir eine Zigarette anzünden will, entdecke ich Tai, der schnellen Schrittes auf mich zukommt.

„Stehst du hier schon lange?“, erkundigt er sich. Ich verstaue die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug in meiner Jackentasche und schüttele den Kopf. Wir wenden uns zum Gehen, doch dann wird die Aufmerksamkeit meines Freundes von etwas abgelenkt.

„Warte kurz.“ Ich beobachte, wie er zielgerichtet auf meinen Klassenkameraden zugeht und beeile mich zu Tai aufzuschließen. Er packt meinen Mitschüler gewaltsam am Kragen, welcher einen Moment braucht, um die unerwartete Situation zu erfassen.

„Sag mal, ist Wahnsinn ansteckend?“, fragt er provozierend und sieht dabei mich an. Als Antwort bekommt er die Faust meines Freundes zu spüren, welche er ihm hart ins Gesicht schlägt. Mein Klassenkamerad geht zu Boden. Wütend funkelt er Tai an, während er sich über die gerötete Wange streicht.

„Steh auf“, befiehlt mein Freund und zieht meinen Mitschüler am Kragen wieder auf die Füße.

„Was willst du eigentlich von mir?“, will der empört wissen.

„Dass du in Zukunft deine Finger von Yamato lässt“, antwortet Tai hasserfüllt. Sein Gegenüber beginnt laut zu lachen.

„Eifersucht macht aus Menschen Idioten“, bemerkt er amüsiert und bekommt es sogleich mit einem Schlag in den Magen quittiert. Er geht keuchend in die Knie, hält sich vor Schmerzen den Bauch. „Reagierst du immer so übertrieben, wenn jemand Hand an deinen Schatz legt? Ich weiß nicht, von wem sich Yamato noch vögeln lässt, aber ich habe ihn nur ein einziges Mal genommen. Und selbst da mussten wir mittendrin abbrechen.“

Mein Freund schaut verdutzt zu mir, doch ich widme meine Aufmerksamkeit meinem Klassenkameraden. Seine Aussage irritiert mich. Zum ersten Mal nannte er mich beim Namen. Auch bilde ich mir ein, Bedauern in seiner Stimme gehört zu haben. Ich werde aus diesem Menschen einfach nicht schlau, doch genau das weckt mein Interesse und meine Begierde.

„Yamato“, holt Tai mich aus meinen Gedanken.

„Ich wäre mir an deiner Stelle dennoch nicht sicher“, grinst mein Mitschüler hämisch. „Wenn ich es darauf anlegen würde, würde Yamato sich wieder von mir ficken lassen.“ Er schaut zu mir, als erwarte er eine Reaktion. Ich lächle vielsagend. Ohne Vorwarnung tritt Tai meinen Klassenkameraden in die Seite, sodass der mit einem Schmerzensschrei zusammenbricht. Als mein Freund nachtreten will, halte ich ihn fest.

„Taichi!“, sage ich bestimmt.

„Lass mich los! Dieser Wichser geht mir auf die Nerven mit seiner selbstgefälligen Art.“ Er windet sich, wodurch ich gezwungen bin meine Umklammerung zu verstärken. Es kostet mich alle Kraft, Tai an seinem Vorhaben zu hindern. So wütend habe ich meinen Freund selten erlebt.

„Nein, Tai. Das bringt doch nichts. Letztlich bekommst nur du Ärger, wenn du ihn zusammenschlägst. Noch dazu genau vor der Schule.“

„Warum setzt du dich für diesen Penner ein? Was willst du von dem?“ Ich schaue auf meinen Klassenkameraden herab, der gerade versucht, aufzustehen. Seine Blicke sagen mir, dass ich diesen Vorfall bereuen werde. Ich lächle und beantworte schließlich Tais Frage.

„Spielen.“ Mein Freund gibt seine Gegenwehr auf und sieht mich entgeistert an. Ich wende meine Augen von meinem Mitschüler ab, dessen Mimik ich nicht zu deuten vermag, und blicke Tai an.

„Empfindest du etwas für ihn?“ Sein Tonfall ist abfällig und sein Gesichtsausdruck angewidert.

„Ja“, gebe ich ehrlich zur Antwort. Mein Klassenkamerad, der inzwischen wieder aufrecht steht, schaut mich verwirrt an, sagt jedoch nichts. „Von ihm geht eine Faszination aus, derer ich mich nicht entziehen kann. Er weckt seltsame, perverse Begierden in mir. Taichi, du fragtest einmal, was ich von anderen bekommen könnte, dass du mir nicht geben kannst. Hass. Selbst in deiner Brutalität spüre ich Liebe. Im Gegensatz zu jemandem, der wirklich hasst, ist das Gefühl bei dir vollkommen anders.“

„Heißt das, der Wichser hat mit seiner Behauptung recht? Du würdest dich wieder von ihm ficken lassen?“ Ich schweige, halte dem Blick meines Freundes aber stand. Er schüttelt ungläubig den Kopf.

„Du bist echt das Letzte, Yamato!“ Tai macht Anstalten zu gehen, doch ich halte ihn am Arm zurück.

„Taichi…“, setze ich an, komme jedoch nicht zu Wort.

„Fass mich nicht an, du dreckige Hure!“, speit er mir giftig entgegen, reißt sich los und lässt mich mit meinem Mitschüler stehen. Ich spüre, dass dieser von hinten an mich herantritt, während ich meinem Freund nachschaue und überlege, ob ich ihm folge. Er greift mir in die Haare und zieht meinen Kopf derb zu sich, sodass seine Lippen direkt an meinem Ohr sind.

„Ich sagte doch, ich mache dir das Leben zur Hölle. Und das funktioniert am besten über deinen Stecher, wie mir scheint.“ Ich drehe mich um und setze ein Grinsen auf. Grob ziehe ich meinen Klassenkameraden zu mir heran. Ich streiche ein paar Strähnen aus seinem Gesicht, dann zwinge ich ihm einen Zungenkuss auf, welchen er zu meiner Verwunderung erwidert. Als wir uns voneinander lösen, entgegne ich in kühlem Ton:

„Weit gefehlt, mein Süßer.“ Ich stoße ihn so stark von mir, dass er ins Wanken gerät. „Aber in einem hast du recht. Wir sind noch lange nicht miteinander fertig.“
 

Nachdenklich sitze ich auf meinem Bett und spiele wahllos Akkorde, ohne auf die Sauberkeit der Töne zu achten. Seit dem Vorfall mit meinem Klassenkameraden sind zweieinhalb Wochen vergangen. Damals haben Tai und ich zum letzten Mal miteinander gesprochen. Zwar sehen wir uns jeden Tag in der Schule, doch auch wenn sich unsere Blicke beim Aneinandervorbeigehen treffen, sagt keiner ein Wort. Es tut weh, von meinem Freund mit traurigen Augen bedacht zu werden. Ich weiß, dass er darauf wartet, von mir angesprochen zu werden, und doch bin ich unfähig zu handeln. Mir ist bewusst, dass ich die Schuld an der vorherrschenden Situation trage, aber eine Lösung der Problematik erscheint mir als unmöglich. Ich höre auf zu spielen und starre auf einen unbestimmten Punkt. Meine Gefühle für Taichi sind klar, da bestehen meinerseits keine Zweifel mehr. Allerdings befürchte ich, dass mein Freund mir nach all dem nicht mehr glaubt. Ich seufze. Es bringt nichts, mir den Kopf zu zerbrechen. Ich sollte mit Tai reden. Es gibt einiges zu besprechen und vor allem zu klären. Außerdem vermisse ich ihn, seine Nähe, seine Stimme, seinen Geruch, ihn zu berühren, ihn zu spüren. Mein Verlangen, ihn zu sehen, wird übermächtig. Ich stehe auf und stelle die Gitarre an ihren Platz, dann verlasse ich das Zimmer. Im Flur ziehe ich meine Low Chucks und eine Jacke an. Schnell schreibe ich meinem Vater noch einen Zettel, um ihn über meinen Aufenthaltsort in Kenntnis zu setzen. Den Schlüssel und das Portemonnaie in die Taschen steckend mache ich mich auf den Weg zu meinem Freund.
 

Unschlüssig stehe ich vor der Wohnung der Yagamis. Mittlerweile bin ich mir meiner Sache nicht mehr so sicher. Vielleicht habe ich die Blicke meines Freundes falsch gedeutet und er will mich gar nicht sehen. Immerhin war er so sauer und hasserfüllt, dass er mir derbe, vulgäre Beleidigungen an den Kopf geworfen hat. Seine abwertenden Bezeichnungen für meine Person sind mir jedoch egal. Vielmehr bereitet mir die extreme Verachtung, welche er mir entgegenbrachte, Sorgen. Ich weiß, dass diese sich hauptsächlich gegen mich richtet und weniger gegen meinen Mitschüler, was ich durchaus verstehe. Letztlich bin auch ich mir meiner Perversität bewusst. Ich setze dadurch viel aufs Spiel und laufe Gefahr, Tai zu verlieren. Meine Gedanken werden unterbrochen, als sich die Tür plötzlich öffnet und ich direkt in die braunen Augen meines Freundes blicke.

„Tai… ich…“, beginne ich stotternd.

„Was willst du?“, unterbricht mich dieser in geringschätzigem Tonfall.

„Ich denke, wir müssen reden.“

„Müssen wir das?“ Mein Freund schiebt sich an mir vorbei und geht die ersten Stufen hinab. Dann dreht er sich noch einmal zu mir um. „Ich denke, es ist alles gesagt.“ Bestürzt sehe ich Tai nach, der die Treppe weiter nach unten läuft. Ich kann und will nicht glauben, dass es das gewesen sein soll. Er darf sich nicht von mir trennen. Angsterfüllt renne ich hinter ihm her, greife ihn fest am Arm und ziehe ihn zu mir herum.

„Sagte ich dir nicht, du sollst deine dreckigen Finger von mir lassen? Also fass mich nicht an!“ In seiner Stimme kann ich außer Ablehnung nichts erkennen, seine Augen verraten mir, dass er tief verletzt ist. Wütend und doch hilflos steht er vor mir.

„Nein, ich lasse dich nicht los. Und ich lasse dich auch nicht gehen.“ Ich versuche ruhig zu wirken, aber meine Panik zeigt sich bereits in Form von Zittern, welches inzwischen meinen ganzen Körper erfasst hat.

„Was willst du denn noch von mir? Lass dich von einem anderen vögeln, du scheinst ja genug zur Auswahl zu haben.“

„Ich schlafe aber mit niemandem außer dir. Es gab bisher nur eine Ausnahme und davon weißt du. Allerdings kann ich mir vorstellen, dass du mir nicht glaubst.“ Ich sehe Verwirrung im Gesicht meines Freundes.

„Warum hast du dich nie verteidigt, wenn dir vorgeworfen wurde, du würdest dich von jedem ficken lassen? Selbst meine Beleidigungen hast du wortlos über dich ergehen lassen. Warum, Yamato?“ Tais Fassade beginnt zu bröckeln und ein Stück Verzweiflung schimmert hindurch. Ich zucke mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich weil es mir egal ist, was andere Menschen über mich denken.“

„Und ich? Ist es dir auch egal, was ich denke?“

„Nein. Aber dir vertraue ich.“

„Ich weiß“, sagt mein Freund nach einer kurzen Pause. Er schaut betreten zu Boden. „Bei dir ist das mit dem Vertrauen so eine Sache. Du weißt, was ich meine.“ Ich nicke.

„Deshalb versuche ich so ehrlich wie möglich zu dir zu sein. Aus diesem Grund kann ich dir auch keine Versprechungen machen. Du weißt, dass ich mich oft selbst nicht einschätzen kann und die Kontrolle über mein Verhalten und meine Handlungen verliere. Das soll keine Entschuldigung für meine Verfehlungen sein, ich möchte mich nur erklären. Zudem bin ich mir darüber im Klaren, dass ich dich mitunter sehr verletze.“

„Heißt das, ich soll es einfach akzeptieren?“, unterbricht mich Tai. „Ich soll zusehen, wie du dich und somit auch mich zerstörst? Es geht nicht nur um dein Leben, mach dir das endlich bewusst!“

„Was soll ich tun, Taichi?“, frage ich mit brüchiger Stimme. Ich lasse den Arm meines Freundes los und meinen eigenen sinken. Mit einem Mal scheint alle Kraft aus meinem Körper zu entweichen. Mein Freund schaffte es gerade noch, mich zu stützen, bevor ich zusammensacke. Langsam laufen wir ein Stück bis zur nächsten Seitengasse. Dort setzt Tai mich behutsam auf den Boden und hockt sich vor mich.

„Geht es?“, fragt er besorgt, während er mir seine Hand auf die Schulter legt. „Du zitterst.“

„Was soll ich tun?“, wiederhole ich meine Frage, allerdings so leise, als würde ich es mehr zu mir selbst sagen. Schützend umfängt mein Freund mich mit seinen Armen und drückt meinen Körper fest an sich. Ich höre seinen Herzschlag und schließe die Augen.

„Beruhige dich erst einmal“, flüstert er sanft in mein Ohr.

„Ich habe Angst, dich zu verlieren.“ Tränen füllen meine Augen und ich kralle meine Finger in Tais Pullover. „Bitte, lass mich nicht los.“

„Yamato.“ Mein Freund schiebt mich leicht von sich und schaut mich ernst an. „Du verlierst mich nicht, aber ich lasse mir auch nicht alles gefallen. Ich weiß, dass dein Verhalten manchmal unkontrolliert, beinahe zwanghaft ist, dennoch toleriere ich es nicht. Wenn du dir Fehltritte leistest, musst du auch die Konsequenzen in Kauf nehmen.“

„Ich habe ihn geküsst“, werfe ich ganz unvermittelt ein und wische mir die Tränen aus den Augen.

„Was?“ Verwirrt schaut Tai mich an.

„Meinen Klassenkameraden. Nachdem du damals weg warst. Er ist der Meinung, mir schaden zu können, indem er dich mit einbezieht. Davon muss ich ihn abbringen.“ Ich sehe Unverständnis im Gesicht meines Freundes.

„Deine Logik ist völlig abstrus. Manchmal frage ich mich wirklich, was in deinem Kopf vorgeht. Du kannst so weltfremd sein, dass es beängstigend ist.“

„Mag sein, aber ich will dich für mich allein.“ Liebevoll streiche ich über Tais Wange, hinab zu seinem Hals. „Ich lasse nicht zu, dass dich jemand für seine Zwecke missbraucht.“ Mit meiner Hand umfasse ich seinen Nacken, ziehe seinen Kopf zu mir heran und küsse ihn. Meine andere Hand legt sich um seine Kehle und drückt zu. Unser Zungenspiel ist leidenschaftlich, verliert jedoch an Intensität und bricht schließlich vollends ab, als mein Freund zu Husten beginnt. Seine Atmung ist flach und unregelmäßig und ich spüre, dass sein Körper erschlafft. Ich lasse Tai los und drehe ihn so, dass er sich sitzend bei mir anlehnen kann. Sachte lege ich meine Arme um ihn und registriere seine hektische Atmung.

„Wohin wolltest du eigentlich?“ Mein Freund braucht eine Weile, um mir antworten zu können.

„Ich sollte für meine Mutter ein paar Besorgungen machen“, antwortet er schließlich, noch immer etwas benommen.

„Sollten wir uns dann nicht langsam auf den Weg machen?“

„Nein. Halt mich bitte einfach fest.“ Seine Stimme zittert. Ich frage mich, ob er weint, schweige allerdings und ziehe ihn enger in die Umarmung. Sein Haar duftet angenehm nach Shampoo, für einen Moment schließe ich meine Augen. Eine Lösung für das Problem haben wir nach wie vor nicht gefunden, doch im Grund wissen wir beide, dass es die nicht gibt. Es ist nur die Verzweiflung, die uns weiter sinnlos danach suchen lässt.
 

Ich drehe den Schlüssel im Schloss und öffne die Wohnungstür. Müde ziehe ich im Flur die Schuhe aus und hänge meine Jacke an den dafür vorgesehenen Haken. Das Portemonnaie und den Schlüssel lege ich zurück auf die Kommode.

„Yamato, du kommst spät.“ Mein Vater schaut aus dem Wohnzimmer zu mir.

„Ja, tut mir leid.“ Langsam gehe ich ein paar Schritte auf ihn zu, bleibe aber im Türrahmen stehen. Der Fernseher läuft und auf dem Tisch steht eine angefangene Flasche Wein, daneben ein halb geleertes Glas.

„Setz dich, ich muss mit dir reden.“ Eigentlich will ich nur noch in mein Bett. Der Tag war seltsam anstrengend, mein Kopf schmerzt fürchterlich und ich habe das Gefühl, gleich zusammenzubrechen. Meine Beine scheinen mein Gewicht kaum noch tragen zu können. Ich stütze mich am Holz des Rahmens ab.

„Geht es dir nicht gut? Du siehst schlecht aus, sehr blass und erschöpft.“ Mein Vater blickt mich voller Sorge an. Ich überlege, was ich ihm antworten soll, drifte mit meinen Gedanken jedoch ab. Unsere Unterhaltung und das Verhalten von Tai gehen mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Irgendwas war anders als sonst. Irgendwas hat sich verändert. Ich beginne zu frösteln. Liegt das an der Müdigkeit? Oder dem unguten Gefühl, welches sich gerade einstellt? Mein Denken blockiert und ich verliere den Faden. Bewegungslos starre ich auf den Boden.

„Doch“, antworte ich meinem Vater abwesend.

„Yamato! Du scheinst gerade wieder in eine Apathie abzudriften. Versuche in der Realität zu bleiben. Sieh mich an!“ Ich hebe meinen Kopf, blicke aber durch meinen Vater hindurch.

„Hörst du mich? Verstehst du meine Worte?“ Mein Nicken ist automatisiert und kaum merklich.

„Dann sprich mit mir! Komm zu mir!“ Ich rege mich nicht und bleibe wie versteinert in der Tür stehen. Zwar nehme ich meinen Vater und seine Bemühungen wahr, schaffe es jedoch nicht, darauf einzugehen. Dieser steht auf und geht in meine Richtung. Vor mir bleibt er stehen. Mit beiden Händen packt er mich an den Schultern und schüttelt meinen Körper.

„Wehr dich, verdammt nochmal! Gib dich nicht immer kampflos auf!“ Ich frage mich, ob mein Vater recht hat. Aber selbst wenn, es ist nicht von Bedeutung. Mir ist mittlerweile egal, ob ich lebe oder sterbe. Die körperlichen Erschütterungen werden kraftvoller und intensivieren zusätzlich meine Kopfschmerzen.

„Papa, bitte lass mich los.“ Meine Stimme ist tonlos und leiser als beabsichtigt. Sofort hält mein Vater inne und beobachtet meine Mimik genau.

„Setzen wir uns. Du siehst aus, als würdest du gleich das Bewusstsein verlieren.“ Er lenkt meine Schritte zum Sofa und wir nehmen beide darauf Platz.

„Ist etwas passiert? Du stehst ja völlig neben dir.“ Ratlos zucke ich mit den Schultern.

„Was wolltest du mit mir besprechen?“, lenke ich die Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema. Mein Vater sieht mich bestürzt an. Er schweigt einen Moment.

„Vielleicht sollten wir das auf später verschieben. Es ist auch schon spät.“

„Nein. Morgen ist keine Schule. Ich würde ansonsten die ganze Zeit darüber nachdenken.“ Meine Worte entsprechen der Wahrheit, auch wenn meine Konzentration ihren Tiefpunkt erreicht hat. Seufzend streicht mir mein Vater durch das Haar.

„Ich habe von meiner Firma das Angebot erhalten, für einige Zeit als Auslandskorrespondent nach Berlin zu gehen.“ Verwirrung zeichnet sich auf meinem Gesicht ab. Es fällt mir schwer, die Bedeutung dieser Aussage zu erfassen. Ganz zu schweigen von den Konsequenzen.

„Dann nutze die Gelegenheit“, sage ich schließlich ohne nachzudenken.

„So einfach ist das nicht. Ich müsste dich hier allein zurücklassen und das bereitet mir großes Unbehagen. Momentan scheint es dir ganz allgemein zwar etwas besser zu gehen, aber der Vorfall von eben zeigt, wie leicht dein Befinden kippen kann und wie labil du eigentlich bist.“

„Also behindere ich dich wieder einmal?“, werfe ich bitter ein.

„Das ist Unsinn, Yamato. Aber die Tatsachen sind unumstößlich, noch dazu bist du minderjährig.“

„Heißt das, du lehnst das Angebot ab?“

„Ich möchte deine Meinung dazu hören.“

„Tu das, was sich für dich richtig anfühlt.“ Ich bin darum bemüht, gleichgültig zu klingen und meine Gefühle zu verbergen. Schwerfällig erhebe ich mich. „Ich gehe ins Bett, die Müdigkeit wird übermächtig.“ Wankend verlasse ich das Wohnzimmer und gehe in mein eigenes Zimmer. Umständlich entledige ich mich meiner Kleider. Ich will gerade meine Unterhose ausziehen, als es an der Tür klopft, fast gleichzeitig öffnet sie sich. Die Blicke meines Vaters haften auf meinem Körper.

„Du hast dich schon länger nicht geschnitten?“, fragt er vorsichtig, wahrscheinlich weil keine frischen Wunden zu erkennen sind.

„Nein“, gebe ich kurz zur Antwort. „Was ist noch? Ich würde gern schlafen gehen.“

„Das verstehe ich, aber das Thema ist noch nicht beendet. Können wir morgen noch einmal darüber reden?“ Ich setze mich auf das Bett.

„Meinetwegen.“

„Okay. Dann schlaf gut“, sagt er mit gedämpfter Stimme und schließt die Tür hinter sich. Wie erstarrt bleibe ich sitzen. Ich fühle mich leer, schutzlos, hilflos und ohne Halt. Tränen füllen meine Augen und laufen unablässig über meine Wangen. Mein Vater darf mich nicht verlassen, ohne ihn schaffe ich es nicht, aber das kann ich ihm nicht sagen. Zittrig stehe ich auf und gehe zu meinem Kleiderschrank. Aus den verschiedenen Kleidungsstücken hole ich eine Packung Schmerzmittel und eine Schachtel Schlaftabletten. Mit viel Wasser schlucke ich den kompletten Inhalt beider Verpackungen, dann gehe ich zum Fenster und öffne es. Fahrig zünde ich eine Zigarette an, ziehe den Rauch tief und schnell hintereinander ein. Es ist bereits weit nach Mitternacht. Die Luft ist kühl, sodass ich zu frösteln beginne. Schwindel macht sich bemerkbar, vielleicht weil ich die Zigarette zu heiß geraucht habe. Den Filter, denn mehr ist von der Zigarette nicht übrig, werfe ich aus dem Fenster, welches ich geöffnet lasse. Probleme mit der Koordination und dem Gleichgewicht stellen sich ein, weshalb es sich schwierig gestaltet, in mein Bett zu gelangen. Immer wieder knicke ich ein, stoße irgendwo an oder verwechsle die Richtungen. Mein Zimmer kommt mir unglaublich groß vor. Letztlich schaffe ich es, mehr auf allen Vieren als im aufrechten Gang, mein Bett zu erreichen. Ich ziehe mich mühsam auf die Matratze und bleibe wie tot liegen. Noch immer weine ich und hoffe, dass mich die Wirkung der Tabletten betäubt und vor der Realität, die so schmerzhaft ist, flüchten lässt.
 

Den Kopf unter meinem Kissen vergraben liege ich wie versteinert in meinem Bett. Ich befinde mich noch im Halbschlaf und bekomme nur am Rande meiner Wahrnehmung mit, dass die Tür zu meinem Zimmer geöffnet wird.

„Du liegst noch immer im Bett?“, stellt mein Vater fragend fest. Ich gebe knurrende Laute von mir, rühre mich aber nicht.

„Es ist halb vier durch, willst du nicht langsam aufstehen?“

„Nein“, nuschele ich in mein Laken. Durch das Absenken der Matratze merke ich, dass sich mein Vater zu mir setzt. Mit seiner Hand streicht er fürsorglich über meinen Rücken.

„Sei ehrlich, du hast wieder Tabletten geschluckt.“ Wütend werfe ich meinem Vater das Kissen entgegen, setze mich auf und funkle ihn böse an.

„Was soll das jetzt wieder?“

„Liege ich wirklich falsch?“, antwortet er mit einer Gegenfrage. Mein Blick fällt auf meinen Kleiderschrank. Ich schweige.

„Warum, Yamato?“ Der Stimme meines Vaters entnehme ich keinerlei Vorwürfe, lediglich Besorgnis. Heftig schüttele ich den Kopf. Ich darf nicht schwach werden, ich darf meinem Egoismus keine Chance geben, ich darf meinen Vater nicht mehr am Leben hindern.

„Mach dir bitte keine Sorgen. Ich war einfach nur ziemlich erschöpft und müde.“ Offenbar ist das Lächeln, welches ich ihm entgegenbringe, nicht sehr überzeugend, da er mich eingehend betrachtet.

„Wirklich, Papa. Und vielleicht ist es tatsächlich die beste Entscheidung, wenn du gehst, Abstand gewinnst und dich nur auf dich und deine Arbeit konzentrieren kannst.“

„Wie soll das funktionieren, wenn ich in Gedanken letztlich doch nur bei dir bin? Und hör auf dich als Hindernis zu bezeichnen. Das bist du nicht. Ich liebe dich und ich will, dass es dir gut geht.“ Krampfhaft bemüht die Tränen zurückzuhalten, richte ich meinen Blick beschämt nach unten.

„Weißt du schon, von welchem Zeitraum die Rede ist?“, frage ich, obwohl ich Angst vor der Antwort habe.

„Teilweise. Es soll im Dezember, noch vor Weihnachten, losgehen. Angedacht ist erst einmal ein Jahr, doch eine Verlängerung ist wahrscheinlich.“ Ich habe das Gefühl, sämtlichen Halt zu verlieren. Meine schlimmsten Befürchtungen umfassten einige Monate, aber diese Aussichten sind mehr, als ich verkrafte, ebenso wie die Tatsache, dass bereits Oktober ist. Ich befinde mich im Zwiespalt, ob ich meinem Vater meine wahren Empfindungen bezüglich der Problematik mitteilen soll, und es sieht so aus, als würde der Egoismus wieder einmal gewinnen.

„Papa…“, beginne ich leise.

„Ich habe mit Taichi gesprochen“, übergeht mich mein Vater. Anscheinend hat er mich nicht gehört, was sich als positiv herausstellt, denn irritiert schaue ich ihn an.

„Was? Worüber?“

„Dieses Thema.“

„Du hast mit ihm gesprochen, bevor du zu mir kamst? Ich dachte, ich bin dein Sohn.“ Mein Tonfall ist eher verwirrt als beleidigt. Ich verstehe die Situation gerade nicht. „Und was hat Tai überhaupt damit zutun?“, füge ich noch hinzu.

„Ich fragte ihn, ob er hier einziehen möchte, während ich im Ausland arbeite. Da er selbstverständlich erst mit seinen Eltern reden musste, um ihre Zustimmung einzuholen, sagte ich dir vorerst nichts. Denn hätte Taichi meinen Vorschlag abgelehnt, wäre ein Auslandsaufenthalt für mich überhaupt nicht infrage gekommen.“

„Hast du so wenig Vertrauen in mich, dass du einen Aufpasser für mich engagieren musst?“ Anhand der Mimik meines Vaters erkenne ich, was er als nächstes sagen wird.

„Zum Einen dachte ich, dass Taichi dein Freund ist und es dir somit gefallen würde, mit ihm zusammenzuwohnen, und zum Anderen, hast du so viel Vertrauen in dich, mit allem allein fertig zu werden, einschließlich dir selbst?“ Ich weiche seinem Blick aus und bedeute ihm somit, dass er richtig liegt. Es hat noch nicht einmal etwas mit Vertrauen zu tun, ich weiß, dass ich zugrunde gehen würde. Es ist ein Paradoxon. Ich ertrage die Nähe von anderen Menschen nicht und bin lieber allein, aber allein bin ich nicht lebensfähig.

„Yamato, ich möchte dich zu nichts drängen, zwingen schon gar nicht oder dich in irgendeiner Art und Weise abschieben. Denk in Ruhe darüber nach, okay? Ich verlange nur, dass du ehrlich bist.“ Aufmunternd legt er seine Hand auf meine Schulter.

„Ich muss nicht mehr nachdenken. Tai fragte mich neulich, ob wir zusammenziehen wollen. Jetzt weiß ich, woher diese plötzliche Idee kam. Es ist im Grunde gar nicht sein Wunsch, sondern nur ein Gefallen. Dennoch…“

„Nein, du irrst dich. Er war sehr erfreut und hat mit seiner Antwort keinen Augenblick gezögert.“ Dann frage ich mich, ob er diese Entscheidung mittlerweile bereut. Ich denke an unseren letzten Kontakt. Wieder beschleicht mich ein merkwürdiges Gefühl.

„Ich bin einverstanden. Und du musst dir keine Sorgen machen. Tai und ich bekommen das schon hin.“ Ich hoffe, dass mein Lächeln nicht so gekünstelt aussieht, wie es sich anfühlt.
 

Mich selbst zur Ruhe ermahnend schlucke ich einige Schmerztabletten ohne Wasser hinunter, dann setze ich mich verunsichert auf mein Sofa. Tief atme ich ein. Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass mir mein Leben gerade vollends entgleitet? Nicht, dass es jemals anders war, aber normalerweise ging der Kontrollverlust meist von mir aus. Und selbst wenn ich die Kontrolle verlor, so hatte ich doch die Kontrolle darüber. Ich kannte das Ziel und ließ es nie aus den Augen. Aber jetzt fühle ich mich einfach nur hilflos. Ich habe kaum Einfluss auf die Geschehnisse um mich herum. Und die immer wiederkehrende Gleichgültigkeit scheint ein Schutzmechanismus zu sein, der allerdings nur mäßig funktioniert und mich mehr tot als lebendig fühlen lässt. Es ist mir nicht möglich, meine Empfindungen als solche zu benennen. Dabei ist dieser Zustand eigentlich nicht neu für mich, nur spielte meine Umwelt sonst keine große beziehungsweise eine andere Rolle. Hinzu kommen die inneren Widersprüche, welche mich wanken und taumeln lassen. Sie verhindern, dass ich einen klaren Gedanken fassen kann, und sorgen dafür, dass mein Kopf überfüllt oder völlig leer ist. Manchmal sogar beides zugleich. Auch jetzt merke ich, dass meine Gedanken ziemlich wirr sind, keinen Sinn ergeben und ohne jede Richtung, geschweige denn Ziel erscheinen. Es ist armselig, wie sehr mein eigenes Denken mich durcheinanderbringt. Doch auch wenn ich nicht sagen kann, was richtig oder falsch ist, weiß ich, dass sich der momentane Zustand nicht unbedingt richtig anfühlt. Fakt ist auch, dass ich mit Veränderungen nicht gut umgehen kann, aber genau das ist es, was in nächster Zeit auf mich zukommen wird. Ein beklemmendes Gefühl breitet sich in mir aus. Ich will nicht über all diese Dinge nachdenken müssen, denn sonst stellt sich mir irgendwann zwangsläufig die Frage, wie lange es noch so weitergehen kann, und darauf habe ich keine Antwort. Ebenso wenig darauf, ob ich es bedauern oder froh sein würde, wenn meine Stimmung und Suizidalität abermals kippen. Vielleicht wäre ich erleichtert, obwohl es für Tai und meinen Vater wahrscheinlich wieder eine größere Belastung bedeutet. Nur bei Tai bin ich mir nicht mehr so sicher. Als wir uns vor ein paar Tagen das letzte Mal trafen, verhielt er sich für mich unverständlich. Vielleicht ist er noch immer sauer, obwohl ich eigentlich keinen Grund dafür sehe. Dennoch ist die Atmosphäre angespannt, oder eher unterkühlt. Die Einkäufe für seine Mutter erledigten wir schweigend, danach blieb ich bis in die späten Abendstunden bei meinem Freund. Wir sprachen noch immer kaum miteinander. Ich war irritiert, als Tai unvermittelt fragte, ob ich mit ihm schlafen würde. Er übernahm den aktiven Part, doch seine Handlungen kamen mir abwesend und automatisiert vor. Der Sex fühlte sich merkwürdig fremd an, ich konnte Taichi nicht spüren, obwohl er in mir war. Danach lagen wir schweigend nebeneinander, ohne dass sich unsere Körper berührten. Irgendwann bin ich gegangen. Ich wollte Tai auf sein Verhalten ansprechen, mir kam jedoch kein einziges Wort über die Lippen. Allgemein, aber auch wegen der momentanen Situation, habe ich ein ungutes Gefühl, was das Zusammenziehen betrifft. Ich glaube, es wird uns endgültig kaputt machen. Und doch, oder gerade deshalb, gibt es für mich keinen anderen Weg mehr. Einen kurzen Moment schließe ich meine Augen. Ich öffne sie wieder, als es an der Tür klopft.

„Tai…“, entweicht es meiner Kehle, als er hereinkommt und auf meinem Bett Platz nimmt. Ich bin überrascht ihn zu sehen, denn mit einem Besuch seinerseits hätte ich nicht gerechnet. Auffallend ist, dass mein Freund mich nicht ansieht. Eine Weile beobachte ich ihn, doch er sitzt nur bewegungslos, starr auf den Boden blickend, da. Ich stehe auf, gehe zum Fenster und zünde mir eine Zigarette an. Unverwandt schaue ich Tai an, während ich den Rauch inhaliere.

„Warum bist du hergekommen?“, frage ich schließlich, doch mein Freund reagiert nicht. „Verdammt nochmal! Taichi, ich rede mit dir!“ Meine Stimme ist lauter und nachdrücklicher. Ich werfe die Zigarette aus dem Fenster und gehe auf Tai zu. Vor ihm bleibe ich stehen und setze mich auf den Boden, sodass er gezwungen ist, mich anzusehen.

„Sag mir bitte, was los ist.“

„Haben wir jemals eine Chance gehabt oder war unsere Beziehung von Anfang an zum Scheitern verurteilt?“ Mein Freund spricht leise und ohne Emotionen. Bestürzung, Hilflosigkeit, Wut und Verzweiflung ergreifen Besitz von mir und lähmen mich für einen Augenblick.

„Was soll das heißen? Gibst du uns auf? Warum?“ Die Gedanken in meinem Kopf rasen, doch ich bekomme keinen einzigen zu fassen.

„Du denn nicht?“ Zum ersten Mal, seit er hier ist, habe ich das Gefühl, dass Tai mich wirklich ansieht. In seinen Augen lese ich Schmerz. Es ist also noch nicht zu spät.

„Wie kommst du darauf?“ Ich hebe meine Hand und wische eine einzelne Träne von seiner Wange. „Ich werde uns nie aufgeben, aber das solltest du wissen. Und jetzt sag mir, was wirklich los ist.“ Tai dreht seinen Kopf zur Seite und weicht somit meinen Blicken aus.

„Ich habe Angst“, gesteht er mir nach einem Moment des Schweigens.

„Wovor?“

„Unserem Zusammenzug.“ Stille erfüllt den Raum, dann beginne ich laut zu lachen. An der Mimik meines Freundes erkenne ich, dass er meine Reaktion nicht versteht.

„Du bist ein Dummkopf.“ Liebevoll ziehe ich ihn zu mir in eine Umarmung und flüstere in sein Ohr:

„Ich auch. Und wir wissen beide, was das bedeutet. Wir wissen beide, dass wir aneinander zugrunde gehen werden. Aber nichts anderes will ich. Du kannst es nicht vorzeitig beenden!“ Resolut setze ich mich auf Tais Schoß und lege die Hände um seinen Hals. Sanft drücke ich zu.

„Sag mir ins Gesicht, dass du mich verlassen willst“, säusele ich mit einem Lächeln. Ich verstärke den Druck massiv, sodass mein Freund zu husten beginnt.

„Was ist los? Hat es dir die Sprache verschlagen? Du weißt, dass du jetzt sterben wirst, wenn du mich verlassen willst.“ Energisch drücke ich seinen Oberkörper nach hinten, sodass er auf der Matratze zum Liegen kommt. Ich bleibe auf seinen Oberschenkeln sitzen. Tais Augen sind geschlossen, seine Atmung ist unregelmäßig und schwerfällig. Diesmal bin ich entschlossen, bis zum Ende zu gehen. Ich werde Tai niemals freigeben.

„Ich liebe dich, Taichi Yagami!“ Ohne von ihm abzulassen, beuge ich mich vor und küsse meinen Freund. Seine Erwiderung ist verhalten, allmählich scheint alle Kraft aus seinem Körper zu weichen. Als ich mich von seinen Lippen lösen will, spüre ich Tais Finger, die mein Handgelenk umklammern. Er öffnet die Augen und sieht mich eindringlich an. Ich lockere meinen Griff um seinen Hals, was einen erneuten Hustenanfall zur Folge hat. Sanft streiche ich ihm durch das Haar, um ihn zu beruhigen.

„Ich werde dich nicht gehen lassen, egal, was du jetzt sagst.“ Mein Freund hebt seinen Arm und streicht mir liebevoll über die Wange.

„Mein verletzlicher, kleiner Yamato. Immer wenn deine Angst übermächtig wird, verfällst du dem Wahnsinn. Es ist irgendwie süß, wie du dich dann deiner Verzweiflung hingibst und von ihr beherrscht wirst. Aber keine Sorge, ich werde dich nicht verlassen. Ich gebe zu, dass mir das Zusammenziehen mindestens genauso viel Angst macht wie dir, aber ebenso weiß ich, dass es nur diesen einen Weg für uns gibt.“ Ich muss lächeln, denn genau dieser Gedanke ging mir vorhin selbst durch den Kopf.

„Ja, es gibt keinen anderen Weg. Weder für dich, noch für mich.“ Zitternd beuge ich mich hinab und berühre mit meiner Stirn die Schulter meines Freundes.

„Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren. Du bist so ein Idiot!“, flüstere ich mit bebender Stimme.

„Dabei dachte ich, du spieltest gern Spielchen.“ Tais Tonfall ist leicht sarkastisch. Ein bitteres Lachen entweicht meiner Kehle.

„Ja“, bleibt meine einzige Antwort.
 

Ich stehe mit einer Zigarette am Fenster und schaue hinaus. Der Himmel ist wolkenverhangen und die wenigen Blätter, die noch einsam an den kahlen Ästen hängen, wiegen sanft im Wind. Die Luft ist kalt geworden und es riecht nach Regen. Das rasche Voranschreiten der Zeit ängstigt mich. Bis zum Abschied von meinem Vater bleibt weniger als ein Monat. Dann sind Tai und ich weitestgehend auf uns allein gestellt. Nachdenklich nehme ich einen Zug von meiner Zigarette. Rein theoretisch müssten wir uns um finanzielle Aspekte nicht sorgen. Die Eltern meines Freundes kommen für seine Studienkosten auf und beteiligen sich an den Lebenshaltungskosten. Mein Vater bezahlt weiterhin Miete und Nebenkosten der Wohnung, das Schulgeld für mich sowie alle weiteren anfallenden Aufwendungen. Dennoch will ich versuchen neben der Schule zusätzlich etwas Geld zu verdienen, um keine allzu große Last zu sein.

„Worüber denkst du nach?“, höre ich Tai in mein Ohr flüstern. Ich habe nicht bemerkt, dass er sein Konsolenspiel unterbrochen hat und hinter mich getreten ist. Mit seinen Armen umfängt er behutsam meine Taille, fast so, als hätte er Angst, mich zu zerbrechen.

„Ich verzehre mich nach dir, aber du bist zu dünn. Deine Rippen sind viel zu deutlich fühlbar“, bemerkt Tai liebevoll, während er seine Hände unter mein Hemd schiebt und zärtlich über meinen Oberkörper streicht, jeden einzelnen Knochen des Brustkorbs nachzeichnend. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und somit leicht auf die Schulter meines Freundes. Dieser drängt seinen Körper dichter gegen meinen, mit seinen Fingern knöpft er langsam mein Hemd auf. Ich schließe die Augen. Unkonzentriert lasse ich die Zigarette aus meiner Hand gleiten, sodass sie aus dem Fenster in die Tiefe fällt.

„Du bist wunderschön, Yamato.“ Ich spüre, dass Tai mittlerweile bei meiner Hose angelangt ist, sie öffnet und in meine Unterhose vordringen möchte. Sanft, aber bestimmt ergreife ich sein Handgelenk und bedeute ihm innezuhalten.

„Was ist? Soll ich aufhören? Willst du nicht?“, fragt mein Freund leise, aber mit Verwunderung in der Stimme.

„Doch, allerdings würde ich gern noch einen Moment mit dir so stehenbleiben. Bitte höre nicht auf mich zu berühren, halt mich fest, brenne dich tief in mich hinein, lass mich dich spüren.“ Tai streichelt verspielt über meine Kehle.

„Möchtest du darüber reden?“

„Ich dachte einmal mehr über deinen Umzug zu mir nach. Nichts Schlimmes, nur ganz allgemein“, antworte ich wahrheitsgemäß. Mein Freund legt seine Finger um meinen Hals. Sein Atem kitzelt an meinem Ohr. Erregung steigt in mir auf und beschleunigt meine Atmung. Tais Hand wandert weiter zu meinem Nacken, diesen hinab, das Schulterblatt entlang, wieder nach oben zum Schulterknochen bis hin zum Schlüsselbein. Er schiebt mein Hemd etwas nach unten und verteilt Küsse auf Schulter und Hals, immer wieder unterbrochen von Liebkosungen mit seiner Zunge.

„Hör auf zu denken und lass dich fallen“, nuschelt mein Freund und beißt spielerisch, aber nicht zaghaft in meine Haut. Ich ziehe die Luft leicht durch die Zähne ein.

„Das ist nicht so einfach“, flüstere ich abwesend, denn das Verlangen lenkt meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf Tais Berührungen.

„Du hast recht. Aber wir wissen beide, dass es kein Zurück gibt.“ Sinnlich beißt er in mein Ohrläppchen. Ich atme geräuschvoll aus.

„Hast du keine Angst mehr?“, frage ich schwerfällig.

„Doch.“ Ich hebe meine Arme und strecke sie nach hinten aus. Mit den Fingern kralle ich mich in den Haaren meines Freundes fest.

„Ich habe dich nie gefragt, was du gefühlt hast, als wir damals Sex hatten, nachdem wir für deine Mutter Besorgungen gemacht haben. Erinnerst du dich?“ Tai schlingt seine Arme fest um meinen Körper und legt seinen Kopf mit dem Kinn auf meine Schulter. Er scheint zu überlegen, denn seine Antwort kommt nicht sofort.

„Hilflosigkeit, Angst, sowie Enttäuschung, Wut, Begierde und Liebe. Aber diese Empfindungen lähmten mich, sodass der Sex nahezu emotionslos war.“ Ich lasse meine Arme sinken und lege sie über die meines Freundes.

„Ich konnte dich nicht spüren. Es war beinahe unerträglich“, hauche ich. Die Erinnerung an jenen Abend lässt mich frösteln. Mein Körper beginnt zu zittern.

„Ist dir kalt?“, fragt Tai fürsorglich.

„Nein. Ich fühle Schmerz. Es ist also alles gut.“ Ich schmiege mich mit dem Rücken stärker gegen seinen Brustkorb.

„Bedeutet dir Schmerz so viel?“ Der Tonfall meines Freundes ist schwermütig.

„Ja. Ich brauche ihn, um leben zu können. Letztlich ist Schmerz das Einzige, worum es geht.“

„Auch in unserer Beziehung?“

„Ja.“ Tai schweigt. Eine Weile stehen wir reglos in meinem Zimmer am Fenster. Mein Freund hält mich von hinten eng umschlungen. Draußen beginnt es zu dämmern und die Luft hat sich weiter abgekühlt. Ich zünde mir eine Zigarette an und inhaliere den Rauch.

„Bleibst du heute über Nacht? Morgen ist Sonntag und somit schulfrei. Bitte, lass mich nicht allein“, durchbreche ich die Stille und ziehe ein weiteres Mal an der Zigarette.

„Ich rufe kurz meine Eltern an und gebe ihnen Bescheid.“ Mein Freund löst sich von mir und verlässt den Raum. Ohne seine Körperwärme bin ich schutzlos und werde sofort von Kälte erfasst. Bebend schließe ich die Augen und rauche ganz bewusst, genieße das drückende Gefühl in den Lungen sowie den bitteren Geschmack auf der Zunge. Ich höre, dass Tai zurückkommt, die Tür hinter sich schließt und wortlos sein Konsolenspiel fortsetzt.
 

Mit beschleunigtem Tempo laufe ich die Treppen des Gebäudes hinunter. Eigentlich war ich mit Tai am Schultor verabredet, aber mein Klassenlehrer bestand auf eine Unterredung bezüglich meiner Fehlzeiten. Er wies mich nachdrücklich darauf hin, dass ich erneut meine Versetzung gefährde, wenn ich weiterhin so unregelmäßig zum Unterricht erscheine wie bisher in diesem Schuljahr. Tatsächlich blieb ich in letzter Zeit häufiger zu Hause, meist wenn ich die Dosis der Schlaftabletten zu hoch angesetzt hatte, sodass ich morgens nicht aufwachte oder zu benommen war, um zur Schule zu gehen, geschweige denn dem Unterricht zu folgen. Ich werde mich zusammenreißen müssen, wenn ich meinen Vater nicht schon wieder enttäuschen möchte. Ein Abbruch ist jedenfalls keine Option. Ich betrete den Schulhof und ziehe die Jacke enger um meinen Körper. Langsam hält der Winter Einzug. Kalt bläst der Wind in mein Gesicht und lässt mich leicht frösteln. Ich vermute, dass Tai inzwischen gegangen ist, denn ich kann ihn nirgends entdecken. Zielstrebig lenke ich meine Schritte in Richtung Ausgang, als mich jemand am Arm packt und zurückhält. Ich drehe mich um. Es überrascht mich nicht, in das Gesicht meines Klassenkameraden zu blicken. Ein Lächeln umspielt seine Lippen.

„Komm mit“, fordert er mich auf. Ohne eine Antwort abzuwarten, zieht er mich hinter sich her. Ich leiste keinen Widerstand.

„Täusche ich mich? Sagte ich dir nicht, dass ich keinen Sex mehr mit dir haben werde?“, werfe ich ein.

„Sei nicht so überheblich. Ich will nicht mit dir schlafen.“ Für mich war es von Anfang an bemerkenswert, wie mein Mitschüler es jedes Mal aufs Neue schafft, mich neugierig zu machen. Wir steigen die Treppe zu den Kellerräumen hinab, in denen die verschiedensten Klubaktivitäten stattfinden. Auch der Proberaum der Teen-Age Wolves befindet sich hier. Vermutlich hat sich mein Klassenkamerad im Vorfeld erkundigt, welche Örtlichkeiten momentan nicht genutzt werden, damit wir ungestört sind. Als wir schließlich einen relativ abgelegenen Raum betreten, bin ich etwas verblüfft auf eine weitere Person zu treffen. Es handelt sich um denselben Menschen, der mich damals vor den Umkleiden festgehalten hat. Mein Mitschüler schließt hinter uns die Tür.

„Und jetzt?“, frage ich gespannt.

„Zieh deine Jacke aus“, weist er mich an. Ich stelle meine Schultasche auf den Boden und komme der Aufforderung nach. Der andere Schüler, welcher ebenfalls in meine Klasse geht, nähert sich mir von hinten, dreht meine Arme geschickt auf meinen Rücken und hält sie in dieser Position fest.

„Wozu brauchst du dein Schoßhündchen hier?“ Meine Bemerkung hat einen schmerzhaften Druck auf meine Arme zur Folge.

„Ich versprach dir, du wirst den Angriff deines Freundes bereuen“, offenbart mir mein Klassenkamerad, während er ein paar Schritte auf mich zu macht. Aus seiner Hosentasche zieht er ein Springmesser, welches er unvermittelt an meine Kehle hält. Mit der freien Hand umfasst er meine Hüfte und zieht meinen Körper näher zu sich heran.

„Diesmal werde ich dir Schmerzen bereiten, die selbst dich nicht mehr geil machen“, flüstert er mir verheißungsvoll in mein Ohr. Ich begegne dieser Aussage mit einem Lächeln.

„Halt ihn ordentlich fest, du kannst ihm auch wehtun. Und wenn er schreit, bring ihn zum Schweigen“, gibt er seinem Freund Anweisungen. Dann lässt er die Hand über meinen Oberkörper gleiten, zugleich verstärkt er den Druck auf das Messer an meinem Hals. Klopfenden Herzens spüre ich, dass die Klinge ziemlich scharf ist und somit schöne Wunden zufügen kann. Ich wehre mich nicht, sondern ergebe mich ihm in gespannter Erwartung. Mit seiner linken Hand beginnt er die Knopfleiste meines Hemdes zu öffnen. Als er mit den Fingern über meine Haut gleitet, hält er plötzlich inne. Er schiebt den Stoff etwas beiseite und mustert interessiert die Narben.

„Lass ihn kurz los“, richtet er sich an seinen Freund, ohne den Blick von mir abzuwenden. Ich schüttele meine Arme leicht aus, um wieder etwas Gefühl darin zu erlangen.

„Zieh das Hemd ganz aus.“ Mein Mitschüler zieht die Schneide ein Stück über meine Haut. Ein leichtes Ziehen bedeutet mir, dass die oberste Hautschicht zerteilt wurde. Ich lasse mein Hemd zu Boden fallen. Beinahe liebevoll zeichnet mein Klassenkamerad einige der Vernarbungen nach, hebt dann mein Handgelenk etwas an und betrachtet besonders aufmerksam die Spuren meines Selbstmordversuches. Er nickt seinem Freund zu, woraufhin dieser meine Arme erneut auf den Rücken dreht, um mich besser kontrollieren zu können.

„Du scheinst wirklich auf Schmerz zu stehen. Jetzt weiß ich auch, warum du selbst im Sommer die Winteruniform trägst.“ Mein Mitschüler lässt das Messer sinken und leckt über die Stelle, die dessen Klinge durchtrennt hat. So wie es sich anfühlt, nehme ich an, dass die Verletzung harmlos ist und kaum blutet.

„Willst du sterben, Yamato?“, fragt er mit ruhiger Stimme.

„Willst du mich töten?“, entgegne ich lächelnd.

„Nein. Damit würde ich dir wahrscheinlich einen Gefallen tun, hab ich recht?“ Ich schweige.

„Wie tief muss ich wohl schneiden, um das Lächeln aus deinem Gesicht zu verbannen?“ Mein Klassenkamerad setzt die Klinge auf meine Brust und zieht sie langsam, mit mäßigem Druck über die Haut. Sofort rinnt Blut aus der Wunde. Mein Gegenüber wiederholt die Prozedur, mit jedem Schnitt wird er mutiger und fügt mir tiefere Wunden zu. Schmerz durchflutet meinen Körper und droht mich zu überwältigen. Ich bekomme das Zittern nicht unter Kontrolle, wodurch der Schüler, der mich festhält, brutaler wird und ich meine Arme kaum noch spüre.

„Wo ist deine Arroganz, dein selbstgefälliges Lächeln? Kannst du etwa doch noch Schmerzen empfinden, Yamato?“ Mit zusammengekniffenen Augen und einem verzerrten Lächeln schaue ich meinen Klassenkameraden an.

„Lass die Zärtlichkeiten“, stachele ich ihn weiter an und bekomme es sofort mit einem Faustschlag in den Magen quittiert. Ich krümme mich zusammen, werde aber von dem Anderen zurück in eine aufrechte Position gerissen. Mein Mitschüler scheint jetzt seine gesamte Wut an mir auszulassen. Vereinzelte Schreie entweichen meiner Kehle, werden aber sofort erstickt, als mir sein Handlanger den Mund zuhält. Meine Beine knicken weg und ich werde unsanft zu Boden fallen gelassen. Tritte in den Rücken und den Bauch treiben mich an den Rand zur Bewusstlosigkeit.

„Brutal genug?“, fragt mein Klassenkamerad, als er sich neben mich hockt und mir liebevoll durch das Haar streicht. „Ich denke, es reicht für heute. Was meinst du, Yamato?“ Ich möchte antworten, aber die Schmerzen, die mich mittlerweile komplett beherrschen, nehmen mir die Luft zum Atmen.

„Du bist eine traurige Existenz“, flüstert mir mein Mitschüler ins Ohr. Dann hebt er mit seinen Fingern mein Kinn etwas an und küsst mich. Ich lasse es geschehen.

„Aber du faszinierst mich, wie mich noch nie etwas oder jemand fasziniert hat. Du übst eine eigenartige Anziehung auf mich aus.“ Sanft streicht er mir über die Wange. „Ich hab dein Gesicht verschont. Es ist wirklich ungewöhnlich schön für einen Mann, so fein geschnitten.“ Ich reagiere nicht. Mein Klassenkamerad erhebt sich, die beiden nehmen ihre Sachen und gehen zur Tür.

„In diesen Raum kommt heute niemand mehr. Du kannst dir also Zeit lassen. Wir sehen uns dann morgen.“ Ich höre, wie die Tür ins Schloss fällt. Langsam versuche ich mich zu bewegen, zucke jedoch unwillkürlich zusammen. Irgendwie schafft es mein Mitschüler immer wieder, mich an meine Schmerzgrenzen zu bringen. Wie erbärmlich. Ich lache laut auf, während Tränen über meine Wangen laufen.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

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Müde stehe ich in der Küche und koche Kaffee, als das Telefon klingelt. Bevor ich reagieren kann, hat Tai den Hörer bereits abgenommen. Erleichtert atme ich auf. Anhand der Wortwahl meines Freundes sowie der Gesprächsthemen erkenne ich, dass mein Vater der Anrufer ist. Gerade scheint dieser sich nach dem Verlauf von Tais Prüfungen zu erkundigen, worauf der antwortet, dass es ganz gut gelaufen sei. Ich spähe vorsichtig aus der Küche und bedeute meinem Freund, dass ich nicht da bin, falls mein Vater nach mir verlangen sollte. Tai macht eine fragende Geste, nickt dann aber nur verständnislos und richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf das Telefonat. Ich gehe zurück in die Küche, der Kaffee ist inzwischen durchgelaufen, fülle meine Tasse mit der braunen Flüssigkeit und setze mich an den Tisch. Den Kopf in die Hand gestützt schaue ich aus dem Fenster. Die kahlen Äste wiegen sich leicht in der kalten Winterluft, auf den Gabelungen sind kleine Schneeansammlungen. Seit ich Tai vor zwei Wochen in meinem Zimmer genommen habe, hat sich an unserem Verhalten nicht wirklich viel geändert. Er schläft nach wie vor in seinem Zimmer, besprochen wird nur Allgemeines, beschränkt auf das Nötigste. Bei den Blicken, die mein Freund mir entgegenbringt, sind Worte allerdings auch nicht mehr nötig. Dass ich mit anderen Männern ins Bett gehe, hat er mir schon vorgeworfen, als es noch gar nicht stimmte, das kann also nicht der Hintergrund sein. Aber ich vermute, dass er weiß, dass ich mich erneut von meinem Klassenkameraden habe ficken lassen, auch wenn ich mir nicht erklären kann, wie er davon erfahren haben sollte. Es sei denn, dieser kleine Hurensohn hat es Tai gesteckt. Mittlerweile traue ich ihm alles zu. Seit ich bei ihm zu Hause war und er mich auf ziemlich brutale Art genommen hat, wobei auch diverse Spielzeuge zum Einsatz kamen, kann ich ihn überhaupt nicht mehr einschätzen. Er findet nach eigener Aussage Sex zwischen Männern ekelhaft, kennt sich mit den diversen Praktiken aber erstaunlich gut aus. Hinzu kommen die verschiedenen Gerätschaften, von denen ich noch nicht einmal alle zu benutzen wüsste. Auch wenn mich die Brutalität sehr erregte, stieg dennoch erneut Übelkeit in mir auf. Übergeben musste ich mich zwar nicht, aber ich bin jedes Mal aufs Neue verwundert, wie heftig abwehrend mein Körper reagiert, wenn es nicht Tai ist, der in mir ist. Ich zucke erschreckt zusammen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre. Als ich hinter mich und leicht nach oben blicke, verliere ich mich sofort wieder in den faszinierenden braunen Augen meines Freundes. Dieser seufzt.

„Wo bist du nur schon wieder? Ich habe dich gerade zweimal mit deinem Namen angesprochen, aber du reagierst überhaupt nicht.“ Betroffen sehe ich zu Boden. Eine unglaublich schmerzende Zuneigung überkommt mich. Ich umfasse seine Hüften und lehne meinen Kopf schwermütig gegen seinen Bauch.

„Yamato.“ Tais Stimme zittert. Ich schmiege mich dichter an ihn, als würde er gleich verschwinden.

„Ich spüre dich nicht! Ich kann dich nicht mehr spüren, Tai. Geh nicht weg! Bitte!“ Verzweifelt kralle ich mich in den Sachen meines Freundes fest. „Ich will dir nicht mehr wehtun müssen. Du bedeutest mir alles. Ich liebe dich und ich werde nie wieder etwas tun, das dich verletzt. Das verspreche ich dir. Nur bitte…“

„Dieses Versprechen wirst du mit großer Wahrscheinlichkeit nicht halten, auch wenn ich es mir noch so sehr wünsche“, unterbricht Tai meine hilflosen Beschwörungen.

„Was kann ich sonst tun, damit du dich nicht noch weiter von mir entfernst? Ich vermisse dich so sehr!“ Tränen laufen mir über die Wangen und das Atmen fällt mir schwer, sodass ich glaube ersticken zu müssen. Mein Freund legt seine Arme um mich und drückt meinen Kopf stärker an seinen Körper.

„Ich weiß es nicht“, antwortet er mit erstickter Stimme und kaum hörbar.
 

Bedächtig schließe ich die Tür auf. Es ist später geworden als erwartet, weit nach Mitternacht. Zu meiner Verwunderung brennt im Wohnzimmer noch Licht. Nachdem ich mich meiner Schuhe und Jacke entledigt habe, werfe ich einen vorsichtigen Blick hinein. Auf dem Sofa liegt Tai, die Augen geschlossen, die Atmung ruhig. Er scheint zu schlafen. Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu, dann betrachte ich die fast vollständig gelehrte Flasche Whiskey und das Glas, welches nur halb gefüllt danebensteht. In einem Zug trinke ich es aus und verziehe das Gesicht. Ich habe das Gefühl, meine Speiseröhre würde weggeätzt und ich müsste mich übergeben. Wenn einer der Männer mich absolut gefügig machen möchte, verwendet er selten Alkohol, weil es zu umständlich ist, sondern ein Aphrodisiakum oder Betäubungsmittel, welches er unbemerkt in das Getränk mischt oder mich direkt zur Einnahme auffordert. Ich stelle das Glas zurück auf den Tisch und hocke mich neben meinen Freund. Der alkoholische Geruch ist mir schon seit einiger Zeit hin und wieder bei ihm aufgefallen, auch als er noch zu Hause wohnte, aber mittlerweile scheint er fast täglich zu trinken. Ich streichle ihm sanft über die leicht gerötete Wange. Seine Haut fühlt sich schön an und ich möchte ihn küssen. Mit meinem Daumen fahre ich leicht über seine Lippen. Mir fällt auf, wie zerbrechlich und verletzbar Tai gerade wirkt, eine Seite, die er mir selten zeigt und schon gar nicht freiwillig. Nur wenn ich ihn durch mein Verhalten herausfordere, lässt er seine Fassade fallen. Ich beuge mich über ihn und küsse ihn zaghaft auf den Mund. Seine Lippen schmecken nach Whiskey, als ich leicht mit meiner Zunge darüber lecke. Mit einer Mischung aus Zuneigung und Schuldbewusstsein sehe ich ihn an. Seine Augen sehen verschlafen aus, ruhen aber abwartend auf mir.

„Du trinkst ziemlich viel“, stelle ich fest und ordne ein paar Strähnen seines Haares.

„Nein.“ Er schüttelt den Kopf. „Heute is anders. Die Flasche war eh schon fast leer, als ich getrunken habe“, nuschelt mein Freund, sodass ich Probleme habe, ihn zu verstehen.

„Ich bringe dich jetzt erst einmal ins Bett. Kannst du laufen?“ Tai nickt und erhebt sich mühsam vom Sofa. Er schafft es tatsächlich, zu laufen, wankt jedoch auffallend. „Komm her, ich helfe dir.“ Ich bin überrascht, dass kein Protest kommt, als ich ihn mit seinem Arm über meiner Schulter stütze. „Ist dir schlecht?“, frage ich, während wir am Bad vorbeigehen. Wieder schüttelt er den Kopf. Hätte ich diese Art von Alkohol in der Menge getrunken, und ich gehe davon aus, dass er die gesamte Flasche an diesem Abend geleert hat, hätte ich wahrscheinlich schon dreimal gekotzt. Dass es bei ihm nicht so ist und auch die Tatsache, dass er noch zum Laufen in der Lage ist, zeigen mir deutlich, dass er entweder sehr viel verträgt oder bereits eine Gewöhnung stattgefunden hat. In meinem Zimmer lege ich meinen Freund auf das Bett, entkleide ihn und lege die Decke über seinen nackten Körper.

„Du warst heute wieder bei wem auch immer, habe ich recht?“ Seine Stimme klingt rau vom Alkohol. Ich entledige mich ebenfalls meiner Kleidung und setze mich neben Tai.

„Trink einen Schluck Wasser“, übergehe ich seine Frage und halte ihm die Flasche entgegen. Nach einigen Zügen gibt er sie mir zurück und schaut mich mit verklärtem Blick vorwurfsvoll an.

„Du weichst mir aus.“

„Schlaf jetzt. Zum Glück ist Wochenende, somit kannst du deinen Rausch ausschlafen, wobei es wahrscheinlich auch so egal wäre, da in ein paar Tagen die Schulzeit für dich endet. Ich hasse jetzt schon den Gedanken, ohne dich zur Schule zu gehen und dich in den Pausen nicht sehen zu können.“ Betrübt lege ich meinen Kopf auf die Brust meines Freundes. Sein Herzschlag an meinem Ohr beruhigt mich. Aufgrund Tais ruhiger Atmung gehe ich davon aus, dass er eingeschlafen ist. Ich lege meinen Arm um seine Taille und presse meinen Körper stärker an seinen. Noch immer geht ein betäubender Alkoholgeruch von meinem Freund aus und zieht durch das gesamte Zimmer. Ich schließe die Augen. Sanft streiche ich mit meinen Fingern über Tais Haut. Sein Verhalten bereitet mir Sorgen, aber ich bin mir unsicher, ob ich ihn darauf ansprechen soll. Noch während ich abwäge, schlafe ich mit meinem Kopf auf seinem Oberkörper liegend ein.
 

Ich öffne meine Augen. Die Helligkeit im Zimmer ist unangenehm, sodass ich sie für einen kurzen Moment noch einmal schließe. Dann richte ich mich auf und betrachte Tais schlafendes Gesicht. Wieder überwältigen mich starke Gefühle für ihn, ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange und streiche ihm sanft durch das Haar. Als ich aufstehen will, hält mich mein Freund am Handgelenk zurück. Er ist also wach. Erneut blicke ich zu ihm und lächle ihn besorgt an.

„Wie geht es dir?“, frage ich vorsichtig.

„Ein wenig Kopfschmerzen, aber es geht schon. Wieso liege ich in deinem Bett?“ Seine Stimme klingt kratzig, als wäre seine Kehle trocken. Ich halte ihm die Flasche Wasser hin, die er dankbar entgegennimmt.

„Du hattest ziemlich viel getrunken. Außerdem wollte ich nicht alleine schlafen. Es tut mir leid, wenn es gegen deinen Willen war.“ Ich senke traurig meinen Blick. Mit seinen Fingern hebt mein Freund meinen Kopf wieder und zwingt mich ihn anzusehen.

„Hör auf, so unterwürfig zu sein. Ich bin keiner deiner Freier.“ Seine Bemerkung ignorierend packe ich ihn grob am Arm.

„Warum?“, frage ich vorwurfsvoll.

„Was meinst du?“ Ich deute auf seinen Unterarm. Er zuckt mit den Schultern, schaut mich aber ernst an. „Ich will dich verstehen, wissen, warum du das tust, was es dir gibt und ob ich es vielleicht sogar nachvollziehen kann“, versucht er sich zu erklären.

„Kannst du?“

„Zum Teil.“

„Heißt das, es geht jetzt so weiter?“, entgegne ich aufgebracht.

„Was ist dein Problem? Sieh dir deinen eigenen Körper an, der ist übersät von Narben und Verletzungen. Bei einigen will ich nicht einmal wissen, woher die stammen.“ Tai verzieht angewidert das Gesicht. Wütend verstärke ich meinen Druck auf seinen Arm.

„Du hast sehr tief geschnitten. Was kommt als nächstes, Selbstmord?“

„Yamato, komm wieder runter! Es sind nur ein paar Schnitte. Auch ich kann irgendwann nicht mehr. Glaubst du, ich finde es toll, wenn wir monatelang nebeneinanderher leben, du dich lieber von anderen als von mir vögeln lässt und immer mehr in dir selbst gefangen bist? Ich erreiche dich nicht mehr und allmählich habe ich das Gefühl, dass du gar nicht erreicht werden willst.“ Mein Freund schreit mir die Worte fast entgegen. Ich schweige. Egal was ich jetzt sagen würde, es würde Tai vermutlich nicht beruhigen. Er ist auf Konfrontation aus, aber ich bin froh darüber. Mir ist es lieber, wenn er seine Wut an der Ursache, also mir, auslässt als an sich selbst.

„Das ist typisch. Nie sagst du etwas, wenn es darauf ankommt. Ist es dir egal? Bin ich dir egal? Oder bin ich es nicht wert, dass du mir auch nur eine winzige Reaktion entgegenbringst?“

„Warum redest du solchen Unsinn? Ohne dich kann ich nicht leben.“

„Ja, weil du absolut unselbstständig und weltfremd bist. Ohne mich wärst du verloren. Aber ich könnte ebenso gegen jemand anderen ersetzt werden.“

„Nein, verdammt! Was soll das? Du bist unersetzbar für mich, weil ich dich liebe. Und das weißt du.“ Jetzt schreie auch ich.

„Weiß ich das wirklich? Ich bin mir nicht sicher. Woher soll ich es wissen, wenn du es nicht zeigst?“ Ungläubig starre ich ihn an.

„Das ist nicht wahr! Stell mich nicht als gefühlstot hin.“ Nun ist es Tai, der schweigt. „Denkst du das tatsächlich?“ Entrüstet lasse ich seinen Arm los und stehe auf. „Bitte, dann sauf dir doch dein Hirn weg und schneide dir den Arm auf, bis du daran verreckst! Mich interessiert das nicht, denn ich fühle sowieso nichts.“ Ungehalten werfe ich ihm diese Worte an den Kopf, ohne darüber nachzudenken, und verlasse wütend das Zimmer, wobei ich die Tür geräuschvoll zuknalle.
 

„Yamato.“ Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter, anhand der Stimme erkenne ich, dass mein Klassenkamerad hinter mir steht.

„Fass mich nicht an!“, sage ich in drohendem Tonfall ohne mich umzuwenden. Mein Blick ist starr auf das Fußballfeld vor mir gerichtet, besonders auf jenen Spieler mit der Rückennummer elf. Mein Mitschüler beginnt zu lachen und setzt sich neben mich auf die Bank.

„Was, vögeln und verletzen darf ich dich, aber normal berühren nicht? Deine Logik ist echt verquer.“ Die Belustigung in seiner Stimme nervt mich.

„Was willst du?“, frage ich gereizt.

„Nach dem Training deines Freundes bei mir.“ Seine Worte sind nicht als Frage formuliert. Ich sehe ihn an, dann zu Tai. Der ist gerade in Ballbesitz gekommen, gibt aber sofort an einen anderen Spieler ab, dann stürmt er weiter nach vorn.

„Beantworte mir eine Frage.“ Meine Augen bleiben weiterhin an meinem Freund haften. „Warum bist du so besessen von mir, dass du sogar gegen deine sexuelle Orientierung handelst und mit einem Mann schläfst? Noch dazu mit einem, den du nach eigener Aussage hasst.“ Leicht streicht mir mein Klassenkamerad über den Hals, weiter zum Kehlkopf und hinab zum Schlüsselbein.

„Wir sind uns ähnlicher, als du denkst.“ Er lächelt vielsagend. Mich würde interessieren, wie er das meint, aber ich frage nicht nach. Tai steht inzwischen atemlos auf dem Platz und verfolgt das Geschehen. Gleichzeitig scheint er nach einem Schwachpunkt in der gegnerischen Verteidigung zu suchen. Plötzlich sprintet er los und gibt seinem Mitspieler ein Zeichen, dass er ihn anspielen soll.

„Ziemlich gut, dein Freund. Ist er im Bett auch so tonangebend?“

„Ich sagte dir schon einmal, lass Tai aus dem Spiel“, drohe ich ihm leise.

„Und ich sagte dir, dass er mich nicht interessiert. Aber ich möchte wissen, ob du bei ihm auch so extrem devot bist.“

„Das geht dich nichts an“, zische ich. „Nachher bei dir, ich habe verstanden. Und jetzt verzieh dich.“

„Pass auf, was du sagst, sonst stecke ich deinem Freund ein paar von den Dingen, die du tust und mit dir machen lässt.“

„Hast du doch bereits. Zumindest, dass ich mich von dir ficken lasse.“

„Ich dachte, er würde dich verlassen, wenn er davon wüsste, aber anscheinend habe ich ihm noch nicht genug über dich erzählt.“

„Erzähle ihm ruhig, was du willst. Noch mehr Schaden anrichten kann es nicht.“ Meine Worte klingen verbittert. Als sich die Blicke von meinem Freund und mir zufällig treffen, wende ich mich beschämt ab und schaue zu Boden. Es ist mir unangenehm, dass er mich mit meinem Klassenkameraden zusammen sieht.

„Läuft es zwischen euch nicht gut?“, will mein Mitschüler unvermittelt wissen. Hasserfüllt sehe ich ihn an.

„Würdest du dich endlich verpissen?“ Diesmal steht er zu meiner Erleichterung auf.

„Nachher bei mir“, erinnert er mich, dann kommt er meiner Aufforderung nach und lässt mich allein. Ich schaue wieder zu Tai, doch dessen Aufmerksamkeit ist gerade komplett auf das Spiel gerichtet. Die Sache von eben wird nicht gerade förderlich für unsere ohnehin bereits angeschlagene Beziehung sein. Ich will ihm nicht schon wieder wehtun, was allerdings der Fall ist, wenn ich mich von anderen ficken lasse. Am liebsten würde ich zu ihm gehen, ihn umarmen und zeigen, wie sehr ich ihn liebe. Doch seit ich gestern wütend das Zimmer verlassen habe, haben wir kein Wort mehr miteinander gesprochen. Ich schaffe es nicht, meine Blockade zu überwinden und zu ihm zu gehen. Dafür hasse ich mich. Ebenso dafür, dass ich jetzt gleich aufstehen werde, weil ich den Kampf gegen mich ein weiteres Mal verliere, um Dinge mit mir machen zu lassen, die erniedrigender und abscheulicher nicht sein könnten, nur damit mein Selbsthass nicht übermächtig wird und ich einen weiteren Suizidversuch unternehme. Ich schaue meinem Freund noch einen Moment zu. Er ist wunderschön. Dann erhebe ich mich, kehre ihm den Rücken und verlasse das Schulgelände.
 

Nervös stehe ich vor Tais Zimmertür. Ich habe Angst davor, anzuklopfen und hineinzugehen, Angst davor, abgewiesen zu werden. So weitergehen kann es aber auch nicht, sonst wird unsere Beziehung komplett zerbrechen. Doch wenn das passiert, werde ich erst Tai und danach mich selbst töten. Ich kann ohne ihn nicht leben, will ihn aber auch nicht freigeben. Er gehört mir. Langsam hebe ich meine Hand, um anzuklopfen, halte jedoch kurz vor der Berührung des Holzes inne. Ich atme tief durch, um mich ein wenig zu beruhigen. Eine Weile stehe ich reglos da, doch in meinem Kopf schreit alles wild durcheinander und verunsichert mich zusätzlich. Ich lasse meine Hand sinken. Es geht nicht. Ich schaffe es nicht, irgendetwas in mir blockiert und ich weiß nicht einmal, warum. Vom Selbsthass getrieben wende ich mich ab, um ins Bad zu gehen. Als ich höre, dass sich die Zimmertür meines Freundes öffnet, drehe ich mich mit einer Mischung aus Erleichterung und Angst um.

„Taichi“, entweicht es mir leise.

„Du bist schon zurück? Ich habe später mit dir gerechnet. Es war wohl diesmal nur ein Quickie.“ Ich übergehe seine Provokation und mache einen Schritt auf ihn zu. „Konnte er es dir wenigstens ordentlich besorgen, wenn ich es schon nicht schaffe?“

„Ich liebe dich, Taichi.“ Sanft umfange ich meinen Freund mit meinen Arm und drücke ihn fest an mich. Dass er wieder getrunken hat, überrascht mich nicht. „Ich liebe dich“, wiederhole ich meine Worte.

„Warum tust du mir und dir dann sowas an? Reicht deine Liebe denn nicht einmal dafür aus, dich für mich und gegen deinen Selbsthass zu entscheiden?“

„Ich weiß es nicht“, gebe ich betroffen zu, nehme ihn aber noch fester in den Arm.

„Lass mich los, Yamato. Ich will nicht mehr von dir berührt werden, wenn du dreckig bist. Geh duschen, bestimmt klebt noch sein Sperma an und in dir, denn er fickt dich garantiert ohne Kondom.“ Tais Stimme ist ruhig, aber voller Verachtung. Ich lasse meine Arme sinken und trete einen Schritt von ihm zurück, ohne ihn anzusehen.

„Es tut mir leid“, flüstere ich erstickt. Ein weiteres Wort bringe ich nicht mehr heraus. Zitternd ergreife ich den Ärmel meines Freundes, um daran Halt zu suchen.

„Nein, Yamato, tut es nicht. Wenn dem so wäre, würdest du dich anders verhalten. Aber du bemühst dich nicht einmal um mich.“ Ich schüttle den Kopf. Das stimmt nicht. Tränen laufen mir über die Wangen, womit mein erbärmliches Erscheinungsbild perfekt wäre. Die Angst, Tai zu verlieren, lähmt mich. Ich möchte ihm so vieles sagen, ihn umarmen, küssen, aber ich bleibe stumm und regungslos. „Wahrscheinlich würdest du nicht einmal kämpfen, wenn ich die Beziehung jetzt beenden wollte. Manchmal denke ich, du bist überhaupt nicht fähig einen anderen Menschen zu lieben. Das Einzige, das du wirklich liebst, sind der Schmerz und dein Selbsthass, woran du letztlich auch verrecken wirst.“ Ich wische mir mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht, dann ziehe ich meinen Freund zu mir heran und küsse ihn fordernd. Wie erwartet schmecke ich nur Alkohol, aber nicht ihn.

„Sieh mich an!“ Ich lasse die Worte absichtlich wie einen Befehl klingen. Seine Augen sind glasig und sein Blick getrübt. Dafür ist seine Sprache noch erstaunlich klar.

„Warum kommt noch nicht einmal jetzt eine Reaktion auf meine Worte?“

„Taichi, du bist betrunken. Das ist nicht die beste Voraussetzung für ein solches Gespräch. Zudem hast du mir deine Meinung und Eindrücke mitgeteilt, die kann ich dir doch nicht absprechen.“ Ich habe den Satz kaum ausgesprochen, als ich einen harten Schlag von meinem Freund ins Gesicht bekomme.

„Verdammt nochmal! Was soll das hier werden, Yamato?“ Betreten schaue ich zu Boden. Meine Wange schmerzt unerwartet stark und ich schmecke etwas Blut in meiner Mundhöhle.

„Ich ertrage die Distanz zu dir einfach nicht mehr. Ohne dich kann ich nicht atmen. Bitte lass uns nicht so weitermachen, das halte ich nicht aus. Ich vermisse dich so sehr!“

„Das hätten wir alles viel eher haben können. Ich habe lediglich darauf gewartet, dass du den ersten Schritt machst.“ Tai seufzt. „Warum fällt dir das so schwer? Warum kannst du nicht agieren, allenfalls reagieren?“ Ich streiche mit meinen Fingern über meine leicht geschwollene Wange.

„Das kann ich dir auch nicht sagen. Ich verstehe es selbst nicht. Jedes Mal, wenn ich es versuche, hält mich eine für mich unüberwindbare Blockade davon ab, zu handeln. Ich hasse mich selbst dafür und wahrscheinlich wirkt es eher wie eine billige Ausrede.“ Tai sagt nichts dazu, sondern sieht mich nur nachdenklich an. Schließlich sagt er:

„Ich liebe dich einfach, egal wie sehr ich mich dagegen wehre.“ Ich streiche meinem Freund liebevoll über die Wange und lächle.

„Dann wehre dich nicht mehr. Lass dich einfach fallen. Vielleicht spürst du durch den Alkohol alles noch intensiver. Wobei ich dich auch so um den Verstand bringen kann.“ Ich küsse seinen Hals entlang, dann wandere ich hinauf zu Tais Lippen. Sofort entwickelt sich ein heftiger, leidenschaftlicher Kuss, wobei wir uns langsam auf mein Zimmer zubewegen. Aber noch immer wird Tais Geschmack von dem des Alkohols überdeckt.
 

Gefühlvoll streiche ich über Tais Narbe, die ich ihm zugefügt habe und die mittlerweile nur noch blassrosa schimmert.

„Tut sie noch weh?“, will ich wissen, während ich die Decke etwas enger um meinen Körper ziehe. Mein Freund presst sich stärker an mich, um mir etwas von seiner Wärme abzugeben.

„Nicht wirklich. Hin und wieder zieht oder sticht es in meinem Arm, aber die Region um die Narbe ist weitestgehend taub.“ Ich streiche mit dem Finger über die Stelle.

„Heißt das, du spürst meine Berührung gerade nicht?“

„Nein, nur ein leichtes Kribbeln.“ Nachdenklich betrachte ich mein Werk.

„Hasst du mich dafür?“ Tai legt seinen Arm um meine Taille und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.

„Warum sollte ich? Es ist das Zeichen, dass ich dir gehöre.“

„Willst du überhaupt mir gehören?“ Extreme Unsicherheit ergreift Besitz von mir. „Bei all dem, was ich dir antue?“

„Ja, aber auch du sollst mir gehören. Nur mir.“ Tai betont seine Worte absichtlich, allerdings weiß ich auch so, worauf er anspielen will. Obwohl wir nackt und eng umschlungen in meinem Bett liegen, kommt Taichi mir unerträglich weit weg vor.

„Ich liebe dich so sehr“, flüstere ich. Meine Stimme zittert.

„Dann beweise es.“ Die Hände meines Freundes gleiten langsam über meine Haut nach unten. „Ich bin der Einzige, der dich fickt und in den du deinen Schwanz steckst, hast du verstanden?“ Mit der einen Hand beginnt er mir einen runterzuholen, während er mit zwei Fingern der anderen Hand in mich eindringt. Sofort bin ich erregt, schlinge meinen Arm um Tais Hals und presse mich noch stärker an ihn. Meine Atmung beschleunigt sich, geht stoßweise und zum Teil in Stöhnen über. Seit wir vor ein paar Tagen das erste Mal seit Monaten wieder Sex hatten, habe ich das Gefühl, empfindlicher auf die Berührungen meines Freundes zu reagieren. Andererseits reicht es oft nicht aus. Egal wie tief er in mir ist oder ich in ihm, es ist nicht genug. Aber ich glaube, es ist nie genug. Meine Gefühle für Taichi sind mittlerweile unerträglich schmerzhaft. Ich klammere mich fester an meinen Freund. Dieser beschleunigt seine Bewegungen und dringt mit einem dritten Finger in mich ein.

„Du gehörst mir. Niemand anderes darf dich so sehen. Dein Körper ist so zerbrechlich und deine Haut so hell. Sie fühlt sich ungewohnt weich für einen Mann an. Dabei bist du so dreckig, weil du dich von anderen missbrauchen und schänden lässt. Doch ich werde dir schlimmere Dinge antun und dich so wieder an mich binden.“

„Tai…“ Ich zittere vor Erregung. „Bitte, nimm mich!“ Mein Freund lässt von mir ab.

„Bring dich selbst zum Höhepunkt. Ich will dir dabei zusehen. Und sieh mich an, wenn du es dir selbst besorgst.“ Beschämt sehe ich ihn an. Die Situation an sich ist zwar nicht neu für mich, aber vor Tai ist es mir unsagbar peinlich. Er zieht die Decke von meinem Körper und setzt sich ans Ende des Bettes, sodass er mich genau im Blick hat. Verhalten beginne ich mich zu berühren. Mein Gesicht glüht vor Scham und Erregung.

„Nicht so schüchtern, Yamato. Du kannst das doch sicher lasziver. Ich will die Seite von dir sehen, die du deinen Peinigern zeigst.“ Ich setze mich auf.

„Das kann und will ich nicht.“

„Aber mich interessiert das nicht. Leg dich hin.“ Tai spricht diese Worte, als dulde er keine Widerrede. Ich rühre mich nicht und sehe ihn mit einer Mischung aus Trotz, Ekel und bedauernder Zuneigung an.

„Du weigerst dich?“ Er beugt sich zu mir und drückt mich lieblos auf das Laken zurück. „Du bist eine verdammte kleine Hure, mehr nicht. Also sei gefälligst auch gefügig.“ Unsanft drückt er meine Beine auseinander und dringt rücksichtslos in mich ein. Ich kralle meine Finger im Laken fest und winde mich unter meinem Freund. Immer wieder kratze ich mit meiner anderen Hand über Tais Arm und hinterlasse blutige Striemen auf seiner Haut. Mit seiner Rückhand und nur wenig Zurückhaltung schlägt er mir ins Gesicht.

„Was ist los, Yamato? Warum wehrst du dich? Gefällt es dir nicht?“ Seine Stöße sind hart und seine Berührungen grob. Von der Zuneigung, die normalerweise trotzdem spürbar ist, fühle ich nichts.

„Taichi…“ Tränen füllen meine Augen. Erneut schlägt Tai mir ins Gesicht.

„Verdammt nochmal, jetzt verhalte dich endlich so, wie du dich von anderen ficken lässt!“ Jegliches Leben schwindet aus meinem Körper und ich lasse die sexuellen Handlungen nur noch über mich ergehen. Ich merke, dass mein devotes Verhalten ihn wütend macht, da er immer brutaler wird. Durch die sich einstellenden Schmerzen schaffe ich es nicht mehr, mein Stöhnen zu unterdrücken. Rhythmisch stößt er immer wieder tief in mich hinein.

„Tai…“ Meine Atmung ist unregelmäßig und schwerfällig. „Leg deine Finger um meinen Hals und drück zu. Ich will dich intensiver spüren. Ich will nur noch dich spüren.“ Wieder schlägt mein Freund mir ins Gesicht, dann lässt er von mir ab und geht ohne ein Wort zu sagen aus dem Zimmer. Die Ironie der Situation bringt mich zum Lachen. Ich frage mich, was Tai erwartet hatte. Und ob er die Realität in ihrem ganzen Umfang wirklich erfahren möchte.
 

Vorsichtig schiebe ich den Ärmel meines Hemdes über den Verband an meinem Arm, dann verlasse ich das Bad in Richtung Wohnzimmer. Tai hat den Fernseher eingeschaltet und sitzt mit einem Glas Whiskey in der Hand apathisch auf dem Sofa. Bereits als er das Zimmer verließ, war mir klar, dass er zum Alkohol greifen würde, so wie ich eben zur Rasierklinge. Ich setze mich neben ihn und schaue mir für eine Weile das Programm an. Es läuft gerade eine dieser extrem bunten, schrillen und total durchgeknallten Quizsendungen. Diese Art von Humor habe ich noch nie verstanden, für mich ist das einfach nur laut und hirnlos. Ich wende mich meinem Freund zu, nehme ihm das Glas aus der Hand und stelle es auf den Tisch neben die halb geleerte Flasche.

„Du trinkst zu viel“, bemerke ich liebevoll, aber besorgt.

„Komm wieder runter, es ist nur ein Glas“, entgegnet Tai genervt.

„Die Flasche ist zur Hälfte geleert.“

„Das war sie auch schon vorher.“ Ich weiß, dass es nicht der Wahrheit entspricht, sage aber nichts.

„Warum bist du vorhin aus dem Zimmer gegangen?“, will ich schließlich wissen.

„Weil ich dich nicht mehr ertragen konnte!“ In seinen Worten schwingen Hass und Verzweiflung mit.

„Tai, was hast du erwartet? Was glaubst du, wie ich mich bei anderen verhalte? Ich bin fast ausschließlich devot. Eigentlich lasse ich den Sex nur über mich ergehen und kämpfe gegen den Ekel an.“ Tai blickt mich ungläubig an. „Willst du wirklich, dass ich mich auch bei dir so verhalte? Aber ich glaube, selbst wenn du das wollen würdest, ich könnte es nicht. Das haben wir vorhin gesehen, als ich es versuchte.“ Ich sehe meinen Freund weiter unverwandt an. Dieser nimmt das Glas vom Tisch und trinkt einen großen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Mit gemischten Gefühlen schaue ich ihm schweigend dabei zu.

„Was ist die Ausnahme? Deine Ausführungen klangen, als gäbe es eine.“ Beschämt senke ich meinen Blick.

„Ja“, gebe ich zögerlich zu. Es ist mir unangenehm, über Details sprechen zu müssen. Zumal ich nicht einschätzen kann, wie Tai reagieren wird, gerade jetzt, unter Alkoholeinfluss. Der füllt sein Glas wieder und trinkt es ohne abzusetzen aus, nur um es erneut zu füllen. Offenbar ist ihm egal, dass ich neben ihm sitze und dabei zusehe, wie er sich ins Koma säuft.

„Sprichst du irgendwann noch weiter?“, fragt er gereizt.

„BDO.“

„K.O.-Tropfen? Du lässt dich vögeln, während du bewusstlos bist?“

„Nein.“ Ich spüre Hitze in mir aufsteigen. Das alles sollte Tai nie erfahren. „In einer niedrigeren Dosis wirkt es aphrodisierend und enthemmend.“

„Und dann machst du alles, was man dir sagt, wirst sogar aktiv“, bemerkt mein Freund abfällig.

„Ja.“ Ich fühle mich unendlich haltlos, doch von Tai kann ich momentan keine Zuneigung erwarten.

„Reichen deine Tabletten nicht mehr aus, dass du zu Drogen übergehen musst?“

„Das Eine hat mit dem Anderen nichts zutun. Die Gründe sind völlig verschieden. Zudem verlange ich eher selten von mir aus nach dem Zeug.“

„Heißt das, du nimmst es unfreiwillig?“

„Mittlerweile nicht mehr. Die Typen wissen, dass ich es nehme, wenn sie es verlangen, deshalb mischen sie es mir nicht mehr heimlich ins Getränk.“ Tai leert sein Glas.

„Ich verstehe es nicht. Du lässt dich unter Drogeneinfluss ficken, damit du erträgst, was die mit dir machen. Warum? Das ist doch absurd.“

„Nicht für mich.“ Ich schaue meinem Freund zu, wie er den letzten Rest der Flasche in sein Glas gießt.

„Erkläre es mir“, fordert er.

„Das kann ich nicht.“ Vorsichtig betrachte ich meinen Freund. Obwohl man es ihm nicht anmerkt, sehe ich an seinen Augen, dass er bereits stark alkoholisiert ist.

„Was sind das für Drecksäcke, die einen Minderjährigen unter Drogen setzen und vergewaltigen?“

„Was soll das? Du weißt genau, dass es keine Vergewaltigungen sind. Du erträgst es nicht, dass dein Freund ein, um es mit deinen Worten zu sagen, kleiner dreckiger Stricher ist.“

„Du nimmst tatsächlich Geld dafür? Du prostituierst dich?“ Mit einer Mischung aus Entsetzen und Ekel sieht er mich an.

„Wo ist das Problem? Du warst doch sowieso die ganze Zeit der Meinung, ich würde meinen Körper verkaufen. Jetzt tue ich es und du reagierst schockiert. Warum?“

„Ich hätte nicht gedacht, dass du wirklich so widerlich bist.“

„Nicht? Dabei müsstest du es doch mittlerweile besser wissen. Und bevor du nachfragst, sie ficken mich ohne Kondom, ich könnte es eh nicht verhindern, wenn ich drauf bin. Aber keine Sorge, meine Freier sind sauber. Keine Krankheiten. Und falls doch…“ Unerwartet spüre ich Tais Faust in meinem Gesicht. Durch die Härte des Schlages verliere ich das Gleichgewicht und falle vom Sofa unsanft zu Boden. Sofort werden die Schmerzen in meinem Kopf stärker, aus meiner Lippe fühle ich warmes Blut laufen.

„Hör auf so kalt und abgeklärt mit mir zu reden! Fühlst du denn gar nichts mehr? Ist da keine einzige Empfindung mehr für mich?“

„Das sagt der Richtige. Wer säuft sich denn mittlerweile fast täglich bis in die Besinnungslosigkeit? Wer geht denn seit Monaten auf Abstand, verhält sich kalt, lieblos und wird beleidigend?“

„Wenn du dich wie eine billige Hure verhältst. Glaubst du, es macht mich geil, dich zu ficken, mit dem Wissen, dass schon zig andere ihr Sperma in dich abgespritzt haben?“

„Nein“, flüstere ich betroffen. „Aber ist das wirklich der einzige Grund, weshalb du so abweisend bist? Sind in dir überhaupt noch andere Gefühle außer Verachtung, Hass und Ekel für mich?“ Weinend sitze ich vor ihm und blicke ihn verzweifelt an. „Taichi, verdammt nochmal, ich bin einsam ohne dich!“ Ich senke den Kopf, kann meine Schluchzer aber nicht verbergen. Als mein Freund sich zu mir herunter beugt, ist das Erste, was ich wahrnehme, sein alkoholverseuchter Atem. Ich drehe meinen Kopf beiseite, doch Tai zieht ihn sofort wieder zu sich.

„Glaube nicht, dass ich Mitleid mit dir habe. Du bist es, der fremdvögelt. Also hast du kein Recht, irgendwelche Gefühle einzufordern. Und von deinen Tränen lasse ich mich nicht mehr manipulieren.“

„Denkst du wirklich so? Wenn ich dir dermaßen zuwider bin, sollte ich besser aus deinem Leben verschwinden. Es tut mir leid, dass ich dir mit meiner Liebe eine Last war.“ Wie fremdgesteuert stehe ich auf, werfe noch einen letzten Blick auf meinen Freund, der mich leblos aus glasigen Augen ansieht, und verlasse das Zimmer.
 

Ich öffne meine Augen und sofort laufen mir Tränen über das Gesicht. Es tut weh. Die Gedanken an Tai, seine Worte, sein Verhalten, sein Blick. Dennoch schaffte ich es, die Kontrolle soweit zu behalten, um mir nicht das Leben zu nehmen, auch wenn das Verlangen danach mich fast um den Verstand brachte. Ohne Tabletten, die mich ruhig stellten und außer Gefecht setzten, sowie die Gefühle für Tai, hätte ich den Kampf wahrscheinlich verloren. Aber noch darf ich mich nicht töten. Ich weiß, dass die Worte meines Freundes der Wahrheit entsprechen und durchaus berechtigt sind, sein gefühlloses Verhalten mir gegenüber schreibe ich jedoch dem Alkohol zu. Mühsam setze ich mich auf, anscheinend war ich nicht mehr in der Lage, mich ins Bett zu legen und bin auf dem Boden zusammengebrochen. Benommen wische ich mir die Tränen aus den Augen und werfe einen Blick auf die Uhr. Ich war nur ein paar Stunden ohne Bewusstsein. Die Dosierung war etwas schwierig, da ich auf keinen Fall eine Überdosierung im Sinne eines Suizids riskieren, aber der Realität dennoch entfliehen wollte. Erschwerend kam meine emotionale Verfassung hinzu, die oft eine unbedachte Reaktion nach sich zieht. Tai kommt mir wieder in den Sinn. Als ich das Wohnzimmer verließ, blieb er auf dem Sofa sitzen und ich hörte in der Wohnung kein Geräusch, bis ich schließlich das Bewusstsein verlor. Sorge kommt in mir auf. Als ich ihn allein ließ, war er ziemlich betrunken und meines Erachtens nicht mehr zurechnungsfähig. Ich beginne zu zittern, als mein Kopf mir Horrorszenarien vorspielt. Panisch stehe ich auf, meine Beine geben jedoch nach und ein Schwindelgefühl nimmt mir das Gleichgewicht, sodass ich unsanft auf dem Boden lande. Einen Moment bleibe ich reglos liegen und versuche meinen Körper zu beruhigen und unter Kontrolle zu bringen. Dann wage ich einen erneuten Versuch und schaffe es durch Abstützen an meinem Schrank, mich aufrecht zu halten. Auf wackeligen Beinen schleppe ich mich zur Tür, drehe den Schlüssel im Schloss und öffne sie. An der Wand gegenüber von meinem Zimmer lehnt Tai in einer halb sitzenden, halb liegenden Position. In der Hand hält er eine neue Flasche Whiskey, die er allerdings auch schon wieder zu einem Viertel geleert hat. Ich hocke mich zu ihm hinunter, stelle die Flasche beiseite und streiche ihm liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht. Voller Zuneigung betrachte ich meinen Freund. Als ich ihm einen Kuss auf die Lippen hauche, steigt mir ein beißender Alkoholgeruch in die Nase. Tränen füllen meine Augen. Ich drücke Tais Körper fest an mich und fange hemmungslos zu weinen an. Verzweifelt sage ich seinen Namen, doch es folgt keine Reaktion. Nur an seiner ruhigen Atmung erkenne ich, dass er noch am Leben ist.

„Verzeih mir, Taichi. Bitte! Verzeih mir! Aber ich liebe dich so sehr!“ Ich kralle meine Finger, Halt suchend, in den Stoff seines Oberteils. Mein Körper bebt von den Schluchzern, aber auch durch die übermächtige Angst, Taichi zu verlieren.
 

Nur mit Mühe und unter großer Anstrengung gelang es mir, Tai in mein Bett zu tragen. Eine Weile blieb ich noch neben ihm sitzen und betrachtete ihn, doch dann verlor ich wieder einmal den Kampf gegen mich selbst, zog mich an und verließ die Wohnung. Die Leuchtreklamen an den Häusern zu beiden Seiten der Straßen lassen die Nacht zum Tag werden. An den Eingängen zu den Lovehotels sind überall Schilder angebraucht, die deutlich machen, dass der Zutritt erst ab achtzehn Jahren gestattet ist. Hin und wieder bin ich, aufgrund der guten Beziehungen und Liquidität meiner Kunden, dennoch in eine dieser Absteigen gelassen worden. Ansonsten treiben wir es gleich in einer der engen Gassen, die bezeichnend für dieses Viertel in Shibuya sind, oder sie fahren mich mit ihrem Auto zu sich nach Hause, wenn sie alleinstehend sind und keine Familie haben. Ich biege um eine Ecke und sehe vor einem der Hotels einen Mann im Anzug, der mich schon öfter gevögelt hat. Zielgerichtet laufe ich auf ihn zu.

„Hallo“, spreche ich ihn leise und mit Zurückhaltung an.

„Oh, Yamato. Schön dich zu sehen. Ich hatte gehofft, dich heute hier anzutreffen, aber ich wusste nicht, ob du diese Nacht überhaupt in Shibuya sein würdest.“ Er lächelt. Dieser Mann gehört zu der Sorte Freiern, die zwar sehr nett sind, aber auf rücksichtslos harten Sex bis hin zur erbarmungslosen Erniedrigung ihrer Stricher stehen. Auch ich versuche zu lächeln, merke jedoch, dass es mir nicht gelingt.

„Was ist los, Yamato? Du siehst nicht gut und unglaublich traurig aus.“ Er berührt mit seiner Hand meine Wange. Sofort breche ich in Tränen aus und weine heftig, ohne meinen Gegenüber richtig wahrzunehmen. Dieser nimmt mich in den Arm und streichelt mir beruhigend durch die Haare.

„Ich weiß zwar nicht, was passiert ist, aber deine Verzweiflung zeigt mir, dass es etwas Schlimmes sein muss.“ Ich löse mich von ihm, halte den Kopf aber gesenkt.

„Es tut mir leid“, sage ich unterwürfig und versuche mich wieder unter Kontrolle zu bringen. Ich hasse mich für meinen Gefühlsausbruch vor diesem mir fast fremden Mann.

„Du musst dich für nichts entschuldigen. Und wenn du heute lieber nicht…“

„Doch!“, sage ich schnell und greife ihn am Ärmel.

„Also gut.“ Er sucht nach etwas in seiner Aktentasche und holt schließlich ein kleines Fläschchen hervor. Während er den Schraubverschluss aufdreht, kommt er einen Schritt auf mich zu. Mit seinen Fingern drückt er gegen meine Wangen, um meinen Mund zu öffnen und träufelt ein paar Tropfen der farblosen Flüssigkeit auf meine Zunge.

„BDO. Das kennst du ja bereits. Ich denke, in deiner momentanen Verfassung ist es besser, wenn du drauf bist, während ich dich ficke.“ Nach kurzer Zeit steigt ein merkwürdiges Gefühl in mir auf, ein Indiz dafür, dass die Wirkung der Droge langsam einsetzt.

„Wir gehen heute ins Stundenhotel, ich will dich sofort nehmen und noch einige Dinge mit dir machen.“ Meine Wahrnehmung verändert sich leicht, ich fühle intensiver und bin erregt. Von einer Hand auf meinem Hintern werde ich in eines der Gebäude geschoben. Hier war ich inzwischen schon ein paar Mal, die Betreiber nehmen es nicht so genau mit dem Alter. Meine Begleitung lotst mich die Treppe hinab, in den Keller, wo sich die Spezialräume befinden. Die darin befindlichen Gerätschaften nutzt mein Freier nur bedingt, aber die Umgebung macht ihn geil und lässt seine brutale Ader in Erscheinung treten. Mittlerweile völlig berauscht lasse ich mich willenlos in einen der Räume führen.

„Du darfst heute ruhig schreien, mein kleiner, süßer Yamato. Lass mich deine schöne Stimme hören.“ Mein Kopf ist wie benebelt, dennoch ist Tai in meinen Gedanken allgegenwärtig. Ich schließe meine Augen. Hinter mir fällt die Tür ins Schloss.
 

Mit starken Koordinationsschwierigkeiten stolpere ich im Dunkeln die Treppe zu unserer Wohnung hinauf. Wenn mein Freier mich nicht bis vor die Eingangstür gefahren hätte, hätte ich es wahrscheinlich nicht bis nach Hause geschafft. Mein Körper schmerzt und ich habe ihn kaum unter Kontrolle, hinzu kommen Übelkeit bis hin zum Erbrechen und stechende Kopfschmerzen. Die Nebenwirkungen des BDO sind dieses Mal besonders heftig, möglicherweise tut meine psychische Verfassung ihr Übriges. Fahrig krame ich in meiner Hosentasche nach dem Schlüssel und versuche unbeholfen damit die Tür zu öffnen. Nach Betreten der Wohnung breche ich sofort wieder zusammen. Würgend liege ich im Flur, mein Körper zuckt unter der Anstrengung. Speichel und Galle laufen aus meinem Mund und tropfen zu Boden. Ich beginne zu husten. Krämpfe in meiner Brust und ein brennender Schmerz in der Lendengegend treiben mir bittere Tränen in die Augen. Wieder einmal werde ich mir meiner eigenen Erbärmlichkeit bewusst. Unter großer Anstrengung gelingt es mir, aufzustehen und mich ins Bad zu schleppen. Dort übergebe ich mich erneut krampfartig in die Toilette. Schwer atmend lasse ich mich auf die Fliesen sinken. In meinem Kopf schreit mir der Selbsthass entgegen, beschimpft mich und treibt mich an den Rand des Wahnsinns. Verzweifelt presse ich meine Hände gegen die Ohren, als würde ich dadurch nichts mehr hören können.

„Taichi“, flüstere ich. „Ich werde dich verlieren, hab ich recht? Du bist so weit weg. Ich erkenne dich nicht mehr. Bitte gib uns nicht auf.“ Unter Tränen beginne ich laut zu lachen. Ich bin so lächerlich. Übelkeit steigt wieder in mir auf, sodass ich mich ein weiteres Mal übergeben muss. Erschöpft und unter Schmerzen erhebe ich mich anschließend, putze notdürftig meine Zähne und verlasse das Bad. Langsam und ziemlich geschwächt laufe ich den Flur entlang zu meinem Zimmer. Als ich hineinspähe, sieht es so aus, als ob Tai noch immer zu schlafen scheint. Der gesamte Raum riecht nach Alkohol. Umständlich entkleide ich mich und schlüpfe zu ihm unter die Decke. Ich presse meinen Körper dicht an den meines Freundes und lege meinen Kopf auf seine Brust. Sein Herz schlägt gleichmäßig und die Atmung ist ruhig. Ich lächle erleichtert. Tai lebt. Dann beginne ich heftig zu weinen, wobei ich mich verzweifelt an meinem Freund festkralle. Ich weiß, dass ich schuld an seinem dysfunktionalen Verhalten bin, weshalb es nur einen Weg gibt, ihm zu helfen. Ich muss ihn verlassen, ansonsten wird er an mir zugrunde gehen.
 

Im Zimmer wird es langsam hell. Die Sonne ist bereits als silberner Streifen am Horizont erkennbar. Durch das geöffnete Fenster weht ein frischer Morgenwind herein, den ich tief ein- und wieder ausatme. Nachdem ich zum vierten Mal aufgrund von Übelkeit und Erbrechen das Bett verlassen musste, um zur Toilette zu gelangen, habe ich mich auf das Sofa gesetzt und nachdenklich nach draußen gestarrt. Schlafen kann ich bei meiner momentanen körperlichen Verfassung vergessen, aber auch mein Kopf lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Sowohl von den Schmerzen als auch von den Gedanken her. Mein Entschluss, Tai zu verlassen, schnürt mir die Kehle zu und lässt mich kaum atmen. Ich blicke zu ihm. Seine Haare sind zerzaust, aber seine Gesichtszüge entspannt. Zwischenzeitlich wälzte er sich ziemlich stark hin und her, jetzt liegt er ruhig in meinem Bett und scheint sich in einer Tiefschlafphase zu befinden. Ich stehe auf und setze mich neben ihn. Sanft streichle ich über seinen Arm mit der Narbe. Ein leichtes Lächeln umspielt meine Lippen. Ich betrachte sein Gesicht. Es ist mir so vertraut und wunderschön. Mit meinen Fingern berühre ich vorsichtig seine bronzefarbene Haut, es ist fast so, als könnte ich sie zerbrechen, wenn ich zu grob bin. Sie ist kühl an den Wangen und der Nasenspitze, doch Tais Lippen sind warm und unglaublich weich. Schwindel überkommt mich plötzlich und erneut steigt Übelkeit in mir auf. Unkoordiniert laufe ich aus dem Zimmer ins Bad, um wiederholt meine Magensäfte in die Toilettenschüssel zu würgen. Langsam fühlt sich meine Speiseröhre an, als würde sie sich zersetzen. Brennender Schmerz sowie Druck ziehen sich entlang meines Brustkorbes hinauf zum Hals. Ich spüle meinen Mund mit kaltem Wasser aus, trinke dabei einen Schluck und wasche mir anschließend das Gesicht. Dann gehe ich zurück in mein Zimmer. Ich bleibe im Türrahmen stehen. Aus müden Augen sieht Tai mich an.

„Bist du schwanger?“, fragt er mit rauer, belegter Stimme. „Du kotzt schon die halbe Nacht.“

„Das hast du mitbekommen?“

„Ja, ebenso, dass du nicht da warst, als ich aufwachte. Hast du dich wieder von anderen ficken lassen?“ Seine Worte sind tonlos, ohne jede Emotion.

„Tai… ich…“

„Schon gut, Yamato. Ich will es nicht wissen. Tu was du willst, es interessiert mich nicht mehr.“ Mein Freund sieht mich nicht an.

„Was soll das heißen?“ Entsetzen und Panik schwingen in meiner Frage mit.

„Erachtest du es wirklich für sinnvoll, diese Beziehung noch aufrecht zu erhalten?“

„Ja“, antworte ich sofort, ohne nachzudenken.

„Warum?“

„Weil ich dich liebe! Tai, bitte, gib uns nicht auf!“ Angst steigt in mir auf und ich beginne zu zittern. Langsam gehe ich auf meinen Freund zu.

„Bleib weg.“

„Taichi… bitte…“ Ich breche weinend zusammen. „Ich will dich nicht verlieren. Ohne dich sterbe ich.“

„Dann hättest du doch endlich dein Ziel erreicht. Somit erweise ich dir zum Schluss sogar noch einen Gefallen. Sieh es als dein Abschiedsgeschenk, mein Liebling.“ Noch immer liegt er von mir abgewandt in meinem Bett.

„Und wie geht es für dich weiter, wenn ich weg bin?“ Ich hatte eine Antwort erwartet, doch Tai schweigt. „Sieh mich bitte an. Nur ein letztes Mal.“ Zögernd dreht er sich um. Seine Augen sind vom Weinen gerötet und Tränen laufen seine Wangen hinab. Ich krieche über den Boden zu meinem Freund, zum Laufen fehlt mir die Kraft. Mühsam ziehe ich mich auf das Bett.

„Darf ich dich berühren?“ Tai reagiert nicht. Ich lege meine Arme um ihn und drücke ihn fest an mich. Noch immer schaffe ich es nicht, mein Schluchzen und Zittern unter Kontrolle zu bringen.

„Halt mich, Yamato! Ich falle, wenn du mich nicht hältst!“

„Ich lasse dich nicht los.“ Jetzt erwidert mein Freund die Umarmung und klammert sich fest an mich. Selten habe ich ihn so schwach und zerbrechlich erlebt. Ich schließe die Augen und gebe mich dem Schmerz der Situation hin. Ich bin froh, dass offenbar auch Tai noch nicht ganz aufgegeben hat. Weder unsere Beziehung, noch mich. Aber sich selbst? Sanft schiebe ich ihn von mir und drücke ihm einen Kuss auf den Mund. Wider Erwarten lässt mein Freund es geschehen und geht schließlich sogar darauf ein. Er wird fordernder, richtet sich auf und beugt sich über mich. Zärtlich küsst er mir die Tränen vom Gesicht.

„Tai…“

„Shhh.“ Er legt den Zeigefinger auf meine Lippen und bedeutet mir zu schweigen. Dann zieht er mir die Hose, das einzige Kleidungsstück, das ich nach dem Aufstehen übergezogen hatte, aus und drängt meine Beine auseinander.

„Ich liebe dich, Yamato“, flüstert er mir ins Ohr, während er langsam in mich eindringt. Es ist sehr schmerzhaft, was dem Sex mit dem Freier letzte Nacht zu verdanken ist, aber ich versuche mir nichts anmerken zu lassen und diese Erinnerungen auszublenden. Obwohl Tai dieses Mal liebevoll mit mir umgeht, reagiert mein Körper sofort. Bebend vor Erregung passt er sich dem Rhythmus meines Freundes an.

„Ich liebe dich“, keuche ich, als Tai seine Stöße intensiviert. Schweiß bildet sich auf unserer Haut und das relativ gleichmäßige Stöhnen facht unser beider Verlangen noch weiter an. Der Alkoholgeruch ist fast verschwunden, sodass ich den Duft meines Freundes wieder wahrnehme, was mich zusätzlich erregt. Ich schließe die Augen und lasse mich vollkommen auf meine Empfindungen ein. Es ist lange her, dass ich Tai so intensiv spüren konnte. Tränen laufen mir das Gesicht hinab.

„Tai, wenn du kommst, bleib bitte in mir.“

„Sieh mich an“, entgegnet er als Antwort und stößt härter zu. Ich komme seiner Aufforderung nach. Seine Wangen sind vor Erregung gerötet und vereinzelte Haarsträhnen kleben feucht an seiner Stirn. Ich klammere mich an ihn, als unsere Bewegungen noch einmal schneller werden. Schließlich hält mein Freund inne, stößt noch zweimal kurz zu, zieht sich dann schwer atmend aus mir zurück und lässt sich erschöpft auf die Matratze sinken. Eine Weile liegen wir schweigend nebeneinander, nur unsere Finger sind ineinander verhakt. Anhand der Feuchte zwischen meinen Beinen weiß ich, dass Tai meiner Bitte nachgekommen ist. Ein Teil von ihm ist somit noch immer in mir. Ich rutsche näher an ihn heran und lege meinen Arm über seinen Oberkörper. So wie es jetzt ist, könnte es für immer bleiben, obwohl ich auch in diesem Augenblick spüre, dass mein Freund mit seinen Gedanken wieder abdriftet. Und vielleicht ebenso mit seinen Gefühlen.
 

Durch einen andauernden Druck auf meinen Brustkorb wache ich auf. Tai hat seinen Arm um mich gelegt und nimmt mir dadurch die Luft zum Atmen. Er schläft. Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen. Es ist schön, dass er wieder neben mir liegt, wenn ich aufwache. Vorsichtig schiebe ich seinen Arm etwas von mir, um mich drehen und meinen Freund besser betrachten zu können. Seine Gesichtszüge sind entspannt. Ich streiche ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Starke Zuneigung überkommt mich und ich küsse sanft seine Lippen. An Tais leicht alkoholischen Geruch und Geschmack habe ich mich inzwischen fast gewöhnt. Zwar kehrte unsere Beziehung in den letzten zweieinhalb Wochen scheinbar zur Normalität zurück, doch ich glaube, dass es nur ein verzweifelter Versuch, uns aneinander festzuklammern, ist. Nach wie vor trinkt Tai nahezu täglich, meist am Abend, vermutlich um schlafen zu können. Bisher habe ich ihn nicht ernsthaft mit seiner Abhängigkeit konfrontiert, ich weiß aber, dass er nicht der Meinung ist, ein Alkoholproblem zu haben. Wenig hilfreich ist auch die Tatsache, dass ich sein Verhalten sogar verstehen und nachvollziehen kann, den Wunsch, der Realität entfliehen, sich betäuben zu wollen. Immerhin versuche ich durch meinen hohen Tablettenkonsum und die immer häufiger werdende Einnahme von BDO dasselbe. Ich habe kein Recht, ihm Vorschriften oder gar Vorwürfe zu machen. Auch wenn es verdammt wehtut, meinem Freund dabei zusehen zu müssen, wie er sich zugrunde richtet, mit dem Wissen, dass die Schuld daran größtenteils bei mir liegt. Ich küsse Tai erneut, dann stehe ich auf, um am Fenster eine Zigarette zu rauchen.

„Du versaust dir deine Stimme mit den Dingern“, höre ich meinen Freund sagen, während ich den Rauch tief in mich einsauge. Tai richtet sich etwas auf und sieht mich durchdringend an. Ich frage mich, wie lange er bereits wach ist.

„Ich singe nicht mehr.“

„Auch nicht, wenn ich dich darum bitten würde?“ Interessiert schaue ich ihn an.

„Warum solltest du das tun?“

„Weil ich deine Stimme liebe, ebenso wie die Lieder, die du schreibst.“ Ich werfe den Rest meiner Zigarette aus dem Fenster und gehe an meinem Freund vorbei zu der Gitarre, nehme sie aus der Halterung und setze mich auf den Stuhl an meinem Schreibtisch. Probehalber schlage ich ein paar Töne an, dann beginne ich zu spielen, schließe meine Augen und versuche mich an den Text eines von mir in letzter Zeit komponierten Liedes zu erinnern.
 

Ich kenne dich schon lange

Doch ich sehe in deinem Blick

Irgendwas ist mit dir los nur ein Fremder sieht mich an

Was ist nur mit dir geschehen

Ich denke an die Zeit zurück

Bei uns war doch alles klar ich kann das nicht verstehen
 

Wenn dir noch was an mir liegt

Finden wir den Weg

Breite deine Arme aus und flieg
 

Flieg mit dem Wind lass es geschehen

Ich warte hier auf dich

Gedanken sind frei wie der Wind

Sie führen dich ans Ziel

Gegen den Strom mit dem Kopf durch die Wand

Schaffst du es sicher nicht

Flieg mit dem Wind
 

Es ist nur so ein Gefühl

Und ich frage mich wer du bist

Schlägt dein Herz noch für mich oder

War es nur ein Spiel

Und es fällt mir wirklich schwer

Dass du so schnell vergisst

Und wenn du neben mir stehst

Erkenne ich dich nicht mehr
 

Wenn dir noch was an mir liegt

Finden wir den Weg

Breite deine Arme aus und flieg
 

Flieg mit dem Wind lass es geschehen

Ich warte hier auf dich

Gedanken sind frei wie der Wind

Sie führen dich ans Ziel

Gegen den Strom mit dem Kopf durch die Wand

Schaffst du es sicher nicht

Flieg mit dem Wind
 

Ich lass dich jetzt auch nicht allein

Denn irgendwann kannst du dich befreien

Flieg mit dem Wind und du wirst bei mir sein
 

Als ich meine Augen wieder öffne, erblicke ich Tai, der reglos auf meinem Bett sitzt und in meine Richtung starrt. Der Ausdruck in seinem Gesicht gleicht einer Mischung aus Schmerz, Verzweiflung und Apathie. Gerade als ich aufstehe und zu ihm gehen möchte, erhebt er sich ebenfalls und verlässt ohne ein Wort zu sagen den Raum. Hilflos schaue ich ihm nach, bis die Tür ins Schloss fällt. Kraftlos stelle ich die Gitarre beiseite und rauche am Fenster eine weitere Zigarette. Kurz überlege ich, mich mit einer höheren Dosis BDO in einen komaähnlichen Zustand zu versetzen, bleibe allerdings paralysiert stehen und blicke gedankenverloren ins Nichts.
 

„Tai?“ Ich stehe im Türrahmen zur Küche und betrachte meinen Freund, der gerade mit einer Tasse Kaffee und leerem Blick am Tisch sitzt. „Tai“, wiederhole ich seinen Namen. Keine Reaktion. Unbeirrt gehe ich auf ihn zu und drehe seinen Kopf am Kinn in meine Richtung, sodass er gezwungen ist mich anzusehen.

„Liebst du mich?“, frage ich ihn.

„Was?“

„Antworte.“

„Lass mich los.“ Mein Freund sieht mich ernst, beinahe drohend, an, ergreift mit schmerzhaftem Druck mein Handgelenk und löst meine Hand von seinem Kinn.

„Willst du mir nicht antworten oder kannst du es nicht?“ Bestimmt versuche ich mich von Tai zu befreien, schaffe es jedoch nicht, von ihm loszukommen.

„Was würdest du denn gern hören?“

„Die Wahrheit.“ Mein Freund wendet seinen Blick von mir ab.

„Ich weiß es nicht.“ Mit der Antwort hatte ich gerechnet, doch genau diese Wahrheit will ich nicht hören. Sanft streiche ich mit meiner Hand über Tais Hals, ziehe die Konturen nach. Durchdringend sieht mein Freund mich an.

„Na los, drück zu. Oder willst du mich lieber vergewaltigen, wie immer, wenn dir etwas nicht passt.“ Ungläubig betrachte ich ihn.

„Was soll das? Bist du wieder einmal betrunken?“

„Ich habe nachgedacht, Yamato. Über unsere Beziehung. Einige Dinge verstehe ich nicht.“

„Was meinst du?“

„Du hast mich mit elf das erste Mal vergewaltigt, weitere Übergriffe folgten…“

„Warum behauptest du das immer wieder?“, unterbreche ich ihn verzweifelt.

„Lass mich ausreden. Weshalb hast du das getan, wenn du doch keine Liebe für mich empfunden hast? Du sagtest damals, du wolltest mehr als nur Freundschaft, meintest damit aber lediglich Sex. Ich frage mich, ob das nicht bis heute so geblieben ist. Empfindest du wirklich Liebe für mich? Oder ist es nach wie vor nur deine Besessenheit?“

„Ich liebe dich“, antworte ich mit belegter Stimme, aber ohne nachzudenken.

„Und trotzdem nimmst du mich noch immer mit Gewalt und gegen meinen Willen.“

„Es reicht, Taichi! Nie war es wirklich gegen deinen Willen, sonst könnte ich ebenso behaupten, du hättest mich mehrfach vergewaltigt. Einmal bist du sogar so weit gegangen, dass ich anschließend ins Krankenhaus musste. Hast du das vergessen?“ Ungehalten schreie ich meinen Freund an.

„Nein, Yamato. Aber im Gegensatz zu mir stehst du darauf, so behandelt zu werden.“ Tais Stimme ist ruhig. Ich schweige betreten. „Manchmal habe ich das Gefühl, dir ist gar nicht richtig bewusst, was du tust, und dann wieder denke ich, du weißt es ganz genau. So auch bei dem, was damals passiert ist. Bist du tatsächlich der Meinung, nichts Falsches getan zu haben? Mir drängt sich ein ganz anderer Gedanke auf. Ist es nicht vielmehr so, dass du dich von fremden Männern vergewaltigen lässt, und etwas anderes ist es in meinen Augen nicht, da du den Sex mit ihnen widerlich findest, weil du glaubst dir dasselbe antun zu müssen, was du mir angetan hast?“ Ich blicke meinen Freund emotionslos an.

„Hast du jemals etwas anderes als Hass für mich empfunden?“ Tai sieht mich ernst an.

„Ich habe dich lediglich als Kind gehasst, allerdings nur in den Momenten, während du mich genommen hast. Und wie ich dir schon einmal sagte, hat deine Unnachgiebigkeit mich an dich gebunden. Aber auch die Frage, warum du so etwas tust, hat mein Interesse geweckt.“

„Ich wollte dir wehtun, weil ich nicht wusste, wie ich sonst mit meinen Gefühlen für dich umgehen sollte. Und schließlich hattest du mich abgewiesen, als ich dir sagte, dass ich mehr als Freundschaft wollte. Was blieb mir also anderes übrig? Du meintest außerdem, dass du mich niemals lieben könntest. Trifft das heute auch noch zu?“ Tai geht nicht auf meine Frage ein, schaut mir aber direkt in die Augen.

„Bereust du es? Bereust du, damals so gehandelt zu haben?“

„Nein, ich bin sogar froh darüber. Anders hätte ich dich wahrscheinlich nie bekommen. Nur… offenbar habe ich das auch so nicht.“ Mein Blick verfinstert sich. „Aber das ist mir egal. Ich werde dich nicht gehen lassen. Und wenn es sein muss, vergewaltige ich dich so oft und so lange, bis ich dich endgültig an mich gebunden habe.“ Brutal ergreife ich das Handgelenk meines Freundes, damit er nicht weglaufen kann.

„Du bist wahnsinnig, Yamato. Du lebst in deiner eigenen Welt, fernab jeglicher Realität. Doch hier in der Wirklichkeit gelten deine Spielregeln nicht. Begreife das endlich!“

„Nein! Du sollst begreifen, dass du mir gehörst!“ Ich zwinge Tai einen Kuss auf, doch er geht nicht darauf ein und stößt mich stattdessen grob von sich. Als ich erneut auf ihn zukomme, steht mein Freund auf und geht in Abwehrhaltung. Dank meiner Kampfsporterfahrung gelingt es mir mit wenigen Handgriffen, Tai von hinten festzuhalten und mit meinem Arm seine Kehle abzudrücken.

„Ich liebe dich, Taichi Yagami!“, raune ich in sein Ohr.

„Dann lass mich los“, presst dieser hervor.

„Das kann ich nicht. Du wirst mich verlassen.“

„Yamato…“ Der Tonfall meines Freundes ist resigniert, beinahe traurig. Plötzlich schwindet meine Kraft, ich lasse von meinem Freund ab und breche zitternd zusammen. Ich spüre, wie ich auf dem Boden aufschlage, dann wird mir schwarz vor Augen und ich verliere das Bewusstsein.
 

Ich öffne die Augen. Für einen Moment fehlt mir vollkommen die Orientierung. Langsam erkenne ich die weiß gestrichene Decke meines Zimmers und begreife, dass ich in meinem Bett liege. Ich versuche mich daran zu erinnern, was passiert ist, doch der Schmerz in meinem Kopf beeinträchtigt meine Konzentration. Langsam setze ich mich auf. Am Boden neben meinem Bett sitzt Tai, mit dem Kopf auf der Matratze liegend. Er scheint zu schlafen. Ich beuge mich zu ihm. Erst jetzt bemerke ich, dass seine Hand in meiner liegt. Behutsam hauche ich einen Kuss auf die Wange meines Freundes. Die Erinnerung an das Geschehen vor meinem Zusammenbruch kehrt zurück und Tränen füllen meine Augen. Ich bin erleichtert, dass Tai die Gelegenheit nicht genutzt hat, um zu gehen. Aber die Angst spüre ich immer noch in mir. Ich war kurz davor, endgültig meinen Verstand zu verlieren, und wenn ich nicht das Bewusstsein verloren hätte, wäre ich gewaltsam gegen meinen Freund vorgegangen. Ich wollte ihn einsperren, sodass er mich nie verlassen kann, und vermutlich hätte ich ihn ein weiteres Mal gegen seinen Willen genommen. Auch jetzt verspüre ich noch den Drang, ihn anzuketten. Sein Verhalten zeigte mir deutlich, dass er nichts mehr für mich empfindet, offenbar nie empfunden hat. Mein Herz klopft schneller bei diesem Gedanken und ein stechender Schmerz setzt ein. Ich versuche tief durchzuatmen, mich unter Kontrolle zu halten. Warum hat er sich überhaupt auf mich eingelassen und mir nach zwei Jahren, in denen ich ihn angeblich mehrfach vergewaltigt haben soll, gesagt, dass er mich liebt? Dass er mich zuvor bereits einmal genommen hatte und dabei nicht gerade liebevoll vorging, tat ich als Rache ab. Ich dachte, er will mich spüren lassen, wie es sich anfühlt, zum Sex gezwungen zu werden, nur dass ich nach einiger Gegenwehr letztlich Gefallen am passiven Part gefunden habe und mich erregt seiner Gewalt hingab. Damals waren wir dreizehn. Seither sind fast fünf Jahre vergangen, in denen ich dachte, zwischen uns hätten sich allmählich eine Beziehung und vor allem Gefühle entwickelt, die ich mir lange Zeit zwar selbst nicht eingestehen wollte, aber mittlerweile nicht mehr leugnen kann. Ich hatte den Eindruck, Tai ginge es ähnlich, doch offenbar war es für ihn nie mehr als ein Zeitvertreib. Wenn ich ihn also nicht verlieren möchte, muss ich meine Gefühle töten und mich wieder auf unser perverses, weniger schmerzhaftes Spiel einlassen. Ich schaue meinen Freund an und erneut überkommt mich starke Zuneigung. Verzweifelt schließe ich meine Augen. Wenn Tai wirklich recht hat und ich innerlich tot bin, warum tut es dann so verdammt weh? Ich muss mich betäuben, anders werde ich es nicht schaffen. In Gedanken gehe ich die Möglichkeiten durch. Ich verspüre den Wunsch, mir im Bad den Arm aufzuschneiden, könnte mich allerdings auch von einem Freier bis an meine Grenzen ficken lassen oder mich gleich mit BDO in die Bewusstlosigkeit befördern. Tränen laufen mir über die Wangen. Noch immer liegt Tais Hand in meiner, welche ich nun fest umschließe.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

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Es beginnt zu regnen, als ich die Straße zu dem Park in der Nähe unserer Wohnung überquere. Unaufhörlich prasseln die Tropfen auf mich herab und durchnässen meine Kleidung. Dennoch beschleunige ich meine Schritte nicht. Ziellos laufe ich durch die Grünanlagen. Nach einer Weile setze ich mich abwesend auf eine der Bänke und zünde mir eine Zigarette an, die allerdings binnen kürzester Zeit komplett durchweicht ist. Doch das interessiert mich nicht. Ebenso wie der Umstand, dass mein Körper durch die nasse Kleidung und die mäßigen Temperaturen auskühlt und heftig zittert. Nach dem, was gerade in der Schule passiert ist, kann ich Taichi nicht mehr in die Augen sehen. Wieso habe ich meinem Klassenkameraden gesagt, was ich für ihn fühle? Noch schlimmer ist, dass ich danach mit ihm geschlafen habe. Er nahm mich auf die gleiche Weise, wie ich Tai die ersten Male genommen habe, und obwohl ich mich zu Beginn gewehrt habe, empfand ich unerträgliche Erregung dabei. Wieder einmal zeigt sich das Ausmaß meiner Abartigkeit, denn es bereitete mir auf perverse Art Lust, so gefickt zu werden, wie ich meinen Freund anfangs vergewaltigt habe, und dabei an ihn und meine Übergriffe zu denken. Ich werfe die abgebrannte Zigarette in eine Pfütze und lausche dem zischenden Geräusch, welches entsteht, wenn die Glut mit dem Wasser in Berührung kommt und erlischt. Mein Blick fällt auf meine Schultasche, die neben mir auf der Bank liegt. Vermutlich ist der Regen bereits durch das Material gesickert und weicht gerade das Papier meiner Unterrichtsmaterialien auf. Ich schätze, es war nicht klug von mir, die Auflage des Direktors zu missachten und einfach zu gehen, ohne bei ihm gewesen zu sein. Aber ich konnte die Nähe meines Mitschülers nicht mehr ertragen. Das Verlangen nach ihm war zu groß, nach seinen Berührungen, die ganz anders sind als die von Tai und doch auch gleich. Ich hasse ihn für das, was er getan hat, dafür, dass er nicht aufgehört hat, und doch wollte ich, dass er weitermacht. Immer wenn ich mit meinem Klassenkameraden schlafe, denke ich an Taichi. Diese Tatsache ist mir bisher nie aufgefallen. Glaube ich deshalb Gefühle für meinen Mitschüler zu haben, weil ich meinen Freund in ihm wiedererkenne? Ähnlichkeiten sind auf jeden Fall erkennbar. Durch Tais Alkoholabhängigkeit hat sich unsere Beziehung verändert. Von Zeit zu Zeit ist er kaum ansprechbar, wenn er getrunken hat. Unser Umgang beschränkt sich mitunter nur auf das Nötigste und es kam auch schon vor, dass er aufgrund des Alkohols keinen hoch bekommen hat, wenn wir miteinander schlafen wollten. Meist bin ich dann aktiv geworden, doch manchmal haben wir es auch einfach dabei belassen. Aber habe ich wirklich in meinem Klassenkameraden Ersatz gesucht? Habe ich mich nicht bereits davor zu ihm hingezogen gefühlt? Verwirrt lache ich laut auf, welches sich allerdings schlagartig in krampfhaftes Weinen wandelt. Aufgelöst vergrabe ich meine Finger in meinen nass am Kopf klebenden Haaren. Schmerzlich wird mir bewusst, wie einsam ich mich ohne Taichi fühle und wie sehr ich ihn seit langem schon vermisse. Schluchzend krümme ich mich zusammen und verkrampfe meine Hand an der Stelle im Stoff meines Hemdes, wo mein Herz meinen Brustkorb zu zerbersten droht. Ich vermute, dass die Schmerzen wieder einmal psychosomatisch sind, ebenso wie in den meisten Fällen die Übelkeit und die Kopfschmerzen, schaffe es aber dennoch nicht, mich zu beruhigen. Meine Atmung ist unregelmäßig und stoßweise. Ich versuche mich unter Kontrolle zu bringen, um nicht zu hyperventilieren, was mir nach einer Weile unter Anstrengung gelingt. Erschöpft hebe ich meinen Kopf und sehe in den grauen Himmel. Der Regen wäscht die Tränen aus meinem Gesicht oder zumindest verbirgt er sie. Wie fremdgesteuert und mit leerem Blick erhebe ich mich, nehme meine Schultasche und mache mich auf den Weg zur U-Bahn-Station, um nach Shibuya zu fahren. Ich will nicht mehr denken oder fühlen müssen, auch wenn das bedeutet, Taichi wieder wehtun zu müssen, weil ich mich einmal mehr von einem fremden Mann vögeln lasse. Fest umklammere ich das Fläschchen mit dem BDO in meiner Jackentasche, als wäre es noch mein einziger Halt.
 

„Als ich neulich mit meinem Vater telefonierte, teilte er mir mit, dass er im Sommer Urlaub haben wird und plant ihn hier zu verbringen.“ Meine Worte scheinen Tai zu beunruhigen, denn er löst sich von mir und richtet sich etwas auf, um mir sorgenvoll in die Augen zu sehen.

„Weißt du schon wann?“

„Nein, einen genauen Termin konnte er mir noch nicht nennen. Hast du Angst, dass er deine Abhängigkeit vom Alkohol bemerkt?“ Ich versuche meine Frage ohne Vorwürfe in meiner Stimme zu stellen. Für einen Moment schweigt mein Freund, sodass nur die Geräusche des Fernsehers den Raum erfüllen. Es ist lange her, dass wir gemeinsam im Wohnzimmer auf dem Sofa lagen und einfach nur die Nähe des anderen genossen. Ich schließe meine Augen.

„Wenn ich Alkoholiker sein soll, bist du ein Junkie. Oder willst du deine Drogenabhängigkeit bestreiten?“

„Taichi, um mich geht es gerade doch gar nicht.“ Traurig sehe ich ihn an, hebe meine Hand und berühre seine Wange. Er schiebt sie sanft beiseite, legt sich wieder hin und nimmt mich dabei erneut in den Arm. Schutz suchend schmiege ich mich an ihn.

„Yamato, wir müssen unsere Probleme in den Griff bekommen. Dein Vater ist nicht dumm, ihm wird unser destruktives Verhalten auffallen, zumal sich Abhängigkeiten nicht so leicht verbergen lassen.“

„Du gibst also zu, dass du den Alkohol mittlerweile brauchst?“

„Und was ist mit dir?“, startet er, ohne zu antworten, eine Gegenfrage. „Wie sieht es mit deinem Drogenkonsum aus?“ Ich muss zugeben, dass mir die Frage nicht angenehm, aber durchaus berechtigt ist. Inzwischen kann ich mich nur selten einem Freier hingeben ohne drauf zu sein. Zudem habe ich immer häufiger das Bedürfnis, mithilfe des BDO der Realität zu entfliehen und mich in die Bewusstlosigkeit zu befördern. Ich seufze.

„Du hast recht. Mein Konsumverhalten entgleitet mir langsam“, gebe ich ungern und mit gedämpfter Stimme zu.

„Wenn ich an die Menge der leeren Medikamentenschachteln im Müll denke, würde ich sagen, du hast die Kontrolle schon längst verloren. Wirken die Schmerzmittel überhaupt noch?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Warum nimmst du sie dann noch?“, fragt Tai besorgt.

„Ich weiß es nicht“, gebe ich ehrlich zu. „Um mir zu schaden, schätze ich.“

„Und das andere Zeug brauchst du, um den Sex mit deinen Freiern zu ertragen, oder?“

„Ja“, sage ich tonlos.

„Das ist paradox, Yamato.“

„Ich weiß, dass es auf dich so wirken muss, aber für mich ergibt diese Widersprüchlichkeit durchaus Sinn.“

„Erkläre es mir.“ Ich streiche sanft über den Arm meines Freundes, mit dem er meinen Körper fest umschlungen hält.

„Das kann ich nicht.“

„Versuche es.“ Erstaunt bemerke ich, dass Tais Aussage eher eine Bitte als eine Aufforderung ist.

„Es ist wie mit dem Schneiden. Eine Sucht, ein Zwang, eine Impulskontrollstörung… nenn es, wie du willst. Eine Weile gelingt es mir, die Kontrolle zu behalten und dem Drang nicht nachzugeben. Aber ich schaffe es nicht, ohne diese selbstverletzenden Verhaltensweisen auszukommen. Irgendwann ist der Druck zu groß, sodass ich mir Schlimmeres antun könnte, wenn ich dem Verlangen nicht nachgebe. Doch die sexuellen Handlungen mit den Freiern sind abstoßend und pervers. Ohne Drogenrausch ertrage ich es kaum, von fremden Männern brutal gefickt zu werden. Ich empfinde keine Lust dabei, nur Ekel und Selbsthass. Vieles würde ich nicht machen oder mit mir machen lassen, wenn ich nicht unter dem Einfluss einer bewusstseinsverändernden Substanz stehen würde. Mit abflauender Wirkung fühle ich nichts als Verachtung und Abscheu für mich, was bedeutet, dass ich mein Ziel erreicht habe. Doch leider ist es ein Teufelskreis, aus dem ich auszubrechen nicht in der Lage bin, denn mit zunehmender Aversion steigert sich der Wunsch, mein dysfunktionales Verhalten auszuleben. Nur… allmählich entzieht sich alles meiner Kontrolle und ich habe das Gefühl, auch du hast längst nicht mehr alles im Griff.“

„Yamato, sei bitte ehrlich. Liebst du deinen Mitschüler?“ Mein Freund klingt resigniert. Ich halte in meinen Streicheleinheiten inne, lasse meine Hand aber auf seinem Arm ruhen.

„Nein“, sage ich so ruhig wie möglich, doch mein Körper zittert leicht. Es fällt mir schwer, zu schlucken, meine Kehle ist wie zugeschnürt. „Aber ich habe Gefühle für ihn.“

„Also hast du dich in ihn verliebt…“, vergewissert er sich ernüchtert.

„Ja.“ Dieses kleine, unscheinbare Wort kommt so zaghaft über meine Lippen, weil ich weiß, dass es die Macht hat, sowohl Taichi als auch mich zu zerstören. Mein Freund schweigt, drückt mich aber stärker an sich. Regungslos und eng umschlungen liegen wir auf dem Sofa im Wohnzimmer, während im Hintergrund noch immer der Fernseher läuft. Ich spüre Tais gleichmäßigen Herzschlag und schließe meine Augen, um nur noch ihn wahrzunehmen.

„Wie soll es jetzt weitergehen?“, höre ich meinen Freund emotionslos fragen.

„Bist du eher heterosexuell orientiert?“

„Was?“ Nun entnehme ich seinem Tonfall Irritation.

„Du betrügst mich mit Frauen und nicht mit Männern.“

„Es ist nur eine Frau.“

„Mit der du mich schon mehrfach betrogen hast.“

„Yamato…“ Ich lasse Tais Arm los und taste nach seiner Hand. Halt suchend verhake ich unsere Finger.

„Verlässt du mich?“ Ich versuche die Frage beiläufig klingen zu lassen.

„Wie kommst du darauf?“

„Du stehst eigentlich auf Frauen. Ist die Annahme da nicht naheliegend? Immerhin vögelst du scheinbar beinahe regelmäßig ein weibliches Wesen.“

„Yama…“

„Shhh.“ Ich lockere die Umarmung etwas und drehe mich, sodass ich auf meinem Freund liege und in seine Augen blicke. Liebevoll lege ich meinen Zeigefinger auf seine Lippen. „Sag nichts mehr. Ich weiß, dass du mich verlassen wirst. Unsere Beziehung ist wider deine Natur und nur zustande gekommen, weil ich dich gezwungen habe. Es wird Zeit, dass du dich von mir befreist und endlich glücklich wirst.“ Lächelnd schaue ich ihn an, während Tränen meine Wangen hinab laufen. Die Worte kamen stockend über meine Lippen, dabei wollte ich selbstsicher und gefestigt auf Taichi wirken. Zärtlich wischt er mir eine Träne aus dem Gesicht.

„Du Dummkopf, ständig verrennst du dich in irgendwelchen Fantasien, von denen du nicht mehr abzubringen bist. Ich stelle immer wieder fasziniert fest, dass du wirklich in deiner eigenen Welt lebst, die dich gefangen hält und fernab jeglicher Realität ist.“ Mit seiner Hand streicht er mir eine Strähne hinter mein Ohr, dann zieht er mich ein Stück zu sich herunter, um mich zu küssen. Der Kuss ist unsicher und verhalten und dennoch fühle ich meinen Freund unglaublich intensiv.

„Ich will und werde dich niemals verlassen. Ich liebe dich, Yamato.“ Er küsst mich erneut. „Diese Beschwörungen werde ich dir so oft sagen, bis sie in deinem hübschen Köpfchen tief verankert sind.“

„Aber…“

„Du hast recht. Ich bin eher heterosexuell veranlagt. Doch das hat mit uns nichts zutun. Das Mädchen, mit dem ich schlafe, ist eine Kommilitonin von mir. Sie ist nett, allerdings liebe ich sie nicht und bin auch nicht in sie verliebt. So gesehen bin ich ihr gegenüber ein ziemliches Arschloch, weil ich sie benutze, um mich von dir abzulenken, denke aber trotzdem an dich, während ich mit ihr Sex habe.“ Erschöpft senke ich meinen Kopf und berühre mit meiner Stirn den Brustkorb meines Freundes.

„Das alles will ich nicht wissen. Aber ich bin selbst schuld? Habe ich dich zum Fremdgehen getrieben? Und zum Trinken? Zum Schneiden?“

„In gewisser Weise, ja.“ Ich bin froh über die Ehrlichkeit und auch wenn es sich mit meiner Meinung deckt, ist es bitter. Sehr bitter.

„Ich will nur dich, Taichi! Das musst du mir glauben!“ Verzweifelt schaue ich ihn an. „Ich liebe dich!“ Tai lächelt, seine Augen allerdings sind leblos. „Werden wir es schaffen, zu uns zurückzufinden?“, frage ich in den Raum, obwohl ich weiß, dass weder mein Freund noch ich eine Antwort darauf haben. Schützend legt er seine Arme um meinen Körper. Ich dränge mich dicht an ihn. „Bitte lass mich nie wieder los!“
 

Nervös kratze ich über die Haut meines linken Unterarms. Durch den dünnen Stoff des Hemdes spüre ich deutlich die Unebenheiten, die aufgrund meiner Narben entstehen. Sehnsuchtsvoll streiche ich darüber, ertaste jede einzelne Spur der Grenzlinie zwischen Realität und Wahn. Meine Hände zittern. Ich lasse den Kopf auf die Tischplatte sinken und presse meine Stirn gegen das Holz, um einen Gegendruck zu dem Schmerz zu erzeugen. Letztlich weiß ich, dass es nichts bringt, aber anders kann ich momentan nicht agieren. Von Tag zu Tag fällt es mir schwerer, auf Schmerzmittel zu verzichten. Generell ist das Verlangen nach Selbstschädigung mittlerweile kaum noch auszuhalten. Zweieinhalb Wochen habe ich es geschafft, mich weder von Freiern ficken zu lassen, Drogen oder Tabletten zu konsumieren noch mich zu schneiden. Stolz darauf kann ich jedoch nicht sein. Meine Gedanken kreisen permanent um eine dieser für mich lebenserhaltenden Maßnahmen. Das Einzige, das ich nicht versuche mit aller Macht zu unterdrücken, ist das Rauchen. Damit kompensiere ich derzeit alles andere, wodurch mein Verbrauch deutlich gestiegen ist. Allerdings reicht es bei Weitem nicht, um meine Unruhe und mein Verlangen längere Zeit unter Kontrolle zu halten. Jeden Augenblick könnte ich den Halt verlieren und abstürzen, ich stehe gerade auf sehr wackeligen Beinen. Seufzend hebe ich meinen Kopf und schaue nach vorn, da der Lehrer nun zu seinen mündlichen Ausführungen ein paar Notizen mit Kreide an die Tafel schreibt. Mein Blick schweift ab und bleibt an meinem Klassenkameraden haften. Ich vermisse ihn. Seit ich Taichi meine Gefühle für ihn gestanden habe, gehe ich meinem Mitschüler aus dem Weg. Doch meine Sehnsucht lässt mich wanken, dabei will ich eigentlich nur noch mit Taichi schlafen. Der Gedanke, von meinem Klassenkameraden berührt zu werden, löst in mir ein aufregendes Kribbeln aus. Das Ertönen der Schulglocke holt mich aus meinen Gedanken. Pause. Ich lege mich mit dem Kopf wieder auf die Bank, vergrabe mein Gesicht in meinen verschränkten Armen. Indem ich vortäusche zu schlafen, vermeide ich angesprochen zu werden. Nur scheint meine Rechnung diesmal nicht aufzugehen. Ich fühle, wie jemand mit seinen Fingern sanft durch meine Haare streicht.

„Warum gehst du mir seit über zwei Wochen aus dem Weg?“, fragt mein Mitschüler leise, während er sich vor meinen Tisch hockt und die Arme auf der Platte verschränkt. Ich reagiere nicht. „Yamato, ich weiß, dass du wach bist.“ Ich hebe meinen Kopf erneut und blinzle ihn an.

„Es ist nichts“, antworte ich. Mir fällt es schwer, ihn abzuweisen, mich von ihm zu lösen. Anscheinend sind die Gefühle für meinen Klassenkameraden intensiver als angenommen. Das verwirrt mich. Eingehend betrachte ich das Gesicht meines Gegenübers. Obwohl er nur ein Jahr jünger ist als ich, sind seine Züge noch immer leicht kindlich, wodurch er androgyner aussieht. Trotzdem wirkt er nicht zerbrechlich.

„Warum schaust du mich so an?“, fragt mein Mitschüler irritiert. Ich schüttele den Kopf und verstärke dadurch den stechenden Schmerz. Mit den Fingern drücke ich gegen meine Schläfe.

„Es ist wirklich nichts.“ Ich lächle ihn verhalten an. „Aber ich bin dir dankbar, dass du mich neulich beim Direktor entschuldigt hast. Dadurch hast du mich vor einer härteren Strafe bewahrt.“

„Meinetwegen bist du ja nur gegangen“, meint er beiläufig. „Hast du Kopfschmerzen? Ich habe Schmerzmittel in meiner Tasche.“ Gerade als er aufstehen will, um die Tabletten zu holen, halte ich ihn am Handgelenk fest.

„Lass, es ist okay.“ Meine Stimme klingt wenig überzeugend. Skeptisch werde ich von meinem Klassenkameraden gemustert. Der Ausdruck in seinem Gesicht wandelt sich. Seine Augen sind kalt.

„Nach dem Unterricht gehen wir zu mir. Das ist keine Bitte, Yamato.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, geht er auf seinen Platz zurück. Ratlos schaue ich ihm nach. Mir ist bewusst, dass es fatale Folgen haben kann, wenn ich meinem Verlangen erneut nachgebe. Taichi scheint seit einigen Tagen keinen Alkohol mehr zu trinken. Ich möchte ihm den Entzug nicht zusätzlich erschweren und riskieren, dass er meinetwegen rückfällig wird. Unser Verhältnis ist derzeit ohnehin angespannt. Wahrscheinlich sind wir beide gereizt, weil jeder von uns mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hat. Und zwar allein. Es klingelt. Ich habe nicht mitbekommen, dass der Lehrer den Raum inzwischen betreten hat. Angestrengt sehe ich nach vorn. Es ist dumm, unsere Probleme zur selben Zeit in den Griff bekommen zu wollen. Ich fürchte, wir muten uns zu viel zu, sind mit uns selbst überfordert und somit nicht in der Lage uns gegenseitig zu unterstützen. Angst keimt in mir auf. Sucht Taichi nach Halt bei diesem Mädchen? Ich bezweifle, dass er den kompletten Entzug ohne Hilfe schaffen kann. Doch in letzter Zeit entzieht er sich mir immer häufiger und ich komme nicht an ihn heran. Die Nächte verbringt er wieder in seinem Zimmer mit der Begründung, er würde unruhig schlafen, mich aber nicht damit belasten wollen. Allerdings mache ich seitdem kaum noch ein Auge zu, liege lange wach und bin vollkommen übermüdet. Sicher haben die Schlafprobleme nicht nur Tai zur Ursache, aber ich mache mir Sorgen um ihn. Fahrig streiche ich mit den Fingern über meine Augen, dann durch die Haare. Vergeblich versuche ich mich auf den Unterricht zu konzentrieren, um nicht so viel nachdenken zu müssen. Mit der momentanen Situation komme ich einfach nicht klar. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, Taichi gegenüber, meinem Mitschüler gegenüber, mir selbst gegenüber. Müde stütze ich meinen Kopf in der Hand ab. Mein Körper wehrt sich allmählich gegen meinen Umgang mit ihm. Sämtliche Gliedmaßen fühlen sich schwer an, Schwäche zeichnet mich und ich kann mich kaum aufrecht halten. Beinahe ersehne ich einen Zusammenbruch, da es derzeit die einzige Möglichkeit zu sein scheint, der Realität zu entfliehen. Am besten wäre es, dann nicht mehr aufzuwachen. Ich habe das Leben satt. Es erschöpft mich. Egal, was ich mache, ich komme weder mit mir noch mit anderen Menschen oder dem Leben allgemein zurecht. Immer wenn ich denke, dass es besser wird und ich doch lebensfähig bin, werde ich eines Besseren belehrt. Schon wieder kreisen meine Gedanken. Und immer um dieselben Themen. Dabei weiß ich, dass es nichts bringt. Aber es passiert automatisch, wie alles in letzter Zeit. Ich habe das Gefühl, gelebt zu werden. Die Kopfschmerzen bringen mich fast um den Verstand. Ich schließe die Augen.

„Yamato, geht es dir nicht gut?“ Mit seiner Frage holt der Lehrer sich meine Aufmerksamkeit zurück. Mit halb geöffneten Augen blicke ich ihn an. „Du bist ganz blass.“

„Alles okay. Darf ich nur kurz zur Toilette gehen?“

„Ja, natürlich. Aber bist du sicher, dass du allein gehen kannst? Du siehst so aus, als würde dein Kreislauf gleich versagen. Ist dir schwindelig? Soll dich jemand begleiten?“ Er klingt aufrichtig besorgt.

„Danke, aber ich gehe allein“, entgegne ich leise und stehe auf. Das Hämmern in meinem Kopf verstärkt sich durch die Bewegung. Als ich am Tisch meines Klassenkameraden vorbeigehe, sehe ich im Augenwinkel, dass er mir einen fragenden Blick zuwirft. Ich ignoriere ihn und verlasse den Raum. Langsam schleppe ich mich über den Gang, betrete die Toiletten und schließe mich in einer Kabine ein. Kraftlos lehne ich mich mit dem Rücken gegen die Wand und rutsche an ihr herab. Die Fliesen sind kühl, sodass ich mich hinlege und abwechselnd meine Schläfen sowie meine Stirn dagegen presse. Ob Taichi gerade mit seiner Kommilitonin schläft? Trinkt er wirklich keinen Alkohol mehr? Immer wenn wir gegenwärtig zusammen sind, scheint er nüchtern zu sein, doch in letzter Zeit haben wir kaum Kontakt. Vielleicht ist das der Grund, weshalb er mir aus dem Weg geht. Er möchte nicht, dass ich mitbekomme, wann und wie viel er trinkt. Ich hasse mich für diese Gedanken. Eigentlich sollte ich meinem Freund vertrauen. Aber es fällt mir schwer. Zudem frage ich mich, ob ich ihm jemals wirklich vertraut habe. Zweifelte ich nicht schon immer aufgrund der Vergangenheit an seinen Gefühlen? Zumindest an seiner Liebe. Tief Luft holend drehe ich mich auf den Rücken und starre zur Decke. Ich halte es nicht mehr aus. Meine Gedanken treiben mich in den Wahnsinn. Ich will sterben. Endlich Ruhe vor mir selbst haben. Nur habe ich momentan weder eine Rasierklinge noch Tabletten oder Drogen bei mir. Ich verfluche mich, alle selbstschädigenden Verhaltensweisen mit einem Mal zu bekämpfen. Wenigstens eine dieser Möglichkeiten hätte ich mir offenhalten sollen. Für den Notfall. Ich überlege. Das Schuldach wäre eine Option, allerdings bin ich nicht einmal mehr in der Lage, mich zu erheben. Will ich überhaupt sterben? Jetzt? Hier? Auf diese Weise? Ohne über die Antwort nachzudenken, schließe ich meine Augen und gleite sanft in die ersehnte Bewusstlosigkeit.
 

Ein dumpfes, aber penetrantes Klopfen holt mich zurück in die Realität. Ich öffne die Augen und bin für einen kurzen Moment orientierungslos. Dann erkenne ich die Räumlichkeiten, auf deren kalten Fliesen ich mich befinde, und erinnere mich, wie ich hierherkam.

„Yamato, öffne die Tür! Yamato!“ Ich reibe mir über die geschlossenen Lider und versuche mich aufzusetzen. Mein Kopf dröhnt und ich presse meine Handballen gegen die Schläfen.

„Yamato, verdammt nochmal!“ Verzweifelt hämmert die Person auf der anderen Seite gegen das Holz. Benommen ziehe ich mich an der Klinke nach oben und drehe den Knauf, um das Schloss zu entriegeln. Sofort stößt mein Klassenkamerad die Tür auf und hält mich fest, da meine Beine nachzugeben drohen. Seine Kraft reicht jedoch nicht aus, sodass wir aneinandergeklammert zu Boden sinken. Sanft streicht er mir durch die Haare. Die Art und Weise seiner Berührungen sind mir mittlerweile vertraut, mein Körper reagiert darauf und verlangt nach mehr.

„Warum bist du hier?“, frage ich leise.

„Der Lehrer machte sich Sorgen, weil du nicht wiederkamst. Jemand sollte nach dir sehen.“ Ich gehe nicht weiter darauf ein und lehne mich mit der Stirn gegen die Schulter meines Mitschülers.

„Lass mich nicht los“, bitte ich mit brüchiger Stimme. Ich kralle meine Finger in den Stoff seiner Schuluniformjacke und drücke mich stärker an seinen Körper. „Ich kann nicht mehr. Ich packe das alles nicht. Nicht alleine. Taichi, der Entzug, unsere Beziehung, meine Gefühle für dich… das alles wächst mir über den Kopf. Ich fühle mich so hilflos, verdammt!“ Kraftlos rutsche ich etwas an ihm herab. Mein Klassenkamerad versucht mir Halt zu geben, indem er die Umarmung verstärkt.

„Was meinst du mit Entzug? Nimmt Taichi Drogen?“ Seine Frage klingt abwertend. Ich schüttle meinen Kopf, zucke allerdings aufgrund des Schmerzes durch die ruckartigen Bewegungen sofort zusammen.

„Alkohol.“ Mir ist bewusst, dass dies Themen und Probleme sind, die außer Tai und mich niemanden etwas angehen. Aber ich bin im Augenblick einfach überfordert und mit den Nerven am Ende. „Wenn ich mich von Freiern ficken lasse, dann…“

„Nimmst du Drogen? Und du verkaufst dich tatsächlich?“ Er schiebt mich etwas von sich, packt mich aber schmerzhaft hart an den Schultern und blickt mir verständnislos in die Augen.

„Ja, anders würde ich die überwiegend perversen und widerwärtigen Handlungen nicht ertragen können.“ Beschämt schaue ich zu Boden.

„Geht dein Wunsch nach Selbstverletzung und Erniedrigung wirklich so weit? Ich will gar nicht wissen, was du alles mit dir machen lässt, selbst tust oder wozu du vielleicht sogar gezwungen wirst. Ich kenne dieses Milieu und weiß, wie schmutzig es mitunter sein kann.“

„So schlimm ist es nicht. Vor allem, wenn man drauf ist, kann es für den Moment sogar sehr geil sein.“ Diese Aussage bekomme ich mit einer zwiebelnden Ohrfeige vergolten.

„Yamato, hörst du dir eigentlich selbst zu?“ Mein Mitschüler greift in meine Haare, zieht sie bestimmt nach hinten und zwingt mich ihn anzusehen. „Kein Wunder, dass ich oft das Gefühl habe, du würdest neben dir stehen.“

„Nein, in deiner Gegenwart stand ich noch nie unter Drogen. Immer habe ich mich dir mit und bei vollem Bewusstsein hingegeben.“ Ich lächle gequält. „Aber es ist nicht nur dieser Entzug, der mich in den Wahnsinn treibt. Ich habe mir vorgenommen mich von niemandem mehr ficken zu lassen, abgesehen von Taichi.“ Mein Gegenüber macht ein ernstes Gesicht.

„Gehst du mir deshalb aus dem Weg?“ Kaum merklich nicke ich und schließe meine Augen, um ihn nicht weiter ansehen zu müssen.

„Auch auf das Schneiden und die Tabletten verzichte ich. Mein Kopf scheint gleich zu explodieren, ich kann nicht mehr klar denken und der Wunsch zu sterben ist enorm. Doch ich bin nicht einmal mehr in der Lage, mir das Leben zu nehmen. Ich vegetiere vor mich hin und warte, dass es endlich vorbei ist. Und Taichi? Er ertränkt seine Probleme im Alkohol und vögelt fremde Frauen. Mir bleibt nichts, als dabei zuzuschauen. Ich habe keine Macht über meinen Freund und auch nicht das Recht, ihm Vorschriften zu machen, denn ich bin selbst nicht besser.“ Mein Körper zittert und die Worte kommen nur schwer über meine Lippen. Beruhigend streicht mir mein Klassenkamerad über den Rücken. Dann küsst er mich liebevoll auf den Mund. Ich höre, wie die Tür zu diesen Örtlichkeiten vom Flur aus geöffnet wird und mindestens zwei Jungen die Toiletten betreten. Sie unterhalten sich angeregt. Noch ehe ich mich von meinem Mitschüler lösen oder zumindest die Kabinentür schließen kann, verstummt das Gespräch der Beiden. Mein Klassenkamerad wird mit seiner Zunge fordernder, als läge er es darauf an, uns in eine prekäre Lage zu bringen. Ich bin unschlüssig, ob ich sein Spiel mitspielen soll oder ob es besser wäre, mich zu wehren. Letztlich lasse ich mich auf ihn ein und begegne ihm mit meinem lange aufgestauten Verlangen. Lüstern gleitet er mit seiner Hand zwischen meine Beine und bemerkt zufrieden meine deutliche Erregung. Ein sinnliches Stöhnen entweicht meiner Kehle, als er mit kräftigem Druck darüber streicht. Kurz unterbricht er den Kuss und schaut nach oben. Die beiden Jungen, vermutlich erstes Jahr, stehen mit einer Mischung aus Unglauben, Ekel und Faszination in ihren Gesichtern vor der Kabine und schauen auf uns herab.

„Was wollt ihr? Verzieht euch endlich!“, raunt mein Mitschüler in gereiztem Ton. Erschreckt schauen die Jungs ihn an, dann zeigt der größere ihm den Mittelfinger. Als sie sich zum Gehen wenden, dreht der sich noch einmal um.

„Widerliche Schwuchteln“, höre ich ihn sagen, dann fällt die Tür ins Schloss und ich bin wieder mit meinem Klassenkameraden allein.

„Dämliche Penner“, flucht er. „Manchmal frage ich mich, wie es sich ohne Hirn lebt. Muss echt angenehm sein.“ Ich lache, doch mein Mitschüler sieht mich ernst an. „Du wirst mir gehören. Ich werde dich ihm wegnehmen.“ Mein Lachen stirbt ab.

„Was?“, frage ich verwirrt.

„Taichi ist ein einfältiger, stumpfsinniger Idiot. Ein Alkoholiker, der zudem auf Frauen steht. Was willst du von so einem? Ich lasse nicht zu, dass du an deinen Gefühlen für ihn zugrunde gehst. Du liebst ihn, aber liebt er auch dich?“ Wütend starre ich ihn an und ziehe ihn am Kragen nah zu mir. Sein Gesicht ist so dicht vor meinem, dass ich den warmen Atem meines Gegenübers auf der Haut spüren kann.

„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du Taichi aus dem Spiel lassen sollst? Ich…“

„Es ist aber kein Spiel mehr, Yamato.“ Geschickt verdreht er meine Hand, damit ich meinen Griff von ihm löse. „Ich liebe dich.“ Er drückt mir einen verlangenden Kuss auf die Lippen, während er mich mit dem Rücken gegen die Wand drängt und mit seinen Fingern meine Hose öffnet. Ich drehe meinen Kopf zur Seite, um mich seinen Zärtlichkeiten zu entziehen.

„Hör auf“, befehle ich ihm.

„Nein.“ Mit seiner Hand gleitet er in meine Shorts. Meine Gegenwehr wird sofort energischer und ich versuche ihn von mir zu stoßen.

„Lass mich los, verdammt!“, zische ich ihn hasserfüllt an, doch mein Klassenkamerad ignoriert meine Aufforderung, zieht meine Hosen nach unten und öffnet seine eigene. Mein Kopfschmerz wird unerträglich. Ich schließe die Augen.

„Ich liebe dich, Yamato.“ Zärtlich drückt er mir einen Kuss auf die Stirn und dringt gefühlvoll in mich ein. Halt suchend schlinge ich meine Arme um den Hals meines Mitschülers und lasse mich auf den Rhythmus seiner Stöße ein. Tränen laufen mir über die Wangen, während lauter werdendes Stöhnen meiner Kehle entweicht.

„Lass mich dich spüren. Ich habe mich nach dir gesehnt“, flüstere ich.

„Dann töte deine Liebe zu Taichi. Er kann dich nicht glücklich machen.“
 

Die Worte meines Mitschülers kreisen unaufhörlich wie eine Beschwörungsformel in meinem Kopf, brennen sich in meine Gedanken und verwirren meine Gefühle. Ich schließe die Wohnungstür auf, ziehe meine Schuhe aus und gehe direkt in mein Zimmer. Dort werfe ich die Schultasche in eine Ecke und lasse mich auf das Bett fallen. Mit meinen Händen bedecke ich mein Gesicht. Warum bringen mich die Aussagen meines Klassenkameraden so sehr aus der Fassung? Es sind nicht meine Gefühle für Taichi, an denen ich zweifle. Aber ich denke, dass es ihm ohne mich besser gehen würde. Es geht nicht darum, ob er mich glücklich machen kann, sondern was ich ihm geben kann. Doch außer Verzweiflung und einem tiefschwarzen Abgrund bleibt nichts. Mühsam stehe ich auf und schalte meinen CD-Player ein, dann öffne ich das Fenster. Ich entzünde eine Zigarette. Abwesend ziehe ich daran.
 

In all diesen Stunden, wir waren uns so fremd

Viel tiefer die Wunden als man es erkennt

Ich wollte nicht schweigen, ich konnte nicht gehen

Sah dir in die Augen und konnte dich sehen
 

Dort wo die Einsamkeit beginnt

wo wir unvollkommen sind

Wo die Sehnsucht uns erfasst

Und die Welt langsam verblasst
 

Die kleinen Versprechen, die man sich geschworen

Die Unschuld des Lebens ging in uns verloren

Es gibt keine Schuld, nur die Hoffnung auf Glück

Und jeder bleibt für sich allein zurück
 

Ich inhaliere den Rauch ein letztes Mal tief in meine Lungen und werfe den Rest der Zigarette nach draußen. Als ich nach Hause kam, sah ich Tais Schuhe im Eingangsbereich stehen. Vermutlich ist er in seinem Zimmer. Ich schließe das Fenster wieder und verlasse den Raum, um in der Küche Kaffee zu kochen, in der Hoffnung, durch das Koffein die Kopfschmerzen etwas eindämmen zu können. Warum nehme ich nicht einfach wieder Tabletten? Ist es letztlich nicht sowieso egal? Resigniert nehme ich eine Tasse aus dem Schrank und fülle sie mit der fast schwarzen Flüssigkeit. Auf dem halben Weg zurück, im Flur, bleibe ich stehen. Langsam gehe ich zum Wohnzimmer und spähe hinein. Der Raum ist verlassen. Ich wende mich zur Tür von Tais Zimmer. Vorsichtig öffne ich sie. Mein Freund liegt auf seinem Bett und scheint zu schlafen. Ich stelle meine Tasse auf seinen Schreibtisch, auf dem etliche Bücher, lose Blätter und weitere Schreibutensilien verstreut liegen. Offenbar arbeitet er an mehreren Sachverhalten gleichzeitig, denn ich sehe in einem Hefter begonnene Ausführungen zu verschiedenen Trainingsmethoden, daneben liegen Arbeitsblätter über funktionelle Anatomie, Bewegungskontrolle und psychomotorisches Verhalten sowie Bücher zum Thema Sportmedizin. Eine halb ausgetrunkene Tasse mit kaltem Kaffee steht inmitten dieser Unordnung. Ich wende mich ab und setzte mich auf das Bett neben den reglosen Körper meines Freundes. Er ist mir mit dem Rücken zugewandt, sodass ich sein Gesicht nicht sehe. Vorsichtig streiche ich über Tais Arm. Keine Reaktion. Ich beuge mich leicht über meinen Freund. Seine Augen sind geschlossen, seine Atmung ist ruhig. Ein schwacher Alkoholgeruch steigt in meine Nase. Er trinkt also tatsächlich noch.

„Ich vermisse dich. Ich fühle mich so schrecklich einsam ohne dich.“ Liebevoll streiche ich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Taichi ist schön. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Seufzend berühre ich mit meiner Stirn die Schulter meines Freundes. Eine Weile verharre ich in dieser Position und genieße Tais schmerzende Nähe. Der Plan, den ich seit einiger Zeit in meinem Hinterkopf fest verankert habe, kommt mir wieder ins Bewusstsein. Es ist mittlerweile sowieso alles egal. Ich bin müde. Vielleicht ist jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt, ihn umzusetzen. Eigentlich wollte ich Taichi töten, bevor ich Selbstmord begehe. Auch er sollte sterben. Ich will ihn nicht teilen, aber letztlich habe ich nicht das Recht, über sein Leben zu entscheiden. Ich muss ihn freigeben, damit er zurück ins Leben finden kann. Zu weit habe ich meinen Freund in den Abgrund getrieben. Sanft hauche ich Tai einen Kuss auf seine Schläfe.

„Ich liebe dich! Ich liebe dich, Taichi Yagami! Bitte, werde glücklich.“ Vorsichtig stehe ich auf und schließe behutsam hinter mir die Tür zum Zimmer meines Freundes.
 

Kühler Wind streichelt sanft über meine Haut, bringt meine Haare durcheinander. Schützend umhüllt er mich, doch gleichzeitig zieht er an mir, als wollte er mich mit sich reißen. Langsam gehe ich noch ein paar Schritte auf den 238 Meter tiefen Abgrund zu. Der Blick über Tokyo ist atemberaubend schön. Diese Stadt erstreckt sich bis zum Horizont, unzählige Menschen leben hier jeden Tag stur vor sich hin und warten letztlich nur auf ihren Tod. Ich hole aus meiner Jackentasche das kleine Fläschchen mit dem durchsichtigen Glück. Bedächtig halte ich es zwischen Daumen und Zeigefinger gegen die Sonne, kneife ein Auge zu und blicke mit dem anderen durch das braune Glas. Der Inhalt misst weniger als ein Viertel, aber es dürfte reichen, um eine enthemmende Wirkung zu erzielen. Ich atme tief durch. Dann mache ich noch einige Schritte nach vorn, nur um sofort wieder zurückzugehen. Mir ist schwindelig. Ich lege mich auf die von der Sonne erwärmten Betonplatten des Hubschrauberlandeplatzes und starre in den graublauen Himmel, der von Wolken durchzogen ist. Kaum merklich ziehen sie vorbei. Ich schließe meine Augen. Die Kopfschmerzen weichen einem Liedtext, der sich in meine Gedanken brennt. Ich öffne meine Lippen, um ein letztes Mal meine Stimme zu hören. In die Zeilen lege ich Gefühle wie Schwermut, Erleichterung, Liebe und Verzweiflung, meine Gedanken an Taichi und das ersehnte Ende.
 

Alles in weiter Ferne

Alles wirkt so verschwommen

Ein seltsamer Drang von Innen

Ich fühle mich wie benommen
 

Und es sticht in meinem Herzen

Die Leere in mir drinnen

Und es rauscht in meiner Seele

Und verschleiert jeden Sinn
 

Ich tauche langsam ein

In das Abendrot

Im Morgengrauen, dort wartet

Ein sanfter Tod
 

Alles im Strom der Zeiten

Alles dreht sich im Kreis

Und es bleibt nur ein Lächeln

Jenseits der Ewigkeit
 

Und ich gleite in die Tiefe

Um mich selber zu verlieren

Um dort an der letzten Grenze

Einen Moment zu existieren
 

Die letzten Worte kamen nur noch flüsternd über meine Lippen. Mit einem Mal weicht die Leichtigkeit einer diffusen Angst. Ich krümme mich zusammen. Wütend schlage ich mit meiner Faust auf den Boden. Immer und immer wieder. Ich will den Schmerz spüren. Er hält mich am Leben. Aber wozu, wenn ich doch sterben möchte? Mühsam erhebe ich mich und gehe Schritt für Schritt zum Rand des Daches. Ich schaue auf meine Hand, die noch immer das BDO fest umklammert. Es ist nicht schwer. Ich muss nur diese Droge, wie schon oft zuvor, konsumieren und einen kleinen Moment bis zum Wirkungseintritt warten. Dann bin ich bereit zu fliegen. Vierundfünfzig Stockwerke entlang des Roppongi Hills Mori Tower in die Tiefe. Das kurze Gefühl bis zur Ohnmacht muss unbeschreiblich sein. Ich schließe die Augen und breite meine Arme aus. Gleich ist es vorbei. Noch ein letztes Mal sehe ich in den Himmel. Als ich meinen Blick senke, überkommen mich erneut Schwindelgefühle. Ich zittere. Meine Kleidung klebt durch den kalten Schweiß an meinem Körper. Vorsichtig gehe ich ein Stück zurück, weg vom Rand. Dann breche ich weinend zusammen. Ich kann es nicht. Ich schaffe es nicht, mich physisch zu töten, obwohl ich sterben möchte. So einfach ist es nicht. Laut schreie ich unter Tränen verzweifelt meinen Schmerz hinaus.

„Taichi, bitte hilf mir!“ Meine Stimme stirbt ab.
 

„Es ist spät, Yamato.“ Ich zucke zusammen, als die Stimme meines Freundes an meine Ohren dringt. Mit einem leisen Klacken fällt die Wohnungstür hinter mir ins Schloss. Ich betätige den Lichtschalter. Tai sitzt im Flur auf dem Boden, zusammengekauert und mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. „Hast du dich wieder von einem Freier durchvögeln lassen? Oder war es dieser kleine Wichser aus deiner Klasse?“ Ruhig lege ich meinen Schlüssel auf die Kommode und ziehe meine Schuhe aus.

„Und du? Hast du wieder getrunken?“, frage ich beiläufig, da ich die Antwort bereits heute Nachmittag erhalten habe. „Oder hast du einmal mehr mit diesem Mädchen geschlafen?“ Ich sehe meinen Freund müde an. Dieser erwidert meinen Blick und steht schwerfällig auf. Langsam gehe ich auf ihn zu und bleibe dicht vor ihm stehen. „Du hast aufgegeben, habe ich recht? Dich selbst, unsere Beziehung und mich.“ Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. Tai schaut zu Boden, doch sanft hebe ich seinen Kopf am Kinn wieder an. „Nein, Taichi. Sieh mich an. Sag mir ins Gesicht, dass du uns aufgegeben hast. Denn dann wird alles ganz einfach. Dann gibt es wirklich kein Zurück.“ Sehnsuchtsvoll streichle ich über den Hals meines Freundes. „Nur ein paar kleine Worte von dir…“ Die Entschlossenheit, die mir vorhin zum Sprung fehlte, spüre ich nun ganz deutlich.

„Was soll das? Schaffst du es nicht ohne mich, dir das Leben zu nehmen?“ Aus kalten, glasigen Augen blickt er mich an. „Stirb allein, Yamato.“ Ohne eine Regung stehe ich vor Taichi, nur meine Atmung ist beschleunigt und mein Herz schlägt schneller.

„Was ist? Fällt es dir doch nicht so leicht, selbst wenn ich dich freigebe? Bin wirklich ich es, der dich am Leben hält? Ich denke nicht. Das bist du selbst. Ich bin ziemlich machtlos, was deine Suizidalität betrifft. Falls dein Wille zu leben gänzlich erlischt, kann dich niemand retten, da du es verhindern würdest. Du weißt genau, wie du vorgehen musst, um zu sterben. Vielleicht hast du sogar einen Plan. Ich habe Angst vor diesem Tag und hoffe, dass er niemals kommen wird.“ Tränen laufen über die Wangen meines Freundes, trotzdem gelingt es mir nicht, mich aus meiner Starre zu lösen. Allerdings lächle ich.

„Der Tag wird kommen. Merkst du nicht, dass wir uns nur im Kreis drehen? Jetzt reden wir halbwegs vernünftig miteinander, sehen unsere Probleme klarer, wollen sie lösen, etwas ändern. Doch wie lange dauert es, bis wir einmal mehr an uns selbst zerbrechen? Reicht es nicht langsam? Willst du wirklich weitere Runden drehen?“ Liebevoll zieht Tai mich zu sich und umfängt mich mit seinen Armen. Noch immer nehme ich einen leichten Alkoholgeruch an ihm wahr.

„Du fühlst nur die Extreme, deshalb verzweifelst du auch so schnell. Aber du verzweifelst nicht am Leben, sondern lediglich an dir selbst. Und im Grunde weißt du das. Dennoch schaffst du es, deiner lebensmüden Seite entgegenzuwirken. Du bist stark genug. Auch ohne mich.“ Heftig stoße ich meinen Freund von mir, sodass er fast das Gleichgewicht verliert.

„Warum tust du das? Warum sprichst du mir ständig meine Gefühle für dich ab? Du negierst sie, indem du behauptest, ich würde dich nicht brauchen. Ich weiß, dass mein Verhalten meiner Glaubwürdigkeit nicht unbedingt zuträglich ist. Aber…“ Meine Stimme versagt und ich kann meine Tränen nicht länger zurückhalten. „Was soll ich tun, Taichi? Was soll ich tun, verdammt?“ Mein Gegenüber kommt einen Schritt auf mich zu, doch ich weiche zurück. „Nein, ich möchte eine Antwort. Wie schaffe ich es, mich zu ändern? Wie gewinne ich gegen mich selbst?“ Verzweifelt schreie ich ihn an.

„Es ist tatsächlich schwer, dir zu glauben. Durch deine Zerrissenheit bist du voller Widersprüche. Nicht immer ist es einfach, mit dir umzugehen, und du machst es einem oft auch nicht leichter, im Gegenteil. Dennoch will ich dich nicht ändern. Ich liebe dich, Yamato. In deiner ganzen Kompliziertheit. Allerdings sehe ich, dass du an dir selbst zerbrichst, und ich frage mich, welche Vorgehensweisen richtig sind. Du wandelst auf einer Grenzlinie und gerätst dabei ständig ins Wanken. Das wird vermutlich nie anders. Wie du bereits sagtest, ein endloser Kreis. Mit jeder Diskussion sind wir keinen Schritt weiter. Aber was wollen wir mit unseren Worten eigentlich erreichen? Uns der Illusion hingeben, dass alles gut werden kann? Dass es Lösungen für alles gibt? Nein, das würde an Naivität grenzen. Doch auch wenn die Unterhaltungen sinnlos erscheinen, haben sie eine wichtige Funktion. Wir geben uns dadurch gegenseitig Halt. Zudem dämmen sie deine akute Suizidalität ein. Und wir nähern uns einander an.“ Mein Freund hebt seine Hand und wischt behutsam über mein Gesicht. Seine eigenen Tränen sind bereits von allein getrocknet. Sanft küsst er mich auf den Mund. „Deine Lippen schmecken salzig“, flüstert er.

„Und deine nach Alkohol.“ Beschämt blickt Tai zur Seite. „Aber ich bin erstaunt, dass du trotzdem noch relativ klar denken kannst.“

„Ich habe nicht viel getrunken.“

„Das ist nicht das Problem und das weißt du.“ Ich schaue ihn traurig an. „Du hast mehrfach versucht zu entziehen, bist allerdings jedes Mal rückfällig geworden, nicht wahr? Darf ich dich etwas fragen?“ Mein Freund nickt, sieht mich aber weiterhin nicht an. „Ist es noch immer ausschließlich meine Schuld, wenn du dich mit Alkohol betäubst? Oder bin ich mittlerweile zugleich eine Entschuldigung?“ Taichi schweigt. Resigniert schüttle ich den Kopf.

„Ich bitte dich, sieh deine Abhängigkeit ein und die Tatsache, dass du den Entzug nicht allein schaffen kannst.“ Ein bitteres Lächeln legt sich auf die Lippen meines Freundes.

„Willst du mir etwa helfen? Wie soll das funktionieren? Du bist labil, zudem selbst drogen- und medikamentenabhängig.“

„Ja, aber nicht akut.“ Tai lacht laut auf.

„Was ist das für ein Blödsinn? Drogenabhängig ist drogenabhängig. Da gibt es kein akut, latent, rezidivierend oder chronisch.“

„Ich wollte damit nur sagen, dass ich meine Sucht im Gegensatz zu dir unter Kontrolle habe“, entgegne ich verärgert.

„Und was unterscheidet dich jetzt von mir? Du siehst deine Abhängigkeit auch nicht wirklich.“

„Verdammt nochmal, Taichi! Darum geht es doch gar nicht! Begreifst du nicht? Ich will dich nicht endgültig an diesen scheiß Alkohol verlieren!“, schreie ich aufgebracht, beruhige mich jedoch sofort und lehne mich mit der Stirn gegen den Brustkorb meines Freundes. „Ich liebe dich und mache mir furchtbare Sorgen um dich. Aber wohin soll ich mit meiner Angst, wenn ich alle schädigenden Verhaltensweisen unterlasse? Wie soll ich es ertragen, dich bei deiner Selbstzerstörung zu beobachten? Langsam werde ich wahnsinnig, Taichi. Ich frage mich, warum der gegenseitige Halt nicht ausreicht. Warum ist da unentwegt dieser Abgrund?“ Ich hebe meinen Kopf und schaue meinen Freund ernst an. „Merkst du eigentlich, dass ich längst nicht mehr der Einzige bin, der unsere Beziehung erschwert?“ Tais Miene wirkt betroffen und schuldbewusst. Eine unangenehme Pause entsteht. Ich atme tief durch. „Okay, ich möchte, dass du noch heute den kompletten Alkohol, der sich in dieser Wohnung befindet, auf den Tisch in der Küche stellst.“ Erschöpft gehe ich an ihm vorbei in Richtung meines Zimmers. Als ich meine Tür öffne, drehe ich mich noch einmal zu meinem Freund um. „Taichi, ich vertraue dir.“
 

Abwesend an die Decke starrend liege ich auf meinem Bett. Die Unterhaltung von gestern mit meinem Freund schwirrt noch immer in meinem Kopf herum und lässt mich nicht los. Wie Tai bemerkte, enden unsere Gespräche im Nichts. Was hat es also gebracht? Wie soll es weitergehen? Ich habe ihm im Bezug auf den Alkohol eine klare Ansage gemacht, dabei bin ich mir selbst nicht sicher, ob ich wirklich in der Lage bin, ihn zu unterstützen. In der Wohnung ist es mir möglich, meinen Freund zu kontrollieren, aber ich kann ihn nicht überallhin begleiten. Zudem widerstrebt es mir, Kontrolle auf ihn auszuüben, da ich aus eigener Erfahrung weiß, wie unangenehm das ist. Doch wenn ich ihm wirklich helfen will, ist diese Maßnahme unumgänglich, auch wenn ich es unter Umständen mit Tais Hass quittiert bekomme. Ohne weiteres kam er gestern zwar meiner Bitte nach und händigte mir den Alkohol aus, doch ich bezweifle, dass er mir wirklich alle Flaschen zukommen ließ. Nachdenklich drehe ich mich auf die Seite und winkle meine Beine etwas an. Den Entzug auf diese Weise durchzuführen ist ein Risiko, welches ich eingehen muss, obwohl ich weiß, dass es nicht gut gehen kann. Ich muss tatsächlich wahnsinnig sein, diese Problematik allein mit meinem Freund bewältigen zu wollen. Allerdings gibt es keine andere Möglichkeit, die ich gutheißen und akzeptieren würde. Die Klinik ist derzeit keine Option, die Familie von Tai ebenfalls nicht. Und mein Vater? Er kennt Tais selbstschädigende Neigungen nicht. Niemals würde er uns weiterhin allein lassen, wenn er wüsste, was in der Zeit seiner Abwesenheit alles passiert ist. Müde schließe ich meine Augen. Wir müssen die Probleme in den Griff bekommen, bevor mein Vater für die Zeit seines Urlaubs nach Japan zurückkehrt. Falls es uns nicht gelingt, wird er Taichis Eltern über den Sachverhalt in Kenntnis setzen und dafür sorgen, dass wir beide in eine Entzugsklinik eingewiesen werden. Er wird kein Verständnis und keine Nachsicht mehr zeigen. Sollte er zudem von meiner derzeit hohen Suizidalität, dem Plan und dessen gescheiterter Umsetzung erfahren, käme ich wahrscheinlich zunächst auf die geschlossene Station. Ich merke, dass ich zittere. Mir ist kalt, dennoch decke ich mich nicht zu. Erneut frage ich mich, warum ich nicht gesprungen bin. Es wäre doch ganz einfach gewesen. So einfach. Hätte ich mich mit der Droge enthemmt, wäre der letzte Schritt ganz leicht gewesen. Warum nur war ich gehemmt mich zu enthemmen? Hat Taichi recht? Ist es nicht so einfach zu sterben, wenn ein Teil von mir nicht sterben will? Ich krümme mich weiter zusammen, um mich mit meiner eigenen Körpertemperatur zu wärmen. Ein Gefühl der Einsamkeit ergreift Besitz von mir, ich fühle mich allein. Meine Gedanken driften zu meinem Klassenkameraden. Bei ihm könnte ich Ablenkung und ein wenig Halt finden. Ich will ihn spüren und alles vergessen. Außer Taichi. Egal wie oft ich es versuche, er ist wie eingebrannt. Tief in mir. Ein Stigma, welches schmerzt und zugleich beruhigt. Ich hatte meinen Freund einmal als eine Art Geschwür bezeichnet, krankhaftes Gewebe. Es stimmt. Er ist tatsächlich wie wucherndes Fleisch, das mittlerweile lebenswichtige Organe befallen hat. Eine Heilung ist somit nicht mehr möglich. Zu stark hat er mich inzwischen vereinnahmt. Mein Zittern verstärkt sich. Nervös setze ich mich auf. Das Verlangen, mir zu schaden, wird übermächtig, sodass ich es nicht mehr ignorieren kann. Ich muss ihm nachgeben. Hektisch schaue ich mich im Zimmer um. Die Rasierklingen habe ich weggeworfen, um leichter mit dem Schneiden aufhören zu können. Mein Tablettenvorrat ist so gut wie aufgebraucht, aus Selbstschutz habe ich ihn nicht mehr aufgestockt. Das Fläschchen BDO ist ebenfalls fast leer, wie ich auf dem Hubschrauberlandeplatz des Mori Tower bereits feststellen musste. Ich konnte mir allerdings in letzter Zeit kein neues beschaffen, da ich länger nicht in Shibuya war. Die Droge bekomme ich von einem Freier, der sie mir statt Geld als Bezahlung für meinen Körper gibt. Wenn ich Tai aber nicht noch weiter in den Abgrund reißen möchte, sollte ich darauf verzichten, mich von einem Anderen ficken zu lassen. Außerdem will ich ihm keinen Grund mehr geben, zum Alkohol zu greifen. Unruhig stehe ich auf und gehe zum Fenster, um mir eine Zigarette anzuzünden. Entnervt registriere ich, dass die Schachtel so gut wie leer ist. Ich bin froh, dass mein Vater mir seinen TASPO überlassen hat, somit erübrigt sich der Stress bezüglich der Volljährigkeit. Zwar weigerte er sich zunächst, erkannte aber schnell die Kläglichkeit seines Versuches, mich vom Rauchen abzuhalten, und gab schließlich nach. Nur am Rande meiner Wahrnehmung registriere ich, dass es an der Tür klingelt. Gierig ziehe ich an der Zigarette und den Rauch tief in meine Lungen, bis sie zu schmerzen beginnen. Mir kommt eine weitere Möglichkeit in den Sinn. Meine verschriebenen Psychopharmaka. Als mein Vater nach Berlin ging, bat er meinen Freund, die Tabletten sicher zu verwahren und mir zuzuteilen. Ich protestierte nicht, denn ich kenne die Verstecke der einzelnen Medikamente. Gelegentlich prüfe ich nach, nur für den Notfall, ob Tai etwas verändert hat, aber anscheinend rechnet er nicht mit meinem Wissen, denn die Aufbewahrungsorte sind noch immer die von meinem Vater. Nur wird es problematisch, einzelne Schachteln unbemerkt an mich zu nehmen. Erst recht, wenn Taichi zu Hause ist. Seufzend verwerfe ich den Gedanken und ziehe mehrfach an der Zigarette. Ich könnte die Reste der Substanzen kombinieren, die mir noch zur Verfügung stehen, allerdings sind die Folgen nicht abschätzbar. Vor allem, da BDO eigentlich nur rein und nicht kombiniert eingenommen werden sollte. Offenbar bleibt mir momentan nur das Rauchen. Ein Effekt ist hierbei jedoch kaum spürbar. Es beruhigt lediglich ein wenig. Nikotin ist zwar ein starkes Nervengift, in dieser Form hingegen tötet es nur sehr langsam. Wenn überhaupt. Ich werfe die heruntergebrannte Zigarette aus dem Fenster. Meine Anspannung ist unverändert, doch ich weiß ihr nichts entgegenzusetzen. Unruhig und unentschlossen stehe ich in meinem Zimmer, lasse meinen Blick ziellos durch den Raum irren. Er bleibt an meiner Gitarre haften. Zielgerichtet gehe ich auf sie zu, löse sie aus ihrer Halterung und setze mich auf das Bett. Sachte schlage ich ein paar Akkorde an. Das Instrument ist leicht verstimmt. Immer wieder drehe ich an den Stimmmechaniken, um die Spannung der Saiten zu verändern, spiele, justiere nach, doch ich bekomme es nicht hin, die richtigen Töne einzustellen. Frustriert werfe ich die Gitarre vor mich auf den Boden. Von Selbsthass gequält vergrabe ich meine Hände in den Haaren und kralle sie darin fest. Es klopft, fast gleichzeitig öffnet mein Freund die Tür. Als er die Situation erfasst, sieht er betroffen zu mir, sagt aber nichts. Sein Gesichtsausdruck spiegelt aber noch etwas anderes wider. Ich ignoriere es. Völlig überfordert stehe ich auf.

„Ich muss hier raus.“ Schnell zwänge ich mich an Taichi vorbei in den Flur. Am Eingang ziehe ich meine Schuhe an.

„Zu einem Freier? Oder deinem…“

„Zigaretten kaufen“, unterbreche ich ihn unwirsch. Genervt und zugleich herausfordernd blicke ich ihm in die Augen. „Begleite mich, wenn du mir nicht vertraust.“
 

Langsam und schweigend laufen wir die Straße entlang. Es ist später Nachmittag, aber die Dämmerung hat noch nicht eingesetzt. Menschen eilen hastig an uns vorbei, ohne auf meinen Freund oder mich zu achten. Jeder ist sich selbst der Nächste. Ich verfluche meine Dummheit, genau zur Hauptverkehrszeit die Wohnung verlassen zu haben. Würde diese sich in Shinjuku oder Shibuya und nicht in Odaiba befinden, wäre mir das vermutlich nicht passiert, denn in diesen Vierteln muss man wirklich Philanthrop sein, um überleben zu können. Ich bin allerdings eher Misanthrop und dadurch eigentlich kaum geeignet in einer Millionenmetropole wie Tokyo zu leben. Andererseits genießt man in der Stadt eine gewisse Anonymität, die in ländlichen Gegenden undenkbar wäre. Wir biegen um eine Ecke. Tai scheint zu wissen, welchen Zigarettenautomaten ich als Ziel habe, obwohl sich in der anderen Richtung ein nähergelegener Automat befindet. Ich wähle dennoch meist den längeren Weg, da es außer der Zigaretten noch einen Getränkeautomaten gibt, an dem ich mir für den Rückweg eine Dose heiße Matcha Latte ziehe. In dieser Gegend ist es der einzige, mir bekannte Automat, der Matcha Latte im Angebot hat. Diesen süßlich-herben, leicht grasigen Geschmack des Grünteepulvers mag ich außer in Milch aber auch in Schokolade und Gebäck. Ich schaue zu meinem Freund, doch der blickt stur geradeaus. Die gesamte Situation wirkt auf mich irreal und befremdlich.

„Sie ist blond und hat blaue Augen. Wie du“, durchbricht Tai plötzlich unser Schweigen.

„Was?“ Irritiert bleibe ich stehen. Mit dem Rücken zu mir gewandt hält auch er inne.

„Die Frau, mit der ich schlafe, sie ist…“

„Sei still!“, unterbreche ich ihn beinahe panisch. „Warum erzählst du mir das? Ich will es nicht wissen!“ Meine Stimme überschlägt sich und ich schreie ihn an. Einige Passanten richten ihre Aufmerksamkeit kurz auf uns, manche schütteln sogar verständnislos den Kopf. Mein Freund hat sich noch immer nicht zu mir umgedreht. „Sieh mich gefälligst an, verdammt!“ Ich trete von hinten an ihn heran und umfasse sein Handgelenk, doch durch seine unerbittliche Haltung gibt er mir zu verstehen, dass er meiner Aufforderung nicht nachkommen wird. „Es ist Absicht, nicht wahr?“, flüstere ich dicht an seinem Ohr. „Du willst mir wehtun. Mit deinen Worten, deinen Handlungen… warum, Taichi?“ Ohne zu antworten geht dieser weiter. Fassungslos starre ich ihm hinterher, nicht fähig eine Reaktion zu zeigen. Ich verliere meinen Freund aus den Augen.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

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Ich sitze auf dem Boden in meinem Zimmer und betrachte die bräunlich verfärbte Stelle vor mir auf dem Teppich. Sachte berühre ich mit meinen Fingern Taichis längst eingetrocknetes Blut. Ist es ihm wirklich nicht möglich, mich aufgrund dieser von mir zugefügten Narbe zu vergessen? Oder handelt es sich nur um Wunschdenken meinerseits? Habe ich ernsthaft geglaubt, ich könnte Tai auf diese Weise an mich binden? Letztlich war es doch ganz leicht für ihn, sich von mir zu lösen. Aber wenn er nicht auf Männer steht, warum hat er sich jemals auf mich eingelassen? Warum erzählte er seinen Eltern nicht von dem Übergriff und zeigte mich an, nachdem ich ihn das erste Mal genommen hatte? Aus Scham? Oder Angst? So wirkte er nicht. Er wollte Rache, dessen bin ich mir mittlerweile sicher, indem er das Spiel mitspielte. Ich war bloß zu dumm nicht zu bemerken, dass es ein Spiel nach seinen Regeln war. Nur leider ging seine Strategie nicht ganz auf. Ich hätte sterben sollen, als er mich fallenließ. Das wollte ich auch, allerdings schaffe ich es noch nicht, mich zu töten. Ich stehe auf und setze mich an meinen Schreibtisch. Konzentriert schreibe ich ein paar Gedanken auf. Ich habe eine Melodie im Kopf, die ich vor einiger Zeit komponiert habe, zu der aber noch kein Text existiert. Damals hatte ich ein wenig mit verschiedenen Stilen experimentiert, wodurch das ganze am Ende einen für mich ungewohnten, neuartigen Klang erhielt. Die Worte, welche ich nun zu Papier bringe, würden gut mit der Melodie funktionieren, da sie in einer Sprache formuliert sind, die das Gefühl, welches das Lied vermitteln soll, noch unterstreicht. Ich versuche die Gedanken auf dem Blatt etwas zu ordnen, in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen, um sie dann an die Musik und deren Rhythmus

anpassen zu können. Seufzend stelle ich fest, dass ich ohne Gitarre nicht weit komme. Ich ziehe eines der Schubfächer auf, krame nach dem Notenblatt mit der Melodie und erhebe mich, um die Gitarre zu holen. Leise spiele ich die Melodie, um mir ihren exakten Verlauf wieder ins Gedächtnis zu rufen. Dann stelle ich das Instrument beiseite und verlasse mein Zimmer, um mir eine Tasse Kaffee zu holen. Während das Wasser durch die Maschine läuft, schaue ich aus dem Küchenfenster. Aus Taichi werde ich nicht schlau. Warum hat er mich damals mit diesem Stock krankenhausreif gefickt, und zwar auf sehr brutale Art und Weise, wenn er, sobald ich entlassen wurde, nahezu wortlos die Beziehung zu mir beendete? Wollte er mir seine Macht über mich demonstrieren, mir noch einmal verdeutlichen, was er von mir hält? Mich demütigen? Das Geräusch des Schlüssels im Schloss der Wohnungstür holt mich aus meinen Gedanken. Ich drehe mich um und betrachte meinen Vater, der gerade dabei ist, seine Schuhe auszuziehen.

„Hallo, Papa.“

„Oh, Yamato. Du bist zu Hause? Wolltest du heute nach dem Unterricht nicht zu deinem Freund gehen?“, fragt mein Vater irritiert, während er die Küche betritt und zwei Tassen aus dem Schrank holt.

„Ja, eigentlich schon. Aber es gibt Probleme mit seiner Mutter. Ich weiß nichts Genaues, aber er wollte nicht, dass ich zu ihm komme. Vielleicht sehen wir uns aber heute Abend noch kurz.“ Ich gehe ein paar Schritte auf meinen Vater zu und bleibe dicht vor ihm stehen. Besorgt hebe ich meine Hand zu seinem Gesicht und streiche mit meinem Daumen über die Hautpartie unter seinem Auge. „Du siehst müde und erschöpft aus.“ Mit meiner anderen Hand streiche ich ihm von der Schläfe beginnend durch die kurzen Haare.

„Yamato, hör auf damit.“ Der Blick, mit dem mein Vater mich ansieht, ist streng.

„Ich mache mir Sorgen, ist das falsch?“, frage ich geradezu unschuldig.

„Du weißt, was ich meine. Was sollen diese Annährungsversuche? Ich bin dein Vater, verstehst du das nicht? Ich werde mich nicht an meinem eigenen Sohn vergreifen.“

„Du vergreifst dich nicht an mir, da ich freiwillig mit dir schlafen will.“ Ich lege meine linke Hand auf den Brustkorb meines Vaters, schlinge die rechte um seine Hüfte und lehne mich Halt suchend bei ihm an, meinen Kopf auf seine Schulter stützend. „Warum bist du so moralisch? Inzest ist in Japan nicht einmal verboten.“

„Yamato…“ Sehr einfühlsam versucht mein Vater mich von sich zu schieben, woraufhin ich meinen Körper dichter an den seinen presse.

„Warum hast du mich letzte Nacht nicht abgewiesen?“

„Ehrlich gesagt hat mich der Anblick deiner Narben ziemlich erschüttert.“ Ich spüre, dass mein Vater mich mit seinen Armen schützend umhüllt. „Du wirktest so zerbrechlich, verloren und einsam.“ Er drückt mich stärker an sich.

„Papa…“ Ich löse mich ein wenig von ihm. Aus traurigen Augen blicke ich ihn an. „Warum tut es nur so weh?“ Tränen laufen über mein Gesicht und ich senke beschämt meinen Kopf. Gefühlvoll berührt mein Gegenüber meine Wange, um die salzige Flüssigkeit von meiner Haut zu wischen. Hitze steigt in mir auf und ich verspüre eine leichte Nervosität. Es fällt mir schwer, mich gegen die Anziehung meines Vaters zu wehren, ebenso gegen das stärker werdende Verlangen, ihn intensiv zu spüren.

„Es ist in Ordnung, Yamato. Zeig mir deine Trauer, deinen Schmerz und deine Tränen. Das bedeutet, dass du noch fühlst, dass deine leblosen Augen nicht die Endgültigkeit widerspiegeln.“ Während er spricht, haftet mein Blick unentwegt auf seinen Lippen.

„Wenn du mich wirklich nicht willst, dann hör auf mich zu erregen!“ Meine Stimme ist lauter als beabsichtigt. Kopflos stoße ich meinen Vater von mir und verlasse eilig die Küche. Völlig außer Atem schließe ich die Badezimmertür hinter mir, lehne mich dagegen und lasse mich daran hinab sinken. Mein Brustkorb hebt und senkt sich schnell, mein Puls rast. Ich schließe die Augen und versuche mich zu beruhigen, doch verzweifelt muss ich feststellen, dass es mir nicht gelingt. Fahrig öffne ich meine Hose und gleite mit meiner Hand in meine Shorts. Mein Körper reagierte zu heftig auf meinen Vater, sodass es unvermeidlich ist, mir Abhilfe zu verschaffen. Es fällt mir schwer, das Stöhnen, während ich mir einen runterhole, zu unterdrücken. Ich stimuliere mich selbst bis zum Ende und betrachte anschließend meine Hand, an der mein eigenes Sperma klebt. Einen Moment bleibe ich noch atemlos auf den kühlen Fliesen sitzen, dann erhebe ich mich mit leicht wackeligen Beinen und wasche mir die Hände, dabei vermeide ich es, in den Spiegel zu sehen, anschließend säubere ich den Rest. In der Hoffnung, nicht auf meinen Vater zu treffen, verlasse ich rasch das Bad und gehe zurück in mein Zimmer. Mein Blick fällt sofort auf die Gitarre. Das unvollendete Lied kommt mir in den Sinn. Ich nehme auf meinem Schreibtischstuhl Platz. Als ich den Text begann, waren meine Gedanken bei Taichi. Plötzlich überkommt mich eine unbändige Wut. Auf ihn, auf meinen Vater und vor allem auf mich selbst. Diese versuche ich in die Komposition mit einfließen zu lassen. Moral und Gesellschaft machen das Leben so unglaublich schwer. Warum lassen sich die meisten davon beeinflussen oder sogar leiten? Warum fällt es den Menschen so schwer, sich einfach fallen zu lassen? Die Menschheit ist ohnehin verdorben und verlogen. Tai und mein Vater sind gut integriert, eben nicht anders. Ich hatte es gehofft, doch sie belehrten mich eines Besseren. Ich sinke mit dem Kopf auf die Tischplatte. Krampfartig zieht sich alles in mir zusammen und ich kann nicht aufhören zu weinen. Es tut weh, die Schmerzen sind mittlerweile beinahe unerträglich. Wie selbstverständlich öffne ich eine der Schubladen und hole das Fläschchen BDO aus einer kleinen Schachtel, die in der hinteren Ecke verstaut ist. Gierig lasse ich etliche Tropfen meine Zunge berühren, das unangenehme Brennen spüre ich kaum noch, zu sehr habe ich mich an dieses Gefühl gewöhnt. Ich dosiere die Droge höher als gewöhnlich, wenn ich der Realität entfliehen will, da ich weiß, dass es dennoch kein tödlicher Rausch sein wird.
 

Ich schlage die Augen auf. Die Fasern des Teppichs berühren leicht die Haut meiner Hände und meines Gesichtes. Langsam registriere ich, dass ich auf dem Boden meines Zimmers liege. Es ist bereits dunkel, ich muss also einige Stunden ohne Bewusstsein gewesen sein. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Moment zerspringen. Ich stütze mich auf meine Arme und erhebe mich langsam. Aus meinem Kleiderschrank hole ich eine Schachtel Schmerzmittel und setze mich damit auf mein Bett. Zittrig löse ich die Tabletten aus den Blisterpackungen, dann greife ich nach meiner Wasserflasche. Ich schraube sie auf, als es kurz an der Tür klopft und mein Vater gleich darauf in mein Zimmer schaut. Sein Blick fällt auf meine Hand, die mehrere der kleinen weißen Schmerzmittel umklammert hält.

„Yamato?“ Er kommt zu mir ans Bett, nimmt die Medikamentenverpackung sowie einige der leeren Blisterverpackungen und betrachtet sie. „Gib mir die Tabletten, die du gerade schlucken willst“, fordert er mich mit ernster Miene auf. Ehe mein Vater reagieren kann, hebe ich meine Hand zum Mund und nehme die Schmerzmittel in mich auf. Sofort spüle ich sie mit Wasser herunter. Für diese Provokation erhalte ich eine schmerzhafte Ohrfeige. Wütend funkele ich meinen Vater an.

„Komm schon, Papa. Schlag mich nochmal. Bestrafe mich für mein Fehlverhalten.“

„Bekommst du eigentlich mit, was du von dir gibst?“ Er schaut zur Seite und seine Augen bleiben an etwas auf dem Boden haften. Ich folge seinem Blick. Wie gelähmt starre ich auf das Fläschchen BDO, welches ich nach dem Aufwachen achtlos habe liegen lassen. „Du schluckst nicht nur weiterhin Unmengen Tabletten, du dröhnst dich auch nach wie vor mit Drogen zu?“ Unsanft packt er mich an den Schultern und sieht mich eindringlich an. Herausfordernd lächle ich meinen Vater an.

„Ja. Und ich lasse mich noch immer von älteren Männern vögeln. Der letzte Freier, der mich ausgiebig gefickt hat, war sogar nur ein Ersatz für dich.“ Bevor mein Vater auf meine Aussage reagieren kann, lege ich meine Hände in seinen Nacken, ziehe auf diese Weise seinen Kopf zu mir herunter und küsse ihn. Dabei lasse ich mich zurück auf das Laken sinken, sodass mein Vater mit seinem Körper über mir ist. Um das Gleichgewicht zu halten, stützt er seine Arme neben meinem Kopf auf der Matratze ab, sein Knie spüre ich zwischen meinen Beinen. Verlangend zwinge ich meinem Vater meine Zunge auf, während ich mit einer Hand seine Hose öffne und meine Finger in seine Shorts gleiten lasse. Stark werde ich an einer Schulter auf das Laken gedrückt, als er sich resolut von dem Kuss löst und meiner Hand in seinem Schritt Einhalt gebietet.

„Yamato, hör endlich auf mit dem Unsinn! Ich verstehe deine Verzweiflung bezüglich der Trennung von Taichi, du bist durcheinander, in deiner Gefühlswelt herrscht Chaos, aber ich werde deinem Begehren nicht nachgeben. Glaub mir, eigentlich willst du nicht mit mir schlafen und du würdest es bereuen, falls es doch passieren sollte. Sei vernünftig, mein Sohn.“

„Du weist mich also ab, weil du mich schützen willst? Zumindest entnehme ich das deinen Worten. Dein Verhalten lässt aber mehr vermuten oder ist es Einbildung meinerseits, dass du neulich wie heute deine Zunge behutsam, aber dennoch sehnsuchtsvoll in meinen Mund geschoben, den Kuss also verhalten erwidert hast? Warum wehrst du dich so sehr gegen deine Gelüste?“ Liebevoll schaue ich meinen Vater an. „Komm, nimm mich. Keine Angst, ich mache doch aus freien Stücken meine Beine für dich breit“, flüstere ich mittlerweile sehr erregt und um meiner Aussage Nachdruck zu verleihen, spreize ich meine Beine soweit es mir in meiner Position möglich ist. Entsetzt lässt mein Vater von mir ab. Von oben herab betrachtet er meinen Körper, der sich ihm lasziv darbietet.

„Du benimmst dich wie ein kleines billiges Flittchen.“ Trotz seiner Aussage registriere ich eine leicht beschleunigte Atmung bei meinem Vater. Ohne ein weiteres Wort wendet er sich ab und verlässt mein Zimmer. Für einen Moment bleibe ich reglos liegen, dann schlage ich die Hände vor mein Gesicht und beginne laut zu lachen. Warum passiert das alles? Warum habe ich solche Gefühle für meinen Vater? Es ist keine Liebe, wie ich sie für Taichi empfinde, auch die Zuneigung zu meinem Klassenkameraden ist anders, dennoch gehen meine Gefühle weit über die eines Sohnes für seinen Vater hinaus. Ich begehre ihn, will seine Liebe in mir spüren, aber auch von ihm begehrt werden. Seine körperliche Nähe, seine Berührungen erregen mich unerträglich und seine geringe Gegenwehr zeigt mir, dass auch er auf mich reagiert. Ich setze mich auf und atme tief durch. Angestrengt versuche ich meine Erektion niederzukämpfen, um nicht wieder Hand an mich legen zu müssen. Hat mein Vater womöglich recht mit seiner Vermutung, dass ich die Trennung von Taichi nicht verkrafte und mich deshalb so verhalte? Ich schüttle meinen Kopf. Diese Argumentation ist absurd. Ich stehe auf und gehe zu meinem Schreibtisch. Prüfend werfe ich einen Blick auf das Blatt mit dem Liedtext. Er ist noch nicht ganz fertig, dennoch greife ich zur Gitarre und nehme auf meinem Drehstuhl Platz. Ich möchte hören, wie die Worte mit der Musik harmonieren und ob ich dem Ganzen mit meiner Stimme den nötigen Ausdruck verleihen kann. Etwas nervös schlage ich die ersten Saiten an.
 

Ich weiß du bist schlecht für mich

Das lässt mich dich nur noch mehr wollen

Ich werde alles tun

Weil ich deine dreckige Hure bin

Du hältst mich unter Kontrolle

Und ich kann dem Tag nicht entgegensehen

Du hältst mich gefesselt

Und ich kann dem Kampf nicht entkommen
 

Ich bin viel mehr als das

Aber ich bedeute nicht viel

Ich bedeute dir nichts

Denn ich bin nur ein Fick

Ich hätte die Dinge niemals glauben sollen die du sagtest

Und alles was ich in mir fühlte ist tot
 

Ich dachte ich würde etwas bedeuten

Falsch gedacht ich bin ein wertvolles Nichts für dich

Unentwegt verliere ich mein Gesicht seit ich ausgelöscht bin
 

Willkommen im Strom

Und verbreite die Krankheiten der heutigen Zeit

Du kannst nicht die Freunde verlieren

Die ihre Beine spreizen um dir zu gefallen

Ich hätte niemals die Dinge glauben dürfen die du sagtest

Und alles was ich nicht zu sein schaffte ist tot
 

Etwas atemlos stelle ich die Gitarre auf den Boden. Das Lied ist aggressiver als meine bisherigen, weshalb ich mich beim Singen mehr verausgaben muss. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Mein Puls schlägt schnell. Es tat gut, meine Emotionen auf diese Weise herauszulassen, doch nach wie vor fühle ich mich unendlich leer.
 

„Was ist los mit dir?“, frage ich meinen Freund, während ich ihn, mit meinem Kopf auf seinem Schoß liegend, aufmerksam mustere.

„Nichts“, antwortet er gedankenverloren.

„So wirkst du nicht. Die ganze Zeit starrst du auf dein Buch, doch es scheint, als würdest du hindurchsehen. Du bist abwesend und schweigsam.“

„Es ist alles okay.“ Sanft streichelt er über meinen Kopf. Kurz genieße ich seine ungewohnt gefühlvolle Zuwendung und schließe meine Augen. Dann richte ich mich etwas auf und liebkose seine Lippen.

„Normalerweise lässt du in der Art keine Zärtlichkeiten zu, da du sie nicht willst oder nichts damit anfangen kannst. Also, was ist passiert?“ Mein Mitschüler legt das Buch beiseite und blickt mich aus müden Augen an. Ich streiche über seine Schläfe. „Du siehst mitgenommen aus.“ Resolut und schmerzhaft packt er mich am Handgelenk.

„Yamato, ich warne dich. Lass mich in Ruhe.“ Verwundert löse ich mich aus seinem Griff. Mein Freund klingt eher aufgewühlt als verärgert oder gereizt.

„Also gut, ich hole uns erst einmal Kaffee.“ Beim Aufstehen lasse ich meine Hand über sein Bein gleiten, anschließend verlasse das Zimmer. Das Verhalten meines Klassenkameraden bereitet mir Sorgen, besonders die fehlende Arroganz und Überheblichkeit. Er wirkt in sich gekehrt, nachdenklich. In den letzten Tagen war seine Stimmung sehr instabil. Einerseits zog er mich an sich, suchte meine Nähe, war liebevoll, andererseits jedoch stieß er mich von sich oder war unglaublich brutal, nicht nur beim Sex. Hat er allmählich genug von mir? Will er mich verlassen? Während ich in der Küche darauf warte, dass der Kaffee durchläuft, sitze ich unruhig auf einem der Stühle am Esstisch. Ich muss es verhindern. Ihn auch noch zu verlieren würde ich nicht verkraften. Unbewusst bekomme ich mit, dass mein Vater, der wie immer in letzter Zeit bereits zu Hause ist, sein Zimmer verlässt und den Hörer des im Flur stehenden Telefons abhebt. Trotz der Vorkommnisse zwischen uns behandelt er mich nicht anders. Im Gegenteil, ich habe eher das Gefühl, er ist noch fürsorglicher, noch besorgter als sonst, weshalb er fortwährend versucht mich zu kontrollieren. Er kommt pünktlich von der Arbeit, um mich nicht zu lange allein zu lassen, ich muss ihm Rechenschaft über meinen Tagesablauf geben und wenn ich meinen Freund sehen will, muss er herkommen, ich darf nicht zu ihm. Mein Vater scheint sein Vertrauen in mich vollkommen verloren zu haben, was bei meinem Aussetzer neulich kein Wunder ist. Plötzlich dringt mein Unterbewusstsein zu mir durch. Habe ich vorhin nicht den Namen Taichi Yagami vernommen? Ich werde hellhörig.

„Ah, ich verstehe.“

„Okay.“

„Es freut mich wirklich, dass du Fortschritte machst. Wie lange musst du noch in der Klinik bleiben?“

„Hm.“

„Ja, mach dir keine Gedanken, Taichi. Das Wichtigste ist, dass du deine Sucht langfristig in den Griff bekommst und es dir besser geht.“

„Yamato? Naja… es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Er ist wegen eurer Trennung ziemlich durcheinander und verliert gelegentlich die Kontrolle über sich.“

„Nein, Taichi. Ich denke nicht, dass er suizidal ist. Bitte kümmere dich jetzt erst einmal nur um dich. Ich passe schon auf Yamato auf.“

„Nein, er weiß nicht, dass ich Kontakt zu dir habe.“

„Ja.“

„Ähm… ja, er ist noch mit ihm zusammen.“

„Nein, einen schlechten Einfluss scheint er nicht zu haben. Ich glaube sogar, dass er Yamato ein Stück weit Halt gibt. Aber die offensichtliche Leere in Yamatos Inneren kann auch er nicht füllen.“

„Taichi, mach dir bitte keine Vorwürfe. Deine Entscheidung war richtig. Es war notwendig, so zu handeln, und das weißt du.“

„Ich verstehe dich ja, aber wirf nicht alles weg, was du bis jetzt erreicht hast.“

„Okay. Ich rufe dich dann im Laufe der Woche wieder an.“

„Ja. Gib auf dich Acht und verliere nicht den Mut.“

„Keine Sorge, das mache ich, Taichi.“

„Bis dann.“ Ein tiefer Seufzer kommt über die Lippen meines Vaters, als er den Hörer wieder auf das Telefon legt. Einen Moment scheint er zu verharre, dann setzt er sich in Bewegung. Kurz darauf höre ich, wie seine Zimmertür geöffnet und wieder geschlossen wird. Wie erstarrt sitze ich auf meinem Stuhl. Der Kaffee ist längst durchgelaufen, doch das interessiert mich nicht mehr. Vielmehr versuche ich verzweifelt mich nicht von meiner Eifersucht in den Wahnsinn treiben zu lassen. Taichi trennt sich von mir, hält aber weiterhin zu meinem Vater Kontakt. Und der sprach so vertraut und liebevoll mit Taichi, wie er kaum mit einer anderen Person spricht. Was für eine Beziehung haben die beiden zueinander? Ratlos und total aufgelöst verberge ich mein Gesicht in meinen Händen. Ich schaffe es nicht, meine Fassung zu wahren und beginne leise zu weinen. Nach einer Weile gelingt es mir, mich langsam zu beruhigen. Ich stehe auf und nehme zwei Tassen aus dem Schrank. In meiner Bewegung halte ich inne, betrachte das Porzellan und habe für einen Moment den Impuls, es auf dem Boden zu zerschmettern, um mir mit den Scherben die Pulsadern aufzuschneiden. Ich kämpfe gegen das Verlangen an und fülle die Tassen stattdessen mit Kaffee. Anschließend verlasse ich damit die Küche. Im Flur fällt mein Blick auf das Telefon. Bei dem Gedanken an Taichi und meinen Vater schnürt sich mir die Kehle zu. Umständlich öffne ich die Tür zu meinem Zimmer. Mein Freund befindet sich noch immer auf meinem Bett, nun allerdings seitlich in einer liegenden Position. Seine Atmung ist ruhig, er scheint zu schlafen. Ich stelle die Tassen auf meinem Schreibtisch ab und setze mich, sein Buch auf meinen Nachttisch legend, zu ihm ans Bett. Leicht streiche ich ihm ein paar seiner Haare aus dem hübschen Gesicht, dann küsse ich seine Stirn.

„Du darfst mich nicht verlassen, hörst du?“ Meine zitternde Stimme ist nur ein Flüstern. „Ich liebe dich.“
 

„Du lernst?“ Ich wende mich von meinem Schreibtisch ab und meinem Freund zu, der gerade mein Zimmer betritt, und mustere ihn mit begehrlichen Blicken. Er ist nur mit einem Handtuch bekleidet, welches er um seine Hüften geschlungen hat, sein Körper schimmert feucht vom Duschen und Wasser perlt seine Haut hinab. Die Haare fallen ihm nass ins Gesicht und verleihen ihm ein noch verführerischeres Aussehen. Ich stehe auf, vor ihm bleibe ich stehen. Mit meinen Fingern streiche ich sinnlich über seinen Oberkörper. Ich umfasse seine Taille und ziehe ihn zu mir heran. Verlangend lecke ich über seine Lippen, verwickle meinen Freund in einen leidenschaftlichen Kuss. Dann wandere ich mit meinem Mund zu seinem Hals, über das Schlüsselbein, seinen Brustkorb entlang nach unten. Während ich meinen Mitschüler anschaue, gehe ich auf die Knie und löse das Handtuch von seinen Hüften.

„Du bist wirklich eine nymphomanische kleine Hure. Wir hatten doch gerade erst Sex.“ Ich lächle ihn an und beginne ihm einen zu blasen. „Du frivoles Miststück“, stöhnt er erregt. „Du weißt, wie du mich an den Rand des Wahnsinns bringst.“ Von sexueller Lust getrieben, vergräbt er seine Hände in meinen Haaren. Kurz vor dem Abspritzen hält er meinen Kopf in seiner Position, sodass ich gezwungen bin sein Sperma zu schlucken. Dann lässt er von mir ab. Mit einem Gefühl des Ekels lasse ich mich auf den Boden sinken. Schwer atmend beugt sich mein Klassenkamerad zu mir, wischt mir mit dem Daumen über Mund und Kinn, bevor er mir einen Kuss auf die Stirn gibt. „Warum verhältst du dich bei sexuellen Handlungen eigentlich fast immer hörig? Es widert dich an, Sperma schlucken zu müssen, dennoch sagst du nichts. Vermutlich läuft es bei deinen Freiern nicht anders. Nutzt du das als eine Art selbstverletzendes Verhalten?“

„Interessiert es dich denn beziehungsweise würdest du Rücksicht nehmen, wenn ich dir mitteile, was ich nicht möchte?“

„Nein“, antwortet er ohne zu zögern. „Im Gegenteil, wenn du etwas nicht willst, verspüre ich erst recht den Drang, dich zu zwingen.“ Ich versuche zu lächeln, doch es gelingt mir nicht. Sehnsuchtsvoll lehne ich mich an meinen Freund.

„Bitte halt mich fest.“

„Was ist los, Yamato?“, fragt er überrascht. „Seit wann bist du so liebesbedürftig?“

„Und seit wann lässt du Zärtlichkeiten zu? Warum kennst du in letzter Zeit nur die beiden Extreme, entweder du bist unglaublich liebevoll oder äußerst brutal.“

„Müsstest du damit nicht bestens klarkommen? Du selbst kennst doch nichts anderes.“ Ich presse meinen Körper dichter an seinen, streiche mit meinen Fingern sanft über die nackte Haut seines Oberkörpers.

„Es ist etwas passiert, mit deiner Mutter, hab ich recht?“, äußere ich meine Vermutung verhalten. Unerwartet schließt mein Mitschüler mich in eine Umarmung. Diese Geste wirkt im Augenblick schrecklich haltlos und er selbst unglaublich jung.

„Ja. Ich fand sie an dem Tag, als ich dir untersagte zu mir zu kommen, zugedröhnt zu Hause vor. Sie wollte sich gerade die Pulsadern aufschneiden. Jetzt ist sie wieder einmal in der Geschlossenen. Ich hoffe, dass sie diese lebensunfähige Schlampe nicht mehr herauslassen.“

„Trotz deiner harten Worte liebst du sie, sonst hättest du sie nicht davon abgehalten, oder?“ Als Antwort drückt er meinen Körper stärker an seinen. „Es tut weh, hab ich recht?“ Ich spüre das Zittern seines Körpers und begreife jetzt auch, warum er mich so fest umklammert hält. Er will nicht, dass ich seine Tränen sehe. „Bitte verlasse mich nicht“, flüstere ich schließlich, um ihn nicht durch unangenehmes Schweigen in Verlegenheit zu bringen.

„Wie kommst du darauf, dass ich das tun könnte?“

„Ich weiß es nicht, ich habe einfach Angst davor. Was ist, wenn du genug von mir hast?“

„Yamato.“ Behutsam löst sich mein Freund von mir, nimmt mein Gesicht zwischen seine Hände und küsst meine Lippen. „Wie kommst du auf solche Ideen? Ich bin nicht Taichi.“ Er macht ein verärgertes Gesicht. Bei der Nennung von Tais Namen schnürt sich mir die Kehle zu.

„Ich weiß“, sage ich mit belegter Stimme. „Ich werde auch nicht zulassen, dass du mich verlässt.“

„Warum bist du auf einmal so besessen von mir?“, fragt mein Klassenkamerad lachend.

„Es ist keine reine Besessenheit, die ich empfinde. Ich liebe dich.“ Sein Lachen wandelt sich in ein mildes Lächeln.

„Nein, Yamato. Was du fühlst, sind Einsamkeit und Verzweiflung.“ Ich drehe mich von meinem Freund weg, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen.

„Zieh dir bitte etwas an.“

„Wieso? Verlierst du ansonsten die Beherrschung?“ Ohne zu antworten stehe ich auf und setze mich zurück an meinen Schreibtisch. Hat er recht mit seiner Einschätzung meine Gefühle betreffend? Ich will nicht darüber nachdenken müssen. Ich will nichts mehr fühlen müssen. Die Beziehung zu meinem Freund ist viel zu emotional geworden.

„Du hast recht. Meine Gefühle beziehen sich auf deine Brutalität und Skrupellosigkeit. Das kann man wohl kaum als Liebe bezeichnen.“ Emotionslos blicke ich zu ihm. „Gibst du mir, wonach ich verlange?“ Ein Grinsen legt sich auf die Lippen meines Mitschülers.

„Ja.“ Er erhebt sich, geht zu meiner Zimmertür und dreht den Schlüssel im Schloss. Abwartend bleibe ich auf meinem Stuhl sitzen und schließe die Augen. Ich höre, dass mein Freund auf mich zukommt. Mit angespannter Erregung ersehne ich den süßen Schmerz, das einzige Gefühl, das ich ab jetzt noch zulassen werde.
 

Ich sitze im Klassenzimmer an meinem Tisch und schaue abwesend aus dem Fenster. Die unterschiedlich grüngefärbten Blätter der Bäume wiegen sanft im Wind, der bei den sommerlichen Temperaturen für etwas Abkühlung sorgt. Ausnahmsweise bin ich heute eher als meine Klassenkameraden in der Schule, da ich mit meinem Freund vor Unterrichtsbeginn kurz reden will. Draußen ist es allerdings zu warm, um dort zu warten, weshalb ich entschied schon ins Innere des Gebäudes zu gehen. Ich verschränke meine Arme vor mir auf der Tischplatte und lasse meinen Kopf mit dem Gesicht nach unten darauf sinken. Mein gesamter Körper schmerzt, ich kann kaum sitzen, mich generell kaum bewegen, seit mein Klassenkamerad meiner Aufforderung gestern sehr gründlich nachgekommen ist. Die entstehenden Hämatome, die ich heute Morgen im Spiegel betrachtete, sprechen ihre eigene Sprache. Ich lächle. Es ist nicht nur das Körpergefühl, das er mir gibt, sondern auch die Art, ihn zu spüren, die ich liebe. Die Gedanken an meinen Freund beschleunigen meinen Herzschlag und lassen mich unerträgliche Zuneigung empfinden. Warum wird mir wieder schmerzlich bewusst, wie viel ich mittlerweile für ihn fühle, obwohl ich beschlossen habe, ihn nicht lieben zu wollen? Unterschwellig bekomme ich mit, wie die ersten meiner Mitschüler das Klassenzimmer betreten, sich laut unterhalten und nervig lachen. Ich schaue kurz auf, ob mein Freund inzwischen eingetroffen ist, denke aber, dass er in diesem Fall bereits zu mir gekommen wäre. Sein Platz ist nach wie vor leer. Als er sich gestern von mir verabschiedete, küsste er mich, lächelte und entschuldigte sich. Ich sah ihn verwundert an. Empfand er sein Verhalten als zu brutal? Seinen Blick in diesem Moment konnte ich die ganze Nacht nicht vergessen. Deshalb will ich ihn noch einmal darauf ansprechen.

„Habt ihr schon gehört?“, vernehme ich das Tuscheln eines Mädchens in meiner Nähe. „Itami soll Selbstmord begangen haben.“

„Was? Akito? Das glaube ich nicht“, entgegnet ein anderes.

„Er wurde angeblich bei sich zu Hause gefunden, mit aufgeschnittenen Pulsadern. Als die Rettungskräfte eintrafen, war er scheinbar bereits verblutet.“ Ich habe das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, als mir der Inhalt der eben vernommenen Worte bewusst wird. Ungehalten und mit Tränen in den Augen springe ich auf.

„Warum erzählt ihr solch einen Unsinn?“, schreie ich so laut, dass sich alle im Raum befindlichen Personen zu mir umdrehen. „Akito würde sich nicht einfach töten! Er würde mich nicht allein lassen! Das hat er mir gestern erst gesagt!“ Hart packe ich eines der Mädchen am Kragen.

„Ishida, beruhige dich“, versucht ein Junge aus meiner Klasse Zugang zu mir zu finden.

„Nein, lass deine dreckigen Finger von mir! Warum erzählt ihr solche Lügen?“ Ich stoße meinen Gegenüber brutal beiseite. Andere kommen ihm zu Hilfe, einige versuchen mich festzuhalten. Ich wehre mich heftig, schlage und trete nach ihnen. Mein Kopf ist vollkommen leer, ausschließlich der Schmerz lässt mich handeln. Plötzlich werde ich kraftvoll von hinten gepackt und nahezu bewegungsunfähig gemacht.

„Yamato, es wird gleich besser werden“, höre ich meinen Lehrer sagen. Die Schulärztin, die offenbar mit meinem Lehrer zusammen benachrichtigt wurde, injiziert mir eine durchsichtige Flüssigkeit und streicht mir dann liebevoll durch die Haare.

„Hab keine Angst. Das ist nur ein Beruhigungsmittel“, sagt sie mit sanfter Stimme. Ich spüre, wie mein Körper schwerer und mein Bewusstsein träger werden. Meine Gegenwehr lässt nach. „Können Sie ihn ins Krankenzimmer tragen?“, richtet sie ihre Frage an meinen Lehrer. Vorsichtig hebt er mich auf seine Arme. Tränen laufen über meine Wangen.

„Akito ist nicht tot. Er ist mein Freund, er muss am Leben sein. Niemals würde er mich verlassen. Das hat er mir versprochen.“ Meine Stimme ist schwach und kaum hörbar. „Warum sagen Sie denn nichts?“ Mein Lehrer drückt mich stärker an sich, während er mit mir den Flur entlang Richtung Krankenzimmer läuft.

„Doch, Yamato. Akito Itami ist tot. Es tut mir leid.“
 

„Er hatte einen Nervenzusammenbruch, Herr Ishida. Ich musste ihm ein starkes Beruhigungsmittel spritzen, um ihn ruhigzustellen. Er schläft jetzt.“ Gedämpft und weit entfernt höre ich die Stimme einer Frau.

„Wissen Sie, was passiert ist, warum er diesen extremen Aussetzer hatte?“

„Ein Mitschüler von ihm hat Selbstmord begangen. Akito Itami. Ihr Sohn soll eng mit ihm befreundet gewesen sein.“

„Akito ist tot?“, fragt mein Vater schockiert.

„Papa?“, flüstere ich. „Warum bist du hier?“ Langsam öffne ich meine Augen und schaue zu ihm. Er sitzt neben dem Bett, auf dem ich liege, ihm gegenüber hat die Schulärztin Platz genommen. Beide richten ihre Blicke auf mich.

„Yamato, du bist wach?“ Mein Vater klingt besorgt. Die Ärztin steht auf und kommt zu mir.

„Wie geht es dir?“

„Mir ist schlecht und ein wenig schwindelig“, antworte ich benommen. „Kann ich bitte ein Schmerzmittel bekommen? In meinem Kopf pulsiert es unangenehm schmerzhaft.“

„Natürlich, einen Moment.“

„Nein“, sagt mein Vater milde und hält sie damit zurück. „Eine einzelne Tablette würde bei ihm nicht anschlagen, also kann er auch ganz verzichten.“ Die Ärztin wirkt irritiert, betrachtet mich eingehend, schweigt aber zu diesem Sachverhalt. Ich habe Schwierigkeiten, meine Augen offen zu halten, immer wieder fallen sie mir zu und der Schlaf droht mich erneut zu überwältigen.

„Herr Ishida, ich würde Ihnen empfehlen, wenn es von Ihren Arbeitszeiten her möglich ist, Ihren Sohn mit nach Hause zu nehmen. Dem Unterricht kann er jedenfalls nicht mehr beiwohnen.“

„Ja, natürlich. Ich würde ihn jetzt ohnehin nicht allein lassen.“ Mit deutlicher Angst in den Augen sieht mein Vater mich an. „Kannst du alleine laufen, Yamato?“ Ich nicke schwach. Mühsam richte ich mich auf. Als ich jedoch einige Schritte laufen möchte, knicken mir die Beine weg, sodass mein Vater mich stützen muss. „Ich trage dich besser zum Auto.“ Er nimmt meine Schultasche, gibt sie mir in die Hand und hebt mich vorsichtig hoch.

„Ich gebe Ihnen noch ein starkes Beruhigungsmittel mit. Ich denke, Sie werden es brauchen.“

„Vielen Dank“, höre ich meinen Vater sagen, bevor ich schließlich in die Bewusstlosigkeit abgleite.
 

Reglos starre ich an die Decke meines Zimmers. Meine Augen brennen von den Tränen, die ich krampfhaft zu unterdrücken versuche, und der Druck in meinem Kopf ist inzwischen unerträglich. Immer wieder sage ich mir in Gedanken, dass Akito tot ist. Welch Ironie, dass mein eigener Freund Selbstmord begangen hat. Ich lache laut auf. Bis zum Schluss hat er sich mir nicht vollständig geöffnet, konnte sich nicht fallen lassen. Nach außen wollte er stark sein, doch bei genauerem Hinsehen schimmerten seine Labilität und Verletzlichkeit durch. Schmerzliche Zuneigung durchströmt meinen Körper. Ich drehe mich auf die Seite und krümme mich zitternd zusammen. Erneut sage ich mir gedanklich, dass mein Freund nicht mehr lebt. Diese Tatsache kommt mir so irreal vor, aber ich bin mir sicher, dass ich weder träume noch Wahnvorstellungen habe. Doch kann ich mir da wirklich sicher sein? Nur entfernt bekomme ich mit, dass die Tür zu meinem Zimmer geöffnet wird.

„Yamato, du bist wach?“ Mein Vater setzt sich zu mir ans Bett und lässt seine Hand über meine Schulter gleiten. „Wie geht es dir?“ Ich schaue ihn an, doch Tränen verschleiern meine Sicht.

„Ich weiß es nicht.“ Meine Stimme versagt, sodass die Worte nur geflüstert über meine Lippen kommen. „Weißt du, zum ersten Mal wünsche ich mir krank zu sein, dass das hier alles nicht passiert, sondern ich fantasiere, psychotisch bin.“ Ich lege meinen Kopf auf die Beine meines Vaters.

„Weine, Yamato. Davon wird zwar nichts ungeschehen, aber vielleicht hilft es dir, damit fertigzuwerden.“ Meine Finger krallen sich im Stoff der Hose meines Vaters fest. Ich schaffe es nicht länger, meine Tränen zurückzuhalten, und ergebe mich einem heftigen Weinkrampf. Beruhigend streichelt mir mein Vater über den Rücken. Allmählich spüre ich, dass ich keine Luft mehr bekomme, meine Brust und Kehle sind wie zugeschnürt und meine Atmung ist unkontrolliert. Entschlossen, aber leicht panisch hebt mein Vater mich aus dem Bett und trägt mich in die Küche. Dort lässt er mich auf einen der Stühle sinken. „Yamato, bitte halte dich einen Moment an der Lehne fest, damit du nicht herunterfällst“, redet mein Vater auf mich ein, bevor er mich loslässt und sich einem der Küchenschränke zuwendet. Sofort sacke ich schluchzend in mich zusammen. Mein Körper zuckt unkontrolliert, ich verliere das Gleichgewicht und schlage hart auf dem Küchenboden auf. Mit meinen Fingern kratze ich verzweifelt über die Fliesen, bleibe an den Fugen hängen und versuche meine Nägel darin zu vergraben, um ein wenig Halt zu finden. „Verdammt“, flucht mein Vater. Er stellt ein Glas Wasser sowie eine Medikamentenschachtel auf den Tisch. Dann beugt er sich zu mir hinab und greift mir unter die Arme, um mich aufzurichten. Meine Trauer wandelt sich in Aggression, ich schlage um mich, schreie, werde hysterisch. Nur mit Schwierigkeiten und unter Gewaltanwendung gelingt es meinem Vater, Kontrolle über mich zu bekommen. Meinen Körper von hinten umklammernd zieht er mich nach oben, setzt sich auf den Stuhl und mich auf seinen Schoß, wobei er einem Arm fest um meine Taille schlingt. Mit dem anderen entnimmt er umständlich eine Tablette aus der Verpackung. „Yamato, hörst du mich?“ Ich vernehme seine Stimme dicht an meinem Ohr. Unter Tränen und mit stockendem Atem nicke ich kaum merklich. „Hier. Das ist ein Sedativum.“ Er führt seine Hand mit der Tablette zu meinem Mund. „Mach den Mund auf.“ Dankbar komme ich seiner Aufforderung nach. Ich sehne mich nach Ruhe, Bewusstlosigkeit, Realitätsflucht. Mein Vater muss verzweifelt sein, da er zu Maßnahmen greift, die er bei mir eigentlich absolut unterbinden will. Er reicht mir das Glas Wasser. Ich nehme es entgegen, doch das Zittern meines Körpers erschwert mir die Flüssigkeit zu meinen Lippen zu führen. Fürsorglich umschließt mein Vater meine Hand mit seiner eigenen und hilft mir beim Trinken. Nachdem ich das Beruhigungsmittel geschluckt und das Glas geleert habe, stellt er es zurück auf den Tisch und hält mich liebvolle, aber meiner Bewegungsfreiheit beraubend in seinen Armen.

„Danke, Papa“, flüstere ich erschöpft, als ich merke, dass die Wirkung allmählich einsetzt. Meine Gegenwehr lässt nach, meine Muskeln entspannen sich langsam und ich werde ruhiger. Dennoch hält mein Vater mich weiterhin stark an sich gedrückt. Müdigkeit legt sich über meinen Körper.

„Ich bringe dich in dein Bett.“ Voller Sorge und Zuneigung trägt er mich in mein Zimmer zurück und legt mich behutsam auf die Matratze. Liebevoll deckt er mich zu, dann haucht er mir einen Kuss auf die Stirn. „Ich wünschte, ich könnte etwas für dich tun, dir helfen, deinen Schmerz zu überwinden.“

„Ich liebe dich, Papa“, sage ich leise, bevor mir die Augen zufallen.

„Yamato… ich liebe dich auch. So sehr.“ Die Worte meines Vaters höre ich nur noch am Rande meiner Wahrnehmung, bemerke aber, dass seine Stimme zittert. Kurz darauf kommt die ersehnt Erlösung in Form eines langen, traumlosen Schlafes.
 

Ich sitze meinem Vater gegenüber am Küchentisch und zwinge mich die letzten Reste des von ihm vorgesetzten Frühstücks hinunterzuwürgen. Noch immer hält er an seiner Bedingung fest, das Essen gemeinsam einzunehmen, wobei er bestimmt, was und wie viel ich zu essen habe. Es ist unangenehm, aber ihm zuliebe füge ich mich, indem ich seiner Forderung diesbezüglich widerstandslos nachkomme.

„Bist du sicher, dass du zur Schule gehen willst?“, fragt mein Vater besorgt. Ich schaue ihn an.

„Ja, was soll ich sonst tun? Ich kann mir weitere Fehlzeiten nicht leisten, wenn ich einen Schulabschluss bekommen möchte. Das weißt du so gut wie ich.“

„Das stimmt schon, aber…“

„Es ist okay, Papa. Mach dir keine Sorgen“, sage ich mit einem Lächeln. Mein Gegenüber sieht mich an, als würden ihm gerade mein Verhalten und meine Worte Sorgen bereiten. „Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät.“ Hastig stehe ich auf, hole meine Schultasche, ziehe Jacke und Schuhe an und nehme meinen Schlüssel von der Kommode.

„Warte, ich fahre dich.“

„Nein. Du musst gleich zur Arbeit. Ich gehe allein.“ Einen Moment betrachte ich meinen Vater liebevoll. „Bis dann“, verabschiede ich mich schließlich und verlasse die Wohnung.
 

Mit einem beklemmenden Gefühl betrete ich das Klassenzimmer. Ich spüre, dass ich von meinen Mitschülern beobachtet werde, als ich durch die Reihen zu meinem Platz laufe. Mein Weg führt mich direkt an Akitos Tisch vorbei, auf welchem die obligatorische Vase weißer Blumen steht. Ich werfe einen kurzen Blick darauf, doch der Schmerz lässt mich schnell weitergehen. Tief durchatmend sinke ich auf meinen Stuhl und schließe die Augen. Aus verschiedenen Richtungen höre ich Getuschel. Glauben diese hirnlosen Idioten wirklich, ich würde nicht mitbekommen, dass sie über mich, mein Verhältnis zu Akito und meine heftige Reaktion auf dessen Tod reden? Mein Freund würde mir jetzt in seiner typisch kühlen Art sagen, wie stumpfsinnig und primitiv Menschen sind und dass anhand solcher Ereignisse hervorragend ihre Sensationsgeilheit zu erkennen ist, dass sie sich am Leid anderer erfreuen, jedoch behaupten, sie würden den Betroffenen helfen, damit es ihnen besser geht. Letztlich wollen sie sich allerdings nur in ihrer eigenen Großartigkeit baden. Diese Heuchelei mit den Blumen ist der beste Beweis. Ich öffne meine Augen und schaue zu dem Stuhl, auf dem mein Freund jetzt sitzen müsste. Er wird leer bleiben. Für den Rest des Schuljahres. Niemand wird seinen Platz einnehmen. Meine Augen brennen und ich wende meinen Blick ab. Ich kann nicht glauben, dass er wirklich tot ist. Ich will es nicht glauben. Vielleicht träume ich. Vielleicht ist dieser Traum nur unglaublich realistisch. Oder ich habe meinen Verstand tatsächlich verloren und bin in einer Wahnvorstellung gefangen. Aber was nützt es, wenn ich nicht wieder aufwache? In diesem Fall hätte ich meinen Freund so oder so verloren. Befinde ich mich womöglich bereits seit längerem nicht mehr in der Wirklichkeit? Ist das mit Taichi ebenfalls nie passiert? Wann habe ich aufgehört in der normalen Welt zu leben? Ich muss aufwachen, dann wird alles gut. Und um aufzuwachen, muss ich sterben. Das Ertönen der Schulglocke lässt mich heftig zusammenzucken. Irritiert schaue ich wieder zu dem leeren Platz. Meine Sicht verschwimmt. Wie kann es sein, dass dieser Schmerz sich so real anfühlt?
 

Es ist warm. Viel zu warm. Einmal mehr wird mir bewusst, wie sehr ich den Sommer hasse, wobei es sich genau genommen bereits um den Spätsommer handelt. Zum Glück ist mein Weg von der Schule nach Hause nicht allzu weit. Tag für Tag schleppe ich mich zum Unterricht, wobei ich jedoch nur anwesend, aber nicht wirklich da bin. Akito ist noch immer Gesprächsthema Nummer eins, was es mir nicht unbedingt leichter macht, meine Zeit in dieser verkommenen Gesellschaft abzusitzen. Diese ignoranten Arschlöcher haben überhaupt nicht das Recht, über Akito und sein Leben zu spekulieren. Niemand von denen kannte ihn auch nur ansatzweise. Selbst ich nicht. Aber ich weiß, dass er nicht so war, wie er in der Öffentlichkeit vorgab zu sein. Seine eiskalte, skrupellose Seite kannte so gut wie keiner, abgesehen von seinem besten Freund, den er anfangs immer dabei hatte, wenn er seine Gewaltfantasien an mir auslebte. Dennoch drängte sich mir immer das Gefühl auf, die beiden wären zu unterschiedlich, um sich wirklich gut zu verstehen. Schon allein vom Intellekt her. Ich bin zudem der Meinung, die Freundschaft der beiden löste sich allmählich auf, je enger Akitos Beziehung zu mir wurde. Mit dem Schlüssel öffne ich die Tür des Wohnhauses und steige mühsam die Treppen zur vierten Etage hinauf. Vor einer Woche beging mein Freund Selbstmord, in ein paar Tagen ist die Beerdigung. Man sagt, dass durch das Begräbnis die Realisierung sowie die Verarbeitung und vor allem der Abschied leichter fallen sollen. Aber will ich das überhaupt? Will ich wahrhaben, dass ich ihn nie wiedersehe? Erneut drängt sich mir der Gedanke mit der anderen Realität oder des Traums auf. Welche Wahrheit ist die richtige? Abwesend öffne ich die Wohnungstür, gehe hinein und lasse sie hinter mir ins Schloss fallen.
 

Langsam ziehe ich die Klinge mit mäßigem Druck immer wieder durch meine Haut. Dunkelrotes Blut läuft aus den wenige Millimeter auseinanderklaffenden Wunden über meinen Arm und tropft auf die kühlen Fliesen des Badezimmers. Es ist unbeschreiblich, diese Art von Gefühl, diesen Schmerz wieder zu spüren. Zu lange habe ich darauf verzichtet, zu lange musste ich Tag für Tag gegen diesen Drang ankämpfen. Jetzt will ich nichts anderes mehr, als dem nachgeben. Ich genieße es regelrecht. Zudem hält der Schmerz mich am Leben. Erneut schneide ich mit der Rasierklinge durch mein Fleisch. Zufrieden betrachte ich die entstandene, etwas tiefere Wunde. Ich lächle und setze das kleine Metall noch einmal an. Es kommt mir so vor, als würde ich aus einer langen Apathie erwachen.
 

„Yamato, warum sitzt du im Dunkeln?“, fragt mein Vater mit sanfter Stimme, als er die Tür zu meinem Zimmer öffnet und mich reglos auf meinem Bett sitzen sieht.

„Bitte schalte das Licht nicht an“, entgegne ich ihm ruhig. „Und schließe die Tür, diese künstliche Helligkeit aus dem Flur tut in meinen Augen weh.“ Stillschweigend kommt mein Vater meiner Aufforderung nach. Er setzt sich neben mich und legt mir seine Hand auf den Oberschenkel.

„Morgen ist die Beerdigung“, beginnt er einfühlsam. „Ich habe bereits mit deinem Direktor gesprochen, er meinte, der Unterricht würde für deine Klasse morgen ausfallen, da sie geschlossen von Akito Abschied nehmen wollen.“ Einen Moment herrscht betretene Stille.

„Ich werde nicht hingehen“, verkünde ich meine Entscheidung, wobei meine Worte beim Aussprechen beinahe absterben. Der Druck der Hand auf meinem Bein verstärkt sich.

„Bist du sicher, dass du das willst?“

„Ja, ich verabschiede mich nicht von ihm, denn dann würde ich akzeptieren, dass er tot ist.“ Bestürzt packt mein Vater mich an den Schultern und zieht mich zu sich herum.

„Yamato, Akito ist tot.“

„Das musst du sagen, da du Teil einer Wahnvorstellung oder eines Traumes bist.“

„Was? Glaubst du das wirklich?“ Ich schaue in das entsetzte Gesicht meines Vaters.

„Ich weiß es nicht. Aber würdest du in der Wirklichkeit etwas mit Taichi anfangen?“

„Wie kommst du auf solche Gedanken? Natürlich nicht.“ Erleichtert lächle ich meinen Gegenüber an.

„Akito lebt also noch.“ Tränen laufen meine Wangen hinab.

„Yamato.“ Hilflos und sichtlich verwirrt nimmt mein Vater mich in den Arm. „Das hier ist die Realität.“

„Tatsächlich?“ Ich drücke meinen Vater nach hinten auf die Matratze und setze mich mit gespreizten Beinen auf seine Oberschenkel. Meine Haare hinter das Ohr streichend beuge ich mich zu ihm hinab. „Warum vögelst du dann meinen Taichi? Hat er vielleicht sogar deinetwegen die Beziehung zu mir beendet? Ist das wirklich die Realität?“

„Nein, weil ich noch nie mit Taichi geschlafen habe und es mit Sicherheit auch nie tun werde.“

„Also doch eine Wahnvorstellung meinerseits.“ Auf meiner Haut spüre ich den warmen, etwas beschleunigten Atem meines Vaters. Die Stellung, in der ich mich mit ihm befinde, erregt mich.

„Ja, das ist bedenklich und bereitet mir ziemliche Sorgen.“

„Wieso? Weil du wieder einmal denkst, ich verliere meinen Verstand?“

„Ehrlich gesagt, ja. Der Tod deines Freundes Akito hat dich mehr aus der Bahn geworfen, als es nach außen den Anschein erweckt. Dabei hätte es mir auffallen müssen. Du warst viel zu ruhig, zu gefasst. Bitte, Yamato, lass dir wenigstens von mir helfen, anstatt dich in irgendwelche Fantasien zu flüchten.“

„Ich brauche keine Hilfe. Es ist doch alles in Ordnung.“ Vorsichtig versucht mein Vater sich aufzustemmen und sich seiner Position zu entziehen, indem er seinen Arm um meine Taille legt, um mich von seinem Schoß zu heben. Unter Kraftaufwand drücke ich ihn zurück auf das Laken, wobei ich mit nach unten sinke, da er mich noch immer umschlungen hält. Sanft küsse ich seine Lippen, lecke verlangend darüber. Mit meiner Hand gleite ich zu seiner Hose und löse den Knopf. Den aufkommenden Protest meines Vaters nutze ich, um ihm beim Öffnen seines Mundes einen Zungenkuss aufzuzwingen. Ich schiebe meine Finger in seine Unterhose und beginne damit, meinem Vater einen runterzuholen, doch er drückt mich sofort von sich und zieht meine Hand aus seinem Schritt zurück.

„Warum fängst du schon wieder mit diesem absurden Verhalten an?“ Verzweifelt blickt mein Vater mir in die Augen.

„Ich verstehe nicht, warum du mit Tai ins Bett gehst, aber nicht mit mir schlafen willst. Am Alter kann es nicht liegen. Bin ich dir so zuwider oder willst du es nicht, weil ich dein Sohn bin?“

„Noch einmal, wie kommst du darauf, dass ich mit Taichi Sex habe? Das ist für mich völlig undenkbar.“ Kurzentschlossen stehe ich auf und entkleide mich vollständig.

„Du findest mich abstoßend, oder?“ Mein Vater steht ebenfalls auf und stellt sich direkt vor mich. Behutsam berührt er den Verband an meinem linken Arm.

„Du hast dich wieder geschnitten“, stellt er traurig fest. Statt zu antworten, ergreife ich seine andere Hand und führe sie zwischen meine Beine.

„Spürst du, wie sehr du mich erregst, Papa? Bitte nimm mich. Mach dir keine Gedanken, es ist ohnehin nicht real. Wir können unsere Fantasien ungehemmt ausleben.“ Erneut küsse ich meinen Vater. Zu meiner Überraschung erwidert er diesmal das Zungenspiel in sehr fordernder Weise. Dabei drängt er mich rückwärts, bis ich gegen den Kleiderschrank stoße. Mit seinem Körper presst er mich stark dagegen, meine Handgelenke hält er schmerzhaft fest umschlossen.

„Fühlt sich das für dich nicht real an?“ Schwer atmend sieht mein Vater mich an. „Bitte, Yamato. Verliere dich nicht in irgendwelchen wahnhaften Vorstellungen, gib dich ihnen nicht freiwillig hin. Du fliehst vor einer Wahrheit, die du nicht akzeptieren möchtest.“

„Nein, du irrst dich. Woher willst du wissen, dass du recht hast, dass das hier tatsächlich die Wirklichkeit ist? Du kannst es nicht wissen. Aber wir können es herausfinden.“

„Wie soll das funktionieren?“ Mein Vater blickt mich sichtlich verwirrt an.

„Indem wir uns töten. Aus Träumen erwacht man, indem man stirbt. Lass es uns ausprobieren.“ Ich lächle. Seufzend lässt mein Gegenüber mich los und setzt sich zurück auf mein Bett. Sein Gesicht vergräbt er in seinen Händen.

„Was soll ich tun, Yamato. Dich einweisen lassen? Aber ich denke, du weißt ganz genau, dass deine Äußerungen nur Wunschvorstellungen sind. Du bist überfordert von der Situation, weißt nicht, wie du mit deinem Schmerz umgehen sollst, er ist zu stark, um erträglich zu sein, hab ich recht?“

„Geh bitte“, fordere ich meinen Vater tonlos auf.

„Yamato…“

„Geh!“, schreie ich ihn nun an. Schweigend erhebt er sich und kommt auf mich zu. Er nimmt mich in den Arm, doch ich stoße ihn derb von mir. „Fass mich nicht an! Geh einfach!“ Schmerzlich betrachtet mich mein Vater, dann wendet er sich ab. Bevor er geht, zieht er den Schlüssel aus dem Schloss meiner Zimmertür und nimmt ihn an sich. Wie ferngesteuert ziehe ich meine Kleidung wieder an. Ich setze mich auf das Sofa und starre ins Nichts. Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen. Akito fand es belustigend, dass ich das Verlangen verspüre, mich von meinem Vater ficken zu lassen. Er meinte, er sei gespannt, ob ich ihn dazu bringen würde, mit seinem eigenen Sohn zu schlafen. Dann lachte er und versicherte mir, dass ich es schaffen werde. Er behält recht. Ich stehe auf und hole das Fläschchen BDO aus der Jackentasche meiner Schuljacke, die ich beim Nachhausekommen achtlos über die Stuhllehne geworfen habe. Anschließend verlasse ich mein Zimmer und gehe in die Küche. Dabei registriere ich, dass im Wohnzimmer der Fernseher läuft und mein Vater sich somit vermutlich dort aufhält. Ich öffne den Kühlschrank und entnehme eine Packung Orangensaft. Wenn mein Vater genügend Zuneigung für mich empfindet, dürfte die enthemmende Wirkung seine letzten Bedenken beseitigen, sodass er sich seinem unterdrückten Verlangen hingibt. Ich fülle zwei Gläser mit dem Fruchtsaft, in eines der beiden tropfe ich etwas BDO. Ich dosiere die Droge etwas höher, als ich sie benötigen würde, wenn ich eine aphrodisierende Wirkung erzielen möchte, da mein Vater eine kräftigere Statur als ich besitzt. Die kühlen Getränke in den Händen tragend gehe ich durch den Flur ins Wohnzimmer.

„Hier, ich habe dir ein Glas kalten Orangensaft mitgebracht. Ich denke, es ist eine angenehme Erfrischung bei der Wärme.“ Ohne meinen Vater anzusehen, stelle ich sein Glas vor ihn auf den Tisch. „Wenn du allerdings nicht möchtest, lass ihn einfach stehen.“ Verwundert blickt mein Vater zu mir.

„Danke.“ Ich nehme neben ihm Platz und trinke einen Schluck, dabei schaue ich auf den flimmernden Bildschirm. „Ist bei dir alles okay?“, fragt mein Vater skeptisch. Ich nicke leicht. „Wir sollten dennoch reden. Über die Vorkommnisse der letzten Zeit.“

„Ja“, lenke ich tonlos ein. Seufzend beugt mein Vater sich vor und greift nach seinem Saftglas. Nachdem er einen großen Schluck genommen hat, behält er das Getränk in der Hand. „Dann beginnen wir mit unserer Beziehung.“ Herausfordernd schaue ich zu ihm.

„Yamato…“, setzt er an, doch ich unterbreche meinen Vater.

„Fühlst du dich zu mir hingezogen?“ Er sieht mich nicht an, stattdessen trinkt er verlegen seinen Orangensaft.

„Natürlich liebe ich dich. Du bist schließlich mein Sohn.“

„Ist das nicht nur eine Ausrede für dich? Hast du dir schon einmal vorgestellt mit mir zu schlafen?“ Nun sieht mein Vater mich ernst an.

„Ich stehe nicht auf Männer, Yamato.“ Geduldig lächle ich ihn an.

„Das war nicht meine Frage.“ Aufmerksam wende ich mich meinen Vater zu, welcher gerade den letzten Rest seines Saftes trinkt. Ich nehme ihm das Glas aus der Hand und stelle es, ebenso wie mein eigenes, auf den Tisch. „Warum hast du mich vorhin geküsst?“

„Das war eine Kurzschlussreaktion. Yamato, ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Mit deiner krampfhaften Realitätsflucht machst du dich langsam kaputt. Ich kann und will dir dabei nicht mehr zuschauen.“ Bei den Worten meines Vaters schleicht sich erneut ein Lächeln auf meine Lippen.

„Und du glaubst mich mit deiner Zunge zur Vernunft bringen zu können?“

„Nein. Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Es wird aber definitiv nicht wieder vorkommen.“

„Wieso, ich fand es schön. Ich möchte dich noch viel mehr, viel intensiver spüren.“ Anzüglich streiche ich die Oberschenkelinnenseite meines Vaters hinauf. Sein leichtes Zusammenzucken, als ich in seinen Schritt greife, und sein erregter Gesichtsausdruck sind Anzeichen, dass die Droge ihre Wirkung bereits entfaltet.

„Yamato, lass es! Nimm deine Hand weg“, presst er, mich zurechtweisend, hervor.

„Warum? Offensichtlich lässt dich unser Körperkontakt nicht kalt.“ Zärtlich berühre ich mit meiner freien Hand seine Wange. „Hab keine Angst. Du musst dich nicht zurückhalten. Es ist okay.“ Ich führe seine Hand an meine Lippen und hauche einen Kuss auf seinen Handballen.

„Yamato, ich…“

„Shh.“ Sanft bringe ich ihn mit meiner Zunge zum Schweigen, wobei ich mich rittlings auf seinen Schoß setze. Mit meinen Fingern öffne ich Knopf für Knopf sein Hemd. Es fühlt sich unglaublich intensiv an, wie mein Vater den Kuss erwidert. Leidenschaftlich und zugleich fordernd. Abrupt beendet er dieses Zungenspiel jedoch wieder. Schwer atmend sieht er mich an. Einen kurzen Augenblick habe ich das Gefühl, mein Vater will mir etwas sagen. Doch letztlich schweigt er, macht sich stattdessen an meinem Hemd zu schaffen und steift es mir behutsam von den Schultern. Ich wage den erneuten Versuch eines Kusses, auf den mein Vater sich auch dieses Mal einlässt. Ohne seine Lippen von meinen zu lösen, umfängt er meinen Körper und bringt ihn unter sich auf dem Sofa zum Liegen. Automatisch spreize ich meine Beine ein wenig, um meinem Vater das Ausziehen meiner Hose zu erleichtern. Nachdem er sie geöffnet hat, unterbricht er den Kuss. Seine Atmung ist deutlich beschleunigt. Ich hebe meinen Arm und lege meine Hand auf seinen sich schnell hebenden und senkenden Brustkorb.

„Ich verstehe das nicht“, flüstert mein Vater. „Du bist mein Sohn. Wieso schaffe ich es plötzlich nicht mehr, mich zurückzuhalten?“ Seine Augen fixieren mich mit einem merkwürdigen Ausdruck.

„Bedeutet das, wenn ich nicht dein Sohn wäre, wärst du schon längst auf meine Annährungen eingegangen und hättest mit mir geschlafen?“

„Nein“, antwortet er, während er mich meiner Beinbekleidung entledigt. Ich richte mich auf und ziehe meinem Vater das Hemd aus, wobei ich sinnlich über seinen Oberkörper streiche. Zärtlich hauche ich Küsse darauf und lecke mit meiner Zunge begierig über seine Haut. Mein Vater greift etwas grob in meine Haare und zieht meinen Kopf zurück.

„Nein, Yamato! Ich bitte dich!“ Seine Stimme klingt ungewohnt heiser.

„Aber es scheint dir zu gefallen“, entgegne ich unschuldig. Ich beuge mich vor. „Du bist erregt, Papa“, raune ich in sein Ohr. Ihn genau beobachtend öffne ich seine Hose. Hastig versucht mein Vater sich mir zu entziehen, indem er vom Sofa aufsteht. Er taumelt leicht. Ich nutze die Gelegenheit, erhebe mich ebenfalls und dränge mich dicht an den Körper meines Vaters. Dann gleite ich an ihm hinab und gehe vor meinem Vater auf die Knie, gleichzeitig ziehe ich ihm seine Hose nach unten. Kurz blicke ich noch einmal nach oben. Schwach versucht mein Vater mich an den Schultern von sich zudrücken, doch die mittlerweile ohnehin geringe Gegenwehr stirbt endgültig ab, als ich ihm ausgiebig einen blase. Sein Stöhnen, welches nun in immer kürzeren Abständen seiner Kehle entweicht, erregt mich ungemein. Ich gehe nicht bis zum Schluss, sondern lasse vorher von ihm an, um sein Verlangen weiter zu steigern.

„Komm“, flüstere ich und ziehe meinen Vater am Arm zu mir nach unten. Lasziv lege ich mich auf den Boden.

„Yamato…“ Mit glasigen Augen betrachtet er meinen Körper. Vorsichtig streicht er über die Narben auf meinem Brustkorb, dann über den verbundenen Arm. Schmerz mischt sich in seine Erregung.

„Aber du hast dir Sex mit mir schon vorgestellt?“, wiederhole ich meine Frage von vorhin, vor allem aber um zum eigentlichen Thema zurückzufinden. Mein Vater beugt sich über mich, wobei er meine Beine weit auseinanderdrückt.

„Nein. Ich habe davon geträumt, vermutlich wegen deiner ständigen Annäherungsversuche.“ Kurz erstaunt über seine Ehrlichkeit, lächle ich meinen Vater gleich darauf an. Ich lege meine Arme um seinen Nacken und ziehe seinen Kopf zu mir hinab.

„Mach es wahr. Nimm mich, Papa“, flüstere ich. Er haucht mir einen Kuss auf die Stirn.

„Was würde es dir bringen? Was versprichst du dir davon? Glaub mir, spätestens wenn du wieder klar im Kopf bist, wirst du es bereuen.“

„Nein. Ich werde es bestimmt nicht bereuen. Ich liebe dich und möchte dich einfach nur so intensiv wie möglich spüren. Was ist falsch daran?“ Meine Stimme zittert und Tränen füllen meine Augen. Seufzend streichelt mein Vater über meine Wange.

„Ich liebe dich auch, mein Sohn. Und es tut mir leid, denn ich werde jetzt einen großen Fehler begehen. Doch du weißt, dass ich mich inzwischen nicht mehr zurückhalten kann. Dafür hast du selbst gesorgt.“ Gezielt hebt er mein Becken etwas an, bevor er vorsichtig in mich eindringt. Sofort beginnt er sich rhythmisch in mir zu bewegen und intensiviert somit seine Stöße. Leichter Schmerz und unvorstellbare Erregung durchströmen meinen Körper.

„Du musst dich nicht zurückhalten. Lass mich dich richtig hart in mir spüren“, keuche ich angestrengt. Mein Vater streicht liebevoll über meine von einem Schweißfilm bedeckte Haut. Seine Penetration wird schneller und schmerzhafter, wodurch mein Stöhnen, ebenso wie das meines Vaters lauter wird. Die Lust, die ich mittlerweile empfinde, ist unerträglich. Krampfhaft kralle ich meine Nägel in den Arm meines Vaters, sodass er als Reaktion seinen Griff an meinem Becken verstärkt. Ich bäume mich ein wenig auf und spüre ihn tiefer in mir. Gedanken an Akito kommen mir in den Sinn, der behauptete, ich würde wegen Tai mit meinem Vater schlafen wollen. Und auch mein Vater erwähnte mir gegenüber eine ähnliche Theorie. Tränen brennen in meinen Augen. Mit einem Mal wird mir meine Erbärmlichkeit deutlich bewusst. Ich habe meinen Vater unter Drogen gesetzt, um mich ihm hingeben zu können. Sofort, als dieser bemerkt, dass ich weine, lässt er von mir ab.

„Yamato…“ Er wischt mir die Tränen aus dem Gesicht. „Ich sagte doch…“

„Nein, Papa. Bitte bring es zuende. Hör nicht einfach auf.“

„Was?“

„Du bist noch nicht gekommen. In mir.“ Ich sehe, dass er protestieren will, stattdessen hilft er mir auf, drückt mich mit dem Bauch gegen das Sofa und nimmt mich von hinten. Offenbar erträgt er es nicht, weiterhin in mein Gesicht sehen zu müssen. Die Stöße sind anhaltend kraftvoll und intensiv. Aber anders als die von Taichi oder Akito. Und auch das Gefühl bei meinen Freiern ist anders. Bei meinem Vater empfand ich von Anfang an keinen Ekel. Nur Geborgenheit. Ich spüre, dass er in mir abspritzt, sich aus mir zurückzieht und, mich von hinten umarmend, mir mit seiner Hand Erleichterung verschafft. Regungslos, aber schwer atmend bleibe ich in meiner Position, als mein Vater leicht wankend den Raum verlässt und ich im Bad Wasser rauschen höre. Nachdem er sich vermutlich gesäubert hat, kommt er zurück.

„Willst du unter die Dusche?“, fragt er und setzt sich zu mir auf den Boden. Ich reagiere nicht. „Yamato.“ Vorsichtig legt mein Vater seine Hand auf meine Schulter. Ich breche weinend zusammen. Beinahe hilflos zieht er mich in seine Arme. Verzweifelt presse ich meinen verschwitzten Körper gegen seinen.

„Es tut mir leid“, schluchze ich.

„Es ist okay, mein Sohn. Ich bin der, der sich entschuldigen muss. Niemals hätte ich die Beherrschung auf diese Weise verlieren dürfen, auch wenn du mich offenbar unter Drogen gesetzt hast. Aber darüber reden wir später.“ Meine Augen weiten sich, aber ich schaffe es nicht mehr, etwas zu erwidern. In meinem Kopf schreien Tausende von Stimmen durcheinander und treiben mich in den Wahnsinn. Ich habe das Gefühl, zu ersticken. Beruhigend streicht mir mein Vater über den Rücken. Allmählich sacke ich in mich zusammen und ergebe mich meinem hemmungslosen Weinen.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

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Mit offenen Augen liege ich in meinem Bett und starre in die Dunkelheit. Taichis Arm lastet schwer auf meinem Brustkorb und raubt mir die Luft zum Atmen. Ich wage jedoch nicht mich zu bewegen, weil ich Angst habe, ihn zu wecken. Seine Nähe wirkt auf mich ungemein beruhigend, sein Duft umhüllt mich sanft, ebenso die Wärme, die von seinem Körper auf meinen übergeht. Ich gebe mich meinen Gefühlen hin, dem Schmerz, der Zuneigung, dem Verlangen und der Sehnsucht. Vorsichtig drehe ich mich ein wenig, um dichter an meinen Freund rutschen zu können. Es ist erregend, seine nackte Haut auf meiner eigenen zu spüren. Allgemein sehne ich mich danach, ihn in mir zu spüren. Zwar hatte Tai es vorhin angesprochen, aber letztlich haben wir nicht miteinander geschlafen. Irgendwie kommt es mir so vor, als würde keiner von uns sich trauen den nächsten Schritt zu gehen. Aber warum? Vor unserer Trennung hatten wir oft Sex. Liegt es daran, dass wir, wie Taichi bereits sagte, die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen wollen? Allerdings wäre ein Neuanfang schon der erste und wahrscheinlich größte Fehler.

„Kannst du nicht schlafen?“, höre ich meinen Freund unerwartet wach fragen.

„Und du?“

„Nein.“ Eine kleine Pause entsteht.

„War der Alkoholentzug eigentlich schwer?“ Meine Stimme ist gedämpft und klingt unsicher, da ich Bedenken habe, dieses Thema anzusprechen.

„Ja. Ziemlich. Die Entzugserscheinungen waren heftig und ich war oft kurz davor, einfach aufzugeben.“

„Was hat dich dazu bewegt, weiterzumachen und die Therapie durchzuziehen?“

„Meine eigene Erbärmlichkeit. Ich konnte zum Schluss nicht einmal mehr in den Spiegel sehen. Jegliche Selbstachtung ging mit meiner Kontrolle über mich verloren. Zudem war ich nicht mehr in der Lage, für dich da zu sein. Die Angst, dich zu verlieren, hat schließlich den Anstoß gegeben, dass ich mich einweisen ließ.“

„Du verlierst mich nicht. Außer wenn ich tot bin.“ Sofort richtet sich mein Freund ein wenig auf und schaut mich, soweit ich das in der Dunkelheit ausmachen kann, ernst an.

„Solche Äußerungen möchte ich nicht mehr hören, Yamato“, sagt er verärgert, streicht mir aber liebevoll durch die Haare.

„Hast du Angst?“, flüstere ich. „Angst vor dem, was kommt? Angst vor einem Rückfall? Angst…“

„Shh.“ Sachte legt Tai seinen Zeigefinger auf meine Lippen, um mich zum Schweigen zu bringen. „Nein. Ich habe keine Angst. Aber du, nicht wahr?“ Ich nicke. Langsam beugt mein Freund sich zu mir hinab und küsst mich sanft. Ein aufgeregtes Kribbeln stellt sich ein, als ich den Kuss erwidere und zu einem schüchternen Zungenkuss ausweite. Ich gleite mit meiner rechten Hand über Tais nackten Körper, der leicht über mich gebeugt ist, wandere dabei immer weiter nach unten. Als ich zwischen

seine Beine greifen möchte, hält mein Freund mich am Handgelenk zurück. „Nein, Yamato.“ Verunsichert unterlasse ich meinen Annäherungsversuch.

„Willst du nicht?“

„Doch. Aber ich denke, es ist besser, wenn wir noch etwas warten.“

„Worauf denn?“, entgegne ich etwas ungehalten. „Es ist ja nicht so, als hätten wir noch nie miteinander geschlafen.“

„Ist der Sex für dich das Wichtigste in einer Beziehung?“

„Nein. Aber er gehört dazu. Möchtest du nicht auch den Menschen, den du liebst, so innig wie möglich spüren? Ihm alles geben, alles von dir zeigen?“

„Vermutlich ist unsere Einstellung zu diesem Thema einfach zu unterschiedlich.“ Ich hebe meine Hand und streiche über die Wange meines Freundes.

„Taichi, was fühlst du, wenn du mit mir schläfst? Denkst du dabei oft an unser erstes Mal? Die Gewalt, mit der ich dich genommen habe?“

„Es kommt tatsächlich gelegentlich vor, dass die Erinnerungen daran präsent sind, allerdings eher, wenn du in mir bist.“

„Hasst du es, wenn ich aktiv bin?“ Das Zittern in meiner Stimme kann ich nicht verbergen. Ich bereue zwar nicht, was ich damals getan habe, aber ich war zu naiv, um an die möglichen Folgen zu denken.

„Nur, wenn es, wie ich dir schon einmal sagte, gegen meinen Willen geschieht.“ Liebevoll lege ich meine Hand in seinen Nacken und ziehe Tai zu mir herunter. Erfüllt von widersprüchlichen Gefühlen küsse ich ihn.

„Es tut mir leid, dass ich so körperlich fixiert bin. Nur, anders kann ich mit meinen schmerzhaft intensiven Empfindungen nicht umgehen. Ich…“

„Du musst dich nicht rechtfertigen. Es ist alles in Ordnung. Ich verstehe es, auch wenn ich es nicht nachvollziehen kann. Allerdings frage ich mich schon seit längerem, wie das bei anderen Menschen ist, die dir etwas bedeuten, beispielsweise deinem Bruder oder deinem Vater. Sind deine Gefühle für sie nicht so stark oder liegt es daran, dass es deine Familie ist? Schließlich würdest du in diesen beiden Fällen Inzest begehen.“ Mein Freund lacht kurz. „Nein, selbst du bist nicht so schamlos und abgedreht, dass du dich derart verwerflich verhalten würdest.“ Ich öffne meinen Mund, um zu protestieren, schweige letztlich jedoch. Bei dieser Meinung möchte ich die Reaktion von Tai bezüglich meiner sexuellen Beziehung zu meinem Vater nicht erfahren.

„Lass uns versuchen zu schlafen“, lenke ich stattdessen ab. Offenbar mit meinem Vorschlag einverstanden, lässt mein Freund von mir ab und legt sich neben mich. Ich rutsche etwas an ihn heran, die Einsamkeit zerfrisst mich immer mehr. „Halt mich bitte fest“, flüstere ich kaum hörbar, doch Tais Handeln zeigt mir, dass er mich verstanden hat. Schützend legt er seine Arme um meinen Körper und zieht mich dicht an sich. Mein Herz schlägt schnell. Ich liebe Taichi und doch habe ich das Gefühl, zu ersticken.
 

Dunkles Blut läuft über die helle Haut meines Armes und tropft auf die Bodenplatten des Badezimmers. Ich habe ziemlich tief geschnitten und dabei vermutlich eine Ader angeritzt, denn die rote Körperflüssigkeit pulsiert stark aus einer Stelle der Wunde. Mit einem Lappen, welchen ich fest auf die selbst zugefügte Verletzung presse, versuche ich die Blutung zu stillen. Ich hatte gehofft wieder atmen zu können, wenn ich mir den Arm aufschneide, doch ich bekomme noch immer keine Luft. Es fühlt sich so an, als würde Taichi seit einer Woche permanent seine Finger um meinen Hals gelegt halten und gnadenlos zudrücken. Der Lappen ist inzwischen durchweicht. Vorsichtig hebe ich ihn ein wenig an, damit ich den Schnitt inspizieren kann. Nach wie vor quillt das Blut in durchgängig fließenden Intervallen aus der Wunde. Ich stehe auf und lasse kaltes Wasser darüber laufen, gleichzeitig wasche ich das auf meinem Arm bereits getrocknete Blut ab. Anschließend lege ich umständlich einen Druckverband an. Diesmal hat das Schneiden kaum Wirkung gezeigt, vielleicht war der Schmerz zu gering, um das Chaos in mir ordnen zu können. Routiniert wische ich den Boden und spüle den Lappen aus, bevor ich ihn zum Trocknen über den Wannenrand lege. Abschließend reinige ich das Waschbecken, in welchem die rote Flüssigkeit in Bahnen zum Abfluss hinab gelaufen und darin größtenteils verschwunden ist. Noch einmal schaue ich durch den Raum und vergewissere mich, dass ich alle Spuren beseitigt habe, dann verlasse ich das Badezimmer. Im Flur bleibe ich unschlüssig stehen. Seit ich von meinem Freier nach Hause gekommen bin, habe ich meinen Vater noch nicht gesehen. Zuerst musste ich meinem Verlangen nach Selbstverletzung nachgeben. Der Sex mit meinem Freier war dieses Mal ziemlich erniedrigend und vor allem erbarmungslos. Wäre ich nicht völlig zugedröhnt gewesen, hätte ich möglicherweise seit langem so etwas wie Scham verspürt. Doch dank des Heroins fühlte ich nichts dergleichen, nur angenehme Leichtigkeit und vollkommenes Glück. Auch in der Woche war ich eigentlich ständig drauf, zum Teil sogar in der Schule, nahm dann allerdings eine geringere Dosis als üblicherweise. Der Lehrer scheint nichts bemerkt zu haben, ebenso Taichi, der die Nachmittage oft bei mir verbrachte. Selbst jetzt bin ich nicht ganz runter von dem GHB, welches ich in geringer Dosis sofort nach dem Herointrip einnahm, doch die Wirkung scheint allmählich nachzulassen. Ich gehe in mein Zimmer, um das kleine Fläschchen zu holen, anschließend begebe ich mich in die Küche. Dort fülle ich ein Glas mit Orangensaft und tropfe die Droge hinein, da mir der seifige Geschmack im Moment zuwider ist. Gierig trinke ich die kühle Flüssigkeit in einem Zug aus. Dann lasse ich mich erschöpft auf einen der Stühle sinken, lege meinen Kopf in den Nacken und schließe die Augen. Warum hält Taichi mich derart hin? Es ist unerträglich, ihn nicht spüren zu können. Als Ersatz lasse ich dafür meinen Freier inzwischen täglich ran, zum Einen, um die Abweisung meines Freundes zu kompensieren, zum Anderen wegen des erhöhten Drogenbedarfs.

„Yamato, ist alles in Ordnung?“, fragt mein Vater besorgt, als er in die Küche kommt. Ich erschrecke mich so extrem, dass ich beinahe das GHB hätte fallen lassen. Panisch umfasse ich es fester und hoffe, dass er nicht auf meine Hand achtet.

„Ja, ich bin nur etwas müde. Ich muss jedoch gleich noch einmal weg.“

„Du warst doch bereits über Nacht bei einem Mitschüler, um zu lernen. Auch wenn ich mich über deinen Fleiß sehr freue, übernimm dich bitte nicht, okay?“

„Nein, heute lerne ich nicht mehr. Es ist ohnehin Sonntag, da haben die meisten Verabredungen mit Freunden. Aber morgen treffen wir uns wieder. Jetzt will ich nur kurz nach Shibuya, zu Tower Records.“ Ausnahmsweise entspricht meine Ortsangabe der Wahrheit.

„Verstehe. Kommt Taichi nachher noch?“

„Ja, am frühen Abend. Bis dahin bin ich aber zurück.“ Leichtigkeit durchflutet meinen Körper und ich merke, wie die Anspannung etwas von mir abfällt. Voller Zuneigung lächle ich meinen Vater an. Ich erhebe mich und verstaue dabei unbemerkt die kleine Flasche in meiner Gesäßtasche. Ohne darüber nachzudenken, lehne ich mich Halt suchend an meinen Vater.

„Was ist los? Geht es dir nicht gut?“, fragt er sofort und klingt beunruhigt.

„Doch, es ist alles in Ordnung. Ich möchte einfach nur deine Nähe, deinen Körper spüren. Bitte stoß mich nicht auch noch von dir.“

„Wie meinst du das?“ Ehrliche Verwunderung liegt in seiner Stimme.

„Ist nicht so wichtig, vergiss es einfach.“

„Taichi?“, hakt mein Vater nach. Ich schweige und presse mich stärker gegen ihn. Schützend umfängt er mich mit seinen Armen. Mein Körper reagiert auf jede seiner Berührungen mit angenehmer Erregung.

„Ich möchte dich küssen“, gestehe ich sehnsüchtig und zugleich schüchtern. „Bitte, Hiroaki. Nur…“ Sanft drückt mein Vater mich etwas von sich, legt einen Finger unter mein Kinn und dreht meinen Kopf in seine Richtung. Zunächst zaghaft küsst er meine Lippen, doch schnell spüre ich seine Zunge verlangend in meinem Mund. Immer fordernder steigert sich der Kuss in seiner Heftigkeit, sodass mir leicht schwindelig wird. Langsam dränge ich meinen Vater nach hinten, bis er gegen den Küchenschrank in seinem Rücken stößt. Begierig gleite ich mit meinen Händen seinen Körper hinab und öffne schließlich die Hose meines Gegenübers. Als Reaktion umgreift dieser schmerzhaft meine Oberarme, wechselt unsere Positionen und presst mich auf erregende Weise gegen den Schrank, ohne eine Sekunde von mir abzulassen. Schwer atmend löse ich mich von meinem Vater.

„Nimm mich“, flüstere ich heißer. Bestimmt zieht er mich an sich, streicht mit seinen Händen meinen Rücken hinab, über meine Lenden, meinen Steiß und greift, bevor ich reagieren kann, zielgerichtet in meine Hosentasche. Vorwurfsvoll und wütend hält er mir das kleine Fläschchen entgegen.

„Antworte mir ehrlich, Yamato! Hast du überhaupt jemals damit aufgehört.“ Mein Vater schreit mich fast an. Einen Augenblick schweige ich vor Entsetzen. Mein Herz klopft schnell.

„Nein“, entgegne ich ehrlich und mit gesenktem Blick.

„Wie oft konsumierst du das Zeug mittlerweile?“

„Ich habe es unter Kontrolle.“ Ruckartig hebe ich meinen Kopf wieder und schaue meinem Gegenüber direkt in die Augen, um ihn von meiner Aussage zu überzeugen.

„Das war nicht meine Frage. Wie oft, Yamato?“

„Nur, wenn ich anders nicht mehr zurechtkomme.“

„Wie oft?“ Ich seufze.

„Vielleicht zwei, drei Mal im Monat, manchmal auch einmal die Woche. Aber das…“ Ein heftiger Schlag ins Gesicht lässt mich zu Boden gehen. „Hör auf zu lügen!“ Zornig sieht er zu mir herab. Dieses Mal benutzte mein Vater sofort seine Faust und nicht erst die flache Hand, wie er es normalerweise tut, wenn er mich schlägt. Und wieder werden deutlich sichtbare Spuren des Übergriffes zurückbleiben. Gleichmütig bleibe ich liegen, schmecke das Blut in meinem Mund und fühle mich irgendwie gut.

„Du hast mich nur geküsst, um an diese beschissenen Drogen zu kommen, hab ich recht?“, frage ich gleichmütig. „Warum hast du nicht einfach von Anfang an zugeschlagen? Das hätte dich mit Sicherheit weniger Überwindung gekostet.“ Ein bitteres Lächeln legt sich auf meine Lippen. „Oder war es schlicht widerliches Mitleid mit deinem erbärmlichen Sohn? Weil ich von meinem Freund schon die ganze Zeit zurückgewiesen werde, konntest du mir das nicht auch noch antun, also hast du dich für den Moment geopfert. Gratuliere, mich zu erregen, um an meinen Stoff zu kommen, war eine wunderbare Idee. So hatten wir alle etwas davon.“ Ich drehe mich auf den Rücken und betrachte die Zimmerdecke. Das Lächeln wird zu einem unkontrollierten Lachen.

„Bist du gerade drauf?“ Die Mimik meines Vaters zeigt eine Mischung aus Entsetzen, Wut und verzweifelter Zuneigung.

„Und wenn schon. Mir geht es dadurch besser. Anders ist diese beschissene Welt doch nicht zu ertragen“, sage ich mit Gleichgültigkeit in der Stimme. Grob zieht mein Vater mich wieder auf die Beine, nur um erneut auf mich einzuschlagen. Ich wehre mich nicht, denn ich genieße den Schmerz, obwohl er sich durch die Droge etwas anders, ein wenig gedämpfter anfühlt als im nüchternen Zustand.

„Du brauchst Hilfe, Yamato. So geht es nicht weiter. Seit Akitos Tod bist du extrem abgestürzt. Deine Selbstverletzungen sind schlimmer geworden.“ Vehement ergreift mein Gegenüber mein linkes Handgelenk und schiebt meinen Ärmel ein Stück nach oben. „Ich möchte nicht wissen, wie tief du diesmal geschnitten hast, wenn ein Druckverband nötig ist. Mit deiner Drogenabhängigkeit kann ich noch weniger umgehen. Du entgleitest mir, Yamato, und ich habe eine verdammte Angst um dich!“ Tränen schimmern in seinen Augen. „Dennoch werde ich dir zuliebe vorerst von einer Einweisung absehen, wenn du zu dem Kompromiss bereit bist, dich noch einmal auf eine ambulante Therapie einzulassen, regelmäßig hingehst, ernsthaft mitarbeitest und nicht vorzeitig abbrichst.“ Für einen Moment lässt mich der Schock über das Gesagte erstarren. Dann weicht die Paralyse einer Panik. Bestürzt und angsterfüllt entziehe ich mich meinem Vater und verlasse fluchtartig die Wohnung. Seine Versuche, mich aufzuhalten, wehre ich ab und blende ich aus.
 

Der Wind weht kalt in mein Gesicht. Ich friere, bekomme das Zittern meines Körpers nicht unter Kontrolle. Zu kopflos habe ich die Wohnung verlassen, sodass ich mich nun ohne Jacke und ohne Schuhe mitten im November auf dem Dach eines 54-stöckigen Hochhauses befinde. Ich stehe nah am Abgrund, es ist nur ein kleiner Schritt auf der Erhöhung notwendig, um in die endlose Tiefe springen zu können. Ein Schwindelgefühl überkommt mich, als ich ein wenig vorgebeugt nach unten sehe. Traurig blicke ich gen Himmel. Damals schien die Sonne und es war warm. Damals gab es viele Probleme zwischen Tai und mir, jeder von uns war in seinen Abhängigkeiten gefangen, allerdings hatte er zu diesem Zeitpunkt die Beziehung noch nicht beendet. Damals war mein Vater in Deutschland, wir schliefen noch nicht miteinander. Damals lebte Akito noch, wir hatten nahezu regelmäßig Sex, ich war bereits in ihn verliebt, hätte jedoch nicht gedacht, dass ich jemals eine Beziehung mit ihm eingehen würde. Damals bin ich nicht gesprungen. Wäre ich in der damaligen Situation konsequent gewesen, hätte ich all das nicht mehr erlebt. Ich weiß nicht, ob ich froh darüber bin oder ob es nicht doch besser gewesen wäre, einfach zu sterben. Und wie ist es dieses Mal? Ich stehe an derselben Stelle, vor derselben Entscheidung.

„Yamato!“ Die panisch klingende Stimme meines Vaters reißt mich aus meinen Gedanken. Ich drehe mich um, bleibe aber dicht am Rand stehen. Ganz außer Atem und mit angsterfülltem Blick erfasst mein Vater die Situation und wahrt zunächst etwas Abstand zu mir.

„Ich wusste, dass du dich an meine Worte erinnern und herkommen würdest“, rufe ich ihm ernst zu.

„Bitte, Yamato. Komm her. Ich habe deine Schuhe und eine Jacke von dir dabei. Sicher frierst du. Der Wind ist hier oben noch unangenehmer. Du wirst dich erkälten, wenn…“

„Nein. Nimm zuerst deine Therapieforderung zurück. Dann sehen wir weiter.“

„Willst du mich erpressen?“, fragt mein Vater ungläubig.

„Du lässt mir keine andere Wahl. Es tut mir leid, aber ich möchte mit diesem ganzen Psychoscheiß nichts mehr zutun haben. Würde es auch nur im Ansatz etwas nützen, wäre Akito noch am Leben. Er ist das beste Beispiel, dass die einem nicht helfen können, sondern alles bloß schlimmer machen. Die Klinik war jedes Mal die Hölle für mich, besser wurde danach jedoch nichts. Und die ambulante Therapie war reine Zeitverschwendung. Veränderungen hingen ausschließlich mit anderen Faktoren zusammen. Das musst du doch sehen, Papa!“ Verzweifelt schreie ich ihm meine Worte entgegen.

„Ich sehe es, Yamato. Aus diesem Grund habe ich die Drohung, dich einzuweisen, bisher nie wahrgemacht. Aber ich bin am Ende. Bitte verstehe auch mich. Ich habe eine verdammte Angst um dich! Vor allem, weil ich selbst dir nicht helfen kann. Was soll ich also deiner Meinung nach tun? Dich sterben lassen? Zusehen, wie du dich auf Raten tötest?“ Die Stimme meines Vaters zittert und ich glaube zu erkennen, dass er weint. Vorsichtig und mit langsamen Schritten kommt er auf mich zu.

„Bleib stehen!“, rufe ich ihm mit drohendem Unterton zu und setze gleichzeitig einen Fuß auf die Erhöhung am Rand des Daches. Unerwartet öffnet sich die Tür zum Treppenhaus. Ohne mich aus den Augen zu lassen, geht Tai zu meinem Vater.

„Du bist so ein manipulatives Arschloch, Yamato! Was willst du deinem Vater eigentlich noch alles antun?“ Ich merke, dass mein Freund extrem wütend ist, auch wenn er nach außen hin ruhig wirkt.

„Taichi, was…“

„Ich habe ihn angerufen“, unterbricht mich mein Vater. „In der Hoffnung, dass er dir mehr helfen kann als ich.“

„Es läuft also doch etwas zwischen euch. Sag, wirst du von meinem Vater gefickt, Taichi, oder treibt ihr es andersherum?“ Hasserfüllt schaue ich die beiden Menschen an, die mir alles bedeuten.

„Du bist paranoid und zugedröhnt, Yamato. Ich schlafe nicht mit deinem Vater. Niemals käme mir das auch nur in den Sinn. Ebenso würde er sich nie an jemandem vergreifen, der sein Sohn sein könnte und am Freund seines Sohnes erst recht nicht.“ Ein leichtes Lächeln legt sich auf meine Lippen, welches jedoch sofort verschwindet, als ich das betroffene Gesicht meines Vaters sehe.

„Nein, das würde er nicht“, murmle ich so leise, dass keiner der Beiden etwas verstanden haben dürfte. „Zumindest nicht von sich aus.“ Ich steige ganz auf die Erhöhung am Rand des Daches, stehe mit dem Rücken zum Abgrund. Ein Gefühl der Unsicherheit überkommt mich.

„Was soll das, Yamato?“ Vor Angst gelähmt starrt mein Vater zu mir. Er steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Tai versucht ihn zu beruhigen, indem er ihm eine Hand auf die Schulter legt.

„Ich muss mich korrigieren, Yamato“, ruft mir mein Freund herablassend entgegen. „Du bist nicht nur ein manipulatives, sondern auch ein egoistisches Arschloch!“ Ich lache laut auf.

„So wie du, Taichi.“

„Ja, es stimmt. Ich bin nicht besser als du. Obwohl ich weiß, wie wichtig die körperliche Komponente für dich ist, halte ich dich hin. Einfach so. Weil ich sehen will, wie du auf Dauer reagierst. Ich spiele mit dir. Obwohl ich dich liebe, tue ich dir unverzeihliche Dinge an. Gewaltsame Dinge, die dich ins Krankenhaus bringen, bei denen du sterben kannst.“

„Nein, Taichi. Du irrst dich. Es ist keine Liebe, die du für mich empfindest. Du willst Rache für damals und verlierst höchstens dein Ziel ab und zu aus den Augen.“

„Ja, anfangs trieben mich tatsächlich Rachegedanken dazu, dieses Spiel mitzuspielen. Aber das ist schon lange nicht mehr so. Und ich weiß nicht, wie oft ich dir das noch sagen muss, bis du mir endlich glaubst.“

„Deine Gefühle haben ihren Ursprung in einer Art Stockholmsyndrom. Wie könnte ich jemals etwas anderes glauben?“

„Du irrst dich schon wieder. Ich liebe dich mehr als alles andere. Es sind deine eigenen Zwangsgedanken und paranoiden Vorstellungen, welche dich die Wahrheit nicht sehen lassen.“

„Nein, du lügst!“, schreie ich meinen Freund verzweifelt an. „Ich habe dich vergewaltigt! Mehrfach! Das darfst du mir nicht verzeihen! Niemals!“ Tränen laufen unaufhörlich über meine Wangen.

„Yamato, du hast…“ Mein Vater, der die Unterhaltung stumm verfolgte, schaut erst entsetzt zu Tai und starrt dann mich fassungslos an. Verzögert registriere ich, was ich eben laut ausgesprochen habe.

„Ich…“ Meine Stimme stirbt ab.

„Hat Yamato dich wirklich vergewaltigt, Taichi?“ Mein Freund fixiert mich mit seinen Augen. Sein Blick ist emotionslos, als er die Frage meines Vaters mit einem Nicken beantwortet.

„Scheiße…“, flucht dieser leise. Er wirkt hilflos und ziemlich aufgelöst. „Wann?“

„Als wir elf waren, das erste Mal.“ Noch immer schaut Tai unverwandt zu mir.

„Yamato…“, richtet sich mein Vater sichtlich schockiert an mich. Ich taste mit einem Fuß nach hinten und spüre bereits die Kante. Wenn ich nur einen Schritt zurückgehe, falle ich.

„Jetzt willst du auch, dass ich sterbe, nicht wahr, Papa?“

„Nein, das möchte ich nicht. Ich liebe dich, deshalb will ich, dass du lebst und dass es dir gut geht.“ Mit langsamen Schritten kommt Tai näher, ergreift mein Handgelenk und zieht mich von der Erhöhung hinunter in seine Arme. Durch die Veränderung der Situation und die leichte Entspannung breche ich nervlich endgültig zusammen. Meine Beine geben nach und ich sinke mit meinem Freund zu Boden. Krampfartiges Weinen schüttelt meinen Körper und ich sacke immer weiter in mich zusammen.

„Herr Ishida, wir sollten ihm etwas von dem Beruhigungsmittel verabreichen, das Sie vorsorglich eingepackt haben. Ich möchte nicht riskieren, dass er in einer Kurzschlusshandlung plötzlich losrennt und doch noch springt.“ Tais Stimme vernehme ich nur am Rande meiner Wahrnehmung. Alles ist dumpf, taub und irreal. Aus einer Tasche holt mein Vater eine Jacke, die er mir um die Schultern legt, Schuhe, eine Flasche Wasser und die Medikamentenschachtel. Ich kralle mich an meinem Freund fest, Tränen tropfen unablässig von meiner Nasenspitze und meinem Kinn.

„Hier, Yamato. Nimm sie bitte, so wirst du etwas Ruhe finden.“ Mein Vater hält mir eine dieser kleinen, blauen Tabletten und die Flasche entgegen. Wie fremdgesteuert schlucke ich das Medikament. Nach einigen Minuten tritt die Wirkung ein und setzt mich endgültig außer Gefecht. Wie durch einen Dunstschleier bekomme ich mit, dass Taichi meine Tränen weg küsst, mein Vater mich anschließend hochhebt und auf seinen Armen in Richtung Treppenhaus trägt. Dann gleite ich in die Bewusstlosigkeit ab.
 

„… tun konnte. Ich traue ihm ja inzwischen einiges zu, aber dass er dich…“ Die Stimmen klingen weit entfernt, als ich langsam zu mir komme. Ziemlich benommen halte ich meine Augen geschlossen. Offenbar unterhalten sich mein Freund und mein Vater gerade über ein ernstes Thema.

„Sprechen Sie es bitte aus, sonst geben Sie dem Ganzen eine schwerere Bedeutung, als es hat.“

„Taichi, du solltest aufpassen, dass du diese Angelegenheit nicht bagatellisierst. Mein Sohn hat dich vergewaltigt. Hast du jemals mit jemandem darüber gesprochen, um es zu verarbeiten?“

„Mit Yamato. Diese Sache geht niemanden sonst etwas an.“

„Du musst ihn nicht in Schutz nehmen. Was er getan hat, war kein Kavaliersdelikt. Wenigstens mit deinen Eltern hättest du reden müssen. Wie bist du über die Jahre damit umgegangen? Hast du versucht es zu verdrängen und so getan, als wäre nichts geschehen?“ Mein Freund schweigt einen Moment.

„Nein, das war nicht möglich.“

„Wieso n…“ Mitten im Satz stockt mein Vater. „Nein… Taichi, bitte… sag mir, dass meine Befürchtung…“

„Yamato nimmt sich, was er will. Meist ohne Rücksicht. Bis heute. Er hat nie damit aufgehört. Körperlich bin ich ihm zwar überlegen, doch durch seine Kampfsporterfahrung habe ich dennoch kaum eine Chance gegen ihn. Deshalb wollte ich es ebenfalls lernen, um seine Übergriffe abwehren zu können, aber meine Eltern waren dagegen. Sie meinten, ich wäre mit dem Fußballspielen genug ausgelastet.“

„Taichi, es tut mir so…“

„Shh. Das möchte ich nicht von Ihnen hören.“ Ich öffne ein wenig meine Augen, weil eine Pause im Gespräch entsteht. Taichi hat seinen Zeigefinger auf die Lippen meines Vaters gelegt, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen und ihn sanft zum Schweigen zu bringen. Sie sitzen auf meinem Sofa, dicht beieinander, ihre Knie berühren sich und die Gesichter sind einander zugewandt. Viel zu nah. „Es ist nicht Ihre Schuld. Niemand trägt Schuld. In den Momenten, in denen Yamato die Kontrolle über sich verliert und mich mit Gewalt zum Sex zwingt, hasse ich ihn.“

„Warum trennst du dich nicht von ihm?“

„Weil ich ihn eigentlich liebe, Herr Ishida. Ich liebe ihn so sehr. Meistens schlafe ich freiwillig mit ihm. Ich will ihn spüren und ich will, dass er mich spürt. Insofern kann ich Yamato sogar verstehen, nur dass es bei ihm über jedes gesunde Maß hinausgeht. Er lebt in Extremen und leidet offensichtlich am meisten darunter. Haben Sie es vorhin mitbekommen? Er zerbricht an seinen Schuldgefühlen.“

„Wenn ich dir eines versichern kann, dann dass mein Sohn dich ebenso sehr liebt. Auch wenn er sich damals sofort auf eine Beziehung mit Akito einließ, ist er nie über die Trennung von dir hinweggekommen. Er hatte heftige Nervenzusammenbrüche, wirkte ansonsten jedoch leblos und leer.“

„Davon haben Sie…“

„Ja, ich weiß. Entschuldige. Ich habe meine Berichte am Telefon etwas abgeschwächt, weil ich wollte, dass du dich auf deine Suchtbewältigung konzentrierst.“

„Verstehe.“ Ich glaube zu erkennen, dass mein Freund in meine Richtung blickt, und hoffe, dass er meine einen Spalt geöffneten Augen nicht bemerkt hat. Bedächtig schließe ich sie wieder. „Herr Ishida, Sie schlagen ihn öfter, hab ich recht? Häufig sieht er ziemlich zugerichtet aus. Sie wissen, dass er Sie absichtlich provoziert, um genau dies zu erreichen? Er braucht den Schmerz. Auch ich weiß mir meist nicht anders zu helfen, als ihn mit Gewalt aus seiner verqueren Welt zu befreien. Yamato ist sehr manipulativ, ich habe nur noch nicht herausgefunden, ob er es bewusst oder unbewusst macht. Zudem habe ich Angst, was passiert, wenn wir seinen Provokationen nicht nachgeben. Vermutlich würde sein selbstverletzendes Verhalten noch stärker und vielleicht sogar gefährlicher werden.“ Plötzlich tritt Stille ein. Das Einzige, was ich höre, ist das Rascheln von Kleidung. Ich blinzle ganz leicht und sehe, dass Tai und mein Vater sich umarmen, kann aber nicht ausmachen, von wem diese innige Körperlichkeit ausging.

„Wenn Yamato seinen Schulabschluss hat, werde ich ihn einweisen lassen. Er braucht Hilfe, die wir ihm scheinbar nicht geben können. Aber zu einem solchen Übergriff darf es nie wieder kommen“, flüstert mein Vater, sodass ich Schwierigkeiten habe, ihn zu verstehen. Als ich den Sinn seiner Worte begreife, will ich panisch aufspringen, schaffe es jedoch mit Mühe, ruhig zu bleiben und so zu tun, als hätte ich mein Bewusstsein noch nicht wiedererlangt. Liebevoll streicht mein Vater über Taichis Rücken, während dieser sich an ihm festkrallt.

„Denken Sie wirklich, dass ein Klinikaufenthalt irgendwas besser macht? Yamato hat recht. Die bisherigen haben auch nichts genützt. Es würde ihn nur weiter kaputt machen.“

„Ich weiß. Aber es gibt keine Alternative mehr, oder? So kann es jedenfalls nicht weitergehen.“

„Nein“, antwortet mein Freund gedankenverloren, noch immer in einer liebevollen Umarmung mit meinem Vater.
 

Es ist bereits dunkel in meinem Zimmer, als ich zu mir komme. Offenbar bin ich noch einmal eingeschlafen, nachdem ich teilweise eine Unterhaltung zwischen meinem Vater und Taichi mitgehört habe. So vertraut, wie die beiden miteinander umgehen, bin ich mir sicher, dass sie Sex haben. Vermutlich wird Tai von meinem Vater genommen, da ich mir meinen Vater als passiven Part nicht vorstellen kann. Aber war das Gespräch wirklich real? Es fühlt sich sehr unwirklich an, was allerdings auch an dem Beruhigungsmittel liegen kann. In letzter Zeit ist meine Wahrnehmung nicht gerade verlässlich. Oft habe ich das Gefühl, zu halluzinieren, kann echt von unecht nicht unterscheiden. Vielleicht war es auch einfach nur ein Traum. Vorsichtig richte ich mich auf. In meinem Kopf pulsiert es, ich bin kraftlos. Auf dem Sofa erkenne ich die Silhouetten von zwei Menschen. Mein Vater ist leicht in sich zusammengesackt und scheint zu schlafen. Taichi sitzt neben ihm, an ihn gelehnt und ebenfalls schlafend. Das Gespräch war also doch keine Einbildung, was bedeutet, dass auch die Ankündigung, mich nach dem Schulabschluss einzuweisen, den Tatsachen entspricht. Will mein Vater mich loswerden? Er kann nicht glücklich werden, solange es mich gibt. Schon gar nicht mit meinem Freund, weil ich es nicht zulassen würde. Ich frage mich, ob mein Vater Taichi wirklich liebt und ob Tai mit ihm ebenso spielt wie mit mir. Ist er überhaupt in der Lage, so etwas wie Liebe zu empfinden? Oder ist er doch nur ein kranker Psychopath? Wobei ich zugeben muss, dass diese Seite an ihm mich sehr erregt. Langsam stehe ich auf und gehe leise zur Tür.

„Yamato“, spricht mein Vater mich mit schläfriger Stimme an. „Wohin willst du?“

„Komm mit raus“, flüstere ich. Behutsam löst er sich von meinem Freund, legt ihn richtig auf das Sofa und deckt ihn liebevoll zu. Dann folgt er mir. Im Flur drücke ich meinen Vater sofort mit Gewalt gegen die Wand und öffne fordernd seine Hose.

„Yamato!“ Er macht Anstalten, sich zu wehren, doch ich wende meine Kampfsportkenntnisse an, um ihn bewegungsunfähig zu machen.

„Sei still oder willst du Tai aufwecken und ihn zusehen lassen, wie wir es miteinander treiben?“, raune ich höhnisch in sein Ohr.

„Ist das dieselbe Vorgehensweise, mit der du dir Taichi gefügig machst, wenn du ihn vergewaltigst? Verdammt nochmal, Yamato! Weißt du eigentlich noch, was du tust?“

„Sag du es mir. Immerhin vögelst du meinen Freund! Los, mach schon. Besorge es mir genauso, wie du es Tai besorgst!“

„Du bist dermaßen besessen von dieser wahnhaften Idee. Zwischen Taichi und mir läuft nichts!“

„Wie du willst. Wenn du mich nicht fickst, werde ich dich jetzt nehmen.“ Nicht gerade sanft drehe ich meinen Vater mit dem Gesicht zur Wand, presse ihn stark dagegen und drehe einen seiner Arme schmerzhaft auf den Rücken. Mit meiner freien Hand mache ich mich an seiner bereits geöffneten Hose zu schaffen. Unerwartet spüre ich von der Seite einen harten Faustschlag in meinem Gesicht, der die frische Wunde an meiner Lippe wieder aufplatzen lässt und mich brutal zu Boden bringt.

„Was ist los, Yamato? Steh auf! Ich will dir wieder etwas Verstand in dein hübsches Köpfchen prügeln. Merkst du eigentlich, dass du jeglichen Bezug zur Realität verloren hast? Dein Vater hat recht. Du brauchst Hilfe. Und zwar dringend.“ Dieser hat inzwischen seine Hose geschlossen und hockt sich nun neben mich.

„Yamato? Hörst du mich? Sieh mich bitte an!“ Ich reagiere nicht, sondern halte meinen Freund mit meinen Augen fixiert. „Yamato, ich werde dich jetzt in die Klinik fahren.“

„Nein!“ Panisch schaue ich nun zu meinem Vater.

„Doch. Du bist nicht mehr zurechnungsfähig und ich befürchte, dass du in deinem momentanen Zustand jemand anderem oder dir selbst etwas antun könntest.“

„Bitte, Papa! Das darfst du nicht! Schieb mich nicht einfach ab!“

„Hör auf, Yamato!“, schaltet sich Taichi ein. „Dieses Mal schaffst du es nicht, deinen Vater zu manipulieren. Es muss sein. Bitte versteh das.“ Ich schaue zwischen meinen Widersachern hin und her.

„Ja, ich verstehe. Ihr wollt ungestört ficken und dafür muss ich natürlich verschwinden.“ Nachsichtig lächelt mein Vater mich an.

„Komm jetzt, Yamato.“ Er will mir aufhelfen, doch ich stoße ihn heftig von mir.

„Fass mich nicht an!“, drohe ich und verliere endgültig die Nerven. Schnell stehe ich auf und renne zur Tür. Bevor ich diese allerdings erreiche, hält mein Freund mich grob am Handgelenk fest.

„Du bleibst hier! Laufe nicht immer vor deinen Problemen davon.“ Liebevoll, aber bestimmt zieht er meinen Körper an sich und umfängt ihn mit seinen Armen. Verzweifelt versuche ich mich zu wehren, doch Taichi gibt nicht nach und hält mich fest umklammert. „Ruhig, Yamato. Niemand will dir etwas tun.“

„Ihr wollt mich wegsperren!“, schreie ich meinen Freund hysterisch an.

„Wir wollen dir helfen“, entgegnet mein Vater, der inzwischen aufgestanden und zu uns gekommen ist. „Und momentan ist die Krisenintervention das Einzige, was dich vor dir selbst schützen kann. Glaube mir, wir würden dich lieber bei uns behalten. Aber du bist gerade so sehr in deiner eigenen Welt gefangen, dass wir dich nicht mehr erreichen.“ Tai gibt mich in die Obhut meines Vaters, da er es kaum noch schafft, mich zu bändigen. Dieser hält mich von hinten fest. Sofort beginne ich nach meinem Freund zu treten, der mir ausweicht, indem er einige Schritte zurückgeht. Fieberhaft versuche ich mich aus den Fängen meines Vaters zu befreien.

„Taichi, ruf bitte in der Klinik an. Allein schaffen wir es nicht, Yamato ist völlig außer Kontrolle. Ich nehme an, dass sie ihn ruhigstellen müssen.“

„Nein, Tai! Bitte, ich flehe dich an!“ Tränen der Verzweiflung laufen über meine Wangen. „Taichi… bitte…“ Meine Stimme versagt.

„Es tut mir leid, Yamato. Wirklich.“ Die Augen meines Freundes sehen mich unglaublich traurig an, als er den Hörer des Telefons abnimmt. „Ich liebe dich und habe gerade ziemliche Angst um dich. Verzeih mir, aber ich will dich nicht verlieren!“ Tai wählt eine Nummer. Weinend breche ich in den Armen meines Vaters zusammen.
 

„Herr Ishida.“ Nur am Rande meiner Wahrnehmung registriere ich, dass eine Schwester mein vorübergehendes Zimmer betritt. Teilnahmslos liege ich auf meinem Bett und starre aus dem geschlossenen, vergitterten Fenster. „Gehen Sie bitte zum Mittagessen, damit ich den Raum durchlüften kann.“

„Ich habe keinen Hunger“, sage ich monoton.

„Sie müssen etwas essen. Zum Frühstück haben sie auch nichts zu sich genommen. Ihr Vater teilte uns bereits mit, dass es bei diesem Thema Probleme geben könnte. Es liegt an Ihnen, entweder Sie essen freiwillig oder ich gebe dem Stationsarzt Bescheid, damit er eine Zwangsernährung bei Ihnen veranlasst.“ Ich schaue die Schwester an. Ihr Blick verrät mir, dass sie es ernst meint. Schwerfällig erhebe ich mich aus dem Bett, meine Beine geben jedoch sofort nach. Fürsorglich versucht die Schwester mich zu stützen und hilft mir, mich wieder auf die Matratze zu setzen.

„Es tut mir leid, mir ist etwas schwindelig“, murmle ich tonlos.

„Sie sollten sich nach dem Essen dann nicht gleich hinlegen. Bewegen Sie sich etwas, um Ihren Kreislauf zu stabilisieren.“

„Wo soll ich mich hier denn bewegen? Den Gang auf und ab laufen?“

„Heute Nachmittag wird die Terrasse für eine Stunde aufgeschlossen. Nutzen Sie die Gelegenheit, etwas an die frische Luft zu kommen.“

„Wann werde ich entlassen?“

„Das müssen Sie mit dem behandelnden Arzt besprechen. Dazu kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Er ist heute nach dem Mittagessen auf dieser Station, da er Wochenendbereitschaft hat. Sie können um ein Gespräch bitten, wenn sie etwas zu sich genommen haben. Versuchen Sie noch einmal ganz langsam aufzustehen.“ Ich befolge Ihre Anweisung ohne Widerworte. Das Schwindelgefühl ist nicht abgeklungen, aber schwächer geworden. Müde schleppe ich mich zu dem Speise- und Aufenthaltsraum, setze mich auf einen freien Stuhl und schaue leblos ins Nichts. Die Tabletts werden von einem Pfleger an die Patienten verteilt. Sobald er den Raum verlassen hat, wird mit dem Lebensmitteltauschhandel begonnen. Auch ich verteile die verschiedenen Nahrungsmittel, die mir vorgesetzt wurden, unter meinen Mitpatienten. Ohne Gegenleistung. Im Abstand von fünf Minuten sieht ein Aufpasser nach dem Rechten. Nach einer halben Stunde kommt der Pfleger zurück, um die ersten Tabletts wieder abzuräumen.

„Denken Sie bitte an die Medikamentenausgabe im Schwesternzimmer“, ruft er dabei in den Raum. Einen Moment bleibe ich noch sitzen, dann gehe ich zum Zimmer des Stationsarztes. Ich klopfe an.

„Es ist noch niemand da“, informiert mich eine der Schwestern. „Holen Sie sich bitte Ihre Medizin, Herr Ishida.“

„Erst muss ich mit dem Arzt sprechen.“

„In der Zeit, in der Sie auf den Arzt warten, können Sie auch Ihre Tabletten einnehmen.“ Genervt wende ich mich um und laufe auf die Schwester zu.

„Das Benzodiazepin schlucke ich aber erst nach dem Gespräch.“

„Ich verabreiche Ihnen die Medikation gemäß der ärztlichen Verordnung. Wenn Sie sich weigern, werden Sie fixiert und intravenös ruhiggestellt.“

„Wie soll ich denn vernünftig mit dem Arzt sprechen, wenn ich völlig zugedröhnt bin?“, frage ich unzufrieden. Die mir gegenüberstehende Frau antwortet nicht, sondern hält mir einen kleinen, mit Wasser gefüllten Plastikbecher und einen Medikamenteneinteiler mit vier Fächern für morgens, mittags, abends, nachts hin. Sie leert das Fach mit der Aufschrift mittags auf meiner Handfläche aus. Das Fach für morgens ist bereits ohne Inhalt. Stumm blicke ich auf die vier verschiedenen Tabletten, von denen drei zu meiner eingestellten Medikation gehören. Die kleine blaue Tablette dient lediglich zur Ruhigstellung und wird in der Regel nur kurzzeitig verabreicht, da diese Arznei ein großes Abhängigkeitspotential besitzt. Widerwillig schlucke ich im Beisein der Schwester die Psychopharmaka mit etwas Wasser hinunter. Die Dosierung des Beruhigungsmittels muss höher sein als bei meiner letzten Einweisung. Die Wirkung greift wieder, ich kann kurz nach der Einnahme keinen klaren Gedanken mehr fassen und bin völlig benommen. Ich habe noch etwa zehn Minuten im halbwegs klaren Zustand. Zu wenig Zeit, um dem Arzt mein Anliegen vorzutragen. Betrübt gehe ich zurück in mein Zimmer und lege mich auf das Bett. Das Fenster ist nach dem Lüften wieder abgeschlossen worden. Mir geht ein Gedanke durch den Kopf, den ich vergesse, bevor ich ihn richtig zu fassen bekomme. Dabei fühlt es sich so an, als wäre es etwas Wichtiges gewesen. Krampfhaft versuche ich mich zu erinnern, doch mein Denken entgleitet mir immer mehr. Ich schließe die Augen.
 

Ich spüre eine kühle Hand, die mir liebevoll vereinzelte Haarsträhnen aus der Stirn streicht. Benommen öffne ich meine Augen.

„Taichi?“, nuschle ich unverständlich. Das Benzodiazepin, welches ich vier Mal täglich verabreicht bekomme, beeinträchtigt mein Sprachvermögen enorm.

„Ja. Es ist Besuchszeit. Dein Vater ist auch hier und spricht gerade mit dem Arzt.“

„Hm.“ Die Frage, ob ich halluziniere, kommt in mir auf. „Bitte berühre mich, damit ich weiß, dass du echt bist.“ Mein Freund beugt sich zu mir und küsst sanft meine Lippen. Dann lächelt er.

„Keine Angst, ich bin wirklich hier. Du unterliegst keiner Sinnestäuschung.“ Tränen laufen, von mir zunächst unbemerkt, meine Wangen hinab, bis Tai sie mit behutsamer Zärtlichkeit von meiner Haut küsst. Er steht auf und legt sich hinter mich auf das Bett. Schützend umfängt er mit seinem Arm meinen Körper. Ich spüre die Wärme meines Freundes und schließe beruhigt die Augen.
 

„Herr Ishida. Herr Ishida!“ Langsam öffne ich meine Augen. Desorientiert blicke ich die Schwester, die an meinem Bett steht, an. Plötzlich erinnere ich mich an Taichis Anwesenheit. Ich drehe mich um, doch neben mir liegt niemand. War er doch nur Einbildung? „Es ist Zeit für das Abendessen“, sagt sie sanftmütig. Noch immer verwirrt schaue ich mich im Zimmer um.

„War vorhin…“

„Ihr Vater ist mit Ihrem Freund unten in der Caféteria, da die Patienten zu den Essenszeiten keinen Besuch empfangen dürfen. Machen Sie sich also keine Gedanken, in zirka einer halben Stunde können Sie noch etwas Zeit miteinander verbringen. Aber jetzt werden Sie erst einmal ihre Mahlzeit zu sich nehmen.“ Nach wie vor leicht benebelt, erhebe ich mich, laufe unsicheren Ganges über den Flur zum Speise- und Aufenthaltsraum. Mein Umfeld ausblendend lasse ich mich auf einen der Stühle sinken.

„Yamato?“ Ich reagiere nicht. „Du bist doch Yamato, oder?“ Ich hebe meinen Kopf und betrachte die zierliche Frau, die schüchtern lächelnd vor mir steht.

„Frau Itami“, flüstere ich erstaunt. „Sie sind noch immer hier?“

„Ja, es hat lange gedauert, aber jetzt bin ich stabil genug, um nächste Woche auf die offene Station verlegt zu werden.“

„Das ist schön. Sie sehen auch besser aus als bei meinem Besuch.“ Ich lächle schwach.

„Dafür siehst du gar nicht gut aus. Ich hatte dich schon heute Morgen erkannt, traute mich jedoch nicht dich anzusprechen. Die meiste Zeit bist du ziemlich weggetreten. Wann wurdest du eingewiesen? In der Nacht?“

„Kann sein.“ Ich senke den Blick. Die Mutter meines verstorbenen Freundes begibt sich auf Augenhöhe zu mir und berührt mit ihren Fingern leicht meine Wange.

„Gib dich bitte nicht auf, Yamato. Du bist stärker, als Akito es war.“

„Er fehlt mir so sehr“, flüstere ich mit erstickter Stimme. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und ich kann kaum atmen. „Würde er noch leben, wenn er mir wenigstens ein Mal geglaubt hätte, dass ich ihn liebe? Würde er noch leben, wenn Sie Ihr Leben im Griff hätten und mehr für ihn da gewesen wären? So, wie es für eine Mutter normal sein sollte?“ Schmerzlich halte ich inne. Dass ich aufgrund meiner erhöhten Lautstärke die Aufmerksamkeit der anderen Anwesenden auf mich gezogen habe, interessiert mich nicht. Auch nicht, dass einer der Pfleger eilig auf mich zugelaufen kommt. Ich lächle und schaue ihn an, als er vor mir stehen bleibt. „Mütter sind doch immer egoistische Schlampen, hab ich recht?“, frage ich ruhig. „Sie nehmen einem die Geschwister weg, zerstören die ganze Familie und denken, es wäre das Beste für alle.“ Mein krampfhaftes Lachen hallt durch den Raum. Dann fixiere ich Frau Itami finster. „Sie haben Akito getötet!“ Entsetzt schaut sie mich an. Der Pfleger packt mich grob an den Schultern und schüttelt mich leicht.

„Es reicht, Herr Ishida! Beruhigen Sie sich.“

„Nein, verdammt!“ Energisch versuche ich mich aus seinem Griff zu befreien. „Sie ist schuld, dass mein Freund sich das Leben genommen hat, weil sie nichts als eine Last für ihn war. Warum hat er sie nicht einfach verrecken lassen? Warum hat er sich nicht von ihr lösen können? Warum hat er sie trotz allem geliebt?“ Weinend breche ich zusammen. „Warum hat er uns keine Chance gegeben? Warum hat er mich allein gelassen?“ Nur am Rande bekomme ich mit, dass weitere Personen den Raum betreten. Als eine Ärztin den Ärmel meines Hemdes nach oben schiebt, beginne ich panisch um mich zu schlagen. „Fasst mich nicht an!“ Mit geübten Handgriffen bekommen mich die Pfleger soweit unter Kontrolle, um meinen Körper auf die Fixierbahre im Flur tragen zu können und ihn mit den dafür vorgesehenen Gurten festzuschnallen. Erneut legt die Ärztin meine Armbeuge frei und injiziert mir ein starkes Beruhigungsmittel. Fast unmittelbar lässt meine Gegenwehr nach. Mein Denken wird zäh, meine Empfindungen taub. Ich verstehe die Worte der umstehenden Personen nicht mehr, registriere meine Umgebung kaum noch. Teilnahmslos starre ich ins Nichts.
 

Langsam öffne ich meine Augen. Das grelle Tageslicht schmerzt, sodass ich sie gleich wieder schließe. Mein gesamter Körper fühlt sich an, als wäre ich überfahren worden. Krampfhaft versuche ich mich daran zu erinnern, was passiert ist. Akito. Ich glaube, ich bin seinetwegen ausgerastet, habe seine Mutter beschimpft, ihr Vorwürfe gemacht sowie die Schuld an allem ihr gegeben. Als die Tür zu diesem Zimmer geöffnet wird, schlage ich meine Augen erneut auf. Vermutlich ist es eine der Schwestern oder ein Pfleger, um nach mir zu sehen.

„Ah, Herr Ishida. Sie sind wach“, spricht mich die junge Frau, die nun den Raum betritt, freundlich an. „Sie haben lange geschlafen. Das Sedativum, welches Ihnen verabreicht wurde, war relativ stark. Wie fühlen Sie sich?“

„Ich bin mir nicht sicher. Noch ziemlich benommen.“

„Das wird sich geben. Haben Sie etwas Geduld.“ Lächelnd setzt sie sich zu mir ans Bett, misst meinen Blutdruck, den Puls sowie meine Körpertemperatur und notiert die Werte.

„Wie spät ist es?“, frage ich mit nach wie vor leicht kratziger Stimme.

„Gleich drei Uhr nachmittags. Es gibt Kaffee und Kuchen, wenn Sie möchten.“

„Welcher Tag ist heute?“, will ich wissen, obwohl ich mir die Antwort selbst ausrechnen kann.

„Montag. Wollen Sie nicht aufstehen? Die Terrasse wird halb vier für eine Stunde geöffnet. Etwas Bewegung und frische Luft wird Ihnen gut tun.“ Meine Gedanken driften ab, sodass ich der Schwester kaum noch zuhöre. Montagnachmittag. Das bedeutet, ich habe die Schule verpasst und somit die Bedingung für meinen Schulabschluss, keine weiteren Fehltage zu haben, nicht erfüllt. Wie konnte es nur dazu kommen? Wieso bin ich einmal mehr in der geschlossenen Psychiatrie gelandet? Habe ich wirklich so sehr die Kontrolle verloren, dass dieser Schritt notwendig war?

„Herr Ishida?“, werde ich von der Schwester aus meinen Gedanken gerissen. Gerade als ich auf sie reagieren möchte, öffnet sich erneut die Tür und der Stationsarzt schaut in das Zimmer. Erfreut registriert er, dass ich wach bin, nimmt sich den Stuhl, der an dem kleinen Tisch steht, und setzt sich ebenfalls zu mir ans Bett.

„Wie sind die Messwerte?“, richtet er sich zunächst an seine junge Mitarbeiterin.

„Der Blutdruck ist etwas niedrig, ansonsten ist alles im Normalbereich.“

„Und wie geht es Ihnen, Herr Ishida?“, möchte der Arzt nun von mir wissen. Ich räuspere mich etwas, da mein Hals trocken ist.

„Noch immer etwas benommen, schwindelig.“

„Sie müssen sich auch mehr bewegen, um Ihren Kreislauf anzukurbeln. Liegen Sie nicht die ganze Zeit im Bett“, bringt der Arzt mir vorwurfsvoll entgegen. Missmutig blicke ich ihn an, verzichte jedoch auf eine Bemerkung. „Kommen Sie, Ihr Vater und Ihr Freund warten im Besucherzimmer auf Sie.“ Hellhörig richte ich mich auf. „In einer halben Stunde beginnt die offizielle Besuchszeit, bis dahin sind sie auf jeden Fall ungestört. Ihr Vater möchte einiges mit Ihnen besprechen.“ Schwerfällig erhebe ich mich und verlasse mit dem Arzt und der Schwester zusammen den Raum. Während die beiden in die Richtung ihrer Dienstzimmer gehen, laufe ich langsam über den Flur zum Besucherzimmer. Ich fühle mich schwach und sehr wackelig auf den Beinen. An meinem Ziel angelangt, drücke ich mit Bedacht die Türklinke nach unten. Tai und mein Vater sitzen auf dem Sofa und schauen mich liebevoll, aber ernst an. Leise schließe ich die Tür und nehme den beiden gegenüber auf dem Sessel Platz.

„Wie geht es dir?“, fragt mein Vater sorgenvoll.

„Soweit okay, aber warum hast du mich eingewiesen? Du weißt doch genau, was weitere Fehltage bedeuten!“, entgegne ich anklagend.

„Du hast mir keine Wahl mehr gelassen, Yamato“, verteidigt er sich. „Ich bekam dich nicht unter Kontrolle. Du warst unberechenbar.“

„Nein, das ist nicht wahr! Ich…“

„Yamato“, schaltet sich Taichi ein. „Du wolltest deinen Vater vergewaltigen.“

„Was? Nein!“ Empört betrachte ich meinen Freund.

„Hättest du mit deinem Vater geschlafen, wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre?“ Ich schweige einen Moment.

„Ja“, gebe ich schließlich beinahe stimmlos zu.

„Das nennt man Vergewaltigung, Yamato. Du kannst dir nicht immer mit Gewalt holen, was dir freiwillig nicht gegeben wird. Und dein Vater wollte mit Sicherheit nicht von dir genommen werden. Aber allein schon die Tatsache, dass du Sex mit deinem eigenen Vater wolltest, zeigt deutlich, dass du nicht bei Verstand warst und eine Einweisung somit die einzig logische Konsequenz darstellte.“ Ich schaue zu meinem Vater. Dieser erwidert meinen Blick schweigend. Mir fällt auf, wie sehr Taichi Partei für meinen Vater ergreift und dass der meinen Freund gewähren lässt. Wieder empfinde ich Eifersucht und erneut drängt sich mir die Gewissheit auf, dass die Beiden miteinander ins Bett gehen.

„Yamato“, richtet nochmals mein Vater das Wort an mich. „Ich hoffe inständig, dass es sich als kein folgenschwerer Fehler erweist, den ich bitter bereuen und teuer bezahlen muss. Vorhin habe ich deine Entlassung veranlasst. Der Arzt teilte mir zwar seine Bedenken mit und war strikt dagegen, allerdings habe ich ihm die Umstände bezüglich deines Schulabschlusses erklärt. Dennoch musste ich unterschreiben, dass du gegen ausdrücklichen ärztlichen Rat entlassen wirst. Jetzt trage also ich die gesamte Verantwortung, falls etwas passiert.“ Mit großen Augen schaue ich ihn an.

„Aber was ist mit der Schule? Ich habe gegen die Auflage, nicht mehr zu fehlen, verstoßen.“

„Das stimmt. Aus diesem Grund habe ich heute Morgen mit deinem Direktor gesprochen. Du wirst einen Test ablegen müssen, mit dem dein Wissensstand geprüft wird. Dein Bestehen bedeutet, dass du auf dem Niveau deiner Mitschüler bist. Dann kannst du trotz deiner Fehltage deinen Abschluss machen, vorausgesetzt es kommen, von dieser Woche einmal abgesehen, keine weiteren hinzu.

„Diese Woche?“, frage ich irritiert.

„Du darfst zwar heute mit nach Hause kommen, allerdings stehst du noch immer unter starken Beruhigungsmitteln. Du weißt, dass du sie nicht einfach absetzen kannst. Um Entzugserscheinungen zu vermeiden, musst du sie langsam ausschleichen. Deshalb solltest du wenigstens noch bis Ende der Woche zu Hause bleiben. Wenn keine schlimmen Nebenwirkungen eintreten, kannst du ab nächsten Montag wieder zur Schule gehen.“ Einen Moment schweige ich und schaue die Männer mir gegenüber abwechselnd an.

„Danke“, sage ich schließlich im Flüsterton. Meine Empfindungen sind noch immer ziemlich dumpf, was vermutlich tatsächlich daran liegt, dass ich derzeit dauerhaft unter diesen alles abtötenden Medikamenten stehe. Einerseits mag ich dieses Gefühl, weil man über nichts mehr nachdenkt, sich einfach treiben lässt, aber andererseits kommt man sich auch unglaublich verblödet vor.

„Tai?“, spreche ich meinen Freund an. „Du warst doch ganz gut in der Schule. Würdest du mir die Dinge erklären, die ich beim Lernen nicht verstehe? Ich will meinen Schulabschluss unbedingt schaffen.“

„Woher kommt plötzlich dieser Wille?“, fragt Taichi skeptisch, denn alle in diesem Raum wissen, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein wird. Vermutlich wird er sich bereits mit nachlassender Wirkung der Medikamente wieder wandeln. Bewusstseinsverändernde Substanzen sind generell problematisch. Wenn man drauf ist, sieht man die Welt mit anderen Augen. Es erscheint alles einfacher, leichter und man hat das Gefühl, endlich leben zu können. Doch wenn man wieder in der harten Realität aufschlägt, verzweifelt man, weil einem alles viel schlimmer vorkommt, als es eigentlich ist. Bei Heroin sind, nach meinem Empfinden, die Extreme am schlimmsten.

„Yamato, du bist abwesend und stehst ziemlich neben dir. Vielleicht wäre es besser, wenn du die Nacht über noch hier bleibst und ich dich morgen abhole. Dann kannst du unter professioneller Aufsicht mit dem Ausschleichen beginnen.“

„Nein, bitte! Hier drin verliere ich wirklich noch den Verstand. Außerdem ertrage ich die Anwesenheit von Akitos Mutter momentan nicht. Durch sie muss ich an Akito und seinen Tod denken. Es tut einfach wahnsinnig weh.“ Ich richte meinen Blick auf Taichi, dessen Miene sich verfinsterte, als er den Namen Akito hörte. Dennoch sagt er nichts.

„Ich verstehe dich ja, aber…“, äußert sich mein Vater, allerdings unterbreche ich ihn.

„Nein. Ich bitte dich. Nimm mich heute mit.“ Seufzend lenkt er ein.

„Also gut. Im Übrigen habe ich mit Taichi ausgemacht, dass er die Tage, während du die Tabletten absetzt, bei uns bleiben wird und auf dich aufpasst, da ich mir auf Arbeit nicht frei nehmen kann.“

„Wird er auch bei uns übernachten?“, frage ich hoffnungsvoll.

„Nein, nachts bin ich doch zu Hause.“

„Aber dann bin ich nicht so allein. Oder darf ich mit in deinem Bett schlafen?“ Ich werfe meinem Vater einen vielsagenden Blick zu.

„Du verhältst dich wie ein Kind, Yamato“, entgegnet der vorwurfsvoll.

„Ist schon okay, Herr Ishida. Für mich wäre es in Ordnung, wenn Sie nichts dagegen haben.“ Liebevoll legt Tai seine Hand auf den Unterarm meines Vaters. Wieder diese Vertrautheit zwischen den Beiden. Argwöhnisch beobachte ich, wie mein Freund seinen Sitznachbarn anlächelt. Ich frage mich, ob sie nur miteinander vögeln oder ob es nicht schon eher in Richtung Beziehung geht. Zumindest würde das erklären, warum Tai sich nicht näher auf mich einlässt. Aber vielleicht bilde ich mir das alles doch nur ein. Immerhin ging die Kontaktaufnahme von ihm aus. Andererseits sieht er auf diese Weise meinen Vater häufiger und ihre Beziehung wird dadurch unauffälliger. Doch wenn ich Taichi darauf anspreche, streitet er mit Sicherheit alles ab. Ein verächtliches Lächeln legt sich auf meine Lippen. Gerade wird mir bewusst, dass wir eine Art Dreiecksbeziehung führen, in der jeder mit jedem vögelt. Die Vorstellung, mit beiden gleichzeitig zu schlafen, widert mich allerdings an. Diese Form von Sex hat nichts mehr mit den Personen selbst zu tun. Das intensive Spüren des Anderen geht verloren, da die Konzentration und die Empfindungen unweigerlich auf den eigenen Körper gerichtet werden.

„Yamato, du packst mit Taichi deine Sachen zusammen und ich hole in der Zeit deine Medikamente. Bevor du entlassen wirst, möchte der Arzt aber noch einmal mit dir sprechen. Wenn du fertig bist, klopfe einfach an die Tür seines Dienstzimmers.“ Mein Freund erhebt sich als erster und bleibt vor mir stehen. Zärtlich streicht er durch meine Haare, hält sie im Nacken zusammen und lächelt.

„Komm. Du solltest dich mal wieder kämmen.“

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

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Nach einigen Stunden, die ich überwiegend reglos und weinend gegen die Tür gelehnt verbrachte, zwingt mich der Durst den Schutz meines Zimmers zu verlassen. Leise gehe ich durch den Flur in die Küche. Ich zucke innerlich zusammen, als ich meinen Vater am Tisch sitzen sehe. Aus starren, leblosen Augen schaut er mich an. Erst jetzt registriere ich die angefangene Whiskeyflasche und das fast geleerte Glas vor ihm, ebenso wie den Aschenbecher, die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug. Dem Kühlschrank entnehme ich eine Flasche Wasser, trinke einige Schlucke und stelle sie dann meinem Vater hin.

„Ich habe keine Ahnung, wie viel von dem Zeug du bereits in dich geschüttet hast. Solltest du den Whiskey neu aufgemacht haben, definitiv zu viel. Das Wasser kann helfen einen Kater zu verhindern, also bitte…“ Noch während ich mit meinem Vater spreche, wende ich mich zum Gehen. Der hält mich jedoch schmerzhaft stark am Handgelenk fest.

„Bleib da, ich muss mit dir reden.“ Seine Sprache ist inzwischen hörbar vom Alkohol beeinträchtigt.

„Nicht in deinem Zustand“, entgegne ich unnötig kalt.

„Wenn ich sage, du bleibst, dann bleibst du.“ Der Griff meines Vaters verstärkt sich weiter und er zieht mich näher zu sich heran.

„Lass mich los!“, drohe ich ihm und versuche mich zu befreien, was mir wie erwartet nicht gelingt.

„War der Typ vorhin einer deiner Freier? Hast du hier in meiner Wohnung die Beine für ihn breit gemacht?“ Mit einer Mischung aus Entsetzen, Mitgefühl und Trotz betrachte ich meinen Vater.

„Ja, ich habe sogar geblutet, so brutal hat er mich gefickt.“ Ich beuge mich absichtlich so nah zu ihm, dass sich unsere Lippen fast berühren. Sein Atem riecht stark nach Alkohol. „Soll ich dir noch etwas verraten?“, flüstere ich. „Jedes Mal, wenn er in mir ist, stelle ich mir vor, mit dir zu schlafen.“ Der Blick meines Vaters zeigt völlige Verzweiflung.

„Ich weiß nicht, ob ich dich umarmen oder schlagen soll.“

„Du bist ziemlich betrunken, Papa.“

„Zu sehen, wie du von einem fremden, älteren Mann angefasst wirst, mit dem Wissen, was er wahrscheinlich noch alles mit dir anstellt, war für mich unerträglich. Deine Augen waren tot, dein Körper total verkrampft. Warum, Yamato? Warum tust du dir das freiwillig an, wenn es dir ganz offensichtlich zuwider ist.“

„Bitte, Papa. Lass mich gehen“, flehe ich beinahe.

„Nein, du entziehst dich mir nicht mehr.“

„Warum folterst du mich so?“ Tränen füllen meine Augen. „Ich liebe dich, Hiroaki. Verstehst du? Ich liebe dich nicht, wie ein Sohn seinen Vater laut Gesellschaft lieben sollte. Ich will dich in mir spüren. Ich will Sex mit dir.“

„Yamato, ich…“

„Sag nichts weiter. Du willst nicht mit mir schlafen. Das akzeptiere ich inzwischen, aber zwinge mich nicht in deiner Nähe zu sein. Ich muss mich zudem von dir entwöhnen, sonst werde ich an deinem Abschied zerbrechen.“ Endlich lässt mein Vater mich los. Kurz bin ich versucht zu gehen, bleibe letztlich jedoch unbewegt stehen. Seufzend leert mein Vater sein Glas, füllt es wieder mit Whiskey auf und führt es erneut an seine Lippen. „Willst du wirklich noch etwas trinken? Hast du nicht schon mehr als genug?“ Ich versuche ihm das Glas aus der Hand zu nehmen, doch mir wird sehr bestimmt Einhalt geboten.

„Vielleicht sollte ich mich mit Alkohol enthemmen und deinem Begehren nachgeben“, überlegt er ernsthaft. Meinen Vater so zu sehen tut verdammt weh.

„Nein, du würdest es bereuen, wenn du wieder nüchtern bist. Kannst du überhaupt noch gerade stehen? Wahrscheinlich würdest du ohnehin keinen mehr hochbekommen. Taichi zumindest hatte das Problem, wenn er zu betrunken war.“ Ohne etwas darauf zu erwidern, entnimmt er der Zigarettenschachtel zwei Zigaretten und hält mir eine entgegen. Dankend nehme ich sie an, mein Vater gibt mir Feuer, dann setze ich mich auf den freien Stuhl. Während wir schweigend rauchen, betrachte ich meinen Vater eingehend. Selten habe ich ihn in einem derart desolaten Zustand gesehen. Ich hasse mich dafür, dass ich sein Sohn bin. Was ich ihm antue, ist unverzeihlich. Für ihn ist es definitiv besser, nach Deutschland zurückzukehren. Vielleicht kann er dann endlich wieder frei atmen.

„Weißt du, Yamato…“ Seine Artikulation wird mit fortschreitendem Alkoholkonsum immer undeutlicher.

„Papa, ist der Inhalt dieser Flasche das Einzige, das du getrunken hast?“

„Nein“, gibt er zu, ohne mich anzusehen. „In einer anderen Flasche war noch ein Rest, den…“

„Wie viel war dieser sogenannte Rest?“ Er macht eine Geste, aus der ich herauszulesen glaube, dass es sich um mehr als die Hälfte eines Flascheninhalts handelte.

„Du hast weit mehr als genug! Willst du dich ins Koma saufen?“ Mit einer Mischung aus Besorgnis und Verärgerung drücke ich meine Zigarette im Aschenbecher aus. Unerwartet greift mein Vater erneut nach meinem Handgelenk und zieht mich näher zu sich, dabei drückt er seine Zigarette ebenfalls aus.

„Weißt du, wie oft ich mir wünsche, deinem Begehren einfach nachzukommen, wenn ich dir dadurch helfen kann. Ich will, dass du glücklich bist, und würde eigentlich alles dafür tun. Aber mit dir zu schlafen erscheint mir nicht richtig. Jedoch ist mir nach dem heutigen Vorfall bewusst geworden, dass du dich offenbar auch meinetwegen an ältere Männer verkaufst. Es war schrecklich, sehen zu müssen, wie du halb entkleidet auf dem Stuhl saßest, mit seiner Hand zwischen deinen Beinen. Ihm stand die Begierde nach deinem Körper deutlich ins Gesicht geschrieben. Dieses Bild werde ich nie wieder aus meinem Kopf bekommen. Ich habe Angst um dich, dieses Milieu ist gefährlich, Yamato. Hör bitte auf dich irgendwelchen Männern hinzugeben.“ Mit seiner Hand in meinem Nacken zieht er mich zu sich herunter und küsst mich. Der Geruch und Geschmack von Alkohol benebelt meine Sinne, ich muss an Taichi denken. Ein wenig verwirrt lasse ich mich auf den Kuss ein, der nach und nach an Heftigkeit gewinnt. Durch sein kopfloses Handeln spüre ich die Verzweiflung meines Vaters in seinem ganzen Ausmaß. Tiefer als sonst fühle ich seine Zunge in meinem Mund, wodurch er mir die Luft zum Atmen nimmt. Ohne von mir abzulassen, steht er auf, drängt mich etwas zurück und hebt mich in eine sitzende Position auf den Küchentisch, wobei er meine Beine weit auseinander drückt, um mit seinem Körper dazwischenzukommen.

„Hiroaki…“, keuche ich erregt. „Ich will mit dir schlafen. Ich will, dass du tief in mich eindringst…“ Mit fahrigen Bewegungen öffnet mein Vater meine Hose. „Warte, bitte.“ Widerwillig halte ich ihn auf. „Ich liebe dich und ich will dich gerade mehr als alles andere.“ Meine Stimme zittert. „Aber…“ Das Läuten der Türklingel lässt uns beide erschreckt zusammenfahren. Ich schaue meinen Vater ernst an. „Beantworte mir bitte eine Frage.“ Durch den Alkohol hoffe ich eine ehrliche Antwort von ihm zu erhalten. „Schläfst du mit Taichi?“ Erneut küsst mich mein Vater.

„Zerbrich dir deinen Kopf nicht über solche Dinge.“ Mit finsterem Blick schließe ich meine Hose. Wieder bekam ich keine eindeutige Antwort auf meine Frage. Ich sehe, wie mein Vater aus der Küche wankt.

„Die Tür werde ich öffnen“, sage ich streng und helfe ihm zurück auf den Stuhl. „Bleib sitzen.“ Ich gehe wieder in den Flur, um nachzuschauen, wer in einem so ungünstigen Moment stört. „Taichi?“ Er sieht abgehetzt aus.

„Dein Vater hat angerufen. Er klang völlig fertig und war kaum zu verstehen. Hat er getrunken?“

„Ja, er ist in der Küche. Komm rein.“ Tai betritt die Wohnung, doch dann halte ich ihn zurück. „Vielleicht solltest du…“ Mein Freund lächelt mild.

„Du bist süß. Aber du kannst mich nicht für den Rest meines Lebens vom Alkohol fernhalten. Im Gegenteil, ich muss lernen damit umzugehen. Zudem werde ich zu Hause durch meinen Vater ständig mit Alkohol konfrontiert.“ Dieser Aussage folgend geht er an mir vorbei zu meinem Vater. Ich bleibe absichtlich auf Abstand und beobachte das Verhalten der beiden genau.

„Taichi“, murmelt mein Vater und sieht ihn aus glasigen Augen an. Der hockt sich vor ihn.

„Herr Ishida.“ Mein Freund streicht mit seinem Daumen sanft unter dessen Augen entlang. „Yamato, wie viel hat er getrunken?“ Ich schaue auf den Tisch, Tais Blick folgt meinem und meiner Meinung nach verweilt der etwas zu lange auf dem Suchtmittel.

„Einiges mehr als eine Flasche“, mutmaße ich.

„Was ist passiert, dass Sie so viel Alkohol brauchten, Herr Ishida? Warum haben Sie angerufen?“ Mein Vater schaut mich an und antwortet nicht weiter. Taichi scheint diese Geste jedoch zu begreifen und hakt nicht nach. Ich bin ein Störfaktor, der die beiden daran hindert, offen zu reden. Oder andere, nonverbale Dinge miteinander zu tun. Es ist eine merkwürdige Situation. Noch immer spüre ich die Lippen meines Vaters, seinen Körper, der meine Schenkel auseinanderdrängt, seine Hand zwischen meinen Beinen. Ich liebe ihn, ebenso wie ich Taichi über alles liebe. Doch diese zwei Menschen derart vertraut miteinander zu sehen ist für mich unerträglich. Unbemerkt balle ich meine Hand schmerzhaft zur Faust und schaue auf sie herab.
 

Sanft, aber begierig streicht mein Vater mit seiner Hand über das schlanke, angewinkelte Bein meines Freundes, während er ihn mit festen Stößen rhythmisch penetriert. Dieser hat die Augen geschlossen, seinen Kopf lustvoll in den Nacken gelegt und die Finger Halt suchend in den Arm meines Vaters gekrallt. Erregtes Stöhnen entweicht ihren Kehlen und hallt laut von den Wänden wider. Ich versuche mir die Ohren zuzuhalten, denn ich will es nicht hören, doch es gelingt mir nicht. Um die beiden voneinander zu trennen, möchte ich schreien, allerdings bringe ich keinen Ton hervor.

„Hiroaki…“, keucht mein Freund leidenschaftlich. „Du weiß, wie sehr ich dich liebe. Bitte lass mich hier nicht allein zurück. Ich möchte dich begleiten.“ Seine Sätze werden immer wieder von leisen Schreien unterbrochen, da mein Vater seine Stöße weiter intensiviert. Offenbar bis an die Schmerzgrenze oder leicht darüber hinaus.

„So sehr ich es bedauere, aber du kannst nicht mitkommen, Taichi. Allein wegen deines Studiums.“ Die Atmung meines Vaters ist ebenfalls unregelmäßig und schwerfällig. Beide Körper sind inzwischen schweißbedeckt, ihre Haare feucht von der Anstrengung. Das Stechen in meiner Brust wird unerträglich schmerzhaft. Ansonsten kann ich nicht einmal sagen, was ich fühle. Eifersucht? Hass? Wut? Trauer? Enttäuschung? Ich weiß nur, dass ich nicht sehen will, wie mein Vater mit meinem Freund schläft, doch aus irgendeinem Grund kann ich nicht wegschauen. Die beiden vollziehen einen Stellungswechsel, sodass Tai nun von hinten genommen wird.

„Hiro…“ Offenbar befindet sich mein Freund in einem Zustand höchster Erregung, denn seine Stimme versagt und wandelt sich in Laute der Ekstase.

„Dein Körper ist wunderschön, Taichi.“ Mit seinen Händen fährt er sinnlich über dessen Lenden, die Wirbelsäule nach oben zum Nacken und wieder hinab zu den Schulterblättern. „Wie konnte ich mich nur so sehr in dich verlieben?“ Auch die Worte meines Vaters sind abgehackt aufgrund seiner Erregung. Für eine Weile sprechen beide nicht mehr, sondern geben sich ihrer unbändigen Lust, ihrem Fieber, ihrem Begehren füreinander hin, bis sie erschöpft nebeneinander auf das Laken sinken.

„Bitte halt mich fest, Hiroaki“, flüstert mein Freund. Liebevoll legt mein Vater seinen Arm um ihn und zieht seinen Körper dicht zu sich. Ihre Lippen berühren sich zunächst schüchtern, werden aber bald fordernder, sodass die beiden Männer in einem tiefen, innigen Kuss versinken. Tränen füllen meine Augen, worüber ich froh bin, denn sie verschleiern meine Sicht. Warum und von wem werde ich gezwungen mir dieses Schauspiel anzusehen? Ich fühle mich, als würde meine Seele vergewaltigt werden, gewollt und absichtlich. Die Hände, die mich schmerzhaft festhalten, lockern sich etwas. Jene Person hinter mir tritt dicht an mich heran. Ich kann den Körper spüren sowie den warmen Atem an meinem Ohr.

„Gefällt dir, was du siehst?“, fragt mein Peiniger sanftmütig. Ich bin irritiert, als ich die Stimme erkenne. Eine kühle Hand streicht zärtlich über meine Wange. Langsam öffne ich meine Augen.

„Papa“, murmle ich schläfrig. „Was…“ Ein wenig desorientiert richte ich mich auf.

„Als ich in dein Zimmer sah, lagst du auf dem Bett. Es sah aus, als hättest du einen Albtraum, deshalb wollte ich dich wecken.“

„Nein… ich weiß nicht…“

„Du wirkst sehr durcheinander“, stellt mein Vater voller Sorge fest und legt seine Hand auf meine Stirn. „Fieber scheinst du keines zu haben.“ Ich schüttle den Kopf. „Hat es etwas mit der Prüfung zutun? Wie lief es denn?“

„Dazu möchte ich lieber nichts sagen. Jetzt sind erst einmal Ferien, danach bekomme ich das Ergebnis. Ich rufe dich dann sofort an, um dich über mein Bestehen oder Versagen in Kenntnis zu setzen.“

„Yamato…“ Traurig schaut mein Vater mich an. „Glaub mir, ich möchte dich wirklich nicht alleine lassen.“ Geistesabwesend betrachte ich ihn. Ich muss an den Traum von eben denken, aber auch an sein Verhalten, als er ziemlich betrunken war.

„Lag es nur am Alkohol?“

„Was?“, fragt mein Vater sichtlich verwirrt.

„Eigentlich wollte ich diesen Vorfall nicht ernst nehmen, weil ich das Ganze sonst eventuell überbewerte, doch es kommt mir immer wieder in den Sinn. Ich kann damit nicht so einfach abschließen, es tut mir leid.“ Seufzend zieht er mich in eine Umarmung. „Versprichst du mir, auf meine Fragen ehrlich zu antworten?“

„Ja“, meint er knapp, klingt aber aufrichtig.

„Du hättest mich beinahe auf dem Küchentisch genommen. Nur aufgrund des Alkohols?“ Eine lange Pause entsteht. Überdeutlich spüre ich den Herzschlag meines Vaters, da meine Hand genau an dieser Stelle auf seinem Brustkorb ruht.

„Erinnerst du dich, was ich davor zu dir sagte? Das war mein Ernst. Ich weiß, dass ich stark alkoholisiert war, aber über meine Worte war ich mir im Klaren, nur hätte ich dir derartiges im nüchternen Zustand vermutlich nie erzählt.“

„Dann ist es tatsächlich nur eine Frage der Enthemmung?“

„Nein, so einfach ist es nicht, Yamato.“ Nachdenklich spiele ich mit meiner Hand im Nacken meines Vaters mit seinen kurzgeschnittenen Haaren. Ich verstehe seinen Zwiespalt nicht. Er liebt mich, aber nicht körperlich, würde dennoch mit mir schlafen, aber nicht aus Liebe. Das ergibt für mich keinen Sinn. Trotzdem darf ich ihn nicht noch einmal zum Sex zwingen, obwohl ich denke, dass es seinen Konflikt vielleicht lösen könnte. Dabei muss es nicht unbedingt unter Zwang meinerseits geschehen, die direkte Konfrontation mit dem Problem würde meines Erachtens reichen.

„Bist du froh, dass du dem Ganzen aus dem Weg gehen kannst, indem du ins Ausland gehst?“ Mein Tonfall ist nach wie vor ruhig.

„Nein, und das solltest du wissen, Yamato“, meint mein Vater leicht vorwurfsvoll. Sachte löse ich mich soweit aus der Umarmung, dass ich meinem Vater in die dunklen Augen blicken kann.

„Wirklich meinetwegen? Oder weil du Taichi vermissen wirst.“

„Was soll das schon wieder?“

„Du hast versprochen, ehrlich auf meine Fragen zu antworten, und ich will endlich eine klare Stellungnahme. Schläfst du mit meinem Freund?“

„Wie kommst du nur auf diesen Gedanken?“

„Euer Verhältnis ist ungewöhnlich innig. Es ist auffällig, wie oft ihr euch berührt. Zudem glaube ich ein paar Mal mitbekommen zu haben, dass ihr euch küsst.“ Mein Vater wirkt überrascht.

„Wann?“

„Nachdem ihr mich auf dem Mori Tower außer Gefecht gesetzt habt, als ich bei meinem Drogenentzug im Delirium lag…“

„Fällt dir etwas auf, Yamato? Immer wenn du glaubst, etwas gesehen zu haben, warst du nicht bei klarem Verstand. Hör endlich auf dich in diese Sache hineinzusteigern. Aber wenn wir schon einmal dabei sind, wie sieht es mit deiner Ehrlichkeit aus? Hast du noch immer bezahlten Sex, obwohl ich dich bat damit aufzuhören, nachdem ich dich mit einem deiner Freier sah?“

„Ja“, antworte ich, wobei ich dem Blick meines Vaters standhalte.

„Warum, mein Sohn?“ Seine Besorgnis ist deutlich hörbar.

„Aus verschiedenen Gründen.“

„Bin ich einer dieser Gründe, weil du dir bei denen holst, was du eigentlich von mir willst, ich dir aber nicht gebe?“

„Ja, es tut mir leid.“ Meine Stimme ist monoton. Die Augen meines Vaters sehen unglaublich traurig aus.

„Wie oft gibst du dich diesen Männern hin?“

„Das ist unterschiedlich. Momentan im Durchschnitt vier, fünf Mal in der Woche.“ Seine Traurigkeit wandelt sich in Entsetzen.

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“ Fassungslos hält er mich schmerzhaft an den Oberarmen fest. „Warum tust du dir das an, verdammt? Hast du Spaß dabei? So sahst du neulich nicht aus und da hat dieser Mann dich nur angefasst.“

„Finde dich einfach damit ab, dass dein Sohn eine dreckige Hure ist.“

„Nein, das bist du nicht. Diese Typen benutzen aber doch wohl Kondome?“ Ich zögere mit meiner Antwort.

„Nein, nicht unbedingt.“ Voller Bestürzung starrt mein Vater mich an. „Es besteht keine Gefahr, das versichere ich dir.“

„Weiß Taichi davon?“

„Ja.“

„Du wirst dich testen lassen! Und das ist keine Bitte, Yamato!“

„Papa, das ist nicht nötig, wirklich. Wenn es dich allerdings beruhigt, werde ich den Test machen.“

„Und wie sieht es mit Drogen aus? Bist du noch clean?“

„Ja“, lüge ich sofort. In diesem Punkt kann ich nicht ehrlich sein. Ohne Heroin oder GHB würde ich die Realität nicht mehr ertragen. Skeptisch werde ich von meinem Gegenüber gemustert.

„Hoffentlich bleibt es so. Ich bin stolz auf dich, mein Sohn.“ Liebevoll drückt er mich wieder an sich. Ich kralle mich in seinem Hemd fest und schließe die Augen. Tränen laufen stumm und ungesehen meine Wangen hinab. Der letzte Satz meines Vaters hinterlässt ein unangenehmes Gefühl.
 

„Yamato. Es ist lange her.“ Das Lächeln, mit dem meine Mutter mich begrüßt, ist verhalten und unterstreicht ihre Unsicherheit. Sie bleibt auf Abstand, berührt mich nicht.

„Hiroaki.“ Leicht deutet sie ein Nicken in seine Richtung an. „Kommt rein.“ Wir folgen der Aufforderung meiner Mutter und betreten das Apartment. Im Wohnzimmer nehmen mein Vater und ich auf dem Sofa Platz. „Ich mache uns Tee, wartet bitte einen kleinen Augenblick.“ Schnellen Schrittes geht sie in die Küche. Mit gemischten Gefühlen schaue ich meinen Vater an. Dieser legt beruhigend seine Hand auf mein Knie.

„Entspann dich. Es ist alles in Ordnung. Du wirst dich schnell an die Situation gewöhnen.“ Ich lege meine Hand auf die meines Vaters, verhake unsere Finger und drücke verkrampft zu. Im Flur vernehme ich das Öffnen und Schließen einer Tür, kurz darauf steht Takeru sichtlich erfreut im Raum.

„Yamato! Papa!“ Sein Blick fällt auf unsere Hände, als er auf uns zuläuft. „Du musst nicht so nervös sein, Yamato“, sagt er sanft. „Mama freut sich dich zu sehen.“

„Ja“, antworte ich mit Zurückhaltung. Mir würde es besser gehen, hätte ich zu Hause meinem Drang nachgegeben und etwas GHB eingenommen. Dann wäre ich mit Sicherheit entspannter. Ich hasse mich dafür, dass ich noch nicht einmal das kleine Fläschchen in meine Hosentasche steckte, um jetzt die Option wahrnehmen zu können. Meine Mutter kommt aus der Küche zurück, auf einem Tablett Tassen und Teekanne, welches sie auf dem Tisch abstellt. Anschließend setzt sie sich auf den Sessel uns gegenüber.

„Es ist schön, dich zu sehen, Yamato“, versucht meine Mutter ein Gespräch zu beginnen. „Inzwischen bist du fast genauso groß wie dein Vater.“ Sie schaut zwischen uns beiden hin und her. Noch immer halte ich die Hand meines Vaters fest in meiner und habe auch nicht vor sie loszulassen.

„Ja“, entgegne ich knapp und schaue dabei zu Boden. Ich empfinde keine Abneigung gegen meine Mutter, es ist lediglich Unbehagen gegenüber der Situation.

„Ich finde es wirklich schön, dass du bald täglich bei uns sein wirst. So haben wir die Möglichkeit, uns wieder ein wenig anzunähern, denn derzeit habe ich das Gefühl, dich kaum zu kennen.“ Ein bitteres Lächeln legt sich auf meine Lippen. Ich bezweifle, dass sie die ungeschönte Wahrheit über ihren Sohn bezüglich Prostitution, Vergewaltigung, Inzest, Suizid, Selbstschädigung sowie Drogen- und Medikamentenmissbrauchs wissen will.

„Darüber freue ich mich auch“, meint mein Bruder. Als ich zu ihm sehe, lächelt er mich an. Hilfe suchend blicke ich zu meinem Vater. Ich fühle mich schon jetzt unglaublich schutzlos, obwohl er noch in meiner Nähe ist. Auch verstehe ich nicht, weshalb ich gerade derart überfordert bin, dass ich es kaum schaffe, etwas zu sagen. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Am liebsten würde ich weglaufen, nur leider ist das nicht möglich.

„Yamato, was ist los? Du bist doch sonst nicht so schüchtern“, äußert mein Vater nachdenklich.

„Mag sein“, lenke ich ein. „Mama, entschuldige bitte, dass ich verschlossen bin. Diese radikalen Veränderungen in nächster Zeit bereiten mir ziemliche Schwierigkeiten. Zudem sollst du auf mich aufpassen, mich überwachen und kontrollieren. Das ist überhaupt erst der Grund für unseren Kontakt. Ich weiß nicht, ob das die beste Voraussetzung für einen sogenannten Neuanfang ist.“ Einen Moment herrscht Schweigen im Raum.

„Ich verstehe dich, Yamato“, räumt meine Mutter ein. „Aber du musst auch mich verstehen. Immerhin bist du drogenabhängig, ganz zu schweigen von deinen anderen selbstschädigenden Verhaltensweisen und Problemen.“

„Ich habe einen Entzug gemacht“, wende ich empört ein.

„Und ich befürchte, dass du ohne Aufsicht wieder rückfällig wirst.“ Sie macht eine kurze Pause. „Wenn du es nicht schon bist.“ Mit gemischten Gefühlen schaue ich sie finster an, entgegne aber nichts. Bei meiner Mutter muss ich offenbar vorsichtiger sein als bei meinem Vater. Da keine starke emotionale Bindung zwischen uns herrscht, ist sie misstrauischer und denkt von vornherein, ich würde lügen. „Darf ich dein Schweigen als Zustimmung deuten?“

„Deute, was du willst. Es ist ohnehin egal. Du würdest mir nicht glauben, deshalb spare ich mir die Antwort.“ Meine Mutter seufzt und blickt ernst zu meinem Vater, während sie weiterhin mit mir spricht.

„Yamato, ich greife dich mit meinen Worten nicht an. Meiner Meinung nach brauchst du jedoch mehr Strenge und Struktur in deinem Leben, damit du endlich Verantwortung für dich und dein Handeln übernimmst.“ Wut bezüglich dieser Äußerung steigt in mir auf.

„Ist das eine Kritik an Papas Umgang mit mir?“, schreie ich meine Mutter ungehalten an, woraufhin mein Vater meine Hand fester drückt.

„Hör auf, Yamato. Beruhige dich.“ Liebevoll lächelt er mich an, dann wendet er sich an seine Ex-Frau. „Natsuko, es stimmt, ich bin zu nachsichtig mit ihm. Aber mit deinem Verhalten wirst du erst recht nichts erreichen. Yamatos Problematik ist nicht zwangsläufig beziehungsweise ausschließlich erziehungsbedingt. Das Schneiden, die Drogen, die Essensverweigerung, all diese Verhaltensmuster sind Symptome seiner Krankheit, die zu einem bestimmten Prozentsatz auch genetisch verankert ist.“

„So viel weiß ich darüber nicht, dennoch machst du es dir meiner Meinung nach zu einfach. Yamato muss lernen, dass er nicht machen kann, was er will, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen.“

„Mama, Papa, es bringt doch nichts, wenn ihr euch gegenseitig Vorwürfe macht“, mischt sich nun Takeru in das Gespräch ein. „Was denkt ihr, wie Yamato sich dabei fühlt?“

„Schon gut. Danke, aber du musst mich nicht in Schutz nehmen.“ Ich lächle meinen Bruder leicht an. „Hier drin bekomme ich keine Luft. Ich muss kurz raus.“ Ohne auf eine Reaktion zu warten, lasse ich behutsam die Hand meines Vaters los und eile aus der Wohnung. Fahrig zünde ich mir vor der Tür eine Zigarette an und atme den Rauch tief ein. Kurz darauf kommt auch mein Vater nach draußen.

„Yamato, ist alles okay?“

„Ja, Mama ist nur ganz anders als du. Daran muss ich mich erst gewöhnen. Es wird wahrscheinlich eine Weile dauern, dein Flug geht jedoch bereits in ein paar Tagen. Einfacher wird es ohne dich jedenfalls nicht.“ Nachdenklich greift mein Vater nach meiner Zigarette, nimmt einen tiefen Zug und hält sie mir wieder entgegen.

„Ihr werdet euch sicher schon bald wieder einander annähern“, spricht mein Vater mir Mut zu. Ich ziehe ebenfalls erneut an der Zigarette und lasse den Rauch in meine Lungen gelangen, bis sie zu schmerzen beginnen. Dann entweicht er sachte durch meine Lippen.

„Vielleicht, es ändert aber nichts daran, dass du für unbestimmte Zeit nicht hier sein wirst.“ Tränen füllen meine Augen, die ich verstohlen wegwische. Unerwartet greift mein Vater nach meinem Handgelenk, wobei ich die Zigarette vor Schreck fallenlasse, und nimmt mich fest in seine Arme. Nun fange ich richtig an zu weinen und suche nach Halt, indem ich meine Finger in sein Hemd kralle.

„Yamato, ich verspreche dir, nicht länger als nötig in Deutschland zu bleiben.“

„Ja. Wenn wenigstens Taichi bei mir wohnen könnte. Seine Eltern hassen mich, weil ich ihren Sohn krank gemacht habe, nicht wahr?“

„Nein. Ich habe mit ihnen gesprochen. Sie geben dir nicht die Schuld dafür. Du musst allerdings verstehen, dass sie Angst vor einem Rückfall haben und Taichi vor sich selbst schützen wollen, indem sie ihn unter ihrer Aufsicht halten.“ Ich löse mich etwas aus der Umarmung und gebe meinem Vater einen Kuss auf die Wange.

„Es ist lieb von dir, mich von meiner Schuld freisprechen zu wollen. Dabei ist unbestreitbar, dass Tai wegen meines Verhaltens angefangen hat zu trinken.“

„Du willst die Schuld, nicht wahr? Denn so hast du einen weiteren Grund, dich an dir selbst zu verletzen. Nur, findest du es fair, deinen Freund dafür zu benutzen?“ Ich senke betreten meinen Blick. Vorsichtig hebt mein Vater meinen Kopf am Kinn wieder an und wischt mir die Tränen aus dem Gesicht. „Wir sollten jetzt erst einmal zurück zu deiner Mutter und deinem Bruder gehen.“

„Ja“, sage ich monoton, wobei ich meinen Gegenüber genau betrachte. „Ich werde dich so wahnsinnig vermissen.“ Voller Zuneigung fahre ich mit meinen Fingerspitzen über die dunklen Augenringe meines Vaters. „Aber für dich ist es besser. Dann kannst du dich endlich von mir erholen.“ Ein schmerzliches Lächeln legt sich auf meine Lippen.

„Du weißt, dass du gerade Unsinn redest. Ich liebe dich über alles und würde bei dir bleiben, wenn es möglich wäre. Mach es uns nicht schwerer, als es ohnehin schon ist.“

„Es tut mir leid“, flüstere ich niedergeschlagen. „Gehen wir rein.“
 

„Ich danke dir für deine Gesellschaft heute und morgen Nacht, Taichi. Allein würde ich den Abschied von meinem Vater nicht überstehen.“ Zärtlich, aber auch nachdenklich streicht mein Freund mir durch die Haare. Er sitzt auf meinem Sofa, während ich mich hingelegt und meinen Kopf auf seinem Schoß gebettet habe.

„Ich weiß. Du würdest dir wahrscheinlich selbst Schaden zufügen, um die Situation halbwegs ertragen zu können, hab ich recht?“

„Vielleicht“, entgegne ich ruhig. „Bist du deshalb hier? Um mich zu kontrollieren?“

„Nein. Aber ich sehe, wie viel dein Vater dir bedeutet. Dich erneut von ihm verabschieden zu müssen ist für dich unglaublich schmerzhaft. Zumal ich mich noch an die erste Trennung vor knapp einem Jahr erinnere. Ich bin hier, weil ich bei dir sein will, aber ebenso habe ich eine wahnsinnige Angst, dass du den Abschied dieses Mal nicht verkraftest. Eure Beziehung scheint inzwischen noch inniger zu sein als damals.“

„Was ist mit dir und deiner Beziehung zu meinem Vater? Wirst du ihn vermissen?“, frage ich ganz direkt.

„Ja, werde ich.“ Tais Antwort ist überraschend ehrlich. Kommentarlos nehme ich sie hin und wechsle das Thema.

„Denkst du, deine Eltern lassen dich noch bei mir schlafen, wenn mein Vater nicht mehr hier wohnt? Falls es ihnen lieber ist, würde ich auch zu euch kommen. Ich will einfach nur bei dir sein.“

„Egal, was sie sagen, bei dir zu übernachten, würde ich mir nicht verbieten lassen. Schließlich bin ich alt genug und muss eine gewisse Eigenverantwortung tragen können.“ Sanft streicht er mit seinen Fingerkuppen über meinen Kieferknochen, hinab zu meinem Hals. „Du hast mir noch gar nichts von dem Besuch bei deiner Mutter und Takeru vor ein paar Tagen erzählt. War es so schlimm oder warum schweigst du dich darüber aus?“

„Nein, es ging. Die Situation ist eben für alle ungewohnt. Mit der Zeit wird sich das momentan noch angespannte Verhältnis sicher geben.“

„Für mich klingt das nicht, als ob es okay war. Was ist passiert, Yamato?“

„Naja, meine Mutter hat die Erziehung meines Vaters kritisiert. Das hat mich ziemlich wütend gemacht. Offenbar ist sie der Meinung, wenn er strenger zu mir wäre, hätte ich keine Probleme.“ Für einen Augenblick schweigt Taichi.

„Ich finde, das ist Unsinn. Es ist immer leicht zu sagen, dass die eigenen Vorgehensweisen besser wären, aber ob es letztlich wirklich so ist, kann niemand genau sagen. Zwar stimmt es, dass dein Vater nicht sehr streng ist und oft auch inkonsequent, allerdings hat er dafür auch seine Gründe. Er kennt dich und weiß, dass er bei bestimmten Problemen mit Autorität bei dir nicht weiterkommt, sondern eher das Gegenteil erreicht. Außerdem liebt dein Vater dich sehr, weshalb es ihm schwer fällt, gegen deinen Willen zu agieren. Mir geht es zum Teil ähnlich, aus diesem Grund kann ich ihn gut verstehen.“

„Du klingst wirklich verliebt, wenn du von meinem Vater sprichst“, bemerke ich beiläufig. „Taichi, kann ich dich um einen Gefallen bitten?“ Ich drehe meinen Kopf auf seinem Schoß etwas, um meinen Freund ansehen zu können.

„Das kommt darauf an“, erwidert er skeptisch.

„Die Verabschiedung morgen am Flughafen möchte ich mir ersparen und stattdessen zu Hause bleiben, ebenso wie beim letzten Mal. Würdest du meinen Vater begleiten und ihm Gesellschaft leisten?“ Tai atmet hörbar aus, streichelt traurig lächelnd über meine Wange.

„Naja, gerade in dieser Situation will ich dich eigentlich nicht allein lassen.“

„Weil du mir nicht vertraust“, sage ich nüchtern.

„Stimmt, im Bezug auf dein Handeln, Denken und Fühlen vertraue ich dir nicht. Wundert dich das?“

„Nein“, gebe ich kleinlaut zu.

„Warum schlägst du mir eigentlich vor ohne dich mit deinem Vater zum Flughafen zu fahren? Bist du nicht eifersüchtig? Sonst unterstellst du uns doch bei jeder Gelegenheit eine Affäre.“

„Doch, aber ich gehe davon aus, dass ihr in der Öffentlichkeit eure Finger bei euch behalten könnt.“

„Und wenn nicht?“ Prüfend schaue ich meinen Freund an.

„Ist das ein Eingeständnis? Ihr schlaft also tatsächlich miteinander.“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Es fällt auf, dass ihr beide meinen Fragen diesbezüglich ausweicht. Keiner bezieht klar Stellung. Verwundert es dich da wirklich, wenn ich meine Meinung nicht ändere, sondern mich lediglich bestätigt sehe? Warum gibst du mir keine eindeutige Antwort? Hast du Sex mit meinem Vater? Ja oder nein?“

„Genau genommen ist egal, was ich sage. Verneine ich, behauptest du, ich würde lügen. Am Ende erhältst du immer die Wahrheit, die du schon lange in deinem hübschen Köpfchen verankert hast.“ Sinnlich fährt er mit seinem Daumen über meine Lippen.

„Woher willst du das wissen? Du versuchst es nicht einmal. Hast du Angst vor meiner Reaktion?“ Ich warte einen Moment, in dem Taichi nichts erwidert. „Also gut, belassen wir es dabei. Ab morgen ist er ohnehin außer Reichweite.“ Kurz halte ich aufgrund eines merkwürdigen Gefühls inne. „Liebst du mich, Taichi Yagami?“

„Ja“, gibt der ohne zu zögern, aber ein wenig irritiert zur Antwort.

„In einem meiner Träume warst du in meinen Vater verliebt und er auch in dich. Ihr hattet Sex. Du fragtest ihn, ob er dich nicht mitnehmen könne. Ich bin mir gerade nicht mehr sicher, ob es tatsächlich nur ein Traum war.“

„Glaubst du, ich würde mit deinem Vater gehen und dich hier allein zurücklassen?“

„Warum nicht? Hast du Angst, ich tue mir etwas an, wenn du mich noch einmal verlässt? Diese Schuld willst du dir nicht aufbürden, hab ich recht?“ Ein wenig unbedacht werfe ich meinem Freund die Bemerkung an den Kopf. Der seufzt nachsichtig.

„Yamato. Merkst du nicht, dass wir uns immer nur im Kreis drehen?“

„Doch. Aber findest du das wirklich verwunderlich, wenn ich wieder und wieder keine konkreten Antworten bekomme? Weder von dir noch von meinem Vater.“ Einmal mehr bringt Tai mir nur Schweigen entgegen. Ich hebe meinen Arm und berühre ihn mit meinen Fingern sachte an seiner Halsschlagader. Bedächtig schließe ich die Augen und achte nur auf die steten Schläge. Kaum merklich beschleunigt sich sein Puls etwas, als ich leichten Druck ausübe. Unerwartet ergreift Taichi mein Handgelenk, doch statt mir Einhalt zu gebieten, schiebt er meinen Ärmel ein Stück nach oben. Ich schaue ihn an, doch sein Blick haftet auf den zahllosen Narben und frisch verschorften Wunden.

„Welche von denen hat Akito dir zugefügt?“ Dass mein Freund mich plötzlich auf Akito anspricht, wirft mich leicht aus der Bahn.

„Wie kommst du darauf, dass er…“

„Da ich weiß, wie dieser kleine Mistkerl drauf war, bin ich mir sicher, er wollte dich auch auf diese Weise.“

„Falls dem so sein sollte, was würdest du tun? Die Male wieder öffnen und mit von dir tiefer geschnittenen Wunden überdecken? Genauso, wie du es damals schon auf meinem Oberkörper getan hast?“

„Vielleicht.“ Tais Gesichtsausdruck ist ernst, seine Augen durchdringend. Ich lächle und lasse meine Hand sinken.

„Du willst jede Erinnerung an ihn auslöschen, ihn komplett aus meinem Leben entfernen, oder? Mir kommt es so vor, als würdest du noch immer gegen ihn kämpfen.“

„Nein, denn mit seinem Tod habe ich gegen ihn verloren“, meint mein Freund bitter.

„Wie meinst du das?“, frage ich verwundert, wobei ich meine freie Hand vorsichtig auf seine lege, mit welcher er nach wie vor mein Handgelenk umgreift.

„Akito hat sich zu einem Zeitpunkt getötet, als du sehr intensive Gefühle für ihn hattest, ist es nicht so?“ Er drückt fester zu. Einen Moment schweige ich.

„Ja“, gebe ich schließlich traurig zu.

„Er hat dich somit emotional an sich gebunden. Für immer. Denn mit den Gefühlen, die du zuletzt für ihn empfunden hast, wirst du bis zu deinem eigenen Tod an ihn denken. Du liebst ihn und ich kann nichts dagegen tun. Würde ich mich jetzt ebenfalls töten, könnte ich eventuell gleichauf ziehen. Aber gegen diesen arroganten Arsch gewinnen kann ich nicht mehr. Und das macht mich wahnsinnig!“ Schmerzhaft stark umfasst mein Freund nun mein Handgelenk. Er zittert leicht vor Erregung, aber auch vor Verzweiflung.

„Taichi, hör bitte auf so etwas zu sagen!“ Tränen füllen meine Augen und ich richte mich auf. Behutsam und voller Zuneigung berühre ich sein Gesicht mit meiner Hand, küsse sanft seine Stirn, seine Augen, die Wange, verweile auf seinen Lippen und lecke leicht darüber. „Du bist mein Ein und Alles. Das wusste Akito. Er wusste auch, dass er dich nicht ersetzen kann und dass ich immer zu dir zurückgehen würde. Ich liebe ihn und er fehlt mir sehr, was das betrifft, will ich dich nicht belügen. Aber die Gefühle, die ich für dich empfinde, sind unfassbar schön und zugleich unerträglich schmerzhaft. Sie sind so unglaublich intensiv, dass ich oft denke, es nicht aushalten zu können. Ich zerbreche daran.“ Flüchtig küsse ich noch einmal seine Lippen.

„Du schmeckst salzig“, flüstert mein Freund. Mit seinen Fingern fährt er über meine Wangen, entlang der Tränenspur hinab zu meinem Kinn. „Was du mir zu erklären versuchst, glaube ich dir und im Grunde weiß ich es auch. Nur, darum geht es nicht direkt. Ich allein habe das Besitzrecht an dir. Du bist mein Eigentum und es widerstrebt mir einfach, dich teilen zu müssen. Versteh das doch endlich, Yamato!“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, legt er seine Finger um meinen Hals. Reflexartig schließe ich meine Augen. „Du verdammter Masochist!“, zischt Tai und lässt seine Hände sinken. Ich lächle ihn traurig an, dann deute ich auf meinen Arm.

„Diese Narbe ist entstanden, als du verschwunden beziehungsweise ohne eine Nachricht zu hinterlassen zu deinen Eltern gegangen warst. Damals dachte ich, ich hätte dich verloren und würde dich nie wieder sehen.“ Ich streiche über eine größere, blassrosa und leicht gewölbte Vernarbung entlang meiner linken Unterarminnenseite. „Akito hat sie gekreuzt.“ Taichi berührt die etwas breitere, weniger verblasste, im rechten Winkel verlaufende Linie quer über das Handgelenk.

„Ein umgedrehtes, christliches Kreuz. Die Stelle ist nicht ungefährlich, dafür hat er beinahe unverantwortlich tief geschnitten.“ Mit seinen Fingernägeln kratzt er geringschätzig darüber.

„Ja, die Tiefe der Wunde war berechnete Willkür seinerseits. Weitere Schnittverletzungen fügte er mir jedoch nicht zu.“ Die Erinnerungen an die Zeit mit Akito überwältigen mich, sodass ich erneut zu weinen beginne. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und ich bekomme kaum Luft. „Erinnerst du dich an deine Worte, als wir nach deinem Klinikaufenthalt wieder eine Beziehung eingingen?“, schluchze ich. „Du fragtest, was ich von einer Fortsetzung hielte. Aber wäre ein Neuanfang nicht sinnvoller?“ Schützend umfängt mein Freund mich mit seinen Armen und streichelt beruhigend durch meine Haare sowie über meinen Rücken.

„Nein“, haucht er in mein Ohr. „Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen und unsere Erinnerungen nicht löschen. Ebenso entwickeln wir uns anhand dieser Dinge weiter und lernen aus unseren Fehlern.“ Mit einem aufgeregten Kribbeln im gesamten Körper erwidere ich die Umarmung und drücke meinen Freund fest an mich. Sein Duft umhüllt mich sanft, macht mich benommen wie eine weiche, angenehme Droge. Wärme steigt in mir auf, meine Atmung beschleunigt sich leicht und mein Herz schlägt spürbar schneller und härter gegen meine Brust.

„Ich will nur bei dir sein. Egal wie. Ich liebe dich, Taichi. Ich liebe dich so sehr.“ Meine Stimme zittert und ich presse mich noch stärker gegen den Körper meines Freundes. „Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich lie…“

„Shh. Beruhige dich“, versucht er meine beginnende Hysterie zu dämpfen. Gefühlvoll löste er sich etwas von mir und verwickelt mich in einen zunächst schüchternen, dann innigen Zungenkuss. Dabei drängt er mich soweit zurück, dass ich mit dem Rücken auf dem Sofa zum Liegen komme. Ich spüre sein Knie zwischen meinen Beinen. Verlangend betrachte ich den Menschen, der alles für mich bedeutet. Seine braunen, stets zerzausten Haare, die bronzefarbene Haut sowie seine unergründlichen, wunderschönen Augen, in denen ich mich immer wieder verliere. Ein Lächeln legt sich auf Tais Lippen. Unerwartet und derb dreht er mich auf den Bauch, öffnet meine Hose und zieht sie ein Stück nach unten. Anschließend öffnet er seine eigene Hose.

„Taichi, was…“ Ein erstickter Schrei entweicht meiner Kehle, als er rücksichtslos in mich eindringt. Schnell findet mein Freund seinen Rhythmus mit dem er mich schmerzhaft stark penetriert. Meine Erregung steigert sich, auf meiner Haut bildet sich Schweiß und eine Mischung aus lustvollem Stöhnen und unterdrückten, schmerzverzerrten Schreien erfüllt verhalten den Raum, ebenso wie das Keuchen meines Freundes. Sein Verhalten wundert mich ein wenig. Der Sex ist hart und lieblos, ohne zärtliche Berührungen. Normalerweise mag ich es, auf diese unpersönliche Art genommen zu werden, aber bei Tai fühlt es sich nicht ausschließlich richtig an. Durch seine enorme Ausdauer und die brutalen Stöße fügte er mir bereits relativ schwere Verletzungen zu. Legt er es im Moment darauf an? Aus welchem Grund? Die Gewalt seinerseits kam wie sooft plötzlich und ohne vorherige Anzeichen. Ich kralle mich verbissen im Polster des Sofas fest und vergrabe mein Gesicht darin, um meine Schreie zu dämpfen, damit mein Vater uns nicht hört.

„Warum lässt du mich deine schöne Stimme nicht hören? Soll ich dich noch härter ficken?“

„Dringe bitte mit jedem Stoß so tief wie möglich in mich ein. Vor allem, weil es so verdammt wehtut, spüre ich dich wahnsinnig intensiv.“ Die Worte kommen nur abgehackt über meine Lippen.

„Ich sollte dich immer so brutal ficken, dich derart kraftvoll nehmen, dass du blutest und dir somit Verletzungen zufügen, die dich zwangsläufig an mich denken lassen, wenn einer dieser perversen alten Säcke seinen Schwanz in dich reinsteckt.“

„Hör auf, Taichi! Zieh ihn raus und lass mich los.“ Unbeirrt setzt mein Freund seine kräftigen, schmerzenden Stöße fort, penetriert mich auf eine Weise, die mich kaum atmen lässt.

„Warum, Yamato? Ich dachte, du stehst auf harten Sex.“ Versucht unterdrückte Schreie entweichen meiner Kehle und erschweren es mir, zu sprechen.

„Ja, ich lasse mich von dir auch gern krankenhausreif vögeln, aber ich will dich dabei spüren. Dich. Nicht nur Schmerz, sondern deinen Schmerz. So emotionslos, wie du mich gerade fickst, könntest du auch nur ein Freier sein, bei dem mir ausnahmsweise nicht bei jeder Berührung schlecht wird.“ Langsam lässt Tai von mir ab, ohne mich vollständig loszulassen. Mit seinen Fingern streicht er über eine meiner Oberschenkelinnenseiten, dann richtet er mich ein wenig auf, zieht mich näher zu sich und hält mir seine Hand hin. Es verwundert mich nicht, geringfügig Blut darauf zu erblicken, der Schmerz in meinem Unterleib ist eindeutig und es ist nicht ungewöhnlich, dass mein Freund so weit geht. Mit seiner sauberen Hand greift er grob in meine Haare, dreht meinen Kopf so, dass seine Lippen direkt an meinem Ohr sind und ich seinen beinahe heißen Atem auf meiner Haut spüren kann.

„Nur ich darf dir solche Verletzungen zufügen, hast du verstanden? Das Blut, das durch deinen Körper fließt, gehört mir.“

„Ich weiß, Taichi, denn mein gesamtes Selbst gehört dir. Schon seit langem.“ Behutsam drehe ich mich so, dass ich meinem Freund in die Augen schauen kann. Er wirkt abwesend, sein Blick verläuft sich im Nichts. Flüchtig berühre ich seinen Mund mit meinen Lippen und streiche dann mit meinem Daumen darüber. „Sieh mich an, um mir zu zeigen, dass du mich wahrnimmst.“ Als Reaktion auf meine Bitte gibt er mir einen Kuss auf die Stirn und nimmt mich anschließend fest in den Arm.

„Lass uns zur Ablenkung ein wenig zocken. Ich denke, das tut uns beiden jetzt gut“, flüstert Tai liebevoll. Ich nicke kaum merklich, schließe meine Augen und genieße die vertraute Wärme meines Freundes.
 

„Ich klinke mich erst einmal aus. Von mir aus kannst du aber im Einzelspielermodus weiterspielen.“ Gähnend lege ich den Kontroller beiseite und strecke mich ausgiebig.

„Warum?“, fragt Tai nach, woraufhin ich mir ein Lachen nicht verkneifen kann.

„Falls es dir nicht aufgefallen ist, wir zocken bereits seit Stunden. Die Sonne ist längst untergegangen. Wenn du an der Konsole sitzt, bekommst du um dich herum gar nichts mehr mit, oder?“

„Das ist nicht wahr!“ Schmollend legt nun auch mein Freund seinen Kontroller aus der Hand. Ich beuge mich zu ihm herüber und küsse ihn sanft. Zunächst durch meine Haare streichend und mich dann am Hinterkopf festhaltend intensiviert er den Kuss. Erst als ich zu ersticken drohe, löse ich mich von Taichi. „Deine Haare sind inzwischen so lang, dass ich dir einen Zopf flechten könnte“, meint er grinsend.

„Du kannst flechten?“, entgegne ich verblüfft.

„Was soll das denn heißen? So schwer ist das nun auch wieder nicht. Aber mit den langen Haaren siehst du noch viel mehr wie ein Mädchen aus. Ich wette, wenn du Frauenkleidung tragen würdest, käme niemand auf die Idee, dass du ein Junge bist.“

„Dann müsste ich dir so doch gefallen, da du ohnehin auf Frauen stehst.“

„Lässt du sie also meinetwegen wachsen?“ Die Stimme meines Freundes drückt Unzufriedenheit aus. Liebevoll streichelt er über meine Wange. „Yamato, ich will dich, weil du bist, wie du bist. Nicht eine Sekunde lang habe ich mir gewünscht, dass du ein Mädchen bist. Ich liebe deinen Körper, abgesehen davon, dass ich ihn viel zu dünn finde. Also meinetwegen kannst du deine Haare auch ganz kurz schneiden.“

„Nein, ich will keine kurzen Haare. Und ich habe sie nicht bewusst deinetwegen wachsen lassen. Dass ich dadurch mädchenhafter aussehe, ist mir egal. Ich lege keinen Wert darauf, männlich zu wirken.“

„Wärst du lieber ein Mädchen?“, fragt Tai mit ernster Miene.

„Nein, auf keinen Fall. Ich bin froh ein Mann zu sein. Mit Frauen komme ich irgendwie nicht zurecht. Die Vorstellung, selbst eine zu sein, finde ich eher abstoßend.“ Nachdenklich betrachtet Taichi mein Gesicht.

„Woher kommt diese Abneigung eigentlich?“

„Es ist nicht wirklich Abneigung, was ich für sie empfinde. Ich kann mit Frauen nur einfach nichts anfangen. Sie interessieren mich auch nicht. Mental genauso wenig wie sexuell.“

„Würdest du nicht einmal aus reiner Neugier mit einer Frau schlafen wollen? So hast du doch gar keinen Vergleich.“

„Den brauche ich auch nicht. Der weibliche Körper spricht mich überhaupt nicht an. Wahrscheinlich würde ich nicht einmal einen hochbekommen. Der Körper eines Mannes hingegen erregt mich mittlerweile, seit ich beim Sex auch Lust empfinden kann.“

„Wann hat sich das bei dir eigentlich eingestellt?“ Ich überlege einen Moment.

„So genau kann ich das gar nicht sagen. Es kam nach und nach, je öfter wir miteinander geschlafen haben.“

„Verspürst du auch Lust, wenn du von deinen Freiern gefickt wirst?“

„Ja“, gebe ich zu. „Allerdings geht es dabei nicht um sie, sondern lediglich um den Schmerz und den Ekel.“

„Quasi eine Art Lust an der Selbstbestrafung?“

„Irgendwie schon.“ Eine kurze, wenig angenehme Pause entsteht.

„Yamato, deine Logik ist unlogisch. Ich sagte es dir inzwischen mehrmals. Du kannst nichts ungeschehen oder wiedergutmachen, indem du dir antust, was du mir angetan hast. Im Gegenteil, es tut weh, zu wissen, dass du dich anderen Männern hingibst und aus welchem Grund du es tust. Genau genommen treibe ich dich in die Prostitution und damit einhergehend in die Drogenabhängigkeit, weil du den Sex anders nicht erträgst.“

„Das ist nicht wahr! Nichts von all dem ist deine Schuld, da ich die Vergangenheit nicht zu kompensieren versuche. Ich bereue es nicht, wenn ich dich mit Gewalt und gegen deinen Willen nehme. Weder damals noch heute.“

„Vielleicht verspürst du keine Reue, aber du verkraftest deine Taten definitiv nicht. Yamato, merkst du wirklich nicht, dass du daran immer mehr zerbrichst? Besonders in Ausnahmesituationen wie neulich auf dem Mori Tower wird das sehr deutlich.“

„Ich muss noch einmal zu meinem Vater rüber“, wechsle ich das mir unangenehme Thema.

„Du weichst mir aus, Yamato.“ Vorwurfsvoll und zugleich traurig schaut mein Freund mich an.

„Nein, aber es ist schon spät. Ich will mit ihm noch ein paar Dinge bezüglich der Zeit seiner Abwesenheit besprechen. Allerdings hat mein Vater morgen einen langen, anstrengenden Flug vor sich, da möchte ich ihn nicht allzu lange wachhalten.“ Tai seufzt.

„Schon gut. Geh. Aber für mich ist diese Diskussion noch nicht beendet.“ Ohne darauf zu antworten, verlasse ich den Raum. Vor der Zimmertür meines Vaters bleibe ich stehen, atme tief durch und klopfe. Gleich darauf öffne ich sie, noch bevor dieser reagieren kann. Es ist das letzte Mal für lange Zeit, dass jemand in diesem Raum ist, wenn ich ihn betrete. Mein Vater steht vor dem Kleiderschrank und verstaut gerade die letzten Kleidungsstapel in seinem Koffer. Kurz sieht er mich an, dann fährt er mit seiner Tätigkeit fort.

„Yamato, komm rein. Setz dich, ich bin gleich fertig.“ Schweigend folge ich der Aufforderung und nehme auf seinem Bett Platz. „Koffer zu packen ist wirklich das Schlimmste am Verreisen, findest du nicht?“

„Ich bin eigentlich nur hier, weil ich mich bereits jetzt von dir verabschieden will.“ Voller Bestürzung hält mein Vater inne und blickt mich mit schmerzlicher Miene an.

„Yamato…“

„Schon okay. Ich möchte einfach nicht mitbekommen, wenn du gehst. Bitte verstehe das. Aber Taichi wird dich zum Flughafen begleiten.“ Wehmütig lächle ich meinen Vater an.

„Nein, ich will nicht, dass du in dieser Situation alleine bleibst.“

„Papa, du lässt mich morgen für unbestimmte Zeit allein. Außerdem brauche ich etwas Ruhe, um mit all dem halbwegs fertigzuwerden.“ Betroffenheit spiegelt sich im Gesicht meines Vaters wider. Er legt den Stapel Kleidungsstücke, den er in der Hand hält, beiseite und setzt sich zu mir auf das Bett.

„Du weißt, dass ich dich niemals allein lassen würde, wenn es nicht sein müsste. Mir bleibt nur keine Wahl.“

„Ich weiß. Das sollte auch kein Vorwurf sein. Der Abschied von dir tut nur so verdammt weh!“

Tränen füllen meine Augen und laufen meine Wangen hinab. Unerwartet zieht mein Vater mich zu sich und legt schützend seine Arme um meinen leicht zitternden Körper.

„Yamato, bitte versprich mir, dich an unsere Abmachungen zu halten und vor allem weiterhin clean zu bleiben. Möglicherweise helfen dir die Erinnerungen an den furchtbaren Entzug nicht wieder rückfällig zu werden.“

„Ja“, schluchze ich, obwohl ich nach wie vor Drogen konsumiere und nie wirklich von ihnen runter war.

„Also gut. Ich vertraue dir, mein Sohn.“ Es schmerzt, meinen Vater so dreist anlügen und seine Gutgläubigkeit missbrauchen zu müssen, aber so ist es besser für alle. Ich schmiege mich enger an ihn, damit ich seine Nähe intensiver spüre und von seinem Duft eingehüllt werde. Vermutlich ist es kindlich naiv zu hoffen, dass etwas davon über die Zeit seiner Abwesenheit an mir haften bleibt, aber ohne dieses Denken würde ich gänzlich den Halt verlieren.

„Bitte schlaf mit mir, Hiroaki“, flüstere ich mit erstaunlich ruhiger Stimme. „Mir ist deine Abneigung dahingehend bewusst. Dennoch bitte ich dich darum. Dring tief in mich ein, lass mich dich intensiv spüren. Ich brauche diese Nähe, diese Art der Zuneigung jetzt. Vielleicht mehr als je zuvor.“ Vorsichtig drückt mein Vater mich etwas von sich. Er hat Tränen in den Augen, als er meine mit seinem Daumen sanft von meiner Haut wischt. Zärtlich küsst er meine Stirn, dann meinen Mund. Zunächst ist der Kuss zurückhaltend, doch schnell wird mein Vater fordernder, worauf ich mich sofort einlasse. Langsam knöpft er dabei mein Hemd auf und streift es von meinen Schultern, anschließend löst er sich von mir, um mich meiner restlichen Kleidung zu entledigen. Mit schnell klopfendem Herz schaue ich nun meinem Vater beim Ausziehen zu. „Dein Körper ist schön, weißt du das? Er erregt mich sehr.“ Als er nackt vor mir steht, erhebe ich mich. Erfüllt von Begehren streiche ich über seinen Brustkorb, gehe vor ihm auf die Knie und beginne ihm einen zu blasen.

„Nicht, Yamato“, keucht mein Vater. Er legt seine Hände auf meine Schultern und versucht mich von meinem Tun abzuhalten.

„Es ist in Ordnung, Hiroaki. Lass es einfach zu.“ Seine ohnehin nicht besonders starke Gegenwehr schwindet. Tränen laufen ihm über das Gesicht, als er seine Augen schließt und den Kopf in den Nacken legt. Mit der Zeit wird das Stöhnen meines Vaters lauter. Bestimmt legt er eine Hand auf meinen Hinterkopf, um mich ein wenig zu dirigieren und sich tiefer in mich hineinzustoßen.

„Das reicht. Steh auf“, fordert mein Vater schwer atmend. Ich gehorche ohne Widerrede. Eingehend betrachte ich sein Gesicht, welches von Erregung gezeichnet ist. Erneut versinken wir in einem innigen Kuss, wobei ich von meinem Vater nach hinten auf das Bett gedrängt werde. Sorgenvoll mustert er meinen Körper, fährt mit seinen Fingern über vereinzelte Narben auf meinem Brustkorb und meinem linken Arm, dann zeichnet er die Knochen des Schlüsselbeines, sowie die Rippenbögen und die deutlich hervorstehenden Hüftknochen nach.

„Bitte sag nichts.“ Am Gesicht meines Vaters erkenne ich, dass er etwas zum Zustand meines Körpers anmerken möchte, weshalb ich ihm zuvorkomme. „Ich weiß es selbst.“ Wieder treffen sich unsere Lippen. Der Kuss ist leidenschaftlich, beinahe grob. Tief schiebt mein Vater seine Zunge in meinen Mund, sodass ich fast zu ersticken drohe. Trunken vor Verlangen streichle ich durch seine Haare, hinab zu seinem Rücken und kratze mit meinen Fingernägeln schmerzhaft über dessen Haut, woraufhin mein Vater leicht zusammenzuckt. Entschlossen löst er sich von mir, streicht über meine Beine und winkelt diese an. Seine Augen fixieren mich, als er sie weit auseinanderdrückt. Bereitwillig gebe ich mich meinem Vater hin. „Nimm mich, Hiroaki. Ich will dich tief in mir spüren“, ermutige ich ihn, hebe meinen Arm und berühre seine Wange. Unglaublich behutsam dringt mein Vater in mich ein. Trotzdem verziehe ich mein Gesicht vor Schmerz und kann einen leisen Schrei nicht unterdrücken.

„Yamato, du blutest“, meint mein Vater voller Entsetzen. „Ich…“

„Shh. Es ist nicht deine Schuld. Bitte hör nicht auf!“, unterbreche ich ihn flehentlich.

„Wer hat dir das angetan?“

„Ich wollte es. Also mach dir keine Sorgen.“

„Wer, Yamato?“, hakt mein Vater unbeirrt nach.

„Taichi. Ich habe ihn darum gebeten, ihn trifft keine Schuld“, nehme ich meinen Freund mit einer Lüge in Schutz. Mein Vater kann seine Bestürzung nicht verbergen. Wieder füllen Tränen seine Augen, als er beginnt sich langsam in mir zu bewegen. Ich kralle meine Finger in das Bettlaken, der Schmerz ist stärker als erwartet. Immer wieder entweichen Schreie meiner Kehle, vermischt mit Lauten der Lust. „Ich liebe dich“, hauche ich weinend. „Ich liebe dich so sehr.“ Keuchend streicht mein Vater einige verschwitzte Strähnen aus meinem Gesicht.

„Ich liebe dich auch, Yamato“, flüstert er mit zitternder, kaum hörbarer Stimme.

„Dring tiefer und härter in mich ein. Keine Angst, meine Verletzungen sind nicht schwerwiegend. Es kann nichts passieren.“ Wider Erwarten geht mein Vater auf meine Bitte ein. Die Stöße werden härter, intensiver und sein Rhythmus beschleunigt sich. Meine Atmung ist stockend und schwerfällig. Lustvoll bäume ich mich auf. Schwindel ergreift Besitz von mir, mein Herz schlägt schnell und mein Puls rast. Das Keuchen meines Vaters erregt mich zusätzlich. Ich greife nach seiner Hand und verhake unsere Finger. Seine Penetration ist inzwischen so stark, dass ich beinahe den Verstand verliere. Die Umgebung, die Berührungen sowie mein eigener Körper fühlen sich irreal an. Ich spüre meinen Vater so tief in mir und doch frage ich mich, ob ich nicht einer Wahnvorstellung erliege. Unser Stöhnen dröhnt laut in meinen Ohren. Vollkommen berauscht drehe ich meinen Kopf zur Seite. Mit ausdrucksloser Miene schaut Taichi direkt in meine tränennassen Augen. Als ich vorhin das Zimmer meines Vaters betrat, schloss ich hinter mir nicht die Tür, sondern ließ sie unbewusst einen Spalt weit geöffnet.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

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Mit gemischten Gefühlen packe ich einige meiner Sachen in eine Tasche und schaue mich dann noch einmal im Zimmer um. Gestern bekam ich einen Anruf aus der Klinik, dass ich bereits morgen mit meiner Therapie anfangen kann, da eher ein Platz frei wurde. Nun kann ich nicht einmal zum Unibeginn anwesend sein. Mein Blick bleibt an Taichi haften, der auf meinem Bett sitzt und mich ebenfalls ansieht.

„Du hast Angst, oder?“, fragt er mitfühlend. Aus eigener Erfahrung weiß er, was es bedeutet, sich stationär behandeln zu lassen. Zumindest psychische Krankheiten betreffend. Ich wende mich von ihm ab und verlasse mein Zimmer, ohne Tai zu antworten. Mein Kopf schmerzt, weshalb ich in die Küche gehe, um Kaffee zu kochen. Auf Tabletten kann ich derzeit nicht zurückgreifen, da mein Freier, als er vor ein paar Tagen nach Hause ging, alle Suchtmittel mit sich nahm, und bisher konnte ich mich im Bezug auf Neubeschaffungen unter Kontrolle halten. Der Entzug war schlimmer als erwartet, weshalb ich auf eine Wiederholung gern verzichte. Noch nie hatte ich derart starke Schmerzen, die mich mehr als sonst wünschen ließen zu sterben. Wäre mein Freier nicht gewesen, der meinen krampfenden Körper in den extremen Phasen fest umklammert hielt, hätte ich mir im Affekt womöglich wirklich das Leben genommen. Ich war vollkommen unzurechnungsfähig, kaum ansprechbar und meine Erinnerungen sind sehr lückenhaft. Nicht einmal, ob mein Freier während dieser Zeit mit mir geschlafen hat, kann ich mit Sicherheit sagen. Viele Geschehnisse wirkten auf mich völlig irreal. Ich weiß nicht, was im Delirium geschah und was wirklich passierte. Auf meine Nachfrage lächelt mein Freier jedoch nur und schweigt ansonsten zu dem Thema. Als die ersten Entzugserscheinungen auftraten, warnte er mich noch einmal, dass ein kalter Entzug äußerst hart wäre und gefährlich werden könne, dass es in der Klinik anders abliefe, etwas weniger schmerzhaft, aber vor allem geschützt wäre. So, wie mein Freier darüber sprach, klang es, als hätte er eigene Erfahrungen auf diesem Gebiet. Für mich jedenfalls blieb von Anfang an nur die Option des kalten Entzugs. Ich hoffe nicht wieder rückfällig zu werden und diese Tortur noch einmal durchleben zu müssen. Das letzte Heroin spritzte ich mir vor fünfzehn Tagen, beim Konsum von GHB sowie Schlaf- und Schmerzmitteln sind es noch ein paar Tage mehr. Verlangen nach all diesen Substanzen verspüre ich trotzdem sehr stark.

„Yamato“, spricht mein Freund mich an, als er in die Küche kommt. Er setzt sich mir gegenüber an den Tisch, auf den Platz meines Vaters.

„Möchtest du auch Kaffee? Oder soll ich dir lieber eine Flasche Whiskey holen?“, frage ich bissig, stehe auf und nehme zwei Tassen aus dem Schrank. Meine Worte tun mir bereits leid, trotzdem kann ich nicht verhindern, dass sich meine Sorge in Vorwürfen und gemeinen, teils unsachlichen Bemerkungen äußert. Ich hasse mich dafür, mein Fühlen, Denken und Handeln nicht in Einklang bringen zu können, wenn die Stimmen in mir durcheinanderschreien, der Körper jedoch völlig anders agiert, unkontrolliert, aber auf irreale Art bei Bewusstsein. Seit ich keine Drogen mehr nehme, kommt es mir so vor, als wären die Dissoziationen wieder schlimmer geworden. Vielleicht überlagerten sie sich aber auch lediglich mit dem Rausch. Ich fülle die Tassen mit Kaffee und stelle beide auf den Tisch. Dann setze ich mich wieder und trinke vorsichtig einen Schluck. „Versuchst du überhaupt vom Alkohol loszukommen? Permanent riechst du danach und deine Augen haben einen ganz anderen Ausdruck bekommen. Sie wirken müde, gleichgültig, als hättest du aufgegeben. Warum unternehmen deine Eltern nichts?“ Mein Freund klammert sich an seine Tasse, als hätte er Angst, sonst den Halt zu verlieren. Ich frage mich, ob er die Hitze an den Händen nicht spürt oder ob er den Schmerz gerade braucht.

„Sie drohten mir bereits mehrfach mit einer erneuten Einweisung. Dummerweise ist es sinnlos, wenn ich nicht bereit bin zu entziehen. Vermutlich haben sie ihre Machtlosigkeit inzwischen eingesehen, denn seit einiger Zeit sagen sie nichts mehr. Außerdem hielt ich ihnen den Spiegel vor, zumindest meinem Vater.“ Mit Tränen in den Augen betrachte ich meinen Freund. Durch die Drogen bekam ich nie richtig mit, wie krank Taichi eigentlich ist. Nicht nur sein Körper hat unglaublich abgebaut, sein ganzes Wesen ist kaum wiederzuerkennen.

„Du hast dich verändert. Nein, der Alkohol hat dich verändert. Merkst du das nicht?“ Tai trinkt etwas von seinem Kaffee, wobei er mich fixiert.

„Wie geht es dir jetzt, Yamato? Es ist ein Scheißgefühl, wenn man hilflos zusehen muss, wie der Mensch, den man liebt, sich selbst zugrunde richtet, nicht wahr?“ Fassungslos starre ich ihn an.

„Was soll der Unsinn? Das ist kein Spiel, Taichi! Wenn du mich verletzen willst, dann auf eine Weise, die dich nicht umbringt! Warum gehst du so weit, verdammt! Ich habe den Entzug gemacht, bin clean und ab morgen in stationärer Behandlung. Findest du nicht, dass jetzt du an der Reihe bist, dir helfen zu lassen?“ Mein Freund senkt seinen Blick und starrt schweigend in seine Tasse. „Du fragtest mich, ob Drogen und Sex mit anderen Männern mir mehr wert wären als du. Wie sieht es bei dir aus? Ist dir der Alkohol mehr wert als ich?“ Wieder bekomme ich keine Antwort. Genervt trinke ich den Rest meines Kaffees und verlasse wortlos die Küche. Tränen laufen über meine Wangen, als ich mein Zimmer betrete und mir am geöffneten Fenster zitternd eine Zigarette anzünde. „Shit!“, fluche ich leise. Unruhig nehme ich einige tiefe Züge, um mein Verlangen nach härteren Drogen zu mindern. Ich kann keine Therapie beginnen, wenn ich Taichi in seinem jetzigen Zustand allein lassen muss. Heftig weinend rutsche ich an der Wand hinab, an der ich lehne.

„Yama… ich….“ Behutsam legt mein Freund seine Hand auf meine Schulter. Ich hebe meinen Kopf, um ihn anzusehen, und bemerke sofort seinen stark alkoholverseuchten Atem. Wütend stoße ich ihn von mir.

„Geh!“, schreie ich ihn an. „Ich…“ Meine Stimme versagt. Liebevoll nimmt Taichi mich in den Arm und streichelt beruhigend durch meine Haare. „Morgen früh brauchst du mich nicht zur Klinik zu begleiten“, sage ich nach einem kurzen Moment tonlos.

„Willst du allein gehen?“

„Nein“, antworte ich kühl.

„Also fährt dich dieser widerliche Kinderficker.“ Die Aussage meines Freundes ist herablassend und voller Hass. Ich löse mich aus der Umarmung, werfe die fast heruntergebrannte Zigarette aus dem Fenster und zünde mir eine neue an. Dann drehe ich Tai den Rücken zu und schaue nach draußen.

„Ja. Er gibt mir Stabilität, Sicherheit und Zuneigung. Ich brauche ihn und seine Nähe.“ Mein Körper verkrampft und meine Kehle zieht sich schmerzhaft zusammen, als ich höre, wie mein Freund aufsteht und ohne ein Wort zu sagen das Zimmer verlässt. Ich sprach absichtlich auf meinen Freier an, um Tais Reaktion zu testen. Er scheint zwar noch eifersüchtig zu sein, gibt ansonsten aber auf und flüchtet lieber mithilfe des Alkohols in die Emotionslosigkeit. Erfüllt von Selbsthass schlage ich auf die Wand ein, solange, bis meine Hand blutig, geschwollen und taub ist, anschließend sinke ich zitternd und weinend zu Boden. Die Zigarette werfe ich aus dem Fenster, bevor ich endgültig zusammenbreche. Mein Kopf dröhnt, mir ist schwindelig und mein Körper wie gelähmt. Ich will nach Taichi rufen, bringe jedoch keinen Ton über meine Lippen. Wahrscheinlich würde er in seinem Alkoholrausch ohnehin nichts mehr mitbekommen.
 

„Wie geht es dir?“, fragt mein Freier sorgenvoll und nimmt mich fest in den Arm.

„Gehen wir in den Besucherraum“, schlage ich vor, statt zu antworten. Langsam laufen wir den Gang entlang, wobei ich die Hand meines Freiers nicht loslasse. Glücklicherweise ist der Raum leer. Ich schalte die Lampe außen über der Tür ein, die als Besetztzeichen fungiert, um ungestört zu sein. Wir nehmen auf dem Sofa Platz und ich lehne mich liebebedürftig bei meinem Freier an.

„Taichi war heute wieder nicht hier, hab ich recht?“

„Nein.“ Inzwischen bin ich seit knapp einem Monat in stationärer Behandlung, doch mein Freund besuchte mich bisher kein einziges Mal, wohingegen mein Freier sogar seinen Terminplan nach meinen Besuchszeiten richtet. Dafür bin ich ihm unglaublich dankbar, denn ohne ihn hätte ich bereits aufgegeben und die Therapie abgebrochen. Ich telefoniere zwar hin und wieder mit meinem Vater, aber dadurch verstärkt sich meine Sehnsucht eher, als dass es mir Kraft und Motivation zum Durchhalten gibt. Unerwartet dreht mein Freier meinen Kopf in seine Richtung und küsst sanft meine Lippen.

„Du machst dir Sorgen um ihn, nicht wahr?“, fragt er leise und versucht mir durch seine Nähe Halt zu geben. Resigniert schmiege ich mich an ihn, mein Blick verläuft sich im Nichts.

„Vorhin rief ich bei ihm zu Hause an. Ich wollte wenigstens seine Stimme kurz hören, aber seine Mutter ging ans Telefon. Zunächst wollte sie mir nichts sagen, fing dann aber zu weinen an und setzte mich darüber in Kenntnis, dass Tai in den letzten Wochen zweimal wegen einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus war. Er soll oft unterwegs sein, nur noch selten nach Hause kommen und auf Anfragen über seinen Verbleib oder sein Tun nicht reagieren.“ Mit einem Flehen schaue ich meinen Freier an. „Bitte, ich muss hier raus! Das alles bringt doch ohnehin nichts!“

„Yamato, beruhige dich! Nach so wenigen Wochen kannst du über Erfolg oder Misserfolg noch gar nicht urteilen. Wirf das bisher Erreichte nicht so leichtsinnig weg.“ Ein spöttisches Lachen entweicht meiner Kehle.

„Erreicht? Was habe ich denn erreicht, außer meinen Freund in den Tod zu treiben?“ Mich selbst verachtend balle ich meine Hände auf meinen Oberschenkeln schmerzhaft stark zu Fäusten und versuche meine Tränen zu unterdrücken.

„Das ist Unsinn. Taichi ist alt genug, um sich für sein Verhalten selbst zu verantworten. Du bist der Meinung, schuld an seiner Alkoholabhängigkeit zu sein, dabei ist es seine Entscheidung, zur Flasche zu greifen, statt eine andere Art der Kompensation zu wählen.“ Ich werde von einem heftigen Weinkrampf erfasst, der mich daran hindert, zu antworten. Beruhigend streichelt mir mein Freier über den Rücken. „Hör mal, Yamato. Es bringt niemandem etwas, wenn du die Therapie jetzt abbrichst. Damit hilfst du weder deinem Freund noch dir selbst.“

„Aber er stirbt! Taichi stirbt! Der Alkohol tötet ihn!“, schreie ich hysterisch. Mit einem sehr intensiven Kuss bringt mein Freier mich zum Schweigen. Anfangs wehre ich mich, lasse das Zungenspiel letztlich aber doch zu, da ich weiß, dass es seine Art ist, mich wieder zur Vernunft zu bringen.

„Ich verstehe deine Angst, aber manchmal ist es besser, rational zu bleiben und sich nicht von seinen Gefühlen zu überstürzten, eventuell sogar kontraproduktiven Handlungen verleiten zu lassen.“ Er streicht mir einige Haarsträhnen hinter die Ohren und küsst mich erneut. „Bitte vergiss dich selbst nicht. So hart es klingt, aber du hast genug eigene Probleme, die es zu bewältigen gilt.“

„Tai ist mir wichtiger.“

„Ich weiß. Nur, glaubst du wirklich, dass er für deinen Tod verantwortlich sein möchte? Yamato, ihr müsst es endlich schaffen, aus diesem verfluchten Teufelskreis auszubrechen, sonst bringt ihr euch irgendwann gegenseitig den Tod.“ Nachdenklich verharre ich in den Armen meines Freiers und schließe meine Augen.

„Also gut. Ich beende die Therapie“, lenke ich mit einem unguten Gefühl ein.

„Danke. Wie läuft es eigentlich? Hast du deiner behandelnden Psychologin inzwischen von der Vergewaltigung erzählt?“

„Nein, aber das ist auch nicht notwendig. So schlimm war es nicht.“ Demonstrativ legt mein Freier seine Hand auf meinen Oberschenkel und streicht über die Innenseite entlang nach oben.

„Als ich dich das letzte Mal im Heroinrausch genommen habe, bist du wegen der Erinnerung an den Missbrauch weinend zusammengebrochen. Du wolltest nicht einmal angefasst werden.“

„Daran erinnere ich mich nicht“, lüge ich meinen Freier unbeabsichtigt an. Seine Hand ruht zwischen meinen Beinen. „Aber wenn es so war, tut es mir leid, denn ich schlafe wirklich gern mit Ihnen.“

„Dir muss nichts leidtun. Was dieses Arschloch mit dir gemacht hat, ist nicht deine Schuld, versteh das endlich!“ Ich schweige. Seufzend umfasst mein Freier meine Taille. Mit einem Lächeln reagiere ich darauf, setze mich mit gespreizten Beinen auf seinen Schoß und verwickle ihn in einen langen, sinnlichen Kuss.

„Ich finde Sie unglaublich süß, wenn Sie versuchen mich zu erziehen.“ Verführerisch lecke ich an seinem Ohr entlang, während ich gleichzeitig den Knopf seiner Hose löse. Entschlossen hält mein Freier mich am Handgelenk fest.

„Nein, Yamato. Nicht jetzt und vor allem nicht hier. Warum willst du immer mit Sex von deinen Problemen ablenken?“

„Verdammt, ich habe es einfach nur nötig!“ Wütend rutsche ich von meinem Freier herunter und laufe nervös durch das Besucherzimmer. „Seit ich hier bin, hatte ich keinen Sex mehr. Ich habe es satt, immer nur Hand an mich legen zu müssen“, schreie ich laut durch den Raum. „Das alles hier… ich ertrage es nicht mehr. Überall Regeln, Verbote, Bestrafungen und wofür? Wofür, frage ich dich?“, richte ich meine Verzweiflung direkt auf meinen Freier. Der steht auf und zieht meinen zitternden Körper in seine Arme. Kraftlos lasse ich es geschehen. „Heroin“, hauche ich. „Oder GHB… bitte… irgendwas… damit ich das hier überstehe und Taichi vergesse.“

„Es tut mir leid, Yamato“, erwidert mein Freier unter Tränen und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.
 

Erschöpft und außer Atem vom Steigen der Treppenstufen drehe ich den Schlüssel im Schloss. Kurz stutze ich, denn die Tür ist nicht verschlossen. Am Morgen meines Therapiebeginns schlief Taichi noch, als ich mich auf den Weg machte. Vermutlich war er wieder alkoholisiert und ging ohne abzuschließen. Mit Betreten der Wohnung lasse ich meine Tasche achtlos im Flur stehen und gehe rasch in die Küche. Dort fülle ich ein Glas mit Wasser und leere den Inhalt der Plastiktüte, welche ich noch immer in der Hand halte, auf dem Tisch aus. Fahrig drücke ich einige Schmerz- und Schlafmittel aus ihren Blisterverpackungen und schlucke sie mit etwas Flüssigkeit herunter. Dann setze ich Kaffee auf, ziehe meine Schuhe sowie Jacke aus und nehme meine Tasche, um sie in mein Zimmer zu bringen. Vor der Tür bleibe ich verwundert stehen, da ich mir einbilde Musik zu hören. Ist Tai da? Kommt er etwa hierher, wenn seine Mutter nicht weiß, wo er sich aufhält? Warum? Will er allein sein, damit er ungestört trinken kann? Beim Öffnen der Tür überkommt mich die Angst, in welchem Zustand ich meinen Freund vorfinden werde. Ich erstarre und lasse meine Tasche fallen, als ich sehen muss, wie er in meinem Bett eine blonde Frau von hinten nimmt. Bei dem Anblick wird mir ebenso schlecht wie von dem Gestank in meinem Zimmer, einem Gemisch aus Alkohol und Parfüm.

„Yamato…“, sagt Tai eher überrascht als erschreckt. Anhand seines Gesichtsausdrucks sehe ich, dass er betrunken ist. Er lässt von dem Mädchen ab, welches mich völlig irritiert mustert. Wie versteinert stehe ich an der Tür, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Auch fühle ich nichts, weder Hass, Wut noch Traurigkeit oder Eifersucht. Trotzdem laufen Tränen meine Wangen hinab.

„Taichi, wer ist das?“, durchbricht das Mädchen plötzlich die unangenehme Stille. Dieser sieht mich unverwandt an.

„Mein Freund.“

„Was…“, hakt sie nach, wird von Tai allerdings unterbrochen.

„Ich liebe ihn. Du bist lediglich ein Ersatz.“

„Und ich glaube, du hast zu viel getrunken, mein Süßer“, erwidert sie lachend und berührt meinen Freund am Arm.

„Geh“, befiehlt er ihr kalt, ohne seinen Blick von mir abzuwenden. Das Mädchen schaut mich abfällig an, als gäbe sie mir die Schuld an Taichis Verhalten. Als sie merkt, dass ich nicht reagiere und auch Tai nicht weiter auf sie eingeht, steht sie auf, zieht sich an und nimmt ihre Tasche, ohne sich von meinem Freund zu verabschieden.

„Verrecke, du dreckige Schwuchtel!“, zischt sie mir hasserfüllt zu, während sie an mir vorbeigeht, um das Zimmer und die Wohnung zu verlassen. Noch immer stehe ich unbewegt da und noch immer sieht Taichi mich an. Nach einer Weile erhebt er sich von meinem Bett und kommt unsicheren Schrittes auf mich zu. Dicht vor mir bleibt er stehen, streicht liebevoll über meine Wange und küsst die Tränen von meiner Haut. Ein starker Alkoholgeruch steigt mir in die Nase. Ich schließe meine Augen und lasse seine Berührungen unbeteiligt zu. Allmählich spüre ich die Wirkung der Tabletten. Mir wird schwindelig, schlecht und es fällt mir schwer, aufrecht zu stehen. Leicht benommen öffne ich meine Augen wieder und sehe, wie die Realität verschwimmt. Die Farben sind wesentlich greller, die Formen verändern sich, alles wirkt grotesk und die Geräusche entfernen sich langsam. Ich versuche Tai zu fixieren, bekomme ihn aber nicht zu fassen. Er ist ungreifbar, ich erkenne ihn kaum. Allmählich verliere ich die Kontrolle über meinen Körper, gerate ins Wanken und letztlich aus dem Gleichgewicht. Als ich zu Boden falle, fühle ich keinen Schmerz. Am Rande meiner Wahrnehmung merke ich, dass mein Freund mich in den Arm nimmt und auf mich einredet, doch ich verstehe nicht, was er sagt. Dann wird alles dunkel.
 

Schlaftrunken öffne ich meine Augen. Sie schmerzen stark und mein Kopf droht fast zu zerspringen. Es ist dunkel, sodass ich einen Moment brauche, um mich zu orientieren. Bedächtig setze ich mich auf und erkenne endlich, dass ich in meinem Bett zu Hause, und nicht in der Klinik, liege. Angestrengt versuche ich mir ins Gedächtnis zu rufen, was geschehen ist. Ich hatte Tabletten geschluckt, offenbar in einer Menge, die in der Bewusstlosigkeit endete. Schwerfällig stehe ich auf und schleppe mich über den Flur in die Küche. Ich brauche Schmerzmittel, sonst kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Verwirrt blicke ich auf den Küchentisch. Dort steht lediglich ein zur Hälfte mit Wasser gefülltes Glas. Ich werde leicht panisch und schaue mich im Raum um. Der Kaffee in der Kanne, den ich vorhin aufgesetzt hatte, dürfte inzwischen kalt sein.

„Suchst du deine Tabletten?“ Erschreckt zucke ich zusammen und drehe mich rasch um. Taichi steht an den Türrahmen gelehnt und betrachtet mich ernst. „Ich habe mich der wenigen Tabletten, die du übriggelassen hast, angenommen. Für deine Therapie ist dieser Rückfall nicht gerade förderlich, oder?“ Sein Tonfall klingt eher besorgt als vorwurfsvoll. „Wie lange hast du Ausgang?“

„Ich gehe nicht zurück in die Klinik. Die Therapie habe ich abgebrochen“, entgegne ich, während ich aus dem Schrank eine Tasse nehme und mit Kaffee fülle. Anschließend setze ich mich an den Tisch.

„Hältst du es nicht mehr aus?“, fragt Tai, der mich die ganze Zeit beobachtete.

„Nein.“ Begierig trinke ich einen Schluck des koffeinhaltigen Getränkes, in der Hoffnung, meine Kopfschmerzen etwas lindern zu können. „Außerdem bringt es nichts, wenn ich nicht bereit bin mich darauf einzulassen.“ Schweigend sehen wir uns an. „Taichi, du meintest vorhin, du würdest mich lieben. Warum hast du mich nicht einmal in der Klinik besucht?“

„Ich wollte, aber sie ließen mich nicht zu dir, weil ich… alkoholisiert war.“ Er weicht meinem Blick aus.

„Deine Mutter erzählte mir von deinen Krankenhausaufenthalten aufgrund von Alkoholvergiftungen. Wegen meines Drogenkonsums habe ich nicht das Recht, dir Vorhaltungen zu machen, dennoch habe ich Angst, dich an den Alkohol zu verlieren, falls das nicht schon längst geschehen ist.“ Ohne etwas darauf zu antworten, kommt mein Freund auf mich zu und nimmt mich in den Arm. „Fass mich nicht an!“, schreie ich und stoße ihn derb von mir. „Du stinkst noch immer nach dieser Frau!“ Tai scheint durch meinen plötzlichen Gefühlsausbruch ernüchtert, denn er bleibt auf Abstand und sieht nur bestürzt zu mir hinab. „Geh duschen und wasch dir den Gestank von der Haut, erst dann lasse ich dich wieder an mich ran. Wie viele Frauen hast du eigentlich in der Zeit, in der ich weg war, gevögelt? Jeden Tag eine andere? Oder war es immer dieselbe?“

„Yamato…“

„Hör auf mich so anzusehen. Los, sag schon. Ich will es wissen.“

„Mal war es dieselbe, mal eine andere. Was spielt das für eine Rolle? Letztlich waren sie alle nur ein Ersatz für dich. Oder glaubst du, die optische Ähnlichkeit der Frauen zu dir ist zufällig?“ Ziemlich sprachlos greife ich nach meiner Tasse und leere sie in einem Zug. Dann stehe ich auf und gehe zur Kaffeemaschine, da in der Kanne noch ein letzter Rest Kaffee übrig ist.

„Heißt das, du suchst dir gezielt blonde Mädchen mit schulterlangen Haaren und ähnlicher Statur aus, nimmst sie von hinten und stellst dir dabei vor, mich zu vögeln?“ Betreten senkt mein Freund seinen Blick. „Das ist pervers, Taichi.“

„Aber wenn du mit fremden Männern Sex hast, ist das in Ordnung“, entgegnet er leicht ungehalten.

„Nein. Ich allerdings will dich damit nicht verletzen. Es geht allein um Selbstverletzung.“

„Hast du eigentlich eine Ahnung, wie sehr du mir wehtust, wenn du dich einem anderen hingibst? Warum benutzt du nicht mich für deinen Selbsthass?“

„Weil ich mich in dieser Beziehung an dir nicht verletzen kann. Ich habe keine Schuldgefühle, wenn ich mit dir schlafe. Ich fühle mich nicht dreckig und minderwertig, wenn ich von dir berührt und genommen werde.“ Tai kommt ein paar Schritte auf mich zu und schlingt von hinten seine Arme um meine Taille.

„Du kleiner, verdammter Lügner“, säuselt er in mein Ohr. „Als würdest du dich nicht auch zu deinem Vergnügen ficken lassen. Zumindest von deinem Vater und vermutlich auch von diesem pädophilen Wichser, hab ich recht?“

„Sagte ich nicht, du sollst mich nicht anfassen?“ Als ich mich zu wehren versuche, dreht mein Freund meinen Körper zu sich herum und stößt mich kraftvoll gegen den Kühlschrank. Schmerzhaft stark packt er mich an den Handgelenken, um eine Flucht meinerseits zu verhindern.

„Ich fasse dich an, wann, auf welche Weise und so oft ich will. Und jetzt will ich dich ficken. Warum zierst du dich so? Als Stricher bist du es doch gewohnt, auf Kommando die Beine breit zu machen, oder?“ Panik kommt in mir auf. Ich befinde mich wieder im Geräteraum der Turnhalle, das widerliche Grinsen, sein Geruch, das Gefühl seiner Bewegungen in mir, der Geschmack seines Spermas, meine Wehrlosigkeit.

„Bitte lass mich los… ich will nicht…“, hauche ich angsterfüllt.

„Ich weiß, dass du es willst. Und jetzt halt still!“
 

Reglos und völlig abwesend sitze ich auf den kalten Fliesen, an die Wanne gelehnt, im Badezimmer. Warmes Blut läuft in Rinnsalen meinen Arm hinab, doch ich nehme es kaum wahr. Legte Tai es vorhin darauf an, mich eines Besseren zu belehren? Als er mich in der Küche mit harten Stößen von hinten nahm, fühlte ich mich ekelhaft und dreckig. Nur war es nicht Taichi, der sich schmerzhaft in mir bewegte, sondern der Sportlehrer. Wie damals ließ meine Gegenwehr schnell nach und ich ergab mich der peinvollen Entwürdigung. Ich war nicht mehr in der Lage, Realität von Dissoziation zu unterscheiden. Der Sex war rücksichtslos, aber auf eine andere Art, als ich es von meinem Freund normalerweise gewohnt bin. Er zeigte keinerlei Emotionen, es fehlte jegliches Gefühl. Erinnerungen an früher wurden in mir wach. Damals war der Sex genauso kalt und bedeutete nichts, doch heute kann ich zugeben, dass wir uns etwas vormachten und uns selbst verleugneten. Trotzdem stimmt die Aussage des Sportlehrers bezüglich meiner Daseinsberechtigung, wie Taichi vorhin bestätigte. Ich muss gevögelt und erniedrigt werden, zu etwas anderem bin ich nicht nütze. Nachdem er schließlich genug hatte, ließ Tai von mir ab. Sofort brach ich zitternd zusammen, mein Freund würdigte mich keines Blickes und ging, ohne ein weiteres Wort an mich zu verschwenden. Es dauerte lange, bis es mir gelang, mich ins Bad zu schleppen. Ich hoffte, durch das Schneiden etwas empfinden zu können, doch mein Körper ist nach wie vor taub und ich fühle mich leer. Entfernt nehme ich wahr, dass die Wohnungstür ins Schloss fällt und jemand durch den Flur poltert. Wankend kommt Taichi ins Badezimmer. Er ist völlig betrunken, in den Händen hält er drei Flaschen Whiskey, von denen eine bereits zu zwei Dritteln geleert ist. Offenbar verließ er die Wohnung nur, um weiteren Alkohol zu beschaffen.

„Warum“, fragt er undeutlich und zeigt auf meinen Arm. Ich antworte nicht. „Gefiel dir nicht, was ich mit dir gemacht habe?“, spricht er lallend weiter. „Dabei habe ich es dir doch ordentlich besorgt.“ Er stolpert auf mich zu, stellt die Flaschen ab, wobei die fast geleerte umfällt, und packt mich grob am Arm. „War dir das etwa nicht genug, du billiges Flittchen?“

„Selbst wenn, so besoffen wie du bist, würdest du ohnehin keinen mehr hochbekommen, um mich ausreichend zu befriedigen. Und jetzt lass mich los, verdammt!“ Wütend funkle ich meinen Freund an. Wider Erwarten lässt er mich tatsächlich los und trinkt stattdessen die angefangene Whiskeyflasche in einem Zug aus. „Idiot! Willst du dich ins Koma saufen?“

„Was kümmert es dich? Komm, mach schön die Beine breit und öffne deinen hübschen Mund nur, um meinem Schwanz zu lutschen. Etwas anderes kannst du ohnehin nicht, mein Liebling.“ Lüstern beugt sich Tai zu mir hinab, greift mit einer Hand in meinen Schritt und versucht mit der anderen mich in eine liegende Position zu drücken. Kraftvoll schlage ich ihm meine Faust ins Gesicht. Mein Freund ist unvorbereitet, aufgrund seiner starken Alkoholisierung verliert er das Gleichgewicht und fällt unsanft zu Boden, wobei er die Flaschen umwirft und eine der ungeöffneten zu Bruch geht.

„Also gut, du hast es nicht anders gewollt, Taichi.“ Mühsam erhebe ich mich und verlasse das Bad. Im Flur nehme ich meinen Wohnungsschlüssel sowie den meines Freundes von der Kommode, schließe von innen ab und verstaue beide Bunde in meinen Hosentaschen. Mit fragendem Blick krabbelt Tai auf mich zu, in der Hand die einzig verbliebene volle Flasche Whiskey.

„Was wird das? Wieso…“ Energisch laufe ich auf meinen Freund zu, entreiße ihm den Alkohol, suche erneut das Bad auf und zerschmettere ungehalten das Glas auf den Fliesen. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit verteilt sich auf dem Boden, vermischt sich mit dem Inhalt der anderen Flasche und meinem Blut. Der Geruch im Raum ist beißend. Ich drehe mich um und blicke Taichi entschlossen an.

„Diese Wohnung wirst du in nächster Zeit nicht verlassen. Ich mache mit dir den kalten Entzug.“

„Du sperrst mich ein?“ Mein Freund benötigt einige Versuche, um sich zu erheben, schafft es aber letztlich und steht auf unsicheren Beinen vor mir. „Lass mich raus!“, zischt er in drohendem Ton. Mit verzweifelter Wut drücke ich ihn brutal gegen die Wand, meinen verletzten, blutverklebten Unterarm an seine Kehle.

„Nein. Und solltest du dich nicht fügen, schlage ich dich bewusstlos. Das meine ich ernst. Es reicht, Taichi. Ich werde dich nicht an den Alkohol verlieren.“
 

Mit Tränen in den Augen knie ich im Badezimmer auf dem Boden und sammle die Scherben der zerbrochenen Whiskeyflaschen auf. Anschließend fülle ich einen Eimer mit Wasser und Reinigungsmittel, um die Fliesen zu wischen. Dabei fällt mein Blick auf meinen Arm, welcher blutverkrustet ist. Aufgrund der Ereignisse vergaß ich die Wundversorgung vollkommen. Auch muss ich Taichis Eltern über seinen Verbleib in den nächsten Tagen informieren, doch ich befürchte, dass sie mit meinem Vorhaben nicht einverstanden sein werden und verlangen, dass ihr Sohn nach Hause kommt. Zwar bin ich mir selbst nicht sicher, ob ich es schaffe, den Entzug mit meinem Freund durchzuziehen, allerdings kann ich ihn vom Alkohol fernhalten, während er bei sich zu Hause durch die Sucht seines Vaters ständig damit konfrontiert und verleitet wird. Fortwährend verschwimmt meine Sicht und behindert mich beim Reinigen des Bodens, trotzdem gelingt es mir, die Tränen zurückzuhalten. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und ich verspüre einen unangenehmen Schmerz beim Schlucken. Ich halte inne, betrachte die Glasscherben. Aus einem Impuls heraus nehme ich eines der größeren Stücke und mustere gebannt die Bruchkanten. Dann schaue ich zu der Rasierklinge, die noch immer neben der Badewanne liegt. Es wäre einfach, jetzt alles zu beenden. So einfach. Ich hätte es schon längst tun sollen. Für Taichi. Plötzlich ertönt die Türklingel, reißt mich aus meinen Gedanken und verhindert deren Umsetzung. Erschreckt lasse ich die Scherbe fallen. Ich stehe auf und laufe langsam, weiterhin in einem tranceähnlichen Zustand, durch den Flur und öffne die Tür. Sofort zieht mein Arm die Aufmerksamkeit meines Freiers auf sich, einen Moment später sucht dieser Augenkontakt. Ohne ein Wort zu sagen, betritt er die Wohnung, entledigt sich seiner Schuhe sowie Jacke und schiebt mich vorsichtig, aber bestimmt an den Schultern zurück ins Bad. Dort setzt er mich auf den Wannenrand.

„Ist das Verbandsmaterial da drin?“ Mein Freier deutet auf das kleine Medizinschränkchen neben der Dusche. Ich nicke kaum merklich. Schweigend versorgt er die Wunden, dann schaut er sich im Raum um und wieder zu mir. „Was genau ist eigentlich passiert, Yamato? Am Telefon sagtest du nur, du brauchst Hilfe. Dabei klangst du ebenso apathisch, wie ich dich jetzt vorfinde. Komm, ich fahre dich zurück in die Klinik. Es ist eindeutig zu früh, dir Ausgang zu gewähren.“

„Das geht nicht“, murmle ich mit belegter Stimme. „Ich habe die Therapie abgebrochen.“ Seufzend setzt sich mein Freier neben mich auf den Wannenrand.

„Erzähl mir bitte, was passiert ist.“ Er deutet auf den Wassereimer und den von mir errichteten Scherbenhaufen. Bei seinem Anblick legt sich ein Lächeln auf meine Lippen. Ein Symbol meiner Beziehung zu Taichi. Ich lache laut, zugleich kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie brennen auf meinen Wangen, als würde diese salzige Körperflüssigkeit meine Haut verätzen. Dennoch kann ich nicht aufhören zu weinen. Oder zu lachen. „Yamato.“ Mein Freier hockt sich vor mich und nimmt mein Gesicht zwischen seine Hände. „Beruhige dich.“ Ich nehme seine Worte kaum wahr und reagiere auch nicht darauf. „Hörst du mich überhaupt?“ In der Hoffnung, mich zur Besinnung zu bringen, schüttelt er meinen Körper. Anstatt zu verstummen wird mein Lachen hysterischer. Verzweifelt schlägt er mir kräftig ins Gesicht, um mich in die Realität zurückzuholen. Voller Entsetzen schaue ich meinen Freier an und streiche mit meinen Fingern über die schmerzende Wange. „Yamato?“, fragt er vorsichtig.

„Ja.“ Meine Antwort ist nicht mehr als ein Flüstern. Ich wende meinen Blick ab und schaue zu Boden. „Danke.“ Die Berührung meines Freiers ist nur flüchtig, dennoch zucke ich leicht zusammen.

„Deine Haut ist stark gerötet. Tut es sehr weh?“

„Nein.“ Erneut schaut sich mein Gegenüber im Raum um.

„Die zerbrochenen Whiskeyflaschen und der starke Alkoholgeruch lassen vermuten, dass es um deinen Freund geht, hab ich recht?“

„Taichi entgleitet jegliche Kontrolle über seinen Alkoholkonsum und somit über sich selbst.“ Trotz ruhiger Stimme ist ihr Vibrieren deutlich hörbar. „Er kam völlig betrunken in die Wohnung, woraufhin ich den Entschluss fasste, mit ihm einen kalten Entzug zu machen. Als ich die Wohnungstür verschloss und die Schlüssel an mich nahm, begriff Tai, dass ich es ernst meine und fing an mich auf unterstem Niveau zu beschimpfen. Ich ging nicht auf seine Beleidigungen ein, was ihn noch wütender machte und handgreiflich werden ließ. Ab diesem Moment verlor auch ich die Beherrschung und schlug ungehemmt auf ihn ein, bis er bewusstlos am Boden lag.“ Die Worte kommen über meine Lippen, als würde sie ein Fremder sagen, unbeteiligt, emotionslos.

„Wo ist dein Freund jetzt?“

„Ich habe ihn in mein Bett gebracht.“ Mit festem Griff packt mich mein Freier am Arm und zieht mich hinter sich her zu meinem Zimmer. Er setzt sich auf die Bettkante, während ich neben ihm stehenbleibe, und streicht Taichi liebevoll durch die Haare, dann über die Wange.

„War es wirklich nötig, ihn so zuzurichten, Yamato?“ Ich schaue meinen Freund nicht an, weiß aber, wie schlimm er aussieht, da ich seine Verletzungen, Platzwunden und Schwellungen, so gut es ging, behandelte.

„Nein. Vermutlich nicht.“ Wütend balle ich meine Hände zusammen, grabe meine Fingernägel schmerzhaft stark in meine Handinnenflächen.

„Kennst du den Grund, weshalb er sich derart betrunken hat? Weißt du, ob zuvor etwas vorgefallen ist?“

„Nein“, antworte ich steif. Erinnerungen an den erzwungenen Sex in der Küche drängen sich mir auf.

„Hmm… ich glaube nicht, dass du es schaffst, mit ihm einen Entzug durchzuziehen. Du bist selbst zu labil und noch nicht lange genug clean.“ Ich meide den Blick meines Freiers. Meinen Rückfall in Form von Medikamentenmissbrauch verschweige ich lieber.

„Wenn es mir nicht gelingt, Tai zu helfen, werde ich mit seinen Eltern sprechen und ihn durch sie zwangseinweisen lassen. Diesen Schritt würde ich uns allen jedoch gern ersparen. Aber ohne Sie schaffe ich es wirklich nicht.“
 

„Wenn du mich weiterhin hier festhältst, garantiere ich für nichts mehr“, spricht mein Freund die Drohung zum wiederholten Mal hasserfüllt aus.

„Das Risiko gehe ich ein“, entgegne ich ruhig, während ich ohne aufzusehen Worte auf ein Blatt Papier vor mir schreibe. Seit ich Tai seiner Freiheit beraubte, um ihn zu einem kalten Entzug zu zwingen, sind fast zwei Tage vergangen. Seine Eltern waren erwartungsgemäß gegen mein Vorhaben, vermutlich auch, weil sie mir aufgrund vergangener Ereignisse noch immer misstrauen. Letztlich schaffte ich es, Tais Eltern zu überzeugen, nachdem ich sie mit dem Alkoholproblem des Vaters konfrontierte. Dabei musste ich entsetzt feststellen, dass sein Trinkverhalten von ihnen als normal eingestuft wird. Erst, als ich meine Geduld sowie jegliches Verständnis verlor, sogar in den Hörer schrie und ihnen Vorwürfe bezüglich ihrer Unverantwortlichkeit machte, begannen die Eltern meines Freundes nachdenklich zu werden und gaben schließlich meinem Willen nach. Ich hebe meinen Blick und beobachte Tai, wie er ziellos durch das Zimmer läuft, sich auf mein Sofa setzt, wieder aufsteht, um kurz darauf nervös auf dem Bett Platz zu nehmen. Der Entzug macht sich deutlich bemerkbar, er zittert stark und ist schweißnass. Seine Haut ist fahl, seine Haare fallen ihm strähnig ins Gesicht.

„Yamato, bitte! Ich halte das nicht mehr aus!“

„Du musst, denn ich lasse dich nicht gehen.“

„Gib mir die verdammten Schlüssel!“ Taichis Tonfall wird energischer, aggressiver.

„Nein“, erwidere ich bestimmt. Unvermittelt steht mein Freund auf und kommt schnellen Schrittes auf mich zu. Ich halte Blickkontakt, bis er mich stark gegen die Lehne des Stuhls presst, seine Hand fest an meiner Kehle. Bedächtig schließe ich meine Augen, woraufhin er den Druck noch verstärkt.

„Ich frage dich noch einmal und rate dir zu antworten! Wo sind die Schlüssel?“ Er betont jedes einzelne Wort mit Nachdruck. Ein leichtes Lächeln legt sich auf meine Lippen.

„Nimm mir das Bewusstsein, besser noch das Leben, und suche sie.“ Taichi lässt mich los und sieht abschätzig zu mir herab.

„Ich muss dich töten, um meine Freiheit wiederzuerlangen?“

„Ja“, stimme ich umgehend zu. „Aber was willst du mit deiner Freiheit, wenn ich dafür sterben muss? Oder bin ich dir inzwischen so egal geworden, dass du mich nicht mehr in deinem Leben brauchst?“

„Wenn ich deine Frage bestätige, was würdest du tun? Dich selbst umbringen?“

„Nein, nicht bei deinem momentanen Zustand. Dein Alkoholmissbrauch hat dich in einer Art verändert, die mir nicht gefällt. Ohne mich wirst du deine Sucht nie in den Griff bekommen.“ Tais lautes, spöttisches Lachen erfüllt den Raum.

„Deine Arroganz ist beeindruckend, wenn man bedenkt, wessen Schuld die derzeitige Situation ist.“

„Es ist deine Schuld, Taichi“, begegne ich seinem Vorwurf kühl. „Du allein hast diesen Weg gewählt. Ich habe dich nie dazu aufgefordert, dich zu betrinken, geschweige denn gezwungen. Aber ich zwinge dich damit aufzuhören. Ich weiß, dass meine Maßnahmen wenig Aussicht auf Erfolg haben, weil du nichts ändern willst, trotzdem gebe ich dich nicht auf.“ Nun lächelt Tai mich sanft, aber mit einer unbeschreiblichen Traurigkeit in seinen Augen an.

„Du kannst ja doch kämpfen, Yamato. Aber ich hasse es, dass du diese Kraft nur aufbringst, wenn es fast zu spät ist. Und dann ausschließlich für andere, nicht einmal für dich selbst. Den Hass gegen dich wirst du nie überwinden können, oder?“ Ich antworte nicht, sondern wende mich wieder zu meinem Schreibtisch und notiere einige Gedanken. „Kommt dieser Kinderficker heute wieder?“

„Nein. Er macht lediglich Besorgungen für uns, damit ich dich nicht allein in der Wohnung lassen muss. Ansonsten wirst du ihn nicht in deiner Gegenwart ertragen müssen.“

„Stimmt, gestern hat er es dir ordentlich auf dem Küchentisch besorgt“, wirft mein Freund beiläufig, aber hörbar feindselig, ein. Der Stift in meiner Hand hält mitten im Wort inne und ich starre regungslos auf das Blatt Papier. „Du dachtest, ich würde schlafen, nicht wahr?“ Tai streichelt sinnlich über meinen Nacken. „Warum lässt du dich immer wieder von diesem Typen vögeln? Ist der Sex mit ihm wirklich so gut, dass du nicht darauf verzichten willst.“

„Ich brauche ihn und die Art, wie er mich nimmt.“

„Auch auf die Gefahr hin, dass du mich verlierst?“ Von einem unangenehmen Gefühl beherrscht wende ich mich meinem Freund zu.

„Nein.“

„Dann…“

„Deine Hand ist eiskalt“, unterbreche ich Tai absichtlich. „Und du siehst nicht gut aus.“ Besorgt stehe ich auf und fahre mit meinen Fingern durch seine feuchten Haare. Der fiebrige Blick meines Gegenübers verfinstert sich, lieblos stößt er mich gegen den Schreibtisch und drängt sich dicht an meinen Körper. Ich gleite mit meinen Händen haltlos über die Arbeitsfläche, zerknittere dabei das Papier, der Stift fällt zu Boden.

„Was soll ich machen, damit du nur mir gehörst? Mir wird schlecht, wenn ich daran denke, wie viele alte Säcke und perverse Schweine schon in dir waren. Sei ehrlich, hat der Sportlehrer dich wirklich vergewaltigt? Ich denke eher, dass er tatsächlich einer deiner Kunden war, du nach dem Job allerdings Angst vor möglichen Konsequenzen bekommen hast. Letztlich bist du eben nichts weiter als ein dreckiger, relativ anspruchsloser Stricher, der nahezu jeden ranlässt.“ Erschüttert weiten sich meine Augen, bevor meine Mimik ausdruckslos wird.

„Du hast recht. Es war nur ein Job. Sonst nichts“, stimme ich meinem Freund teilnahmslos zu.

„Wirst du deine Aussage vor Gericht revidieren? Der Termin ist doch bald, wenn ich mich nicht irre. Oder hältst du an deiner Lüge fest und belastest einen Unschuldigen?“

„Er ist nicht unschuldig. Und falls die anderen Betroffenen aussagen, ist seine Verurteilung ziemlich sicher. Deshalb hat meine Aussage ohnehin kaum Bedeutung.“

„Du bist immerhin für seine Verhaftung verantwortlich.“ Genervt versuche ich mich von Taichi zu befreien.

„Was willst du eigentlich? Dir ist doch völlig egal, was mit diesem Mann passiert oder ob er ein Vergewaltiger ist.“ Leichte Panik steigt in mir auf, die ich erfolglos versuche zu unterdrücken. Ich will nicht mehr daran denken müssen. Meine Haut brennt an den von ihm berührten Stellen, Schmerz breitet sich in meinem Unterleib aus, Ekel überkommt mich und Übelkeit kriecht meine Kehle empor. „Geh. Fass mich nicht an“, murmle ich kaum hörbar.

„Was?“ Mit seinen Fingern hebt Tai mein Kinn und zwingt mich ihn anzusehen. Ich bringe ihm ein liebloses Lächeln entgegen.

„Geh duschen, das wird dir gut tun. Vielleicht bekommst du davon auch wieder einen klaren Kopf.“ Mein Freund mustert mich mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht zu deuten vermag. Ich spüre, dass sein Zittern sich noch verstärkt. Langsam nimmt er ein paar Schritte Abstand von mir. Stumm blicken wir einander an, suchen bei dem anderen hilflos nach Halt. Allerdings schweben zugleich unausgesprochene Vorwürfe im Raum sowie lähmende Angst und Traurigkeit. Zwischen uns bleiben so viele zahllose Worte, doch nach einem kurzen Augenblick dreht Taichi mir den Rücken zu und verlässt schweigend das Zimmer.
 

Angespannt sitze ich am Küchentisch, eine Tasse heißen Kaffees mit meinen Händen umschließend, als es an der Wohnungstür klingelt. Erleichtert öffne ich und presse mich sofort an den Körper meines Freiers, bevor er überhaupt eintreten kann. Der legt seine Arme um mich, drängt mich behutsam zurück in den Flur und lässt die Tür leise ins Schloss fallen. Mit sanfter Gewalt drückt er mich mit dem Rücken gegen die Wand. Der Kuss ist innig, schmeckt aber salzig von meinen Tränen.

„Du bist blass, mein Süßer“, haucht mein Freier auf meine Lippen und fährt mit seinem Daumen über meine deutlich sichtbaren Augenringe. „Was ist passiert? Wo ist Taichi?“, will er schließlich besorgt wissen.

„In meinem Bett. Er fiebert etwas. Ich weiß nicht, ob es sich um eine Entzugserscheinung handelt oder ob sein Immunsystem zu geschwächt ist. Möchten Sie Kaffee?“

„Ja, danke“, antwortet mein Freier und setzt sich auf einen der Stühle. „Hast du seine Körpertemperatur gemessen?“

„Stündlich. Sie bleibt relativ konstant zwischen 39,3°C und 39,7°C. Vor etwa drei Stunden, als er die Temperatur von 39°C überschritt, verabreichte ich ihm ein Fiebermittel, welches jedoch kaum Wirkung zeigte.“ Ich stelle die Tasse vor meinen Freier auf den Tisch und nehme ihm gegenüber auf dem anderen Stuhl Platz. Schweigend trinken wir einen Schluck des inzwischen nur noch warmen, koffeinhaltigen Getränks.

„Sollte das Fieber bis morgen nicht unter 39°C sinken, wäre es besser, einen Arzt zu konsultieren.“ Mit einem leichten Kopfnicken stimme ich ihm zu. „Wie verläuft der Entzug ansonsten?“

„Tai war wach und bekam mit, wie Sie mich vorgestern in der Küche nahmen. Die darauffolgende Auseinandersetzung verlief allerdings rein verbal, war ziemlich unterkühlt und schnell beendet. Später am Abend verlor er jedoch mehrfach wegen Kleinigkeiten die Beherrschung, wurde aggressiver und zunehmend gewalttätiger. Bisher gelang es mir, seine Tätlichkeiten abzuwehren und ihm seine Grenzen aufzuzeigen. Trotzdem ist mir bewusst, dass Tai mir körperlich weit überlegen ist, auch wenn der Alkohol ihn mehr und mehr zerstört. Im Ernstfall hätte ich also kaum eine Chance.“

„Hast du Angst, dass es dazu kommt?“

„Natürlich.“ Betrübt trinke ich einen weiteren Schluck Kaffee. „Ich liebe ihn und möchte ihn nicht verlieren.“

„Denkst du, du kannst die Situation auch bei Eskalationen richtig einschätzen und entsprechend handeln? Ich meine, lässt du ihn im Notfall wirklich in die Psychiatrie einweisen? Bist du tatsächlich in der Lage, ihm etwas anzutun, wofür du ihn an seiner Stelle hassen würdest?“

„Ja“, antworte ich ohne zu zögern. „Aus eben genannten Gründen. Genau deshalb darf ich auch nicht nachsichtig sein und muss schon jetzt…“ Mitten im Satz verstumme ich und schaue verkrampft in meine Tasse.

„Sprich weiter, Yamato“, fordert mein Gegenüber mich umgehend auf. Ich reagiere nicht darauf, bleibe reglos. „Soll ich dir einen Schuss setzen?“ Sofort hebe ich meinen Kopf und blicke meinem Freier in die Augen.

„Was?“, frage ich vorsichtig, in der Hoffnung, mich nicht verhört zu haben.

„Dein Verlangen nach Heroin ist unerträglich stark, oder?“ Nervös stehe ich auf und stelle meine Tasse in die Spüle.

„Ich muss nach Taichi sehen.“

„Warte, Yamato!“, ruft mein Freier mir nach, doch ich ignoriere es. Im Flur holt er mich ein, hält mich am Handgelenk fest und zieht mich dicht an sich. „Du läufst weg und du belügst dich, mein kleiner Liebling“, flüstert er in mein Ohr. „Und ich bin mir sicher, dass du gleich zusammenbrechen wirst, da ich dich mit dir selbst konfrontiere.“ Resolut versuche ich mich von meinem Freier zu lösen, muss jedoch bestürzt feststellen, dass mir die Kraft fehlt, um gegen ihn anzukommen. „Da du keine Drogen hast, musst du exzessiver auf andere selbstschädigende Maßnahmen zurückgreifen, um die verschiedenen Probleme und Situationen bewältigen zu können, hab ich recht?“

„Nein, das stimmt nicht“, entgegne ich eher halbherzig.

„Wann hast du die letzte Nahrung zu dir genommen? Als wir uns vor zwei Tagen sahen, hast du bereits das Essen verweigert und ich befürchte, daran hat sich nichts geändert.“

„Ich bin einfach nicht hungrig.“

„Die Problematik bezüglich deines Hungers war früher schon einmal Thema. Aber wie willst du deinem Freund helfen, wenn du dich selbst kaum auf den Beinen halten kannst? Zieh bitte dein Hemd aus.“ Seufzend löse ich die Knöpfe aus ihren Löchern und streife den Stoff von meinen Schultern. Mein Freier sieht sich aufgrund etlicher, überwiegend frischer Wunden, die meinen Oberkörper und den linken Arm zieren, bestätigt. „Erkennst du selbst nicht, was gerade passiert? Du bist mit Taichis Entzug völlig überfordert, zumal auch du noch psychisch von Drogen abhängig bist. Eure Schwierigkeiten sind dir zwar durchaus bewusst, du weißt, wann und auf welche Weise du handeln müsstest, verkraftest es aber nicht. Aus diesem Grund versuchst du kalt und gleichgültig zu werden beziehungsweise mechanisch zu handeln, um im Ernstfall nicht zu versagen.“ Starr blicke ich zu Boden.

„Ich befolge Ihren Rat, streng und unnachgiebig zu sein“, sage ich beinahe trotzig.

„Im Grunde ist das auch richtig, Yamato, aber du darfst dabei nicht deine Gefühle abtöten, sonst verlierst du jegliches Gespür für die Situation und verhältst dich unter Umständen unangemessen oder sogar kontraproduktiv.“

„Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll“, gebe ich verzweifelt zu.

„Du schaffst es nicht, Süßer. Zumindest nicht ohne dich selbst zu zerstören und ich bezweifle, dass Taichi damit einverstanden wäre. Es wird Zeit, dir einzugestehen, dass du deinem Freund auf diesem Weg nicht helfen kannst.“

„Warum sagen Sie das?“, schreie ich meinen Gegenüber mit Tränen in den Augen an. „Er braucht mich, nicht irgendwelche fremden Menschen, die ihn überhaupt nicht kennen. Wissen Sie eigentlich, wie es sich anfühlt, in die Psychiatrie abgeschoben zu werden, und was dort mit einem gemacht wird?“

„Ja, das weiß ich. Meinen Drogenkonsum hatte ich nicht immer unter Kontrolle.“ Nachdenklich betrachte ich meinen Freier. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich fast nichts über diesen Menschen, der mittlerweile eine große Rolle in meinem Leben einnimmt, weiß.

„Erzählen Sie mir davon?“, frage ich sehr zurückhaltend.

„Ursprünglich war es eine unüberlegte Rebellion gegen mein Elternhaus, welche ich letztlich bis heute teuer bezahlen muss. Meine Familie gehört der oberen Mittelschicht an, somit gab es nie finanzielle Probleme. Ihre Erwartungen jedoch waren hoch, ich fühlte mich eingeengt, bevormundet und ständig kontrolliert. Dabei ging es immer nur um Prestige. Alles war nach außen eher Schein als Sein, die perfekte Familie. Doch eigentlich kümmerte sich jeder nur um sich. Ich wollte aus dieser verhassten Lügenwelt ausbrechen. Schon als Kind war ich sehr provokativ, machte immer das Gegenteil von dem, was ich tun sollte. In der Jugend setzte sich dieses Verhalten fort. Mit meinem Drogenkonsum, den ich absichtlich nicht verheimlichte, wollte ich meinen Eltern schaden, indem ich ihren Ruf in der Öffentlichkeit zerstörte. Ich war damals zu dumm, zu uneinsichtig und zu starrköpfig, um zu erkenne, dass ich als Einziger wirklich Schaden nahm. Der unbedachte Umgang mit verschiedenen Drogen zerstörte viel und lehrte mich, was echte Probleme sind. Der Absturz war klassisch, Drogenbesitz, Drogenhandel, Diebstahl, Einbruch, Sachbeschädigung, Körperverletzung. Wenn ich nicht drauf war, was selten vorkam, war ich sehr aggressiv und skrupellos in meinem Vorgehen. Ich kannte kein schlechtes Gewissen und keine Reue. Häufig sah ich Menschen, mit denen ich Zeit verbrachte, an den Drogen zugrunde gehen. Zwei sind vor meinen Augen gestorben, doch ich fühlte nichts. Der ständige Rausch, den ich nur noch durch immer höhere Dosierungen erreichte, stumpfte mich ab. Mehrfach wurde ich wegen einer Drogenpsychose in die Klinik eingewiesen, machte einen Entzug, Therapien, brach ab. Heute weiß ich, dass ich großes Glück hatte, nie auf einer Droge hängengeblieben zu sein. Die Psychosen sind nicht irreversibel, können jedoch durch einmaligen Konsum erneut ausbrechen. Du siehst, ich kenne das Risiko, kann aber dennoch nicht auf die Substanzen verzichten. Es besteht nach wie vor eine Abhängigkeit, auch wenn ich glaube, diese unter Kontrolle zu haben.“ Ohne ein Wort zu sagen, mustere ich meinen Freier und versuche meine Gedanken zu ordnen. Zum ersten Mal sprach er über seine Vergangenheit. Dass Drogen eine Rolle spielten, dachte ich mir bereits, aber nicht in diesem Ausmaß. „Verstehst du nun, warum ich dich ständig bitte, mit Bedacht zu konsumieren? Bei deiner psychischen Verfassung ist es ohnehin unverantwortlich von mir, dich mit Drogen zu versorgen. Allerdings habe ich auf diese Weise Einfluss auf die Art und Qualität der Substanzen, die du zu dir nimmst. Psychedelika könnten beispielsweise fatale Folgen haben, da ein Horrortrip fast garantiert und die Gefahr einer Psychose extrem hoch ist.“

„Wie gelang es Ihnen, sich zu ändern und ein relativ normales Leben aufzubauen?“ Mein Gegenüber lächelt.

„So klassisch wie mein Absturz war, so klassisch bin ich ins Leben zurückgekehrt. Ich lernte meine Frau kennen. Zwar liebte ich sie nie, wie ich dich oder meinen Sohn liebe, dafür fehlt das körperliche Verlangen, aber ich liebe sie auf eine andere Art, die sie unendlich wichtig für mich werden lässt.“

„Weiß Ihre Frau, dass Sie noch immer Drogen konsumieren?“

„Nein.“ Für einen Moment herrscht Stille.

„Ich habe doch Tai. Warum schaffe ich es trotzdem nicht, mich zu ändern? Ist meine Liebe nicht stark genug?“, frage ich resigniert.

„Problematisch ist vielmehr, dass ihr beide zu stark liebt. Diese tiefgehenden, intensiven Emotionen, sowohl positiv als auch negativ, beherrschen euer gesamtes Verhalten und verhindern jegliche Objektivität, welche in der gegenwärtigen Situation jedoch sehr wichtig wäre.“

„Aber ist meine Gefühle abzutöten dann nicht der richtige Weg?“ Zitternd verschränke ich meine Arme vor meinem Körper. Mir ist nicht kalt, aber ich fühle mich schutzlos, angreifbar und verletzlich. Offenbar versteht mein Gegenüber die Geste. Traurig blickt er mich an, macht einen Schritt auf mich zu und nimmt mein Gesicht zwischen seine Hände. Mit einem leidenschaftlichen Kuss gibt er mir etwas Halt zurück.

„Es existiert noch etwas zwischen den Extremen, Yamato.“ Liebevoll drückt er mich an sich. Ich schließe meine Augen und erwidere voller Zuneigung die Umarmung. „Du solltest nach deinem Freund schauen und seine Körpertemperatur kontrollieren. Ich muss nur kurz zur Toilette, dann komme ich nach und wir entscheiden je nach Taichis Verfassung über seinen weiteren Verbleib.“ Noch einmal küsst mein Freier mich auf eine Weise, die mir die Luft zum Atmen raubt und ein leichtes Schwindelgefühl auslöst. Er drängt mich dabei ein wenig zurück, bis ich mit meinem Rücken gegen die Wand stoße. Seine Berührungen sind verlangend, voller Begehren öffnet er meine Hose, liebkost die Haut meines entblößten Oberkörpers und gleitet mit seiner Hand zwischen meine Beine. „Ich würde es dir jetzt gern ordentlich besorgen und einige andere Dinge mit dir tun, aber in Anbetracht der Situation verschiebe ich das auf später“, flüstert er lustvoll in mein Ohr, lässt von mir ab und geht ins Bad. Einen Augenblick bleibe ich an die Wand gelehnt stehen, versuche meine Atmung zu beruhigen, die heftigen Körperreaktionen zu dämpfen und meinen Verstand wieder einzuschalten. Unsicher laufe ich langsam Schritt für Schritt in mein Zimmer. Taichi scheint noch immer zu schlafen. Seine Haut ist von kaltem Schweiß überzogen, er zittert. Ich messe seine Temperatur, streichle, während ich warte, sanft über seinen Arm. Mein Freund fühlt sich viel zu warm an und ein Blick auf das Thermometer bestätigt meine Befürchtung. Angstvoll betrachte ich sein, von der letzten Zeit gezeichnetes, Gesicht.

„Was soll ich tun, Taichi?“, hauche ich kraftlos und völlig überfordert. „Bleibt mir wirklich keine Wahl, als dich in die Obhut Fremder zu geben, wenn ich dir helfen will? Warum kann ich dich nicht glücklich machen, verdammt!“ Weinend schlage ich mit der Faust auf die Matratze. Kein physischer Schmerz. Hektisch schaue ich mich um und fixiere die Wand.

„Denk nicht einmal daran, Yamato. Damit hilfst du Taichi momentan am wenigsten.“ Von hinten legt er seine Arme um mich. „Halte deine Gefühle aus. Halte den Schmerz sowie das Verlangen nach Schmerz aus und konzentriere dich auf das Wesentliche. Zeig mir das Thermometer. Wie hoch ist das Fieber deines Freundes?“

„Es ist gestiegen. 39,9°C.“

„Zwar ist es normal, das Fieber zum Abend hin steigt, dennoch sollten wir mit ihm ins Krankenhaus fahren und wenigstens abklären, worauf der Körper mit dem hohen Fieber reagiert, damit Taichi die richtigen Medikamente verschrieben bekommt.“

„Und wenn sie ihn dortbehalten wollen?“ Entnervt wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht, mache aber keine Anstalten, mich von meinem Freier zu lösen.

„Dann ist es notwendig und du solltest dich dem fügen.“

„Wahrscheinlich haben Sie recht“, lenke ich einsichtig ein. „Ich wecke ihn, damit ich ihn etwas frisch machen und umziehen kann.“ Sachte berühre ich Tais Wange. „Taichi. Hey, wach auf“, flüstere ich in fürsorglichem Tonfall. Mein Freund reagiert nicht. Ich setze ihn behutsam ein wenig auf. „Taichi, hörst du mich? Wach auf. Bitte.“ Er blinzelt und schaut mich dann mit fiebrigen Augen an. Tai wirkt desorientiert, ich bin mir nicht einmal sicher, ob er mich erkennt.

„Ihn in diesem Zustand ins Krankenhaus zu bringen, wird schwierig. Ich rufe den Notarzt, bleib du bei ihm, Yamato.“

„Ja“, antworte ich knapp, ohne mich auch nur eine Sekunde von meinem Freund abzuwenden. „Ich kann es nicht, Taichi. Ich schaffe es nicht, dich glücklich zu machen. Bitte verzeih mir und töte mich.“

Mit einer Zigarette in der Hand sitze ich an meinem Fenster und schaue abwesend in die Dunkelheit der Nacht. Ein leichtes Frösteln durchfährt meinen Körper, obwohl angenehm warme Frühlingstemperaturen herrschen. Der Notarzt sprach klare Worte, als er mir vorwarf, dumm, unreif und unverantwortlich gehandelt zu haben, indem ich Taichi auf kalten Entzug setzte. Sein Immunsystem sei durch den massiven Alkoholkonsum und seine inzwischen allgemein ungesunde Lebensweise ohnehin schon sehr geschwächt. Er verschrieb ihm ein stärkeres Fiebermittel, als ich meinem Freund zuvor verabreichte, und gab mir genaue Weisungen bezüglich der Anwendung. Zu der Zeit sah der Arzt noch keine Notwendigkeit für eine Einweisung, sollte das Medikament jedoch nicht anschlagen und das Fieber bis morgen nicht sinken, wäre es ratsam, Tai doch ins Krankenhaus zu bringen. Bevor mein Freier nach Hause zu seiner Familie fuhr, besorgte er noch das Medikament und für mich einige Schachteln Zigaretten, damit ich bei Taichi bleiben konnte. Ich nehme einen tiefen Zug von der fast heruntergebrannten Zigarette und werfe den Filter aus dem Fenster. Sofort zünde ich mir eine weitere Zigarette an. Ich sehne mich nach der Wirkung von GHB oder Heroin, denn Nikotin ist kein besonders guter Ersatz. Egal, wie viel ich rauche, ich werde nicht ruhiger, ich fühle mich nicht besser, ich nehme die Realität noch immer wahr. Aber von meinem Freier werde ich, bei allem Verständnis, nichts bekommen. Dafür ist es noch zu früh. Zwar weiß ich, wie ich auch so an Stoff herankomme, dann allerdings würde ich mein Versprechen brechen und ihn hintergehen. Es wäre charakterschwach, meinem Freier auf diese Weise für seine Hilfe zu danken. Zum wiederholten Mal ziehe ich an meiner Zigarette. Mein Blick schweift ziellos durch den Raum und bleibt an meinem Freund haften. Das Fieber scheint zu sinken, da er relativ ruhig schläft. Ich stehe auf, werfe die Zigarette in die Finsternis und schließe das Fenster. Leise durchquere ich mein Zimmer, setze mich zu Taichi auf das Bett und streiche ihm leicht durch die Haare. Er fühlt sich nicht mehr ganz so warm an. Ich nehme das Thermometer von meinem Nachtschrank und messe seine Körpertemperatur. Erleichtert stelle ich fest, dass sein Fieber tatsächlich gesunken ist. Müde lege ich mich neben ihn und starre zur Decke.

„Endlich habe ich begriffen, dass ich nicht die richtige Person bin. Ich kann dir nicht helfen, Taichi. Ich kann dich nicht auffangen, wenn du fällst, und nun bin ich froh, dass ich nie den Mut aufbrachte, dir das Lied vorzuspielen, welches ich vor einiger Zeit für dich schrieb.“
 

Gedankenversunken setze ich Wasser auf, um Tee für meinen Freund zuzubereiten. Es ist wichtig, dass er viel Flüssigkeit zu sich nimmt, aber er trinkt eindeutig zu wenig. Vielleicht hat er genug von Wasser und ich hoffe, ihm mit Tee etwas Abwechslung geben zu können. Seit der Notarzt vorgestern hier war, ging das Fieber durch das Medikament tatsächlich kontinuierlich zurück, doch seit gestern Abend hält es sich konstant bei 38,1°C. Um die Zeit des Wartens zu überbrücken, zünde ich mir eine Zigarette an und nehme am Küchentisch Platz. Gähnend reibe ich über meine brennenden Augen. Ich überlege, zusätzlich noch eine Kanne Kaffee zu kochen, um der Müdigkeit entgegenzuwirken. Seit Tagen schmerzt mein Kopf, ein starkes Stechen vorwiegend auf der linken Seite. Tai versteckte meine Tabletten, zwar suchte ich danach, fand sie aber nicht. Es würde mich nicht wundern, wenn er sie entsorgt hat. Meinen Freier traue ich mich nicht zu fragen, ob er mir Schmerzmittel mitbringt. Ich schätze, er stuft diese derzeit auch als Droge ein und würde mir somit keine zugestehen. Lediglich die Zigaretten lässt er mir und sagt auch nichts zu meinem deutlich ansteigenden Konsum. Er scheint zu wissen, dass ich ansonsten wahrscheinlich durchdrehen würde. Unterschwellig nehme ich wahr, dass ein Schlüssel im Schloss gedreht wird, kurz darauf steht mein Vater im Flur vor der Küche und schaut mich an.

„Yamato, wieso rauchst du in der Küche?“ Sofort drücke ich die Zigarette im Aschenbecher aus.

„Entschuldige“, sage ich beinahe unterwürfig. Ruhigen Schrittes kommt mein Vater auf mich zu und zieht mich in eine Umarmung.

„Du siehst sehr schlecht aus. Ich halte ja nur noch Haut und Knochen im Arm.“ Ich schiebe meinen Vater bestimmt von mir, gehe zu dem von mir aufgesetzten Wasser, welches inzwischen längst gekocht hat, und bereite den Tee für Taichi zu.

„Schon gut. Mach dir keine Sorgen. Es geht mir gut“, versuche ich meinen Vater zu beruhigen. „Wie konntest du deinen Aufenthalt hier so schnell mit deiner Arbeit abklären?“

„Es war kein Problem, meinen Urlaub in die nächsten drei Wochen zu verlegen.“ Ich rief meinen Vater an, nachdem der Notarzt und mein Freier gegangen waren, und bat ihn, für Taichi zurückzukommen. Vielleicht ist mein Vater die richtige Person. Vielleicht kann er Tai helfen, wenn ich schon nicht dazu in der Lage bin. Immerhin ist er für Tai mehr als eine Vertrauensperson und für mich die einzige Option, die bleibt, um meinen Freund nicht in die Obhut der Klinik geben zu müssen.

„Er ist in meinem Zimmer und müsste auch wach sein. Geh zu ihm. Mit Sicherheit freut er sich dich zu sehen.“ Ich schaffe es nicht, Emotionen in meine Worte zu legen.

„Yamato…“

„Bitte, er braucht dich wirklich!“ Meine Stimme zittert hörbar, obwohl ich versuche es zu unterdrücken. Schweigend verlässt mein Vater die Küche. Tränen tropfen auf meine Hand, mit der ich mich auf der Arbeitsfläche abstütze.
 

Genervt stehe ich in der völlig überfüllten U-Bahn und konzentriere mich darauf, mein Ekelgefühl zu unterdrücken, indem ich mich der Musik hingebe, die mich über meine Kopfhörer beschallt. Dadurch, dass mein Vater seit gestern wieder zu Hause ist, habe ich die Möglichkeit, endlich zur Uni zu gehen. Ich werde viel nachholen müssen, da ich bereits die ersten fünf Wochen wegen der begonnenen und abgebrochenen stationären Therapie sowie Taichis Entzug verpasst habe. Zudem fällt es mir schwer, nach längerer Zeit wieder in der Öffentlichkeit und unter Menschen zu sein. Sogleich werde ich auch daran erinnert, warum ich diese so sehr hasse. Unfreiwillig muss ich mit ansehen, wie ein Mann mittleren Alters, der neben mir steht, mit seiner Hand bei einem Mädchen unter den Rock gleitet. Voller Abscheu wende ich mich um und greife ihm schmerzhaft zwischen die Beine. Der Mann, welcher einen Anzug samt Krawatte trägt und somit wie ein Geschäftsmann aussieht, keucht und starrt mich entsetzt an. Ich nehme meine Kopfhörer ab.

„Gefällt Ihnen das?“, frage ich trocken. „Wenn nicht, dann nehmen Sie Ihre dreckigen Finger von dem Mädchen. Oder soll ich Ihnen Ihren kleinen, widerlichen Schwanz abschneiden und Sie so lange in den Arsch ficken, bis Sie sich wünschen, tot zu sein beziehungsweise Sex zur unerträglichen Qual wird? Alpträume werden Sie für den Rest Ihres Lebens verfolgen. Nacht für Nacht müssen Sie die Vergewaltigung erneut über sich ergehen lassen.“ Der Mann steht reglos vor mir, er zittert und der Angstschweiß steht ihm auf der Stirn. Obwohl einige Fahrgäste auf den Vorfall aufmerksam geworden sind, nimmt niemand wahr, dass ich mein Klappmesser aus der Jackentasche holte und dem Mann nun an sein Geschlechtsteil presse, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. Ich stehe so dicht vor ihm, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüre. Übelkeit schnürt meine Kehle zu, aber ich muss mich zusammenreißen und darf mir nichts anmerken lassen. „Ich rate dir, dich so schnell wie möglich zu verpissen, sonst kann ich für nichts garantieren, perverser Wichser!“ Als die U-Bahn an der nächsten Station hält und die Türen sich öffnen, drängelt sich der Mann panisch durch die Menge, steigt aus und verschwindet in der Masse von Menschen aus meinem Blickfeld. Behutsam klappe ich das Messer wieder zusammen und verstaue es ungesehen in meiner Jackentasche.

„Vielen Dank“, spricht mich das Mädchen plötzlich an. Ich erschrecke leicht und schaue sie irritiert an. Seltsamerweise habe ich sie total vergessen, obwohl sie der Auslöser für mein Verhalten war. Die Situation ließ mich handeln ohne zu denken, verzerrte die Realität und löste eine unterschwellige, unbestimmte Panik in mir aus.

„Schon gut“, entgegne ich knapp und setze meine Kopfhörer wieder auf, um ein mögliches Gespräch von Anfang an zu verhindern. Einige Stationen später muss ich aussteigen und noch ein Stück zu Fuß gehen. Warum suchte ich mir ausgerechnet eine Uni am anderen Ende der Stadt aus? Treppenstufe um Treppenstufe schleppe ich mich nach oben. Das Pulsieren in meinem Kopf wird fast unerträglich. Dann laufe ich durch eine Allee von Kirschbäumen, welche jedoch längst verblüht sind. Zum Kirschblütenfest ist dies einer der beliebtesten Orte in Tokyo, an denen das obligatorische Picknick stattfindet. Der Anblick der rosafarbenen und weißen Blüten ist tatsächlich wunderschön, aber leider nur von sehr kurzer Dauer. Heute ist es recht warm, die Sonne scheint zwischen einigen Wolken hindurch. Laut Wetterbericht soll es am Nachmittag regnen. Bevor ich das Unigelände betrete, weise ich mich zunächst beim Pförtner als Student dieser Universität aus. Dann blicke ich mich kurz um und versuche mich zu orientieren. Ich schätze, es wäre von Vorteil gewesen, wenigstens zur Einführungsveranstaltung anwesend zu sein.

„Yamato?“ Verwundert darüber, meinen Namen zu hören, drehe ich mich in die Richtung, aus der die Stimme kam.

„Sora?“
 

Unsicher laufe ich durch die Flure der Schule auf der Suche nach dem Lehrerzimmer. Ich hätte doch am Tor warten sollen. Ohne Uniform falle ich auf und wie ein Mittelschüler sehe ich auch nicht unbedingt aus. Da die Schulen oft jedoch einen ähnlichen Aufbau haben, gehe ich zuerst den Weg, der in meiner damaligen Schule zum Lehrerzimmer führt. Die Gänge sind weitestgehend leer, da der Unterricht offenbar inzwischen beendet ist und die AGs bereits begonnen haben. Beim Vorbeigehen schaue ich in einen der Klassenräume, da die Tür offen steht. Überrascht verharre ich in meiner Bewegung und vergewissere mich, dass ich nicht nur einer Täuschung meiner Augen zum Opfer fiel. Mein Freier steht mit dem Rücken an das Lehrerpult gelehnt und unterhält sich angeregt mit einem Jungen, der einer seiner Schüler zu sein scheint. Die beiden gehen sehr vertraut miteinander um, es werden oft flüchtige, scheinbar zufällige Berührungen ausgetauscht und der Blickkontakt ist nie länger als ein paar Sekunden unterbrochen. Ich beobachte die Situation eine Weile aus der Ferne, doch bevor ich mich bemerkbar machen kann, sieht mein Freier plötzlich in meine Richtung. Kurz stutzt er, doch dann legt sich ein Lächeln auf seine Lippen.

„Yamato“, spricht er mich liebevoll an. „Warte bitte einen Moment.“ Er wendet sich wieder dem Jungen zu, der mich argwöhnisch mustert. „Geh jetzt in deine AG, dort wirst du sicher schon erwartet. Wir sehen uns morgen.“ Der Kleine nickt und während er an mir vorbeigeht, um den Raum zu verlassen, fixiert er mich mit seinen Augen. „Schließ bitte die Tür, Yamato, und komm her.“ Ich handle gemäß seiner Aufforderung und bleibe dicht vor meinem Freier stehen.

„Haben Sie Sex mit dem Jungen?“, frage ich unvermittelt und direkt.

„Nein, natürlich nicht.“

„Aber Sie wollen ihn vögeln und haben es in Ihrer Fantasie auch getan, nicht wahr?“

„Was soll das?“, fragt mein Freier eher belustigt. „Bist du eifersüchtig?“

„Ich fand Ihr Verhältnis zueinander nur sehr innig, das ist alles.“ Mein Gegenüber streichelt flüchtig über meine Wange.

„Du bist so süß, mein kleiner Liebling. Gehen wir an einen Ort, der weniger öffentlich ist, einverstanden?“

„Aus diesem Grund wollte ich ursprünglich zu Ihnen. Mein Vater ist wieder zu Hause. Ich bat ihn, zurückzukommen, in der Hoffnung, dass er Taichi mehr helfen kann als ich. Es wäre also besser, wenn wir uns in den nächsten drei Wochen nicht bei mir treffen.“

„In Ordnung, dann gehen wir ins Hotel. Oder willst du nicht?“

„Doch.“ Schüchtern berühre ich seine Hand und schaue zu Boden. „Bitte besorgen Sie es mir richtig hart. Ich will Sie danach zu Hause noch spüren können“, flüstere ich verlegen. Traurig küsst mein Freier meine Stirn.

„Ich liebe dich, mein süßer Schatz, und ich wünschte, ich könnte dir deine Einsamkeit nehmen und die Leere in deinem Inneren füllen. Zwar kann ich dir den Schmerz geben, den du brauchst, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass die Dinge, die ich mit dir mache, eher kontraproduktiv sind.“

„Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, der Schmerz ist das Einzige, was mich momentan noch am Leben hält.“

„Das ist nicht wahr, Yamato. Und das weißt du eigentlich auch“, erwidert mein Freier in verständnisvollem Ton. „Gehst du schon zum Ausgang? Ich muss noch einmal ins Lehrerzimmer.“ Mit einem Nicken bestätige ich seine Aussage. Leicht drücke ich seine Hand, bevor ich sie loslasse.

„Bis gleich.“ Wie fremdgesteuert mache ich mich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt. Obwohl die Sonne von dichten Wolken verdeckt wird, ist es nicht sehr viel kälter als heute Vormittag. Der vom Wetterbericht prophezeite Regen fiel noch nicht. Ich hole eine Schachtel Zigaretten aus meiner Jackentasche, stecke sie jedoch sofort wieder weg, als mir bewusst wird, dass ich mich noch immer auf dem Gelände einer Mittelschule befinde. Seufzend schaue ich auf den Asphalt vor mir. Ob Taichi und mein Vater meine Abwesenheit nutzen, um miteinander zu schlafen? Merkwürdigerweise empfinde ich selbst bei diesem Gedanken nichts, nicht einmal Eifersucht oder Verlustangst. Unerwartet eine Hand auf meiner Schulter zu spüren lässt mich leicht zusammenzucken.

„Was hältst du davon, wenn wir vorher noch irgendwo etwas essen?“, schlägt mein Freier vor, während wir zu seinem Auto laufen. „Sicher hast du heute noch nichts zu dir genommen, oder?“ Ich schweige, doch das ist für ihn Antwort genug. „Glaub mir, du wirst die Energie anschließend brauchen.“ Mit einem Lächeln, auf welches er mit seiner Bemerkung zu hoffen schien, öffne ich die Fahrzeugtür und steige ein.

„Yamato.“ Ich schaue hinaus zu meinem Freier, doch der beugt sich zu mir und küsst mich. Zurückhaltend erwidere ich das kurze Zungenspiel. Er löst sich ungewöhnlich schnell von mir, vermutlich weil wir uns noch in der Nähe seiner Schule befinden, und steigt ebenfalls, auf der Fahrerseite, ein. Ich lehne meinen Kopf gegen die Scheibe und richte meinen Blick nach draußen, ohne die Umgebung wirklich zu registrieren.

„Ich will nicht nach Hause“, sage ich abwesend. Besorgt legt mein Freier seine Hand auf meinen Oberschenkel und streichelt sanft darüber. Dann startet er den Wagen.
 

Erschöpft und mit dröhnenden Kopfschmerzen schließe ich die Wohnungstür auf. Mein Freier hielt Wort, ich spüre seine Berührungen noch immer intensiv auf meiner Haut. Er ging grob mit mir um, genau wie ich es wollte und wofür ich ihm sehr dankbar bin. Es ist spät geworden. Im Flur stelle ich meine Tasche an die Seite und ziehe meine Schuhe aus. Als ich mich meiner Jacke entledige, erblicke ich meinen Vater, der im Türrahmen des Wohnzimmers lehnt.

„Wo warst du so lange?“, fragt er weniger vorwurfsvoll als besorgt.

„Unterwegs“, antworte ich knapp und gehe in die Küche, um Kaffee zu kochen. Nach wie vor habe ich die Hoffnung, die Kopfschmerzen durch das Koffein etwas eindämmen zu können. Zwar besorgte ich mir auf dem Weg von der Uni zur Schule meines Freiers Schmerz-und Schlafmittel, möchte sie jedoch nicht vor den Augen meines Vaters einnehmen. Dieser folgte mir in die Küche. Behutsam legt er seine Hand auf meine Schulter, welche ich allerdings sofort wegschlage. „Nicht anfassen!“, weise ich meinen Vater mit Nachdruck zurecht, während ich Kaffeepulver in die Filtertüte fülle. Argwöhnisch nimmt er Abstand von mir und setzt sich auf einen der Stühle.

„Warum bist du so verschlossen und abweisend?“

„Bin ich nicht“, versichere ich kühl und schalte die Kaffeemaschine ein. Anschließend gehe ich an meinem Vater vorbei, um die Küche zu verlassen, werde von diesem jedoch am Handgelenk zurückgehalten.

„Ich fand auf deinem Schreibtisch einen Brief vom Gericht, in dem du als Zeuge vorgeladen bist. Was ist passiert und warum hast du mir davon nichts erzählt?“

„Und warum liest du einfach meine Post?“, entgegne ich missbilligend.

„Wenn ich auf deinem Schreibtisch einen Brief vom Gericht liegen sehe, schaue ich natürlich nach, worum es geht. Schließlich bin ich dein Vater und noch immer erziehungsberechtigt.“

„Es ist nichts passiert. Lass mich los!“ Wider Erwarten gibt mein Vater mich tatsächlich frei.

„Taichi geht es schon etwas besser. Seine Temperatur ist nur noch leicht erhöht“, ruft mein Vater mir nach. Für einen Augenblick bleibe ich stehen, dann verlasse ich die Küche, ohne auf die Worte meines Vaters zu reagieren. Im Flur nehme ich meine Tasche und gehe in mein Zimmer. Der Fernseher läuft, aber mein Freund scheint eingeschlafen zu sein. Als ich das Gerät ausschalte, wacht er auf und blinzelt mich müde an.

„Du kommst spät“, bemerkt er. Seine Stimme klingt rau, ein wenig kratzig.

„Ja“, bestätige ich nur und knöpfe mein Hemd auf. Schweigend beobachtet mich Taichi dabei. Spuren von dem schonungslosen Sex mit meinem Freier dürften noch nicht sichtbar sein.

„Du bist schrecklich dünn geworden. Wenn ich dich anfasse, muss ich Angst haben, dich zu zerbrechen.“

„Dann fass mich nicht an“, werfe ich ihm gleichgültig an den Kopf. Eine Bemerkung bezüglich seiner körperlichen Beziehung zu meinem Vater schlucke ich hinunter. „Außerdem siehst du nicht besser aus, also lass mich in Ruhe.“ Mein Freund betrachtet mich sorgenvoll.

„Hast du schon mit deinem Vater gesprochen?“

„Kurz.“

„Also hast du es ihm nicht gesagt“, stellt er bekümmert fest. Ich gehe zu meinem Schreibtisch und verstaue den Brief in einem der Schubfächer.

„Was?“, frage ich mit leicht genervtem Unterton, nehme von meinem Tisch eine Zigarettenschachtel samt Feuerzeug und zünde mir am Fenster eine Zigarette an. Tai richtet sich auf und fixiert mich mit seinem Blick.

„Dass du von dem Sportlehrer vergewaltigt wurdest.“

„Warum sollte ich meinem Vater davon erzählen? Es war keine Vergewaltigung, sondern nur ein beschissener Job. Immerhin wollte ich unbedingt in der Turnhalle für 1000 Yen von diesem Wichser gevögelt werden.“ Der Rauch entweicht meinen Lippen und ich ziehe erneut an der Zigarette.

„Yamato, was ich damals sagte…“

„Vergiss es einfach, okay?“, unterbreche ich meinen Freund unwirsch. „Mir ist egal, ob du deine Bemerkung zu dem Vorfall ernst meintest oder nicht. All das ist ohnehin nicht wichtig.“

„Doch, Yamato. Deshalb habe ich deinem Vater gesagt, was passiert ist.“ Ich schaue weiterhin nach draußen in die Dunkelheit der Nacht. Tief inhaliere ich den Rauch, bis meine Lungen schmerzen.

„Mit welchem Recht mischst du dich in meine Angelegenheiten ein, Taichi Yagami?“, frage ich ruhig.

„Dein Vater fand den Brief und stellte diesbezüglich Fragen. Sollte ich ihn anlügen?“

„Nein. Schon gut. Ich stelle es richtig.“ Den Filter werfe ich aus dem Fenster, bevor ich durch den Raum zur Tür laufe.

„Hör auf damit. Es gibt nichts richtigzustellen.“ Taichi klingt aufgebracht.

„Mein Vater meinte, dir ginge es besser. Das freut mich“, bringe ich ihm lieblos entgegen und schließe die Tür hinter mir. In der Küche fülle ich Kaffee in eine Tasse, mit welcher ich dann ins Wohnzimmer gehe. Wie erwartet sitzt mein Vater auf dem Sofa, seinen Kopf mit der Stirn auf die Hände gestützt, zwischen den Fingern eine Zigarette.

„Wieso rauchst du hier?“, gebe ich seine Frage von vorhin zurück. Mein Vater sieht auf.

„Yamato.“ Ich nehme neben ihm auf dem Sofa Platz, trinke einen Schluck Kaffee und stelle die Tasse auf den Tisch.

„Was Taichi dir erzählte, entspricht nicht der Wahrheit. Es stimmt, dass dieses Arschloch Schüler vergewaltigte, mich jedoch bezahlte er für meine Dienste.“ Traurig schließt mein Vater die Augen und atmet tief durch.

„Du hast dich sehr verändert. Dein Verhalten gibt Grund zur Besorgnis. Warum hast du die Therapie abgebrochen?“ Ein paar Mal zieht mein Vater intensiv an seiner Zigarette, dann drückt er sie im Aschenbecher aus.

„Weil ich es nicht mehr aushielt. Außerdem bildete ich mir zu diesem Zeitpunkt noch ein, dass Taichi mich braucht“, sage ich voller Bitterkeit.

„Er braucht dich, Yamato!“

„Nein. Er braucht dich. Seit du da bist, geht es ihm besser.“

„Du allein hast dich die ganze Zeit um ihn gekümmert und nicht aufgegeben.“

„Allein hätte ich gar nichts tun können.“

„Wie meinst du das?“ Mein Vater ist sichtlich irritiert.

„Der Mann, den du verurteilst, weil er mit mir ins Bett geht, hat mir sehr geholfen. Dank ihm bin ich seit fast zwei Monaten drogenfrei. Egal worum es geht, er ist immer für mich da.“ Am Gesichtsausdruck meines Vaters erkenne ich, dass meine Aussage ihn schmerzlich getroffen hat.

„Du fühlst dich alleingelassen, hab ich recht?“ Ich antworte nicht und zünde mir stattdessen eine Zigarette an. Für eine Weile herrscht unangenehmes Schweigen im Raum.

„Papa“, unterbreche ich schließlich die Stille. „Vielleicht sollte ich für die Zeit, die du hier bist, bei Mama schlafen.“ Bestürzt sieht mein Vater mich an.

„Mit welcher Begründung?“

„Ich ertrage die Nähe von dir und Taichi momentan nicht“, antworte ich schonungslos ehrlich.

„Aber warum?“, will mein Vater verzweifelt wissen und streckt seine Hand nach mir aus.

„Nicht anfassen, sagte ich!“ Meine unmissverständliche Zurechtweisung scheint meinen Vater nicht zu interessieren, denn er zieht mich trotzdem an sich. Instinktiv halte ich die Zigarette weg von unseren Körpern.

„Fass mich nicht an!“, schreie ich und versuche mich zu befreien. Ungeachtet dessen legt mein Vater seine Arme um mich und nimmt mir jegliche Bewegungsfreiheit.

„Ich möchte jetzt wissen, warum du dich so sehr zurückziehst und weder Taichi noch mich an dich heranlässt.“

„Es gibt keinen Grund. Und jetzt lass mich los, verdammt!“

„Nein!“

„Meine Zigarette ist fast heruntergebrannt“, argumentiere ich nahezu panisch.

„Streck deinen Arm aus. Bis zum Aschenbecher kommst du. Lass die Zigarette einfach fallen, sie geht irgendwann von allein aus.“

„Du widerst mich an!“, beschimpfe ich ihn hasserfüllt. Erschüttert gibt mein Vater auf und starrt mich wie gelähmt an. Ich nutze die Gelegenheit, um meine Zigarette auszudrücken. Ohne weiter auf meinen Vater zu achten, gehe ich aus dem Zimmer. Im Flur knöpfe ich mein Hemd zu, welches ich ursprünglich ausziehen wollte, um ins Bett zu gehen, ziehe hastig meine Schuhe und meine Jacke an, nehme den Schlüssel von der Kommode und verschwinde fluchtartig aus der Wohnung, in der ich mich so schutzlos wie nie zuvor fühle.
 

Reglos sitze ich in einer Gasse des Stadtteils Shibuya an eine Hauswand gelehnt und starre auf meine Schuhe. Es ist merkwürdig, aber immer, wenn ich nicht weiß, wohin ich gehen soll, zieht es mich in das Viertel der Lovehotels. Was hoffe ich, hier zu finden? Ablenkung in Form von schnellem Sex, nach dem ich mich noch beschissener fühle? Oder will ich mich damit bestrafen? Zu meiner Mutter konnte ich nicht gehen, da mein Vater mich dort vermutlich zuerst sucht. Die Adresse meines Freiers kennt er nicht, weshalb hier sein nächster Anlaufpunkt sein wird. Es wäre also besser, nicht allzu lange in Shibuya zu verweilen. Allerdings brauche ich Geld. In meiner Hosentasche hatte ich nur ein paar Yen, welche ich für die U-Bahn-Fahrkarte benötigte. Zum Glück dürfte es in dieser Gegend kein Problem sein, jemanden zu finden, der für Sex bezahlt. Ich zittere leicht und verfluche mich, nicht daran gedacht zu haben, wenigstens Zigaretten mitzunehmen. Zu kopflos verließ ich die Wohnung, um vor Taichis und meines Vaters Nähe zu fliehen. Seufzend ziehe ich meine Knie dichter an meinen Körper und lege meine Arme darum.

„Hey, Kleiner. Du siehst so traurig aus. Ich habe etwas, womit es dir garantiert gleich besser geht.“ Ein junger Mann, vermutlich etwas älter als ich, steht vor mir und schaut mich erwartungsvoll an. Ich senke meinen Blick und betrachte wieder meine Chucks.

„Nein, danke“, antworte ich, obwohl alles in mir nach bewusstseinsverändernden Substanzen verlangt. Der Fremde hockt sich vor mich. Ich schaue ihn an. Er ist gutaussehend und scheint vor allem sehr selbstbewusst zu sein.

„Wow, ich glaube, du bist der erste Stricher, den ich kennen lerne, der keine Drogen konsumiert. Du bist doch ein Stricher, oder?“

„Ja“, gebe ich offen zu. Mein Gegenüber lächelt.

„Treibst du es mit jedem?“ Ich begegne ihm ebenfalls mit einem Lächeln, freudlos, kühl.

„Wieso, hast du Interesse?“

„Naja, du bist süß und wirkst ziemlich verloren. Das weckt Beschützerinstinkte. Ich wette, du lässt es dir überwiegend von älteren Männern besorgen.“

„Stimmt. Allerdings…“ Unerwartet beugt der Fremde sich vor und schiebt mir seine Zunge in den Mund. Irritiert erwidere ich den fordernden Kuss. Als der junge Mann sich nach einer Weile von mir löst, kramt er in seiner Hosentasche.

„Ja, du gefällst mir sehr.“ Mit einer Hand greift er in meinen Nacken und stopft mir etwas in den Mund. „Lutsch meinen Schwanz. Wenn du deine Arbeit gut machst, lade ich dich danach auf einen Drink ein.“ Ungläubig starre ich auf den 10000-Yen-Schein, den ich gerade ausgespuckt habe. „Heute Nacht gehörst du mir. Sei schön lieb und du bekommst noch mehr.“

„Du dealst nicht, weil du Geld brauchst, oder?“, bemerke ich nüchtern.

„Genau, du hast es erfasst, mein Hübscher. Mit den Drogen mache ich süße Strichjungen wie dich gefügig und von mir abhängig. Um Geld geht es mir nicht, davon habe ich genug.“ An seinem Gesichtsausdruck erkenne ich, dass der Fremde nicht scherzt.

„Heißt das, ich sollte mich vor dir in Acht nehmen?“

„Vielleicht solltest du das. Falls es dafür nicht schon zu spät ist. Aber jetzt wirst du mir erst einmal einen blasen.“ Er setzt sich neben mich, lehnt sich entspannt mit dem Rücken gegen die Wand und öffnet seine Hose. „Und du wirst schlucken, verstanden?“

„Ja.“ Gewohnheitsmäßig und teilnahmslos beuge ich mich hinab, streiche meine Haare hinter die Ohren und befolge seinen Befehl. Die Atmung des Dealers wird schwerfälliger, dann vernehme ich lauter werdendes Stöhnen. Bevor er abspritzt, hält er meinen Kopf fest und stößt sich schmerzhaft tief in mich. Sein Sperma läuft direkt meine Kehle hinab. Ich kann kaum schlucken, da mein Mund bis zu meinem Rachen mit seinem Schwanz ausgefüllt wird. Als er sich endlich aus mir zurückzieht, muss ich würgen und stark husten. Es tut weh.

„Nicht schlecht, Kleiner. Man merkt, dass du Erfahrung hast. Nur das Schlucken fällt dir schwer, nicht wahr?“

„Kann sein“, entgegne ich monoton. Ich brauche eine Zigarette. Mir kommt das zugesteckte Geld in den Sinn und ich stehe langsam auf. Der Fremde erhebt sich ebenfalls und schließt seine Hose.

„Wohin…“

„Zigaretten.“

„Also doch nicht ganz drogenfrei“, grinst er. „Willst du wirklich nichts anderes ausprobieren?“

„Und mich von dir abhängig machen? Du selbst hast mich vor dir gewarnt. Es bleibt bei dem Nein.“ Völlig unangebracht lacht mein Begleiter.

„Hier entlang. Ein Freund von mir besitzt dort vorn eine Bar.“

„Ich bin noch nicht volljährig“, wende ich ein.

„So siehst du auch nicht aus. Wie alt bist du? Sechzehn? Siebzehn?“

„Neunzehn.“

„Du wirkst jünger.“

„Ich weiß“, murmle ich und ziehe eine Schachtel Zigaretten aus einem Automaten, der neben einer Reihe Getränkeautomaten steht.

„Woher hast du den TASPO?“

„Von meinem Vater. Hast du Feuer?“

„Nein, aber wir sind auch schon beim Club meines Freundes. Da gibt es zumindest Streichhölzer.“ Ich betrete zuerst die Räumlichkeit. Offenbar hat mein Begleiter Angst, dass ich es mir anders überlege und weglaufe. Das Licht ist abgedunkelt, als Sitzgelegenheiten dienen gemütlich aussehende Sofas. Der Club ist gut gefüllt und meine Vermutung bezüglich des Etablissements bestätigt sich, denn es sind ausschließlich Männer zugegen. Wir nehmen am Tresen Platz und ich zünde mir die lang ersehnte Zigarette an.

„Na, wer besucht mich denn hier?“ Freundschaftlich begrüßen sich die beiden Männer. „Und schon wieder hast du dir einen Strichjungen zu eigen gemacht.“

„Noch nicht ganz“, lacht mein Begleiter und wirft mir einen merkwürdigen Blick zu, den ich nicht deuten kann. Der Freund von ihm betrachtet mich genauer, wobei er näher kommt.

„Stimmt, du hast ihn nicht unter Drogen gesetzt“, stellt er verblüfft fest.

„Er wollte nicht“, klärt der Dealer ihn auf.

„Ein Stricher, der sich nicht zudröhnt?“ Der Barkeeper wirkt überrascht. „Das ist selten.“ Er mustert mich interessiert. „Bist du so wählerisch oder wie hältst du es ohne Drogen aus, die dreckigen Schwänze von alten Säcken zu lutschen, geschweige denn dich von ihnen vögeln zu lassen?“ Statt mich zu der Aussage zu äußern, ziehe ich an meiner Zigarette. „Gesprächig ist der Kleine nicht gerade.“

„Dabei ist er mit dem Mund eigentlich ganz gut.“ Mein Begleiter grinst mich süffisant an.

„Schon verstanden.“ Schmunzelnd wendet sich der junge Mann hinter der Bar von mir ab. „Ich mache euch etwas zu trinken. Das Übliche?“ Die Frage richtet sich an seinen Freund.

„Natürlich“, bestätigt der.

„Warum machst du andere von Drogen und somit von dir abhängig?“, möchte ich wissen, ohne eine Wertung in meine Stimme zu legen.

„Wenn mir ein Junge gefällt, will ich Macht über ihn besitzen. Er soll mir hörig sein.“ Ein kaltes Lächeln huscht über meine Lippen.

„Das ist schon ein wenig krank, findest du nicht?“ Als Antwort packt er mich unsanft am Hinterkopf, nimmt mir die Zigarette aus der Hand und hält sie dicht an meine Wange, sodass ich die Hitze spüren kann.

„Krank wäre, wenn ich die jetzt in deinem hübschen Gesicht ausdrücken würde.“ Ich blicke ihm fest in die Augen. „Du bist wirklich ungewöhnlich. Entweder hast du aus irgendeinem Grund keine Angst oder du kannst verdammt gut bluffen.“ Mich beobachtend drückt er die Zigarette im Aschenbecher aus.

„Warum sollte ich Angst haben?“, fordere ich ihn unbeeindruckt heraus. Der Barkeeper stellt uns zwei Gläser auf den Tresen.

„Mein Spezialdrink nur für euch. Lasst es euch schmecken.“ Ich bekomme mit, dass er seinem Freund zuzwinkert, und lächle.

„Spezialdrink heißt in meinem Fall mit GHB versehen, nehme ich an.“ Die beiden Jungs tauschen kurz einen vielsagenden Blick.

„Du gefällst mir wirklich immer mehr. Ich will dich und ich werde dich bekommen.“

„Warum versuchst du mich mit Hilfe von Drogen willenlos zu machen? Ich lasse dich auch so ran. Oder fickst du gern wehrlose Jungs, die ohne Bewusstsein sind?“

„Vielleicht. Und jetzt sei brav und trink, mein Süßer.“

„Ich mag keinen Alkohol.“ Diesen Satz spreche ich mit Nachdruck. Kurz muss ich an Taichi denken.

„Das ist mir egal.“ Bevor ich reagieren kann, hält mein Gegenüber mich fest und setzt das Glas an meine Lippen. „Schluck, wie du es vorhin getan hast.“ Verzweifelt weigere ich mich meinen Mund zu öffnen, was sich als wenig erfolgreich herausstellt. „Ich finde es mutig von dir, so aufmüpfig zu sein und mir Widerstand zu leisten. Umso mehr will ich dich.“ Rücksichtslos drückt er meine Wangen auseinander und flößt mir etwas von dem Getränk ein. Die Flüssigkeit brennt auf meiner Zunge, auch läuft sie mein Kinn hinab und tropft auf meine Kleidung. Grob werden mir der Mund sowie meine Nase zugehalten, sodass ich nach kurzer Zeit gezwungen bin, den Alkohol hinunterzuschlucken. Diese Prozedur wiederholt mein Begleiter, bis das Glas vollständig leer ist. „So ist es gut. War doch gar nicht so schlimm, oder, mein Schatz?“ Erneut zwingt er mich zu einem intensiven Zungenkuss. Mir wird schwindelig und ich spüre allmählich die wohlbekannte, angenehme Wirkung des GHB. Allerdings scheint die Dosierung ziemlich hoch zu sein, da ich bereits langsam in die Bewusstlosigkeit abgleite.

„Elender Bastard“, flüstere ich kraftlos und falle dabei nach vorn in die Arme meines Begleiters.

„Bringen wir ihn nach oben“, höre ich diesen noch sagen, dann wird alles schwarz.
 

Ich öffne meine Augen und erblicke eine fremde Umgebung. Zwar fühle ich mich ausgeruht, aber ich habe keine Erinnerung an die letzte Nacht. Weder weiß ich, was passiert ist, noch, wo ich mich befinde oder wie ich hierher gekommen bin. Da ich allerdings starke Schmerzen im unteren Bereich meines Körpers verspüre, ließ ich mich wahrscheinlich von irgendeinem Freier vögeln. Behutsam richte ich mich ein wenig auf.

„Na, mein Süßer? Zurück aus dem Land der Träume?“ Ich schaue Richtung Tür, aus der ich die Stimme vernahm. Am Holzrahmen lehnt ein junger Mann, dessen Anblick Erinnerungen in mir hervorruft. Ich traf ihn auf der Straße, wir gingen in einen Club und… da war noch ein anderer Mann.

„Hast du mich gefickt?“, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits zu kennen glaube. Der Fremde grinst und setzt sich zu mir auf das Bett.

„Mein Freund und ich hatten viel Spaß mit dir.“

„Gleichzeitig?“, hake ich nach, dabei bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt wissen möchte, was diese Männer alles mit mir machten.

„Unter anderem. Wir hatten jedoch Bedenken, dass du zwei Schwänze in dir nicht aushalten würdest, weil du so zierlich bist. Aber du scheinst viel passiven Sex zu haben, denn wir glitten beide relativ leicht in dich, im Gegensatz zu meiner Faust.“

„Du hast mich gefistet?“

„Ja. Spürst du es nicht? Hast du keine Schmerzen in deinem Unterleib?“

„Doch.“

„Eigentlich warst du noch nicht so weit, also benötigte ich etwas Gewalt, um bis zum Beginn meines Unterarms in dich einzudringen.“ Der fremde Mann berührt meine Wange und streichelt sanft darüber. Sein Lächeln ist sehr selbstsicher. „Ich entjungferte dich, denn du hast geblutet.“ Begierig küsst er meine Lippen, drückt meinen Körper dabei zurück auf das Laken und kommt über mich. Interessiert betrachtet er mein Gesicht, streicht über die Stirn meine Haare zurück. „Warum weinst du eigentlich nicht und wirfst mir vor, dich vergewaltigt zu haben?“

„Wozu? Ich erinnere mich nicht, was in der Nacht geschehen ist. Egal, was ihr mit mir gemacht habt und wie pervers es war, ich bekam davon nichts mit. Ohne Bewusstsein empfand ich weder Ekel noch Angst. Was die Schmerzen anbelangt…“

„Die Verletzungen fügst du dir selbst zu, nicht wahr?“ Ich nicke. „Und warum hast du mir nicht gesagt, dass du ein kleiner Fixer bist?“

„Wie kommst du darauf, dass ich Heroin spritze?“ Sinnlich gleiten die Finger des jungen Mannes, der noch immer auf mir verweilt, über meine Schulter, meinen Arm entlang, hinab zur Armbeuge.

„Hier sind kaum sichtbare Vernarbungen von Einstichstellen. Jeder, der sich mit der Thematik ein wenig auskennt, würde sehen, dass du ein Heroinjunkie bist. Mit GHB hast du ebenfalls Erfahrung, richtig?“ Schweigend drehe ich meinen Kopf zur Seite, um seinem stechenden Blick auszuweichen. „Verstehe, du bist momentan clean.“ Mit seiner Zunge leckt er über einige Narben auf meinem Oberkörper, tastet sich dann langsam hinab zwischen meine Beine. Tief ziehe ich die Luft ein, bäume mich etwas auf und lege meinen Kopf in den Nacken. Je weiter der Fremde sein Spiel treibt, desto höher wird die Anspannung meines Körpers. Verkrampft kralle ich meine Finger in das Bettlaken. Dann hört er abrupt auf. „Warte kurz.“ Er verlässt das Zimmer. Schwer atmend versuche ich meine Erregung niederzukämpfen, doch es gelingt mir nicht. Der junge Mann kommt lächelnd zurück. „Dieses Mal habe ich dich ganz für mich allein, mein Süßer.“ Ich leiste keine Gegenwehr, als er mich mit Handschellen an das Bettgestell kettet. Zu spät registriere ich die aufgezogene Spritze, die er ebenfalls aus dem Nebenraum mitbrachte.

„Nein!“ Meine Stimme klingt panischer, als ich es beabsichtigte.

„Kleiner, ich sehe dir an, dass du dich nach dem Gefühl, welches nur Heroin dir geben kann, sehnst. Wurdest du schon einmal auf H gevögelt?“

„Ja, mehrfach. Also hör auf, verdammt!“ Der Dealer verschließt meinen Mund mit seinen Lippen und seiner Zunge.

„Nachher wirst du mir für den Flash dankbar sein. Entspann dich, Schatz. Lass dich fallen und genieße es.“ Er legt das Fixierband an und zieht es fest. „Dein Körper gehört nur mir.“

„Wozu die Drogen?“ Tränen laufen meine Wangen hinab. „Du darfst auch so mit mir tun, was du willst. Ich gebe mich dir bedingungslos hin, aber bitte…“ Der junge Mann löst das Band und spritzt das Heroin in eine Oberarmvene, dann küsst er mich wieder. Mit Einsetzen der Wirkung zieht mich die Droge in eine wundervolle Welt, aus der ich nicht zurückkehren möchte.
 

Mit langsamen, bedachten Bewegungen kleide ich mich an.

„Es hat Spaß gemacht, mit dir zu spielen“, grinst der Fremde mich an. „Du bist ein sehr außergewöhnliches Sextoy.“

„Freut mich“, entgegne ich knapp, ohne ihn anzusehen.

„Eigentlich will ich dich noch nicht gehen lassen, aber vielleicht können wir irgendwann da weitermachen, wo wir jetzt aufhören.“

„Ja, vielleicht.“ Umständlich binde ich meine Schuhe zu.

„Es scheint, als hättest du noch immer Schmerzen. Keine Angst, deine Verletzungen sind nicht innerlich. Du warst einfach noch zu eng, weshalb ich dir einige Fissuren zufügte, die bluteten.“

„Du musst nicht versuchen mich zu beruhigen. Ich kenne meinen Körper. Ihm wurden schon wesentlich schlimmere Verletzungen zugefügt, die ich auch überlebt habe.“

„Freiwillig oder unfreiwillig?“, fragt mein Gesprächspartner neugierig. Schweigend erhebe ich mich und ziehe mein Jacke über.

„Wahrscheinlich eher freiwillig“, antworte ich weniger ihm als mir selbst. Der junge Mann beginnt zu lachen.

„Ich kann dich wirklich nicht einschätzen, du bist kaum greifbar, aber das gefällt mir sehr.“ Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, kommt er auf mich zu, legt seine Hand in meinen Nacken und küsst mich leidenschaftlich. Mir wird leicht schwindelig, sodass ich mich Halt suchend an ihm festkralle.

„Du bist viel undurchsichtiger“, flüstere ich etwas benommen. „Warum dealst du mit Drogen, wenn du das Geld offensichtlich nicht brauchst?“

„Sagte ich doch, um süße Strichjungen von mir abhängig zu machen. Zum einen betäube ich sie mit den Drogen, spiele mit ihnen und ficke ihre wehrlosen Körper, zum anderen brauchen sie den Stoff und kommen immer wieder zu mir zurück.“

„Wäre es nicht schöner, wenn sie deinetwegen zurückkommen würden? Dein Vorgehen ist doch eher armselig, findest du nicht?“ Mein Gegenüber gleitet mit seiner Hand unter meine Jacke samt Hemd, über meine nackte Haut.

„Mag sein. Ich suche jedoch keine Freunde, sondern lediglich Spielzeug, das mich erregt und welches ich nach Belieben benutzen kann. So intensiv wie mit dir habe ich mich mit noch keinem der Jungs unterhalten.“

„Willst du mich schon wieder ficken?“ Vergeblich versuche ich mich aus seinen Armen zu befreien.

„Ja. Wahrscheinlich liegt es daran, weil du mir das Gefühl gibst, nie die komplette Kontrolle über dich zu haben. Das reizt mich und ich will dich erst recht unterwerfen.“

„Vergiss es, du wirst mich nie unterwerfen können. Du hast es nicht einmal geschafft, mich mit den Drogen von dir abhängig zu machen.“

„Scheint so. Liegt es daran, dass du bis gestern noch clean warst? Was geschieht jetzt, nach dem Rückfall? Du hast Blut geleckt. Ich kann dich gern weiterhin mit Stoff versorgen.“ Knopf für Knopf öffnet er mein Hemd.

„Vielen Dank für dein Angebot, aber ich verzichte.“

„Also gut“, seufzt der Fremde, zieht aus seiner Hosentasche sein Portemonnaie und wirft einige Geldscheine auf das Bett. „350000 Yen. Reicht das?“ Sprachlos starre ich das Geld an, dann betrachte ich meinen Gegenüber.

„Ich will es nicht“, antworte ich schließlich.

„Was? Warum nicht?“ Seine Augen mustern mich erstaunt, irritiert. „Du hast es dir verdient. Wenn du für deine Dienste nicht bezahlt werden willst, sieh es als Schmerzensgeld.“

„Es ist zu viel“, wende ich ein.

„Da bin ich anderer Meinung. Du musstest einiges über dich ergehen lassen. Mein Freund und ich haben dich regelrecht geschändet.“

„Verstehe, du denkst, du kannst mit Geld dein schlechtes Gewissen beruhigen.“

„Nimm es einfach, okay?“ Er sammelt die Scheine zusammen und stopft sie in meine Hosentasche. „Die bleiben da!“, befiehlt er und verschließt meinen Mund mit seinen Lippen, bevor ich widersprechen kann. „Jetzt verstehe ich zumindest teilweise, weshalb ich dich nicht von mir abhängig machen kann, mein Süßer. Du lässt dich nicht des Geldes wegen ficken.“

„Ich werde jetzt gehen. Lässt du mich bitte los?“

„Ungern.“

„Okay, fick mich. Und dann gib mich frei.“

„Ein solches Angebot hat mir auch noch niemand gemacht, Kleiner.“ Der Fremde lacht.

„Allerdings möchte ich bei Bewusstsein bleiben. Im Übrigen wäre es mir auch lieber gewesen, ich hätte die anderen Male spüren dürfen.“

„Tatsächlich?“ Verblüfft schaut er mich an. „Verstehe, du stehst auf Schmerzen, kann das sein?“

„Kann sein. Nimmst du eigentlich auch selbst Drogen?“

„Nein. Nur zur Qualitätsprüfung.“

„Woher hast du überhaupt so viel Geld, wenn du auf das Dealen nicht angewiesen bist?“

„Ich bin der verzogene Sohn reicher Eltern. Sie besitzen eine Firma, in die ich vor kurzem eingestiegen bin.“

„Du gehst einer seriösen Arbeit nach?“, hake ich überrascht nach. Mein Gegenüber öffnet meine Hose und zieht sie ein Stück nach unten.

„Momentan befinde ich mich noch in der Einführungsphase, da ich gerade erst mein Studium abgeschlossen habe, was bedeutet, dass ich überwiegend an nervigen und langweiligen Geschäftsessen teilnehmen muss.“

„Wissen deine Eltern von deinem freizeitlichen Treiben, deinen Vorlieben und illegalen Machenschaften?“

„Natürlich nicht. Aber es interessiert sie zum Glück auch nicht.“ Ich drehe mich um und stütze mich am Bettgestell ab. Als der fremde Mann in mich eindringt, muss ich zum ersten Mal seit Stunden an Taichi und meinen Vater denken. Tränen füllen meine Augen und ich beginne leise zu weinen.

„Sind die Schmerzen sehr schlimm?“, höre ich den Mann, der mich mit festen Stößen penetriert, fragen.

„Es geht schon. Nimm mich härter“, presse ich gequält hervor. Ich schließe meine Augen und konzentriere mich darauf, ihn intensiv in mir zu spüren und somit alle anderen Gedanken zu vertreiben. Unsere verschwitzten Körper bewegen sich im gleichen Rhythmus, der Raum ist erfüllt von unserem lustvollen Stöhnen. Nach einer Weile sinken wir erschöpft und schwer atmend auf die Matratze.

„Würdest du den Weg zu dieser Bar auch allein finden?“ Der Fremde dreht sich zu mir und legt seine Hand auf meinen Brustkorb.

„Ja.“

„Komm her, wenn du Probleme hast. Die Nacht auf der Straße verbringen zu müssen ist sicher nicht sehr angenehm. Du kannst jederzeit hier schlafen. Auch wenn du Drogen oder Geld benötigst, kannst du dich an mich wenden. Als Gegenleistung will ich lediglich deinen Körper, ihn nach meinem Belieben benutzen.“

„Wem gehört diese Wohnung? Es sieht nicht so aus, als würde hier jemand tagtäglich leben.“

„Meinem Freund aus der Bar unten. Wir verwenden diese Räumlichkeiten für unsere Sexspiele mit zugedröhnten Strichjungen sowie den Drogenhandel.“

„Es ist faszinierend, wie harmlos du deine kriminellen Handlungen klingen lassen kannst, wie beiläufig du davon sprichst. Ich denke über dein Angebot nach und komme unter Umständen darauf zurück. Aber jetzt lass mich gehen.“

„Hast du ein bestimmtes Ziel? Soll ich dich fahren? Vermutlich war der Sex gerade eher weniger schmerzlindernd, oder?“ Ich setze mich auf und muss mir eingestehen, dass er recht hat.

„Würdest du mich zur Takamatsu Mittelschule bringen?“
 

„Yamato, es ist schön, dich zu sehen“, begrüßt mein Freier mich herzlich, als er das Schulgelände verlässt und mich an der Schulmauer lehnend erblickt. „Allerdings muss ich dich bitten, die Zigarette auszumachen. Wir befinden uns vor einer Schule, nicht an einem Raucherpunkt.“ Ohne Widerworte lasse ich die Zigarette fallen und trete sie aus. Dann schaue ich mich nach einem Papierkorb um, sehe jedoch lediglich die für Flaschen und Dosen bereitgestellten Behältnisse an den Automaten unweit von uns.

„Wo ist der nächste Raucherpunkt?“, frage ich, während ich den zertretenen Filter aufhebe.

„Ich glaube, ein Stück weiter in diese Richtung.“ Ich folge mit meinen Augen dem Handzeig meines Freiers.

„Würden Sie einen Moment auf mich warten? Ich…“

„Nein, ich komme mit. Und auf dem Weg erzählst du mir, was los ist. Du wirkst unruhig und ein wenig neben dir stehend.“ Beschämt senke ich meinen Kopf. Lügen hätte vermutlich keinen Sinn und in meiner momentanen Verfassung könnte ich keine überzeugende Geschichte erfinden, geschweige denn sie glaubhaft rüberbringen.

„Ich brauche Heroin“, sage ich kaum hörbar, aber laut genug, um von meinem Freier gehört zu werden. Dieser seufzt.

„Willst du dein bisher Erreichtes so einfach zunichte machen? Bitte denk noch einmal darüber nach, anstatt einem plötzlichen Impuls zu folgen.“ Verständnisvoll spüre ich die Hand meines Freiers auf meiner Schulter, weise sie allerdings sofort zurück.

„Ich habe letzte Nacht sowohl GHB als auch Heroin konsumiert.“ Mein Freier bleibt stehen und hält mich am Handgelenk fest.

„Gab es einen Grund? Sieh mich an, Yamato!“ Schuldbewusst weiche ich seinem Blick aus. „Hattest du Streit mit Taichi oder deinem Vater?“

„Nein… es ist alles meine Schuld!“ Meine Beine tragen mich nicht mehr und ich breche vor meinem Freier auf dem Gehweg zusammen. Tränen laufen unaufhörlich meine Wangen hinab. „Ich hätte mich niemals in meinen Vater verlieben dürfen! Nie hätte ich Gefühle für Akito entwickeln dürfen! Vielleicht würde er dann sogar noch leben. Vielleicht wäre Taichi dann nie in den Alkoholismus gerutscht. Warum passiert das alles?“, frage ich schluchzend, während ich kraftlos immer weiter in mich zusammensinke. Mein Freier versucht mir Halt zu geben, indem er mich schützend in den Arm nimmt. Die seltsamen Blicke der Passanten blenden wir beide aus. „Warum kann ich alle in meiner Nähe immer nur verletzen? Warum tue ich ihnen immer nur schlimme Dinge an? Ich will Taichi glücklich machen. Einfach nur glücklich machen. Warum geht es nicht? Warum kann ich das nicht, verdammt!“ Verzweifelt presse ich mich an den Körper meines Freiers, kralle meine Finger fest in dessen Anzug. „Ich liebe Taichi! Es tut so weh! Es tut so sehr weh, ihn zu lieben!“ Nach wie vor laufen Tränen unablässig über mein Gesicht. Mein Hals schmerzt bereits und ich kann kaum schlucken, trotzdem höre ich nicht auf zu weinen. Allmählich wird auch meine Atmung unregelmäßiger, hektischer und doch schwerfälliger. Ich muss mich beruhigen, sonst endet dieser ohnehin unnötige Nervenzusammenbruch in einer Hyperventilation. Erst jetzt spüre ich die Hand meines Freiers, mit der er beruhigend durch mein Haar streicht. „Ich kann nicht! Ich kann nicht nach Hause zurück!“ Heftige Bauchkrämpfe zwingen mich, endgültig aufzugeben. „Bitte! Helfen Sie mir!“ Ich krümme mich in den Armen meines Freiers vor Schmerzen zusammen. Eine junge Frau beugt sich ein wenig zu uns hinab.

„Was ist passiert? Braucht der Junge einen Arzt?“, fragt sie besorgt.

„Nein, vielen Dank. Es wird ihm gleich wieder besser gehen.“

„Danach sieht es aber nicht aus“, erwidert die junge Frau misstrauisch. „Sind Sie sein Vater?“

„Ich bitte Sie, weiterzugehen.“ Mein Freier klingt sehr freundlich, spricht seine Worte jedoch mit Nachdruck. Er hält meinen zitternden Körper noch immer fest in seinen Armen. Tief nehme ich seinen Duft in mich auf, schließe meine Augen und versuche kontrolliert ein- und auszuatmen.

„Er wird ruhiger. Glauben Sie mir nun?“, richtet mein Freier seine Frage an die junge Frau, die noch immer neben uns steht. Schwerfällig versuche ich mich aufzurichten, mein Freier stützt mich dabei. Lächelnd schaue ich die junge Frau an.

„Er hat recht. Sie müssen sich keine Sorgen machen. Mir geht es gut.“ Die Frau betrachtet mich eingehend.

„Bist du sicher? Du siehst sehr blass aus.“

„Ja, vielen Dank.“ Ich verbeuge mich und gehe, mich an meinem Freier festhaltend, an ihr vorbei. Schweigend laufen wir ein Stück.

„Yamato, ich werde dich dann nach Hause fahren.“ Abrupt bleibe ich stehen und starre ihn fassungslos an.

„Warum? Ich dachte, Sie würden mir helfen!“, sage ich vorwurfsvoll, löse mich von meinem Freier und gehe auf Abstand.

„Genau damit helfe ich dir am meisten. Und ich führe auf offener Straße auch keine Diskussionen, hast du verstanden, Yamato?“, äußert sich mein Gegenüber bestimmt.

„Ich habe den zertretenen Zigarettenfilter verloren.“ Meine Stimme ist leise und monoton.

„Das ist nun auch egal. Gehen wir zum Auto.“ Langsam laufen wir den Weg zurück, vorbei an dem verlorenen Zigarettenfilter, der auffällig und doch unbeachtet auf dem Asphalt liegt. Erst als die Fahrzeugtüren zugezogen sind, bricht mein Freier die unangenehme Stille zwischen uns.

„Was ist vorgefallen, dass du solche Angst davor hast, nach Hause zu gehen, mein Süßer?“ Sanft legt er seine Hand auf meinen Oberschenkel.

„Ich liebe meinen Vater.“ Lasziv spreize ich meine Beine ein wenig, woraufhin seine Hand an der Innenseite nach oben gleitet. „Darf ich Sie etwas fragen? Wie schaffen Sie es, die Nähe ihres Sohnes zu ertragen, ohne ihn anzufassen, ohne mit ihm zu schlafen?“

„Eigentlich sollte ich dir nicht ehrlich antworten, aber ich möchte dich auch nicht belügen. Oft ist es alles andere als einfach. Zwar versuche ich durch den Sex mit dir unter anderem mein Verlangen nach meinem Sohn zu stillen, doch du weißt selbst, dass es nicht dasselbe ist. Ich kann deinen Vater ebenso wenig ersetzen. Außerdem bist du nicht immer im richtigen Moment verfügbar. Wenn es möglich ist, verlasse ich die Wohnung, nehme mir ein Hotelzimmer und entfliehe der Realität, indem ich mir einen Schuss setze oder andere Drogen konsumiere. Je nach Grundstimmung. Falls ich allerdings mit meinem Sohn allein zu Hause bin und er mit mir spielen will, muss ich mir immer wieder sagen, dass ich ihn vergewaltige, wenn ich Hand an ihn lege.“

„Und das funktioniert?“

„Naja, schon. Irgendwie. Eine Erektion bekomme ich trotzdem manchmal. In dem Fall hole ich mir im Bad einen runter.“

„Das kommt mir bekannt vor“, erinnere ich mich bitter.

„Welche Gedanken gehen dir durch den Kopf, wenn du deinen Vater siehst?“ Kurz überlege ich.

„Ich liebe ihn, will ihn berühren, seinen Körper spüren, ihn in mich aufnehmen.“

„Versuche deine Gedanken zu beeinflussen, umzulenken. Vielleicht solltest du stattdessen an Taichi denken.“ Ich lächle traurig.

„Taichi ist mein Ein und Alles. Ohne ihn kann ich nicht leben. Aber man kann einen Menschen nicht gegen einen anderen austauschen. Auch Sie sind unersetzlich für mich.“ An seiner Krawatte ziehe ich meinen Freier zu mir und küsse ihn. „Fahren Sie mich bitte nach Hause.“ Erleichtert wuschelt er durch meine Haare und startet den Wagen. „Dass ich weggelaufen bin, war eine Panikreaktion. Ich war von der Gegenwart meines Vaters überfordert. Hinzu kamen meine Unfähigkeit, Taichi zu helfen, sowie die Beziehung der beiden zueinander. Ich dröhnte mich mit Drogen zu, verbrachte die Nacht mit fremden Männern und kann mich an kaum etwas erinnern.“

„Wurdest du von den Typen unter Drogen gesetzt oder war die Einnahme freiwillig?“ Ich schaue aus dem Fenster und folge mit meinen Augen den vorbeiziehenden Häusern.

„Keine Ahnung. Das ist auch nicht wichtig. Allerdings…“

„Du willst wieder fixen?“, führt mein Freier meinen Satz weiter.

„Ja“, antworte ich entschieden.

Ein unbestimmtes Angstgefühl überkommt mich, als ich den Schlüssel im Schloss drehe und die Tür zur Wohnung öffne. Sofort steigt mir der Geruch von Zigaretten in die Nase. Offenbar hält auch mein Vater sich nicht an seine eigene Regel, nur am Fenster zu rauchen. Umständlich ziehe ich meine Schuhe aus, da die Folgen der letzten Nacht noch deutlich spürbar sind. Mein Vater schaut aus der Küche. Er sieht müde und erschöpft aus. Ohne ein Wort zu sagen, kommt er auf mich zu und schlägt mir so hart ins Gesicht, dass ich Blut in meinem Mund schmecke. Mein Gleichgewicht verlierend stürze ich unsanft zu Boden.

„Wo warst du, verdammt!?“, schreit mein Vater mich wütend an. „Wo, Yamato?“ Beschämt senke ich meinen Blick. Von der Ohrfeige dröhnt mein Kopf noch mehr als zuvor, mit meinen Fingern streiche ich behutsam über meine schmerzende Wange. Eine Antwort gebe ich ihm nicht. „Hast du die Nacht mit diesem perversen Lehrer verbracht? Ich zeige ihn wegen Kindesmissbrauchs an!“, droht mein Vater hasserfüllt.

„Nein!“, entgegne ich aufgebracht. „Hör endlich auf ihn abzuwerten und zu beleidigen! Du kennst ihn überhaupt nicht!“

„Es reicht, dass ich weiß, was er meinem Sohn antut!“

„Das Einzige, was er mir antut, ist für mich da zu sein, wenn ich allein nicht mehr klarkomme. Im Gegensatz zu dir!“ Noch einmal schlägt mir mein Vater rücksichtslos ins Gesicht. Ein Lächeln zeichnet sich auf meinen Lippen ab. Ich muss ihn dazu bringen, die Kontrolle über sich zu verlieren, denn nur so wird er dem Menschen wehtun, der ihn kaputt macht. Nur so werde ich seinen ganzen Hass und seine aufgestaute Wut zu spüren bekommen. Danach geht es uns beiden vielleicht etwas besser.

„Ich war in Shibuya.“ Provokatorisch schaue ich meinen Gegenüber an. „Geld verdienen.“ Fahrig krame ich in meiner Hosentasche und werfe meinem Vater das Geld vor die Füße. „Siehst du? Dein Sohn war fleißig.“ Bestürzt, mit geweiteten Augen, starrt er auf die Scheine.

„Du… nein… das…“ Mein Vater hat sichtlich Mühe, seine Fassung wiederzuerlangen.

„Wieso? Du solltest froh darüber sein. Wenn andere ihre Schwänze oft genug in mich stecken, musst du das nicht mehr tun. Ich lasse dich in Ruhe, okay?“ Meine Hoffnung war, ihn mit dieser Aussage in Rage bringen zu können, doch mein Gegenüber wird wider Erwarten ruhiger. Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck betrachtet er mich.

„Steh auf“, befiehlt er streng. Verwirrt über die unerwartete Reaktion meines Vaters gehorche ich nahezu ergeben. „Du wirst jetzt bei der Polizei anrufen und denen erklären, wo du warst und was du die ganze Nacht gemacht hast.“

„Was?“, frage ich völlig aus dem Konzept gebracht und mit wachsendem unguten Gefühl.

„Nachdem du gestern Abend weggelaufen bist, gab ich eine Suchmeldung bei der Polizei auf. Seit ich wieder zu Hause bin, komme ich nicht an dich heran. Was sollte ich also tun? Anders wusste ich mir nicht mehr zu helfen.“ Panisch und doch starr vor Schreck stehe ich im Flur und schaue meinen Vater hilflos an.

„Du hast die Polizei…“

„Yamato, ich hatte wahnsinnige Angst, dass du dir etwas antust!“ Die Stimme meines Vaters zittert leicht. „Warst du wirklich in Shibuya? Eigentlich hätte die Polizei dich dann finden müssen, denn dort suchten sie verstärkt in den Bars und Stundenhotels nach dir.“

„Ja, war ich. Die ganze Nacht, soweit ich weiß. Falls die Polizei auch in dem Club nach mir suchte, in welchem ich mich aufhielt, log das Personal vermutlich. Wahrscheinlich auf Anweisung ihres Chefs, da er sich ungestört mit mir vergnügen wollte.“

„Du erzählst das alles so ungerührt. Macht es dir gar nichts mehr aus? Bist du mittlerweile so abgestumpft?“, fragt mein Gegenüber voller Verzweiflung. „Von wie vielen hast du dich vögeln lassen und vor allem, was musstest du machen, um einen solchen Geldbetrag zu erlangen?“ Ich richte meinen Blick auf den Boden, da ich meinem Vater nicht mehr in die Augen sehen kann.

„An die letzte Nacht erinnere ich mich nur sehr lückenhaft. Mich sprach auf der Straße ein junger Mann an, der mich mit zur Bar seines Freundes nahm. Dann…“

„Hast du Drogen genommen?“, unterbricht mein Vater meine Ausführungen. Er klingt weniger verärgert als besorgt. Ich beschließe die Wahrheit zu sagen, um ihn zusätzlich zu provozieren.

„Ja, habe ich.“

„Freiwillig?“

„Was spielt das für eine Rolle? Ich war so drauf, dass ich nichts mehr mitbekam.“

„Du weißt nicht einmal, was die mit dir gemacht haben?“ Lächelnd zucke ich mit den Schultern.

„Es war schmerzhaft. Ich schätze, sie praktizierten irgendwelche abartigen Spielchen. Die 350000 Yen dienen quasi als Entschädigung“, mutmaße ich in gleichgültigem Tonfall. Tränen laufen meinem Vater über die Wangen.

„Verdammt, Yamato! Bist du dir denn gar nichts mehr wert? Dich scheint überhaupt nicht zu interessieren, was mit dir passiert.“

„Richtig, es ist mir egal. Solange die Bezahlung stimmt…“ Erneut schlägt mein Vater mir hart ins Gesicht.

„Denkst du überhaupt noch an Taichi? Er sucht nach dir! Noch immer!“

„Wieso hast du ihn gehen lassen? Er ist auf Entzug, verdammt! Glaubst du tatsächlich, dass er nach mir sucht? Er wird sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken… in irgendeiner Seitenstraße, unter einer Brücke…“ Schluchzend wische ich mit meinem Ärmel die Tränen von meiner Haut. „Allein, halbtot… und ich…“ Mein Vater kommt einen Schritt auf mich zu.

„Du scheinst ja doch noch etwas zu fühlen.“

„Natürlich fühle ich etwas!“, schreie ich ihn ungehalten an. „Ich liebe Taichi… und ich… liebe dich! Aber du vögelst ihn… und er braucht dich. Das ist in Ordnung. Vielleicht werdet ihr so endlich glücklich.“ Verzerrt lächle ich meinen Vater an. „Schlag mich!“, bitte ich ihn ruhig. Beinahe verstört mustert er meinen Körper. Dann schaut er in meine Augen, als suche er nach etwas. Ich halte seinem Blick stand.

„Yamato, was…“

„Schlag mich so lange, bis ich nicht mehr aufstehe!“, fordere ich nun mit lauter Stimme. „Schlag mich, Papa! Du musst es tun! Du musst! Für dich, für mich…“ Weinend nimmt mein Vater mich in den Arm. „Nein! Was tust du denn?“ Panisch versuche ich mich von ihm zu lösen, doch je heftiger ich mich wehre, desto fester umschließt er meinen Körper. „Lass mich los! Fass mich nicht an!“

„Shh… ruhig, Yamato“, flüstert mein Vater sanft. Kraftlos breche ich in seinen Armen zusammen. Er hat Mühe, mich auf den Beinen zu halten, nach kurzer Zeit sinken wir beide zu Boden.

„Hasse mich, Papa! Du musst mich hassen… mir wehtun… dir helfen…“ Allmählich werde ich hysterisch.

„Ich liebe dich, mein Sohn“, entgegnet mein Vater voller Zuneigung und zieht mich mit sich in eine aufrechte Haltung.

„Nein! Verdammt nochmal, das darfst du nicht! Du musst…“ Aufgebracht und rücksichtslos stoße ich ihn von mir. Mein Vater taumelt, erlangt aber sofort sein Gleichgewicht und bewegt sich wieder auf mich zu.

„Yamato, egal, was zwischen uns…“, beginnt er auf mich einzureden.

„Halt deinen Mund!“ Im Affekt schlage ich meinen Vater ungehemmt mit der Faust ins Gesicht. Dann ist alles still. Über mich selbst erschrocken stehe ich schuldbewusst vor ihm. Blut läuft aus seiner Nase, welches er mit seinem Handrücken abwischt. Langsam gehe ich ein paar Schritte rückwärts, bis ich mit meinem Rücken gegen die Wohnungstür stoße. Ich zittere, in meinem Kopf herrscht Chaos und Leere zugleich.

„Töte mich“, hauche ich leblos. „Wenn du mich nicht hassen kannst, dann töte mich.“

„Yamato, hör auf damit, solche Aussagen zu tätigen.“ Mein Vater setzt sich in Bewegung, doch ich gebiete ihm Einhalt, indem ich mein Messer aus der Jackentasche hole und an meine Kehle presse.

„Bleib stehen. Keinen Schritt weiter oder ich ziehe die Klinge durch.“ Kurz betrachtet mich mein Gegenüber abschätzend, dann geht er das Wagnis ein, näher zu kommen. Mit leichtem Druck zerteile ich die Haut an meinem Hals. Sofort spüre ich warmes Blut darüber laufen und schließe die Augen. Es ist die gleiche Wunde, die ich Taichi zufügte. Nicht lebensgefährlich. An derselben Stelle. Mein Vater nutzt den Moment meiner Unachtsamkeit, um zu mir zu gelangen und das Messer meiner Hand zu entwinden. Er wirft es über den Flur in Richtung des Wohnzimmers, weit weg von uns. Mich presst er mit seinem Körper gegen die Wohnungstür und macht mich auf diese Weise nahezu bewegungsunfähig.

„Ich liebe dich, Yamato“, flüstert er immer wieder in mein Ohr. „Ich liebe dich, ich liebe dich…“

„Sei still! Bitte, sei still.“ Meine Stimme versagt und ich klammere mich laut weinend wie ein Kind an meinen Vater. „Du musst mich hassen. Nur so kann ich meine Liebe für dich töten. Und du kannst glücklich werden.“

„In welch unsinnige Idee hast du dich nur wieder verrannt?“, seufzt mein Vater, drückt mich fester an sich und streichelt über meinen Hinterkopf.

„Bitte, töte mich“, entgegne ich teilnahmslos. „Nicht nur für dich. Auch für Taichi. Für mich. Ich bin müde. Tag für Tag, immer weiter, immer leben, existieren. Etwas tun, sich einfügen, irgendwie da sein. Wozu? Jeder lebt doch eigentlich für sich, in erster Linie. Andere sollten egal sein. Jedes Leben geht auch ohne ein anderes weiter. Jedoch nicht ohne sich selbst. Und wenn das Selbst keinen Wert hat? Nicht für sich? Für andere? Sollte man dann gegen sich selbst, aber für andere leben? Wird man so jemals glücklich sein? Du wirst glücklich sein, ohne mich. Taichi wird glücklich sein, ohne mich. Ich werde glücklich sein, ohne mich. Töte mich. Befreie dich, befreie Taichi, damit ihr beide wieder atmen könnt. Ich kann nicht mehr. Nicht mehr atmen. Ich will nicht mehr. Nicht mehr wollen müssen. So zu tun, als würde ich leben, ergibt keinen Sinn mehr. Ist es feige, einfach zu gehen? Vielleicht, doch es ist mir egal. Im Tod spielt nichts eine Rolle. Außer Stille. Endlich Ruhe.“ Tränen laufen unablässig über meine Wangen. Schweigend und reglos hält mein Vater mich fest an sich gepresst. „Weißt du, Papa, ich wollte kein drogenabhängiger Stricher mehr sein. Für Taichi. Für dich. Diesmal wollte ich es schaffen. Diesmal wollte ich durchhalten. Doch ich habe erneut versagt. Es tut mir leid, Papa. Taichi fing meinetwegen zu trinken an, hin und wieder, wenn etwas vorgefallen war, dann immer mehr, dann immer. Du hast mit mir geschlafen. Mehrfach. Nicht, weil du es wolltest, sondern weil du hofftest, mir damit zu helfen. Aber ich wollte keine Hilfe. Ich wollte dich. Spüren. In mir. Ich liebe dich. So wie Taichi. Und doch anders. Es gibt keinen Ersatz. Für niemanden. Egal, von wie vielen Männern ich mich ficken lasse und mir dabei vorstelle, mit dir zu schlafen… es geht nicht. Die sind nicht du. Sie fühlen sich nicht an wie du. Sie riechen anders als du. Bei ihnen wird mir schlecht. Bei dir nicht. Ich gebe mich dir freiwillig hin, nicht zwanghaft. Innerer Zwang, das Verlangen nach Selbstverletzung. Selbstzerstörung. Selbstvernichtung. Den Kampf gegen mich selbst werde ich immer wieder verlieren. Töte mich. Setze dieser Farce ein Ende. Du wirst sehen, ich werde dich lächelnd verabschieden.“

„Warum tust du es nicht selbst, wenn du unbedingt sterben willst?“, fragt mein Vater mit belegter Stimme.

„Ich weiß es nicht“, antworte ich ruhig. „Wahrscheinlich, weil ich inzwischen aus Gewohnheit lebe.“
 

Ich öffne meine Augen. Es ist dunkel, aber ich erkenne die Konturen meines Zimmers. Was ist geschehen? Wie kam ich in mein Bett? Müde setze ich mich auf und fahre mit meinen Händen über mein Gesicht. Nein, eigentlich will ich mich nicht erinnern. An nichts. Meine schmerzende Wange und mein als Spielzeug benutzter Körper lassen mich jedoch nicht vergessen. Mein Hals ist trocken und erschwert mir das Schlucken. Ich greife nach der Flasche neben meinem Bett. Sie ist fast leer, das Wasser abgestanden. Angewidert stelle ich die Flasche zurück auf den Boden. Ich will frisches Wasser. Kaltes Wasser, welches meine Kehle hinab läuft und den Schmerz lindert. Klares Wasser, welches meinen schmutzigen Körper reinigt, den an mir haftenden Geruch anderer Menschen abwäscht. Heißes Wasser, welches die Berührungen Fremder von meiner Haut brennt. Nein, ich muss mich erinnern. An jede Erniedrigung, die mir meine eigene Wertlosigkeit aufzeigt und die ich herbeisehne, um dieselben Qualen ertragen zu müssen, die ich anderen antat. An den Ekel, der mir vor Augen führt, wie abstoßend Berührungen sein können. An die Angst, die mich lähmt und somit handlungsunfähig und wehrlos macht. Wofür sonst sollte ich am Leben bleiben? Ich zittere und ein leichter Schweißfilm bildet sich auf meiner Haut. Erneut Entzugserscheinungen. Mein Vater gab mir eine geringe Dosis des, für den Ausnahmefall verschriebenen, Schlafmittels, da mein Körper allmählich mit eindeutigen Reaktionen nach dem nächsten Schuss verlangte. Für einen kurzen Moment wäre ich fast so weit gewesen, meinem Vater von meinem Heroinkonsum zu erzählen. Glücklicherweise setzte mein Verstand rechtzeitig ein, sodass ich letztlich schwieg. Beim Umziehen musste ich auf meinen Arm wegen der leicht vernarbten Einstichstellen achten, da mein Vater sich weigerte das Zimmer zu verlassen. Er blieb, bis die Wirkung des Medikaments einsetzte, ich ruhiger wurde und schließlich einschlief. Mit Bedacht, um ein mögliches Absacken meines Kreislaufes zu verhindern, stehe ich auf und gehe zu meinem Tisch. Aus der darauf befindlichen Schachtel nehme ich eine Zigarette und zünde sie an. Es ist ein sinnloser Versuch, das Verlangen nach Heroin durch den Konsum von Nikotin zu verringern, aber momentan bleibt mir keine Alternative. Am geöffneten Fenster stehend schaue ich in die Nacht hinaus. Ich spüre die warme Frühlingsluft, hin und wieder streift eine kühle Brise sanft meine Haut. Ich lebe. Weiterhin. Und seltsamerweise ist es in Ordnung. Mir ist bewusst, dass mein Tod für alle das Beste wäre. Aber wenn ich wirklich sterben wollte, hätte ich mich dann nicht schon längst getötet? Waren die bisherigen Selbstmordversuche nicht eher halbherzig? Verzweifelte Kurzschlussreaktionen? Ich wollte etwas in mir töten. Gefühle, Gedanken… ein Ich, das es nicht geben darf. Ein Ich, welches ich inzwischen auf Raten versuche zu zerstören. Wie erwartet hat das Nikotin keinerlei Einfluss auf mein Verlangen nach Heroin. Vielleicht sollte ich erst einmal duschen. Seit diese Typen… es fühlt sich so an, als würde noch Blut, Sperma und Speichel an und in mir kleben. Die Zigarette gleitet aus meinen Fingern und ich beobachte, wie sie in die Tiefe fällt. Dann verlasse ich mein Zimmer. Im Flur höre ich Geräusche aus dem Wohnzimmer. Die Tür steht einen Spalt weit offen. Langsamen Schrittes bewege ich mich darauf zu und werfe einen Blick in den Raum. Der Fernseher läuft. Auf dem Sofa sitzt mein Vater, seinen Arm um Taichi gelegt, der an ihn gelehnt dicht neben ihm sitzt.

„Denkst du, Yamato hat die Drogen freiwillig genommen? Auf mich machte es den Eindruck, als versuchte er diesmal ernsthaft von dem GHB loszukommen. Und nach deiner Schilderung bezüglich Yamatos Aussage zweifle ich ein wenig an seinem indirekten Schuldeingeständnis. Allerdings ist Yamato dahingehend schwer einzuschätzen. Er weiß, dass er nicht lügen kann, und ich glaube, er will es auch gar nicht. Stattdessen dementiert er einfach nichts und schweigt. Dabei vergisst er nur, wie schlimm es ist, im Ungewissen gelassen zu werden.“

„Vielleicht sagt er nichts, um sich selbst zu schützen und das Erlebte auf diese Weise ungeschehen zu machen.“

„So einfach funktioniert das leider nicht. Dessen müsste er sich eigentlich bewusst sein.“

„Wahrscheinlich ist er sich dessen auch bewusst.“

„Warum sagt er dann nichts? Lediglich wenn er die Kontrolle verliert, wirft Yamato seinem Gegenüber unüberlegt Details an den Kopf. Soll ich ihn jedes Mal provozieren, wenn ich das Gefühl habe, dass etwas vorgefallen ist? Auf diese Weise helfe ich ihm letztlich auch nicht, oder?“

„Taichi, ich verstehe deine Sorge meinen Sohn betreffend, aber du vergisst darüber deine eigenen Probleme. Momentan hilfst du allen am meisten, wenn du deine Alkoholabhängigkeit in den Griff bekommst. Yamatos Verfassung hängt auch sehr stark von deinem Befinden ab. Sobald ich auf dich zu sprechen komme, bröckelt seine Fassade und er bricht nervlich zusammen, weil seine Angst um dich überhandnimmt.“

„Ich bemühe mich, aber…“

„Nein, Taichi. Kein Aber. Ich bin froh, dass du es geschafft hast, allein unterwegs zu sein, ohne rückfällig zu werden. Das ist ein Erfolg und ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.“ Taichi richtet sich etwas auf und sieht meinen Vater an.

„Hiroaki, ich…“, beginnt mein Freund seinen Satz, den er jedoch nicht beendet. Stattdessen beugt er sich zu meinem Vater und küsst ihn. Der erwidert den Kuss nur zögerlich, lässt sich dann jedoch auf meinen Freund ein. Ihr Zungenspiel ist fordernd und sehr leidenschaftlich. Taichi wird von meinem Vater behutsam zurückgedrängt und kommt unter ihm auf dem Sofa zum Liegen. Ich wende mich ab und gehe ins Bad. Hinter mir verschließe ich die Tür. Ohne darüber nachzudenken, stelle ich mich unter die Dusche und schalte das heiße Wasser an. Eine Weile bleibe ich mit dem Kopf gegen die Wand gelehnt stehen, dann sinke ich kraftlos zu Boden. Meine Kleidung hängt, völlig durchnässt, schwer an mir herab. Die Hitze brennt auf meiner Haut. Während ich meine Schlafsachen ausziehe, um den Schmutz abwaschen zu können, singe ich leise vor mich hin.
 

Die letzten Sonnenstrahlen gehen

Sie verlassen dich

Du stehst hier oben bis die Nacht anbricht

Und du merkst in dir erwacht

Langsam die Erinnerung
 

Du hüllst dich in Gedanken ein

Willst in deiner Traumwelt sein

Lässt nichts mehr an dich ran

Und du machst die Augen zu

Wirst langsam unsichtbar
 

Und du fliegst

Immer höher immer weiter

Wenn du willst

Bis ans Ende dieser Welt

Deine Reise führt zu dem Versteck

Das nur du alleine kennst

Weit, weit weg...
 

Vor aller Welt schließt du die Tür

Niemand kommt herein

Sich auszublenden kann so einfach sein

Und du fühlst in dir regiert

Nur die Erinnerung
 

Es ist so einfach wie im Flug

Alles schwerelos und leicht

Den geheimen Ort hast du bald erreicht

Und du merkst

Du wirst langsam unsichtbar
 

Es dauert eine Weile, bis ich den Schmerz, der durch das heiße Wasser auf meiner Haut entsteht, nicht mehr aushalten kann. Verkrampft ziehe ich mich an dem Wasserhahn nach oben, wobei ich ihn gleichzeitig ausschalte. Zitternd krieche ich aus der Dusche und bleibe erschöpft auf den kalten Fliesen liegen. Heroin. GHB. Ich brauche irgendetwas, um der Realität entfliehen zu können. Vielleicht funktioniert es mit einer Überdosierung des verschriebenen Neuroleptikums. Ich stehe auf und bewege mich unsicher auf den Schrank zu, in dem ich meine Psychopharmaka aufbewahre. Eigentlich vermied ich bisher einen Missbrauch dieser Medikamente. Die Vorstellung verursachte immer ein unangenehmes Gefühl. Ich drücke einige Tabletten aus der Blisterpackung, etwa die Wirkstoffmenge, die zur Behandlung von Schizophrenie verabreicht wird, um Wahnvorstellungen und psychotische Schübe einzudämmen, und schlucke sie mit etwas Wasser hinunter. Anschließend lege ich mich wieder auf die Fliesen und warte auf das Einsetzen der Wirkung. Unbemerkt fallen mir langsam die Augen zu. Als ich sie kurz darauf öffne, ist meine Umgebung völlig verzerrt. Für einen Moment scheine ich eingeschlafen zu sein. Ich bekomme kaum Luft, da meine Nase zu trocken ist. Umständlich drehe ich mich auf die Seite. Ich falle, alles dreht sich, mir fehlt jegliche Orientierung. Trinken. Da ich keine Kontrolle über meinen Körper habe, gestaltet es sich schwierig, zum Waschbecken zu gelangen. Nur unter großer Anstrengung und stark taumelnd gelingt es mir. Gierig nehme ich die kühle Flüssigkeit in mich auf, obwohl ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Dann versuche ich wankend zur Tür zu gelangen, breche aber auf dem Weg zusammen. Ich bleibe keuchend liegen und drehe mich auf den Rücken. In meinem gesamten Körper spüre ich überdeutlich mein Blut pulsieren. Meine Adern werden zu alten, rostigen Rohren, die zu zerbersten drohen. Aus dem Rauschen in meinen Ohren geht ein unbestimmtes Flüstern hervor. Die Stimmen schwirren in meinem Kopf umher, doch ich verstehe nicht, was sie sagen. Angsterfüllt schrecke ich zusammen, jedes Mal, wenn ich berührt werde. Ich versuche mir vor Augen zu führen, dass es sich lediglich um Halluzinationen handelt, trotzdem nimmt diese irrationale Panik überhand. Ich lege meine Hand auf die Stelle, an der sich mein Herz befindet. Dieses schlägt, entgegnen meiner Bemühung, mich zu beruhigen, immer schneller. Das Pulsieren in meinem Körper wird deutlich stärker, die Stimmen lauter und die Berührungen intensiver. Auf jede kleine Bewegung folgen heftige Reaktionen und ich fühle mich ausgelaugt, als würde ich gerade Hochleistungssport betreiben. Dabei liege ich relativ starr auf dem Boden. Mein Herz pumpt schmerzhaft das Blut durch meine Adern. Noch immer kann ich nicht atmen, da meine Nase wie ausgetrocknet ist. Ich entwickle Todesangst. Das Gefühl, zu sterben, raubt mir jegliche Fähigkeit, zu denken. Außerdem selektiert mein Gehirn nicht mehr, Halluzinationen und Realität verschwimmen zunehmend. Die Rohre in meinem Inneren brechen und ich werde überschwemmt von meinem eigenen Blut. Weil ich tief in der Erde begraben bin und mein Brustkorb der Last nicht mehr standhält, ertrinke ich in mir selbst. Die rostigen Metallstäbe, die einmal meine Adern waren, bohren sich durch meine Haut, stoßen aus mir heraus. Ich schreie lautlos, liege still, bewegungslos auf den Fliesen, als würde ich mich in einer toten Hülle befinden. Offenbar bin ich in mir selbst begraben. Doch irgendetwas in mir weiß nach wie vor, dass all diese Halluzinationen medikamenteninduziert sind. Gefangen in Wahnvorstellungen schwöre ich mir nie wieder mit derartigen Psychopharmaka zu experimentieren. Falls ich diesen Horrortrip überlebe und nicht darauf hängenbleibe.
 

Durch eine kalte Hand, die über meine Stirn, die Schläfe hinab zu meiner Wange streichelt, werde ich aus der Bewusstlosigkeit zurück in die Realität geholt. Vorsichtig öffne ich meine Augen und erblicke die von der Sonne beschienene Decke meines Zimmers. Es ist hell, sodass ich meine Augen kurz wieder schließe.

„Soll ich die Vorhänge zuziehen oder das Rollo ein Stück herunterlassen?“ Ich erkenne Taichis Stimme. Sie klingt liebevoll, fast fürsorglich.

„Wie bin ich in mein Bett gekommen?“, frage ich mit kratziger Stimme, da mein Hals zu trocken ist.

„Irgendwann in der Nacht kamst du unbekleidet aus dem Bad und bist im Flur zusammengebrochen. Deine Worte ergaben keinen Sinn, du warst nicht ansprechbar. Wir wussten nicht, ob die Halluzinationen lediglich drogeninduziert waren oder ob wir besser den Notarzt rufen sollten. Schließlich brachten wir dich erst einmal in dein Bett. Glücklicherweise wurdest du nach einiger Zeit ruhiger und bist dann eingeschlafen.“

„Ich erinnere mich kaum“, murmele ich, wobei ich angespannt über meine Augen reibe. „Schläfst du mittlerweile regelmäßig mit meinem Vater?“

„Was?“, fragt mein Freund überrascht. „Nein, will ich auch nicht.“

„So?“, ist das Einzige, was ich ihm entgegenbringe. Die Halluzinationen sind zwar verschwunden, starke, unterschwellige und nicht benennbare Angstgefühle jedoch geblieben. Ich drehe mich zu meinem Freund und schaue ihn an. „Bleib bitte bei mir. Lass mich nicht allein. Nicht jetzt. Und auch sonst nicht. Versprich es.“

„Versprochen“, entgegnet Taichi ernst.

„Wo ist Hiroaki?“, frage ich ganz bewusst. An seinem Blick erkenne ich, dass mein Freund die Anspielung verstanden hat.

„Einkaufen“, antwortet er knapp und sieht mich unverwandt an.

„Mein Vater lässt uns beide unbeaufsichtigt?“, spotte ich.

„Der Kühlschrank ist leer. Mich ließ er nicht gehen und dich alleinzulassen stand ohnehin nicht als Option zur Verfügung. Ihm blieb also keine andere Wahl, als selbst zu gehen.“

„Halt mich fest, Taichi.“ Bevor er reagieren kann, umarme ich ihn sehnsüchtig, aber voller Angst. Irritiert drückt er mich an sich.

„Yamato.“

„Ich liebe dich“, hauche ich stimmlos. „Ich liebe dich so sehr. Es tut weh, Tai. Doch es soll nicht aufhören. Ich will das alles nicht verlieren. Ich will dich nicht verlieren.“ Zitternd klammere ich mich an meinen Freund. Der wirkt ratlos.

„Ist etwas passiert? Du bist völlig verängstigt. Was hast du im Bad gemacht?“ Ich löse mich von ihm, schaue ihn jedoch nicht an.

„Es tut mir leid. Ich bemerkte nicht, dass du meine Nähe als unangenehm empfindest.“ Mit diesen Worten entferne ich mich von Taichi, indem ich aufstehe und zum Fenster gehe, obwohl die Distanz zu ihm momentan unerträglich schmerzhaft für mich ist. Fahrig halte ich das Ende einer Zigarette in die Flamme des Feuerzeugs. Ich ziehe einige Male am Filter, atme den Rauch tief ein und nehme das Nikotin verlangend in mich auf. Sichtlich beunruhigt kommt mein Freund auf mich zu, streichelt leicht über meine Wange und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Dann gleitet er mit seinen Fingern durch meine Haare.

„Sie werden immer länger“, bemerkt er feststellend. „Würdest du sie schneiden lassen, wenn ich dich dazu auffordere?“

„Ja“, antworte ich ohne zu zögern. „Befiehlst du es?“

„Nein, die Frage war rein hypothetisch.“

„Kein Appell? Wozu dann…? Ich meine…“ Traurig senke ich meinen Kopf. „Bitte gib mich nicht auf. Das ist viel verlangt, oder?“ Offensichtlich besorgt nimmt Tai mein Gesicht zwischen seine Hände und zwingt mich damit, ihn anzusehen.

„Was ist los, Yamato? Du wirkst verschreckt und unterwürfig.“

„Ich habe Angst.“

„Wovor?“

„Ich weiß es nicht. Aber dieses Gefühl frisst mich auf. Es lähmt mich und tötet alles andere in mir.“ Ein paar Mal ziehe ich noch an der Zigarette, dann lasse ich sie aus dem Fenster fallen.

„Wenn dein Vater vom Eink…“

„Nenn ihn beim Vornamen, so wie letzte Nacht. Du musst mir nichts mehr vorspielen. Ich weiß, dass du wieder die Beine für ihn breit gemacht hast.“ Meine Stimme bleibt tonlos und frei von Vorwürfen. Akzeptiere ich etwa, meinen Freund an meinen Vater zu verlieren? Und meinen Vater an Taichi?

„Wir hatten keinen Sex, Yamato. Aber ich gebe zu, dass ich ihn küsste und er letztlich darauf einging, vermutlich weil er merkte, dass ich auf diese Weise bei ihm nach Halt suchte.“

„… den ich dir nicht geben kann“, bringe ich bitter hervor.

„Wie auch, wenn du selbst nicht sicher stehen kannst.“ Verzweifelt nehme ich meinen Freund fest in die Arme.

„Sag mir, was ich tun soll. Um dich glücklich zu machen, würde ich alles andere aufgeben. Ich konsumiere keine Drogen mehr, ich schlafe mit niemandem außer dir, ich verletze mich nicht mehr selbst, ich esse…“

„Hör auf, Yamato. Es reicht. Nichts davon könntest du ab sofort einhalten. Das verlange ich auch nicht. Die Angst, die gerade aus dir spricht, bereitet mir allerdings Sorgen. Vielleicht schaffst du es, dich ein wenig abzulenken. Singst du für mich?“ Ich spüre, wie mein Gesicht errötet. Beschämt löse ich mich von meinem Freund, ohne ihn anzusehen.

„Warum verlangst du gerade das?“

„Ich verlange nichts, es ist lediglich eine Bitte, die du ablehnen kannst.“ Tai lächelt, ich gebe nach.

„Meine Stimme wird zittern“, wende ich noch einmal ein, nehme aber bereits die Gitarre in die Hand und setze mich auf das Bett. Taichi nimmt auf dem Sofa Platz und zu meiner Erleichterung schließt er die Augen. Ein tiefes Gefühl der Zuneigung überdeckt für einen kurzen Moment meine Angst. Etwas zuversichtlicher schlage ich die ersten Saiten an.
 

Das Flüstern,

das sich in der lebhaften Menschenmenge verliert,

verwischt die Erinnerungen,

welche zu meinen Füßen verstreut sind.
 

Ziellos streife ich durch die Gegend,

das Funkeln der Straße dröhnt einseitig

und wirft Licht auf meinen Körper,

der bald erfriert.
 

Die kaltherzige Zeit lässt meine Träume herunterfallen,

sie schlängeln sich durch meine Hand.

Ich zähle Wünsche und als ich erwache,

sehe ich dein Spiegelbild in einer schimmernden Illusion.

Eine undeutliche Silhouette,

die mir meinen Weg zeigte.
 

Ich will wieder die Anmut haben,

zu gestehen,

dass die Angst mich mitreißt.

Noch will ich keine auf ewig glückliche Zukunft.
 

Die Worte,

die ich dir zukommen lassen will,

verbleiben ein Selbstgespräch.

Spurlos verfalle ich in dem Alltag.
 

Mit zitternden Fingern stapele ich meine Träume auf,

ohne Atem,

doch sie stürzen ein.

Meine Sicherheiten sind zu unsicher.

Woran soll ich denn glauben,

um dich zu treffen?

Silhouette von jenem Tag,

du verschwindest im weißen Licht.
 

Ich bewundere diese Jahreszeiten,

die uns weich färben:

Das Leben, den Winter, den Traum.

Ich bleibe stehen und sie entführen mich.
 

Die Sehnsucht in meiner Brust ist starr vor Kälte.

Auch sie kann im Wind erlöschen.

Auch sie kann zurückgelassen werden.
 

Die kaltherzige Zeit bleibt in den Träumen hängen,

nimm sie in die Hand.

Ich zähle Wünsche und als ich erwache,

sehe ich dein Spiegelbild in einer schimmernden Illusion.

Eine undeutliche Silhouette,

die mich führt.
 

Die letzten Töne verklingen und weichen einer unangenehmen Stille. Ich stelle das Instrument beiseite und betrachte verunsichert meine Füße. Die Angst ist nach wie vor präsent, schlimmstenfalls schwindet sie erst, wenn der Wirkstoff des Neuroleptikums von meinem Körper vollständig abgebaut wurde. Oder gar nicht mehr. Im Flur höre ich die Wohnungstür ins Schloss fallen.

„Das Lied, ich kenne es. Aber ich kann es nicht einordnen“, bemerkt Taichi plötzlich.

„Garantiert hast du von der Band schon des Öfteren etwas gehört. Drei Jungs, die vielversprechendsten Newcomer derzeit. Vor einigen Jahren, als sie allerdings noch zu zweit waren, lernte ich sie bei einem Contest kennen. Damals waren sie genauso unbekannt wie die Teen-Age Wolves, aber sie hatten bereits eine gewisse Anziehungskraft.“ Ich lächle leicht. „Gewonnen hatten letztlich weder sie noch wir.“ Das Lächeln schwindet. Betrübt suche ich Blickkontakt zu meinem Freund. „Sie haben nicht aufgegeben. Ich frage mich, ob die Teen-Age Wolves es auch so weit geschafft hätten, wenn…“

„Vermisst du die Band, die Auftritte, die Musik allgemein?“

„Manchmal schon“, gebe ich zu.

„Ruf sie an. Du hast doch die Telefonnummern der Jungs. Vielleicht haben auch sie Lust, weiterzumachen.“ Die Zuversicht in Tais Stimme ist nicht zu überhören, sodass ich ihn nicht enttäuschen möchte, indem ich widerspreche.

„Ich denke darüber nach. Mein Vater ist zurück, oder?“

„Ja.“ Taichi steht auf und kommt auf mich zu. Sanft küsst er mich auf die Stirn. „Kommst du mit frühstücken?“ Obwohl ich keinen Hunger habe, nicke ich. Um diese schreckliche Angst loszuwerden und Tai nicht zu verlieren, tue ich alles. Wenn ich bin, wie er es verlangt, wird bestimmt alles gut.
 

Ruhig sitze ich auf einer Parkbank, die Augen halte ich geschlossen. Mein Gesicht wird von der Sonne beschienen und die Wärme kitzelt sanft meine Haut. Dennoch ist es für August zu kühl. Ich bin froh über die angenehmen Temperaturen, da ich wegen meiner langen Ärmel weniger abschätzig gemustert werde. Zwar verblassen die Narben allmählich und neue Verletzungen kamen in letzter Zeit nicht hinzu, aber sichtbar sind sie trotzdem. Und sie werden es auch immer bleiben. Ich öffne meine Augen und schaue gedankenversunken in den blauen, fast wolkenfreien Himmel. Es ist seltsam, aber mein Leben verläuft momentan ungewohnt harmonisch. Nachdem ich das Neuroleptikum überdosiert hatte und die daraus resultierende, undefinierbare Angst allmählich nachließ, schwor ich mir, alles zu tun, um nie wieder so empfinden zu müssen. Die Psychopharmaka nehme ich wie verordnet, das GHB schaffte ich zu entziehen und konsumierte es zuletzt vor knapp drei Monaten. Nur Heroin spritze ich nach wie vor. Regelmäßig. Aller zwei Tage. Mein Freier wies mich jedoch darauf hin, dass er die Dosis definitiv nicht weiter erhöht. Zu meinem eigenen Schutz. Gleichzeitig drohte er, meinen Vater oder Taichi über meinen Heroinkonsum aufzuklären, sollte ich versuchen mir anderweitig Stoff zu besorgen. Ausnahmsweise bin ich dankbar für die erzieherische Kontrolle und somit ein Stück weit Verantwortung abgeben zu können. Andererseits ist gerade Kontrolle momentan eher ein Problem. Noch nie habe ich meinen Freier so verzweifelt erlebt wie in letzter Zeit. Er meinte, er habe Angst davor, die Beherrschung zu verlieren und seinen Sohn zu vergewaltigen, da sein Verlangen, mit dem Kleinen zu schlafen, immer stärker werde. Aus diesem Grund bin ich oft, wenn seine Frau nicht da ist, bei ihm zu Hause, um ihn mit seinem Sohn nicht allein zu lassen. Meist erledige ich Aufgaben für die Uni, während er sich um den Jungen kümmert. Gelegentlich beobachte ich die beiden und muss zugeben, dass ihre Beziehung zueinander wirklich ungewöhnlich intensiv ist. Der Kleine liebt seinen Vater sehr, aber ich sehe auch eine gefährliche Berechtigung in der Angst meines Freiers. Mittlerweile kenne ich ihn und weiß, wie quälend die vorherrschende Situation für ihn ist. Nur leider habe ich kaum Möglichkeiten, ihm zu helfen. Ich versuche für ihn da zu sein und so gut es geht aufzupassen, damit nichts passiert, zudem mache ich, wann immer er es verlangt, die Beine für ihn breit, doch ich fürchte, auf die Dauer reicht das nicht. Tränen füllen meine Augen. Warum bin ich so unglaublich nutzlos? Immer bereite ich allen Probleme, aber helfen kann ich niemandem. Inzwischen denkt mein Freier schon über eine Scheidung nach, um seinen Sohn zu schützen. Ich versuche ihn davon abzubringen, denn meiner Meinung nach tauscht er nur ein schlimmes Ereignis gegen ein anderes aus. Zudem scheint der Junge eher vaterorientiert zu sein und würde im Falle einer Scheidung wahrscheinlich bei diesem wohnen wollen. Wie würde der Kleine eine Ablehnung seines Vaters wohl verkraften? Deprimiert hole ich aus meiner Jackentasche eine Zigarette, entzünde sie und atme den Rauch tief in meine Lungen. Ich muss an meinen eigenen Vater denken. Meine Gefühle für ihn, meine Sehnsucht und mein Verlangen. Als er zuletzt wegen Taichis Entzug nach Hause kam, ging ich ihm so gut ich konnte aus dem Weg, war kalt und abweisend. Es tat weh. Jedes Mal, wenn er versuchte sich mir zu nähern, mich verstehen wollte oder ich seine Traurigkeit sah. Dann musste er zurück nach Berlin. Ich verabschiedete ihn nicht. Jetzt bereue ich es. Ich bereue mein gesamtes Verhalten ihm gegenüber. Aber ich weiß, dass ich mit ihm über unsere Beziehung nicht hätte sprechen können, da ich meine Emotionen sowie mein Handeln kaum im Griff habe. Vermutlich hätte ich am Ende meinen Vater wieder irgendwie dazu gebracht, mit mir zu schlafen, ohne Klarheit über unser Verhältnis zueinander zu schaffen. Eine Klarheit, die ich nicht brauche, da ich mir meiner Zuneigung bewusst bin. Ich liebe meinen Vater, möchte ihn küssen, von ihm berührt und genommen werden. Mir fällt auf, dass ich nie darüber nachdachte oder ihn fragte, warum er letztlich auf mich eingeht und mit mir schläft, obwohl es gegen seine Moral verstößt. Ich ziehe an meiner Zigarette. Hofft er tatsächlich, dadurch verhindern zu können, dass ich mich fremden Männern hingebe? Waren seine Bemerkungen dahingehend doch ernst gemeint? Vielleicht ist es besser, die Antwort nicht zu kennen. Es würde ohnehin nichts an den vergangenen Geschehnissen ändern. Den derzeitigen Zustand unserer Beziehung ertrage ich allerdings nicht auf Dauer. Ich fühle mich schuldig wegen meines Verhaltens und meinem Vater schrecklich entfremdet. Hinzu kommt, dass ich sein Verhältnis zu Taichi noch immer nicht einschätzen kann. Beide gaben zu Sex miteinander gehabt zu haben. Einmal. Später sah ich, wie sie sich auf unserem Sofa im Wohnzimmer innig küssten und mit ihren Händen unter die Kleidung des Anderen glitten. Sind meine Zweifel in diesem Fall wirklich noch eine Frage des Vertrauens? Dabei weiß ich nicht einmal, wem meine Eifersucht eigentlich gilt. Trotzdem ist es mir lieber, die zwei Menschen, die ich liebe, gehen miteinander ins Bett, statt es mit Fremden zu treiben. Besonders die Tatsache, dass mein Freund Frauen vögelt, widert mich an. Deshalb erzählte ich Taichi nicht, dass Sora Studentin an meiner Uni ist und ich versuche sie mit allen Mitteln von ihm fernzuhalten. Hinzu kommt die gemeinsame Vergangenheit der beiden. Ich habe ohnehin Angst, Tai an eine Frau zu verlieren. Aber ihn ausgerechnet an diese Frau zu verlieren wäre unerträglich für mich. Taichi gehört mir. Bis zum Tod. Beiläufig lasse ich den Rauch zwischen meinen Lippen entweichen. Ich lehne mich vor, stütze meine Ellenbogen auf meine Oberschenkel und lasse meinen Blick über die Grünanlagen schweifen. Noch ist Tai nirgends zu sehen. Warum nur ließ ich mich von ihm überreden, an einem Freitag um diese Uhrzeit nach Akihabara zu fahren? Seufzend schaue ich zu Boden, auf meine Schuhe. Wegen der Veröffentlichung eines Videospiels. Durch endlose Menschenmassen. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich diese arglose Seite an ihm unglaublich süß finde. Er wirkt so unschuldig. Generell scheint es Taichi besser zu gehen. Seit ich ihn vor einigen Monaten zu dem Entzug zwang, hat er nach meiner Beobachtung keinen Alkohol mehr getrunken. Er konzentriert sich jetzt komplett auf sein Studium, weshalb wir uns seltener sehen können. So kann ich allerdings mehr Zeit bei meinem Freier verbringen, ich würde es mir nie verzeihen, wenn aufgrund meiner Abwesenheit etwas passiert. Ansonsten verläuft die Beziehung zu Taichi beinahe beunruhigend konfliktfrei. Man könnte sagen, dass wirklich alles gut geworden ist. Fühlt es sich so an, glücklich zu sein? Wie mit Beruhigungsmitteln zugedröhnt, dumpf und fremdgesteuert? Ich habe mich vorerst mit dem Leben abgefunden. Aber ich werde gelebt. Ist das der Zustand, der von der Gesellschaft als normal bezeichnet wird? Ich lasse die Zigarette zu Boden fallen und betrachte einige der mir unbekannten Individuen. Sind sie überhaupt einzigartig? Am Ende geht es lediglich um Anpassung, Gleichheit und Gemeinschaft, da nur so ein Zusammenleben funktionieren kann. Der Preis jedoch ist hoch, wenn man mit der Intensität seiner Gefühle zahlen muss. Den meisten Menschen scheint das egal zu sein. Oder sind sie eher klug, weil ihnen bewusst ist, dass gedämpfte Emotionen weniger Schmerz bedeuten? Schmerz. Möglicherweise kann ich mit Hilfe der Rasierklinge meine innere Paralyse zerschneiden und mein Leben endlich spüren. Allerdings bedeutet das, einen Schritt zurück zu machen, und die Gefahr eines gänzlichen Rückfalls ist groß. Vollkommen überfordert von mir selbst vergrabe ich mein Gesicht in meinen Händen. Was soll ich tun? Ist ein geordnetes Leben nicht einfacher? Bin ich damit glücklich? Nein. Diese Frage ist überflüssig. Ich darf Taichi und meinem Vater mein altes Ich nicht erneut antun. Seufzend zünde ich mir eine weitere Zigarette an. Auch wenn ich das Leben nicht spüre und ich mir selbst fremd bin, weiß ich, dass es mir gut geht. Es gibt keine Probleme. Alles ist gut. Mir geht es gut. Ich bin vermutlich glücklich.
 

Es herrscht Stille im Raum. Nur ein stetes Rascheln, gelegentliche Funksprüche oder Alarmsirenen mit einhergehendem Schusswaffenlärm sind zu hören. Ich liege auf meinem Sofa und beobachte Taichi beim Spielen, der mit mir zugewandtem Rücken vor mir auf dem Boden sitzt. Wenn er so nah ist, möchte ich ihn berühren, seine Haut auf meiner spüren und von seinem Duft umhüllt werden. Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, drehe mich auf den Rücken und starre zur Decke. Eine Melodie kommt mir in den Sinn, ich schließe die Augen, um mich ganz darauf einlassen zu können.

„Dein Verhalten beunruhigt mich, Yamato“, meint Tai plötzlich, während er seine Deckung aufgibt und sich den Weg freischießt.

„Warum?“ Ich öffne meine Augen wieder, schaue zur Seite und verfolge das Geschehen auf dem Bildschirm.

„Was fühlst du?“ Irritiert betrachte ich meinen Freund, dessen Aufmerksamkeit noch immer auf das Spiel gerichtet ist.

„Wie meinst du das?“, frage ich nach, als wüsste ich nicht, worauf Tai anspricht.

„Mir kommt es so vor, als würdest du lediglich existieren.“ Hektisch lädt er seine Waffe nach. „Hab ich nicht recht, Yamato?“

„Es ist also offensichtlich“, stelle ich unterkühlt fest.

„Nein. Wer dich nicht kennt, wird vermutlich denken, dass es dir gut geht. Aber ich kenne dich. Du versuchst, möglicherweise unbewusst, deine Gefühle und Empfindungen abzutöten, um auf deine Umwelt ausgeglichen zu wirken. Bis zu einem gewissen Punkt funktioniert das auch, zumindest bei Fremden, aber was passiert, wenn dieser Punkt überschritten wird? Davor habe ich Angst. Natürlich finde ich es bemerkenswert, was du in den letzten Monaten geschafft hast. Du fügst dir keine Schnittwunden mehr zu, isst für deine Verhältnisse halbwegs normal und bist, abgesehen vom Nikotin, drogenfrei. Doch ehrlich gesagt ist mir der Preis dafür zu hoch. Ich möchte meinen Yamato und keine leblose Puppe haben.“ Taichi bleibt nach wie vor von mir abgewandt, erschießt reihenweise feindliche Soldaten.

„Entschuldige“, ist das Einzige, was ich meinem Freund entgegne. Ich drehe mich wieder auf den Rücken und starre erneut die Decke an. Tai schweigt. „Wie soll ich mich verhalten?“

„Verdammt, genau das meine ich. Du bist momentan wie eine Maschine, die nur stumpfsinnig agiert, Befehle ausführt. Warum verfällst du immer gleich in Extreme? Entweder empfindest du zu stark oder du empfindest nichts. Das muss doch auch für dich anstrengend sein, oder?“ Mein Freund drückt die Pause-Taste, bleibt aber unbewegt sitzen. Es ist still im Raum. Viel zu still.

„Dazwischen“, unterbreche ich das Schweigen. „Ein Dazwischen bedeutet doch weder Minimum noch Maximum, also Unvollkommenheit. Demnach ist es besser, etwas anzufangen, ohne es zu beenden? Oder es zwar zu beenden, aber nur die Hälfte gemacht zu haben? Meine Gefühle für dich dürfen somit keine Gleichgültigkeit sein, ebenfalls keine Liebe oder Hass.“ Ich überlege einen Moment. „Willst du mir auf umständliche Weise zu verstehen geben, dass du statt unserer Beziehung lieber eine Freundschaft hättest?“

„Du verstehst anscheinend überhaupt nichts.“ Tai klingt genervt und drückt die Play-Taste. Ich betrachte eine Weile die Rückansicht meines Freundes.

„Ist die Unterhaltung für dich beendet?“

„Mit dir kann man im Augenblick nicht reden.“

„Wie meinst du das?“, frage ich verdutzt.

„In diesem Zustand eine vernünftige Diskussion mit dir führen zu wollen ist sinnlos. Man erreicht dich ohnehin nicht.“

„Wir unterhalten uns gerade vollkommen normal und ruhig“, erwidere ich gelassen.

„Darum geht es nicht… beziehungsweise doch, denn genau dieses Auftreten von dir ist das Problem. Nichts scheint dich in irgendeiner Weise ernsthaft zu tangieren.“ Ich seufze.

„Manchmal denke ich, die Beziehung mit Akito war leichter.“ Erschreckt setze ich mich auf, als Tai den Kontroller auf den Boden wirft und dann zu mir schaut. An seinem Blick erkenne ich, dass ich ihn mit meiner Bemerkung unglaublich verletzt habe. Ohne ein Wort zu sagen, verlässt mein Freund das Zimmer. Normalerweise betäubte er sich in solchen Situationen mit Alkohol, weshalb ich rasch aufstehe und ihm folge. Er sitzt in der Küche, mir zugewandt am Tisch, seine Arme auf die Platte gestützt, das Gesicht von seinen Händen verdeckt. Die Geräusche der eingeschalteten Kaffeemaschine wirken unnatürlich laut.

„Tai…“

„Ich hasse es, wenn du mich mit diesem Schwanzlutscher vergleichst. Zudem ist er tot, verdammt!“ Abschätzig betrachte ich meinen Freund, der weiterhin in seiner Haltung verharrt.

„Ja, er ist tot. Und du bist ebenso ein Schwanzlutscher“, bemerke ich tonlos. „Denn du lutschst meinen Schwanz.“

„Nein, Yamato. Nicht mehr.“ Taichi schaut mich an. Traurigkeit zeichnet sich in seinen Augen ab, zugleich lächelt er mich an. „Wir haben doch schon lange keinen Sex mehr. Seit meinem Entzug fasst du mich nicht mehr an. Soll ich wieder trinken, damit du mit mir schläfst? Oder wirst du von perversen, alten Säcken so sehr durchgevögelt, dass du auf mich keine Lust mehr hast?“

„Ich gebe mich nur noch einem Freier hin“, korrigiere ich meinen Freund.

„Ja, einem Kinderficker.“ Seine Worte sind voller Abscheu.

„Er ist kein Kinderficker“, entgegne ich ruhig. „Und wenn du keine Ahnung hast, Taichi, solltest du besser deinen Mund halten. Außerdem dachte ich, wir sprechen über uns und nicht über meinen Freier.“

„Warum nimmst du so ein widerliches Arschloch in Schutz? Bist du wirklich so verblendet? Merkst du nicht, wie hörig du ihm mittlerweile bist? Wach endlich auf, Yamato! Er macht dich von sich abhängig. Das andere betreffend gebe ich dir recht. Wir sprechen über uns. Leider ist dieser Wichser zwangsläufig ein Bestandteil, immerhin fickt er meinen Freund.“ Schweigend nehme ich zwei Tassen aus dem Schrank und fülle sie mit Kaffee. Ich stelle sie auf den Tisch und nehme Tai gegenüber Platz.

„Ich liebe dich“, sage ich.

„Lass es, Yamato. Wenn deine Worte derart emotionslos klingen, dann sag lieber nichts.“ Nachdenklich nehme ich einen Schluck der heißen Flüssigkeit.

„So wie es jetzt ist, muss es auch bleiben, Taichi. Gefällt es dir nicht, bring es zu einem Ende. Und werde glücklich.“ Mit starrem Blick steht mein Freund auf, kommt auf mich zu und schlägt mir schmerzhaft ins Gesicht. Dann sackt er kraftlos, mit gesenktem Kopf, in sich zusammen. Anscheinend gibt er auf.

„Was muss ich tun, um meinen Yama wiederzubekommen? Ich vermisse ihn so sehr.“ Reglos schaue ich auf Tai herab. Offenbar habe ich es geschafft. Ich fühle nichts. Trotzdem oder gerade deshalb beuge ich mich zu Tai und nehme ihn in den Arm. Er weint.

„Es tut mir leid“, flüstere ich. Vermutlich sind derartige Phrasen im Augenblick angebracht, selbst wenn ich eigentlich nichts bereue. Ohnehin ist das Einzige, woran ich momentan denke, Heroin. Ich ertrage die Realität einfach nicht. Egal wie oft ich es versuche oder wie sehr ich es mir wünsche. Für meinen Vater. Für Taichi.
 

Rötlich-goldenes Licht scheint durch das Fenster in mein Zimmer. Es umhüllt mich mit einer angenehmen, sanften Wärme, die jedoch mit Einsetzen der Dunkelheit durch kühle, von mir ersehnte Nachtluft verdrängt wird. Ich sitze mit dem Rücken an mein Bett gelehnt auf dem Boden, in der Hand eine Rasierklinge. Allein dieses kleine Metall zwischen meinen Fingern zu spüren ist unbeschreiblich und erleichternd vertraut. Seit langem fühle ich wieder eine Art Stimulation, Erregtheit, sogar Glück, welches nicht heroininduziert ist. Allerdings erscheint diese Empfindung beinahe nichtig, wenn man es mit einem, durch Heroin herbeigeführten, Glücksgefühl vergleicht. Ich betrachte die Klinge liebevoll, dann schiebe ich meinen Ärmel nach oben und gleite mit der Schneide leicht über die Unebenheiten der vernarbten Haut. Vor ein paar Tagen meinte Taichi zu mir, er wolle seinen Yama zurück. Seither hatten wir keinen Kontakt mehr. Ich verstehe weder, was er mit dieser Forderung meinte, noch weiß ich, wie ich mich jetzt verhalten soll. Aber ich weiß, dass ich ihn sehen will, ihn bei mir haben und berühren will. Ich weiß, dass ich ihn liebe, auch wenn ich es momentan nicht fühlen kann. Für Tais Unverständnis habe ich jedoch Verständnis. Es fällt schwer, etwas zu glauben, das man nicht kennt, von dem man dachte, es wäre nicht möglich, nicht existent oder was sich, logisch betrachtet, als Gegensätzlichkeit an sich eigentlich ausschließt. Der Gedanke an meinen Freund erregt mich und verstärkt die Sehnsucht, mit ihm schlafen zu wollen, zusätzlich. Ich lege die Rasierklinge neben mich auf den Boden, öffne stattdessen meine Hose, lege meinen Kopf in den Nacken, wobei er auf der Matratze zum Liegen kommt und schließe die Augen. Mit der Imagination, meine Hand wäre die Taichis, hole ich mir einen runter. Meine stockende Atmung und mein unterdrücktes Stöhnen sind die einzigen Geräusche im Raum. Als ich die provozierte Feuchtigkeit in meiner Hand spüre, verharre ich noch einen Augenblick. Dann öffne ich die Augen. In meinem Zimmer ist niemand. Ich bin mit mir allein. Voller Abscheu betrachte ich meine Hand, an der mein eigenes Sperma klebt. Ich bin wirklich das Letzte. Ekelhaft und pervers. Als Stricher fühlte ich mich besser. Weil ich mich schlechter fühlte. In den meisten Fällen ging es nicht um Sex. Wurde ich von alten Männern entsprechend ihrer widerlichen Fantasien gefickt, war ich das, was ich bin, und bekam, was ich verdiente. Für mich stellt das keinen Betrug an meinem Freund dar, es ist eher eine Art Selbsterziehung, Maßregelung. Tai jedoch sieht das anders, weshalb ich mit der Prostitution nicht wieder anfangen werde. Ausschließlich mein Freier besorgt es mir noch. Ausschließlich er. Zwar weiß dieser mittlerweile sehr genau, wie er mit mir umgehen, mich anfassen muss und nimmt mich oft sehr hart, aber er ist nicht Taichi. Nur bei ihm habe ich das Gefühl, allein durch sein Berühren meines Körpers zu kommen. Nur er ruft schmerzhaft intensive Lust in mir hervor. Nur ihn umgibt dieser beängstigende und zugleich aufregende Hauch von Wahnsinn. Erneut bin ich allein durch meine Gedanken erregt. Ich will ihn so sehr! Mit aller Kraft beiße ich auf meine Lippen, sodass ich aufgrund einer kleinen Wunde Blut schmecke. Verzweifelt schaue ich auf die Rasierklinge, die noch immer neben mir auf dem Boden liegt. Ich lächle bedauernd. Diese Lösung wäre zu einfach. Tai anzurufen ist allerdings erst recht keine Option. In meiner jetzigen Verfassung könnte ich mich mit Sicherheit nicht mehr beherrschen. Dabei darf es nicht noch einmal passieren. Um jeden Preis muss ich Taichi vor mir beschützen, denn alles, was geschah, ist meine Schuld. Die erste Vergewaltigung und alle, die folgten, trieben ihn zu Gewalt, Selbstverletzungen, vermutlich sogar Selbstmordversuchen und letztlich in die Alkoholabhängigkeit. Er darf in diese Welt, die nicht mehr seine ist und auch nie wieder sein sollte, nicht zurückfallen, nur weil ich erneut Hand an ihn lege. Ich niese und werde dadurch unerwartet aus meinen Gedanken gerissen. Träge stehe ich auf, hole aus meinem Schrank eine Hose sowie Shorts und gehe ins Bad, um meine Hände zu waschen, mich zu säubern und umzuziehen. Die beschmutzte Kleidung werfe ich auf einen angehäuften Wäscheberg. Allgemein ist die Wohnung in einem desolaten Zustand. Nur das Zimmer meines Vaters und das Wohnzimmer sind unangetastet. In der Luft ist noch immer ein Hauch seines Duftes. Ich vermisse meinen Vater sehr. Das Betreten einer der beiden Räume würde meine Sehnsucht nur verschlimmern, weshalb ich diesen Teil der Wohnung lieber meide. Ich gehe zurück in mein Zimmer, hebe die unbenutzte Rasierklinge auf und lege sie auf den Tisch. Am geöffneten Fenster atme ich tief ein. Die Luft vom Tag ist noch etwas stickig, aber es weht ein leichter Wind, ein Vorbote, der eine kühlere Nacht verspricht. Vielleicht sollte ich ein wenig nach draußen gehen, um den Kopf freizubekommen. Ein wunderbar funktionierender Skill, der aber so abwegig intelligent, beinahe genial ist, dass er mir erst in der Klinik beigebracht werden musste. Mit einem bitteren Lachen zünde ich mir eine Zigarette an. Das Nikotin beruhigt ein wenig, doch es reicht nicht. Meinen Freier möchte ich derzeit nicht um Hilfe bitten. Er hat genug eigene Probleme, die zudem wesentlich schwerwiegender sind. Kurz überlege ich, während ich den Rauch der Zigarette leicht schmerzend in meinen Lungen spüre. Viele Möglichkeiten habe ich nicht mehr. Meine Mutter und Takeru kommen ohnehin nicht in Frage. Ich möchte die Beiden nicht auch noch mit mir belasten. Nach einigen weiteren Zügen werfe ich den übriggebliebenen Filter aus dem Fenster. Erneut legt sich ein Lächeln auf meine Lippen, eine Mischung aus Freude, Traurigkeit und Resignation. Wem versuche ich eigentlich die ganze Zeit etwas vorzumachen? Muss ich mich selbst belügen? Brauche ich eine Rechtfertigung vor meinem eigenen Ich? Wozu denke ich über Lösungen nach, die von vorn herein nie Lösungen waren? Nie sein konnten, weil ich ihnen keine Chance gab. Weil ich sie nicht als Lösungen wollte. Weil ich weiß, dass nur Heroin mir geben kann, wonach ich suche, was ich mir wünsche und ersehne. Doch auch dieses Gefühl des vollkommenen Glücks ist bei Weitem nicht mehr so stark und befriedigend wie am Anfang. Eigentlich müsste ich die Dosis erhöhen, was nur möglich wäre, wenn ich meinen Freier hintergehen würde. Allerdings ist der wachsam geworden. Er weiß, wie gefährlich der Abgrund ist, an dem ich mich befinde. Und ihm ist bewusst, dass er selbst mich dorthin geführt hat. Ich möchte nicht in die endlose Tiefe abstürzen. Ich möchte bei meinem Freier bleiben, der mit aller Kraft versucht mich festzuhalten. Routiniert bereite ich den sehnsüchtig erwarteten Schuss vor. Dann setze ich mich wieder an mein Bett auf den Boden, lege das Fixierband um meinen Arm und ziehe es fest. Ich betrachte meine Armbeuge, die mir einen weiteren Grund aufzeigt, weshalb ich nicht mit Taichi schlafen kann. Die Vernarbungen der Einstichstellen sind mittlerweile auch für Laien deutlich sichtbar und entsprechende Rückschlüsse leicht zu ziehen. Doch eigentlich ist es egal. Keiner der eben gedachten Gedanken hat eine Bedeutung. Mein Leben halte ich in meiner Hand. Und gleich durchströmt es meinen Körper. Befreit mich von mir und der Welt. Dann ist alles gut.

Ich betätige die Klingel der Wohnung, neben deren Tür die Schriftzeichen für Acht und Gott angebracht sind.

„Yamato!“ Scheinbar freudig überrascht lächelt Tais Mutter mich an, als sie mir nach kurzer Zeit öffnet. „Ich freue mich, dich zu sehen. Dein letzter Besuch ist lange her. Aber du siehst besser aus. Zwar bist du nach wie vor sehr dünn, aber nicht mehr so schrecklich dürr wie damals.“ Verlegen senke ich meinen Blick, mustere schweigend meine Schuhe. „Taichi ist noch nicht aus der Uni zurück, er sollte allerdings bald da sein. Komm rein, du musst nicht draußen auf ihn warten.“

„Vielen Dank. Ich möchte jedoch keine Umstände bereiten oder stören.“

„Mach dir darüber keine Gedanken“, begegnet sie mir herzlich. Ich verbeuge mich tief und betrete dann die Wohnung. Im Flur ziehe ich meine Schuhe aus. „Möchtest du ein Stück Kuchen? Er ist gerade erst fertiggeworden und noch warm.“

„Ja, gerne. Danke.“ Sogleich geht Tais Mutter in die Küche.

„Setz dich, Yamato“, ruft sie mir ermunternd zu. „Kaffee?“ Sie schaut fragend zu mir. Ich nicke und nehme am Esstisch Platz. „Taichi erzählte mir, dass du in Ueno an der Musik- und Kunstakademie studierst.“ Sie stellt den Teller sowie die Tasse vor mir ab und leistet mir Gesellschaft, indem sie sich zu mir setzt. Mit zugeschnürter Kehle starre ich das Stück Kuchen an. „Magst du keinen Schokoladenkuchen?“, höre ich Tais Mutter fragen.

„Doch… es ist… Taichis Lieblingskuchen.“

„Stimmt. Deshalb habe ich ihn gebacken. Er wirkt in letzter Zeit so bedrückt. Vielleicht kann ich ihn damit ein wenig aufmuntern.“ Sie lächelt. „Jetzt denke ich allerdings, dass deine Anwesenheit viel mehr bewirken wird.“ Schuldbewusst schiebe ich mir etwas von dem Kuchen in den Mund und kaue darauf herum. Trotz der Süße bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Der Kaffee ist für mein Empfinden etwas schwach, aber dahingehend bin ich kein Maßstab. „Kommst du mit dem Studium gut zurecht? Du hattest am Anfang recht viel versäumt, oder?“ Den Grund kennt sie genauso gut wie ich, dennoch spricht niemand ihn aus.

„Ja. Den Stoff habe ich nachholen können. Ich denke, es läuft an sich ganz gut.“

„Das freut mich wirklich. Ist dein Vater noch immer im Ausland tätig?“ Plötzlich überkommt mich das Gefühl, an dem Essen zu ersticken. Bewusst meide ich den Blickkontakt zu der Mutter meines Freundes. Ich weiß, dass sie es unverantwortlich findet, mich allein wohnen zu lassen. Dafür verurteilt sie meinen Vater. Wie würde sie wohl reagieren, wenn sie wüsste, was er ihrem Sohn bedeutet? Besonders die Tatsache, dass Tai für meinen Vater die Beine breit machte, sich von ihm hingebungsvoll vögeln ließ, dürfte sie ziemlich schockieren.

„Ja“, antworte ich knapp. Der Gedanke an meinen Vater löst ungewollt starkes Verlangen in mir aus, welches ich seit längerem nahezu erfolglos zu unterdrücken versuche. Ich vermisse ihn, seine Nähe, die mir Halt gibt, seine Berührungen, die mir Geborgenheit vermitteln, seine vertraute Stimme, die mich beim Sex unglaublich erregt. Wenn ich verhindern möchte, ins Bad gehen zu müssen, sollte ich mich emotional abkühlen und meine Körperkontrolle wiedererlangen. „Der Kuchen schmeckt wirklich sehr gut, Frau Yagami.“ Ich lächle.

„Das freut mich. Ich hoffe, Taichi schmeckt er auch.“ Verwundert schaut sie zur Uhr. „Eigentlich müsste er längst hier sein.“ Ihre Worte erzeugen die Angst in mir, dass etwas passiert ist. Unruhig rutsche ich auf dem Stuhl herum, die Wohnungstür im Blick behaltend. Jedes kleine Geräusch zieht sofort meine Aufmerksamkeit auf sich. „Vielleicht muss er noch etwas Wichtiges erledigen oder er ist wieder mit seinen Kommilitonen unterwegs. Training hat er heute jedenfalls nicht“, überlegt Tais Mutter laut. Das Leben meines Freundes geht weiter. Auch ohne mich. Wahrscheinlich sogar besser. Es war egoistisch, herzukommen. Ich stehe auf und verbeuge mich.

„Bitte entschuldigen Sie meinen unangekündigten Besuch. Vielen Dank für Ihre herzliche Gastfreundschaft.“

„Du willst gehen? Tai…“

„Auf Taichi zu warten, ohne zu wissen, wann er zurück sein wird, erscheint mir wenig sinnvoll.“ Im Flur ziehe ich meine Schuhe an.

„Yamato…“ Die Mutter meines Freundes klingt traurig und besorgt.

„Es ist alles gut.“ Wieder lächle ich. Dann verlasse ich die Wohnung und laufe langsam die Treppen nach unten. Heftig balle ich meine Hand zur Faust, sodass sich meine Fingernägel schmerzhaft in die Haut meiner Handinnenfläche bohren. Taichi gehört mir. Und ich hasse es, wenn er Zeit mit Fremden verbringt. Ich hasse es, wenn er nicht bei mir ist. Abrupt bleibe ich stehen und starre auf meinen Freund, der mir entgegenkommt und ebenfalls innehält. Schweigend bewege ich mich auf ihn zu, dränge ihn mit meinem Körper gegen das Geländer und presse meine Lippen auf seine, wobei ich meine Zunge tief in seinen Mund schiebe. Erschreckt zieht Tai an meinem Hemd, um mir Einhalt zu gebieten, doch seine Gegenwehr ebbt schnell ab und er lässt den Übergriff unbewegt geschehen.

„Taichi“, hauche ich mit zitternder Stimme.

„Warum hast du eine Woche gebraucht, um zu mir zu kommen?“ Als hätte ich Angst, er würde verschwinden, drücke ich den Körper meines Freundes fest an mich.

„Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Die Angst, alles falsch zu machen, lähmte mich.“ Dass ich die letzte Woche depressiv vor mich hinvegetierte, die Wohnung kaum verließ, nicht einmal zur Uni ging und Sekunde um Sekunde den nächsten Herointrip herbeisehnte, erwähne ich nicht. Letztlich verdanke ich es meinem Freier, dass ich die Kraft fand, mich wieder aufzuraffen, da er mich daran erinnerte, was ich im Begriff war aufzugeben. Zudem zog er die Konsequenz, meine Drogendosis weiter zu reduzieren, was ich für den Augenblick unkommentiert hinnahm, aber mit Sicherheit nicht akzeptiere.

„Yamato, lass mich los. Gehen wir nach oben und in mein Zimmer.“ Ich gebe meinen Freund frei und folge ihm zurück in die Wohnung, in der ich bis eben noch auf ihn wartete.

„Ah, Tai. Wenn du dich beeilst, holst du Yama…“ Sie unterbricht sich, als sie von der Küche in den Flur schaut und mich hinter meinem Freund stehend erblickt. „Yamato…“

„Wir sind in meinem Zimmer, Mama“, sagt Tai mit Nachdruck, vermutlich um zu verdeutlichen, nicht gestört werden zu wollen. Nachdem wir die Räumlichkeit betreten haben, dreht mein Freund den Schlüssel im Schloss und presst mich grob gegen die Tür.

„Taichi, was…?“

„Am liebsten würde ich dir eine reinhauen, du scheinheiliger Mistkerl! Du hattest keine Angst, herzukommen, du warst einfach nur zu zugedröhnt!“

„Nein, wie…“

„Dein Vater rief an, weil er sehr besorgt um dich ist. Bei eurem letzten Telefonat hatte er das Gefühl, als würdest du extrem unter Drogen stehen. Warum, Yamato?“ Ich betrachte meinen Freund eingehend. So wütend, wie er momentan ist, sollte ich mir gut überlegen, wie ich mich ihm gegenüber verhalte und was ich für Äußerungen mache. Problematisch ist allerdings, dass ich mich an kein Gespräch mit meinem Vater erinnern kann. Ich muss tatsächlich auf Heroin gewesen sein. Wie konnte das passieren? Wie konnte mir die Kontrolle derart entgleiten?

„Ich war einfach nur sehr müde. Das ist alles. Kein Grund zur Sorge.“ Um meine beruhigenden Worte zu unterstreichen, lächle ich Tai an. Der legt seine Finger um meinen Hals und drückt erbarmungslos zu.

„Du bist ein verdammter Lügner! Hiroaki gegenüber hast du deinen Drogenkonsum zugegeben. Offenbar weißt du davon nichts mehr. Vielleicht, weil du drauf warst, mein Süßer?“ Verkrampft umfasse ich das Handgelenk meines Freundes. Das Gefühl, zu ersticken, wird übermächtig. „Hast du Angst?“, flüstert er überlegen in mein Ohr. Egal, wie ich auf ihn reagiere, in seiner momentanen Verfassung werde ich Taichi nicht erreichen. Mit all der Kraft, die ich aufbringen kann, ramme ich ihm meine Faust in den Magen. Mein Gegenüber stöhnt schmerzverzerrt auf und lässt von mir ab.

„Es stimmt. Ich habe Drogen konsumiert. Dieses eine Mal. Aber ich habe nicht gelogen. Ich wusste wirklich nicht, wie ich mich verhalten sollte. Trotz allem war es falsch, erneut zu Drogen zu greifen…“

„Sei still! Soll ich dir den Schwachsinn, den du gerade von dir gibst, ernsthaft glauben? Du bereust nicht, Yamato.“ Mit seiner Hand streichelt er sanft über meine Wange, während er mich mit seinem Körper rückwärts gegen die Tür drängt. „Kannst du überhaupt Reue empfinden?“ Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen.

„Ich glaube, du bist der Letzte, der diese Frage stellen darf. Immerhin bist du der Meinung, dass alles, was du tust, seine Berechtigung hat. Und der Zweck heiligt die Mittel. Dir ist egal, ob du mich mit einem Gegenstand vergewaltigst oder ob du mich so oft und hart fickst, mir dabei innere Blutungen zufügst, sodass ein Krankenhausaufenthalt notwendig ist.“ Taichi schaut mich ernst an.

„Du weißt genau, warum ich so weit gehen musste. Und ich werde auch in Zukunft entsprechend handeln, wenn du mir Anlass dazu gibst.“ Herausfordernd schiebt er sein Knie zwischen meine Beine. Das frivole Verhalten meines Freundes erregt mich. Darauf konzentriert, ruhig zu atmen, schließe ich meine Augen. Ich habe es mittlerweile wirklich verdammt nötig. Die kleinste Berührung von Tai wirkt auf mich wie ein Aphrodisiakum. Seinen gesamten Körper dicht an meinem zu spüren ist unerträglich.

„Deine Skrupellosigkeit ist manchmal beängstigend“, bemerke ich stockend. „Allerdings muss ich zugeben, dass ich zwar Schuldgefühle bezüglich meiner Übergriffe habe und dass ich mir nicht verzeihen kann, was ich dir antue, dennoch würde ich nichts ungeschehen machen wollen. Hätte ich dich damals nicht mit Gewalt genommen, hättest du dich womöglich nie auf mich eingelassen und wärst vielleicht sogar noch mit Sora zusammen.“ Plötzlich ändert sich der Gesichtsausdruck meines Freundes. Er lässt von mir ab und setzt sich auf sein Bett.

„Ich habe sie heute getroffen.“ Tai beobachtet meine Reaktion genau. Missmutig wende ich meinen Blick ab und drehe meinen Kopf zur Seite. „Was ist los, Yamato? Hast du vergessen, mir zu sagen, dass sie an deiner Uni studiert?“

„Nein, ich habe es nicht vergessen“, entgegne ich trotzig. „Kamst du deshalb so spät nach Hause?“

„Ja, wir waren noch einen Kaffee trinken. Immerhin hatten wir seit Jahren keinen Kontakt mehr.“

„Na und? Du musst keine Zeit mit ihr verbringen!“ Meine Stimme klingt panischer als beabsichtigt.

„Bist du eifersüchtig?“

„Berechtigterweise, oder nicht? Immerhin war zwischen euch damals nicht nur Freundschaft.“ Taichi lässt sich nach hinten auf die Matratze fallen, verschränkt seine Arme hinter seinem Kopf und betrachtet die Zimmerdecke.

„Ich muss zugeben, ich war überrascht, als ich sie sah. Sie ist wirklich süß.“

„Das ist nicht dein Ernst, Taichi.“ Wie gelähmt lehne ich noch immer an der Tür. Mein Blick geht ins Leere. „Bitte, Taichi. Bitte.“ Angst ergreift Besitz von mir und ich schlinge meine Arme schützend um meinen zitternden Körper. „Du weißt, dass du mir gehörst, oder?“

„Ist das so? Dann lass es mich spüren“, fordert mein Freund ruhig. Ich schaue ihn an. Dann laufe ich langsam auf ihn zu, beuge mich über ihn und berühre mit meinen Lippen seine Stirn.

„Ich werde nicht verlieren! Und gegen dieses Mädchen schon gar nicht!“
 

Es klingelt. Sofort erhebe ich mich von meinem Bett, drehe die Musikanlage etwas leiser und laufe zur Tür. Mein Freier sieht ernst aus, als ich ihm öffne. Vermutlich kann er sich denken, weshalb ich ihn hergebeten habe und was ich mit ihm besprechen möchte. Noch bevor er seine Schuhe im Flur auszieht, drückt er mich sanft gegen die Wand, vergräbt seine Hände in meinen Haaren und küsst mich innig. Ich spüre seine Zunge tief in meinem Mund, lasse mich zunächst aber nur zaghaft auf das stürmische Spiel ein. Sein Verlangen erzeugt Schwindelgefühle in mir und bringt mich fast um den Verstand.

„Nicht“, keuche ich und drehe meinen Kopf zur Seite, als mein Gegenüber mit seiner Hand zwischen meine Beine gleitet.

„Du bist erregt“, flüstert er beinahe sachlich in mein Ohr.

„Ich weiß.“ Verlegen meide ich den Blickkontakt. Hitze steigt in mir auf und ich spüre, dass ich rot werde.

„Soll ich dir jetzt Abhilfe verschaffen oder nachdem wir das Problem besprochen haben?“ Bevor ich antworten kann, öffnet er meine Hose und geht vor mir auf die Knie. Lauter werdendes Stöhnen entweicht meiner Kehle, als mein Freier mir sehr intensiv einen bläst.

„Ich…“ Meine Stimme versagt und meine Finger verkrampfen sich schmerzhaft an der Wand, gegen welche ich meine Hände voller Anspannung presse. „Nicht… mehr…“ Ohne auf mein Flehen einzugehen, treibt er sein Spiel bis zum Ende. Als er wieder aufsteht, wischt er mit dem Handrücken über seinen Mund.

„Wie geht es dir jetzt, mein Süßer?“ Liebevoll streicht er mir eine Strähne aus dem Gesicht.

„Ich glaube, meine Beine geben gleich nach. Bitte halten Sie mich fest.“ Behutsam nimmt mein Freier mich in den Arm.

„Du bist heute ungewöhnlich empfindsam“, bemerkt er mit zärtlicher Zuneigung. „Glaubst du noch immer, nicht mehr mit Taichi schlafen zu dürfen? Verletzt du dich jetzt auf diese Weise selbst, weil du nicht mehr zur Klinge greifst? Ich weiß, dass du nicht verkraftest, was du deinem Freund in der Vergangenheit angetan hast, und dass du ihn nur schützen willst, indem du ihn auf Abstand hältst, aber das ist der falsche Weg, Yamato. Irgendwann wird dein Verlangen übermächtig und du wirst, auf welche Art auch immer, Dummheiten begehen.“

„Sie können Ihr Verlangen, Ihren Sohn zu ficken, doch auch nicht ausleben.“ Gleich nach Aussprechen des Satzes bereue ich meine Wortwahl. „Es tut mir leid“, sage ich kleinlaut.

„Schon gut, mein Süßer. Du hast recht. Aber denke bitte auch an Taichi. Wenn er dich liebt, wird er dich spüren wollen. Warum verwehrst du ihm das?“ Traurig schaue ich meinem Freier in die Augen.

„Gehen wir in mein Zimmer, es gibt noch ein anderes Problem zu klären.“ Ich schließe meine Hose und gehe voran. Wir nehmen beide auf meinem Bett Platz. „Ich möchte nicht, dass Sie meine Heroindosis reduzieren“, beginne ich direkt.

„Das dachte ich mir. Aber es ist notwendig. Deine Abhängigkeit gerät zu sehr außer Kontrolle. Wenn ich jetzt nicht reagiere, wirst du richtig abstürzen. Das garantiere ich dir.“

„Ich habe meinen Konsum im Griff.“

„Nein, Yamato, hast du nicht, wie deine naive Aussage beweist.“

„Wie können Sie über etwas urteilen, wovon Sie keine Ahnung haben?“ Meine Stimme wird lauter, ungehaltener.

„Du irrst dich. Ich habe genug eigene Erfahrung und auch zu viele Abstürze von anderen gesehen, um deine Situation einschätzen zu können.“

„Ich bin aber nicht wie du oder die! Hör auf meinen Vater spielen zu wollen! Du musst mich nicht erziehen! Ich bin alt genug, kann auf mich selbst aufpassen und meine eigenen Entscheidungen treffen!“

„Wenn ich dich so reden höre, bezweifle ich das. Du bist unsachlich und wirkst wie ein bockiges Kind, das seinen Willen nicht bekommt.“ Wütend schaue ich meinen Freier an.

„Deswegen vögelst du mich auch. Weil ich wie ein Kind bin, nicht wahr?“

„Es reicht, Yamato!“ Unerwartet drückt mein Gegenüber mich nach hinten auf das Laken, meinen Kopf mit seiner Hand unter meinem Kinn festhaltend. Er wirkt aufgebracht. „Mit deinen Provokationen bringst du mich nicht aus der Fassung. Ich weiß nicht, was du damit bezwecken willst, aber ich werde dich weder schlagen noch meine Meinung ändern.“

„Taichi hat recht. Sie wollten mich mit den Drogen nur von sich abhängig machen, damit ich Ihnen hörig bin und zu jeder Zeit die Beine breit mache.“ Verlegen und voller Selbsthass schließe ich meine Augen. Es fällt mir schwer, ihn anzusehen. Ebenso will ich nicht, dass er in dieser Situation meine Tränen sieht, welche jedoch bereits meine Haut benetzen.

„Du weißt, dass das nicht wahr ist, Yamato“, flüstert mein Freier liebevoll und streichelt sanft über meine Wange. „Zwar gabst du dich damals fremden Männern freiwillig hin, suchtest den körperlichen Kontakt sogar, aber du empfandest lediglich Ekel, nicht wahr? Lustempfinden kanntest du nicht. Um den Sex für dich angenehmer erscheinen zu lassen, verabreichte ich dir BDO.“ Er beugt sich zu mir hinab und küsst flüchtig meine Lippen. „Natürlich möchte ich dich bei mir haben, aber nicht um den Preis, dich mit Drogen zu zerstören. Ich liebe dich, Yamato. Für mich geht es schon lange nicht mehr nur um Sex.“ Verzweifelt schlage ich meine Hände vor das Gesicht und weine hemmungslos.

„Bitte nehmen Sie mir das Heroin nicht weg. Ohne vor der Realität fliehen zu können, überlebe ich in dieser Gesellschaft nicht. Ich würde an ihr zerbrechen, genau wie Akito.“

„Shh… ruhig. Ich nehme dir das Heroin nicht weg. Aber deine Gedanken sind mittlerweile viel zu fixiert auf den Konsum von Drogen und die Ansicht, Probleme damit lösen zu können. Das ist sehr gefährlich. Ich erreichte diesen Punkt mehrfach, überschritt ihn und endete jedes Mal in der Psychiatrie. Das alles würde ich dir gern ersparen.“

„Ich sagte vorhin bereits, dass ich nicht wie Sie bin.“

„Stimmt, du bist labiler.“ Vorsichtig, aber dennoch bestimmt, umfasst mein Freier meine Handgelenke, nimmt meine Hände von meinem Gesicht und drückt sie links und rechts von meinem Kopf auf die Matratze.

„Lassen Sie mich bitte los. Ich bin es nicht wert, von Ihnen berührt zu werden.“

„Wie kommst du darauf? Sieh mich an, Yamato!“

„Ich kann nicht.“ Noch immer halte ich meinen Kopf zur Seite gedreht. Tränen laufen unablässig über mein Gesicht und tropfen auf das Laken. „Wenn Sie wirklich nicht nachgeben, muss ich andere Kontakte nutzen, um an Heroin zu gelangen.“

„Du weißt, dass ich dann nicht mehr schweigen werde.“

„Meinetwegen erzählen Sie es meinem Vater oder Taichi. Das interessiert mich nicht mehr. In einem dreiviertel Jahr bin ich volljährig, dann kann mir niemand mehr etwas anhaben.“

„Falsch. Dein Vater könnte eine Entmündigung erwirken, weil du eine Gefahr für dich selbst bist. Ich denke, damit würde er sogar durchkommen. Yamato, merkst du gar nicht, wie sehr die Droge dich bereits im Griff hat? Bitte geh nicht noch leichtfertiger mit deinem Leben um, als du es ohnehin schon tust.“ Ich beginne hysterisch zu lachen.

„Aber genau darum geht es doch“, sage ich bitter. „Ich will dieses Leben nicht, wenn ich mich selbst ertragen muss, es kein Entkommen abgesehen vom Tod gibt.“ Seufzend dreht mein Freier meinen Kopf wieder in seine Richtung und wischt mit seinem Daumen meine Tränen von der Haut.

„Öffne deine Augen, mein Süßer“, bittet er auffordernd. Meine Sicht ist verschwommen, als ich ihn anblicke. Ich lege meine Arme in seinen Nacken, ziehe ihn zu mir hinab und küsse ihn innig, sehnsüchtig, leidenschaftlich. Mit seiner Hand gleitet mein Freier verlangend über meinen Körper und öffnet anschließend meine Hose. Ich gebiete ihm Einhalt.

„Nicht“, hauche ich beinahe schüchtern.

„Willst du nicht?“, hakt mein Freier nach. Ich schüttele kaum merklich meinen Kopf.

„Es tut mir leid.“

„Nein, Yamato. Du musst dich für nichts entschuldigen. Im Gegenteil, ich bin froh, dass du mir deinen Willen mitteilst und es nicht einfach über dich ergehen lässt.“

„Ich befriedige Sie wenigstens oral, okay?“, biete ich unter Tränen an.

„Du bist süß, mein kleiner Schatz. Aber für mich ist es so in Ordnung. Wir müssen nicht jedes Mal Sex haben, wenn wir uns sehen. Und schon gar nicht, wenn es dir, wie jetzt, nicht gut geht. Für mich hast du längst nicht mehr den Wert eines Strichjungen. Das solltest du inzwischen wissen.“

„Trotzdem fühle ich mich schuldig.“

„Das darfst du nicht, hörst du, Yamato? Nicht deswegen. Lade nicht noch mehr Schuld auf dich, um daran zu zerbrechen. Deine, zugegebenermaßen berechtigten, Schuldgefühle bezüglich der sexuellen Übergriffe an Taichi und deinem Vater richten schon mehr als genug Schaden an.“

„Selbst wenn ich könnte, würde ich nichts rückgängig machen wollen“, sage ich monoton.

„Das glaube ich dir, da du dir so einen weiteren Grund lieferst, dich zu hassen, dich seelisch zu verletzen. Denn die Konsequenzen werden dich dein Leben lang verfolgen und Stück für Stück innerlich zerreißen.“ Sanft streicht mein Freier über meinen Oberschenkel, weiter zwischen meine Beine. Es ist egoistisch von mir, mich ihm zu verweigern. Ich sollte ihn ranlassen. Ich muss ihn ranlassen, denn etwas anderes habe ich ihm als Gegenleistung nicht zu bieten.

„Bitte schlafen Sie mit mir“, äußere ich mich zurückhaltend. „Ich will Sie in mir spüren.“ Beinahe vorwurfsvoll betrachtet mich mein Freier, während er meine Hose schließt. Dann lässt er von mir ab, indem er von mir heruntergeht und sich neben mich auf das Bett legt.

„Hör auf damit. Du bist nicht einmal erregt und dein verkrampft liebevoller Gesichtsausdruck straft deine Worte Lügen. Ich will nicht mit dir schlafen, wenn ich dabei das Gefühl habe, dich zu vergewaltigen.“

„Es tut mir so leid“, flüstere ich mit zitternder Stimme und drehe mich auf die Seite, sodass ich von ihm abgewandt liege. Als ich merke, wie er mich von hinten in seine Arme nimmt, krümme ich mich stumm weinend zusammen.

„Du bist in letzter Zeit unglaublich verletzlich und schrecklich labil. Ich mache mir ziemliche Sorgen um dich. Kann ich wirklich nichts tun, damit es dir besser geht?“ Die Frage meines Freiers klingt verzweifelt. Eine Weile herrscht Stille im Raum, nur die CD im Player läuft leise und unbeachtet im Wiederholungsmodus.

„Ich habe mich den Menschen, die ich liebe, noch nie so fern und fremd gefühlt. Taichi. Mein Vater. Sie scheinen unerreichbar.“ Kurz schweige ich. Beruhigend streichelt mein Freier durch meine Haare und küsst immer wieder voller Zuneigung meinen Hinterkopf. „Ehrlich gesagt will ich nicht, dass es mir besser geht, wenn es sich so anfühlt. Lieber fühle ich zu viel als gar nichts. Verstehen Sie das?“

„Nicht so ganz. Ich versuche mich in deine Extreme einzufühlen, doch es fällt mir schwer. Viele deiner Reaktionen und Handlungen kann ich nicht nachvollziehen, weil du dir dadurch einige deiner Probleme selbst schaffst. Aber vermutlich ist das die Kompromisslosigkeit deiner Selbstzerstörung. Allerdings muss ich auch zugeben, dass mich die momentane Situation, in der du nach außen stabiler wirkst, nicht minder beunruhigt als die Phasen, in denen es dir offensichtlich nicht gut geht. Meine Angst um dich ist sogar größer. Du bist wesentlich verschlossener, schwerer greifbar und dadurch vielleicht unberechenbarer. Denkst du in diesem Zustand an Selbstmord?“ Ich antworte nicht. „Yamato!“, hakt mein Freier eindringlich nach.

„Ja. Aber es fühlt sich anders an als sonst. Irgendwie irreal und nicht mich betreffend. Und doch selbstverständlich, logisch, unausweichlich. Ich denke nicht an ein Wie, Wo oder Wann. Es wird sich von allein ergeben, dessen bin ich mir gewiss.“

„Hast du mit Taichi oder deinem Vater schon einmal darüber gesprochen?“, fragt mein Freier hörbar beunruhigt.

„Nein. Und das werde ich auch nicht.“

„So, wie es jetzt ist, kann es nicht ewig weitergehen, mein Süßer.“ Mein Freier drückt mich fester an sich.

„Ich weiß“, entgegne ich ruhig. Mental erschöpft schließe ich meine Augen, lasse mich bedingungslos fallen. „Ich habe Sie wahnsinnig lieb“, murmle ich und schlafe kurz darauf in seinen Armen ein.
 

Starker Regen prasselt auf den Asphalt, fließt in Rinnsalen die Straßen Shibuyas entlang und bildet großflächige Pfützen. Meine Kleidung sowie meine Haare kleben schwer und nass an meinem Körper. Obwohl die Nachtluft warm ist, zittere ich durch die auskühlende Feuchtigkeit auf meiner Haut. Langsam laufe ich an den Lovehotels vorbei, die wenigen Menschen, die bei diesem Wetter unterwegs sind, nehme ich kaum wahr. Ich sollte nicht hier sein, doch ich handle gegen mich selbst, ohne zu denken. Fremdgesteuert. Nach einiger Zeit bleibe ich vor einem der Clubs stehen und starre mit einem unangenehmen Gefühl die Tür an. Es kostet mich Überwindung, das Gebäude erneut zu betreten. Letztlich gewinnt jedoch mein Verlangen gegen die Abscheu und ich gehe, ohne auf die anderen Gäste zu achten, direkt zur Bar.

„Hey, Kleiner“, begrüßt mich der Mann hinter dem Tresen. Ich weiß, dass er damals das perverse Spiel mitspielte, aber meine Erinnerung an ihn ist mehr als verschwommen. „Schön, dich zu sehen, dabei war ich mir sicher dich nach dem Vergnügen neulich nie wieder zu sehen, zumal es meinem Freund erstaunlicherweise nicht gelang, dich von ihm abhängig zu machen.“ Er lächelt vielsagend. „Oder etwa doch?“

„Ist er da?“, frage ich vorgeblich kalt.

„Nein. Zu seinem Leidwesen muss er einen dieser hochformellen Geschäftstermine über sich ergehen lassen. Vermutlich suchst du ihn nicht auf, weil du dich seiner Perversion und den Schmerzen noch einmal hingeben willst. Es geht um Drogen, hab ich recht?“ Er zwinkert mir zu. „Auch ich kann dir beides geben, falls du dich erinnerst. Andererseits warst du vermutlich viel zu zugedröhnt…“

„Ich brauche Heroin“, unterbreche ich ihn schroff.

„Klar. Die Bezahlung hat mein Freund dir sicher in Form von Naturalien angeboten, nur ist der leider nicht anwesend. Ich nehme an, du hast kein Geld dabei.“ Ich schüttle meinen Kopf. Seit ich mich nicht mehr verkaufe, habe ich finanziell kaum Freiraum, da, abgesehen von den laufenden Kosten, das meiste Geld für Schlaf- und Schmerzmittel sowie Zigaretten draufgeht. Die 350000 Yen nahm mein Vater an sich, ich wollte dieses widerliche Geld nicht, und deckt damit einen Teil meiner Unikosten. „Was machen wir denn da?“, säuselt er in fragendem Ton, während er vorgibt nachzudenken.

„Fick du mich doch einfach“, schlage ich wie selbstverständlich vor. Mein Gegenüber seufzt künstlich.

„Wie gern würde ich meinen Schwanz noch einmal in deinen kleinen, süßen Arsch rammen. Bedauerlicherweise muss ich mich um den Laden kümmern.“ Ich bin mir sicher, dass er lügt, denn beim letzten Mal stellte das kein Hindernis dar. „Aber du kannst dich anders erkenntlich zeigen.“ Er deutet an das Ende des Tresens. „Siehst du den Typen dort vorn? Er ist ein guter Freund von mir, dem es gerade ziemlich dreckig geht. Beziehungsstress und so, du weißt schon. Sei doch ein bisschen nett zu ihm und lenke ihn von seinen Problemen ab.“ Das Grinsen, das mir der Barkeeper entgegenbringt, zeigt mir, dass er erneut mit mir spielt. Sieht er sich gern in der Zuhälterrolle? Erregt es ihn? Ich schaue zu dem Mann, mit dem ich schlafen soll. Auf den ersten Blick wirkt er unscheinbar, nachdenklich und sehr ernsthaft. „Was ist, Kleiner. Kommen wir ins Geschäft? Als Stricher dürfte es für dich doch kein Problem sein.“ Ein süffisantes Lächeln ziert seine Lippen. Mir ist schlecht und ich würde am liebsten weglaufen.

„In Ordnung.“ Mit leichter Nervosität gehe ich auf den fremden Mann zu, der vermutlich wie die beiden Anderen nur wenig älter ist als ich. „Hallo“, spreche ich ihn unvermittelt an. Er dreht sich zu mir und schaut mich fragend an. Seine Augen sind unglaublich ausdrucksstark und deuten auf ein großes Selbstbewusstsein hin. Auf mich macht er nicht den Eindruck, als würde er getröstet werden wollen. Dummerweise schüchtert mich diese Erkenntnis, wider Erwarten, ziemlich ein. Ihn zu verführen schaffe ich auf keinen Fall. „Ich komme gleich zur Sache. Dein Freund an der Bar meinte, dir würde etwas Ablenkung guttun und ich brauche Heroin.“ Krampfhaft versuche ich das Zittern meines Körpers, insbesondere meiner Hände, zu unterbinden.

„Bist du ein Strichjunge? Ich fasse es nicht!“ Er wirft seinem Freund einen vorwurfsvollen und zugleich mahnenden Blick zu, dann mustert er mich sehr genau. „Tut mir leid, Kleiner. Aber ich stehe nicht auf dürre, blasse Jungs, die obendrein eher wie ein Mädchen aussehen. Und jetzt lass mich in Ruhe.“ Voller Selbstverachtung balle ich meine Hand zur Faust. Diese Situation ist unglaublich erniedrigend und ich finde mich ekelhaft erbärmlich.

„Bitte, ich mache alles.“

„Verschwinde.“ In meiner Verzweiflung greife ich nach seinem Ärmel und kralle mein Finger darin fest.

„Wirklich alles.“ Mein Blick ist starr zu Boden gerichtet. „Bitte.“

„Also gut“, entgegnet er schließlich genervt, fast wütend. „Du hast es so gewollt. Komm mit.“ Als wir am Clubbesitzer vorbeigehen, lächelt der zufrieden.

„Ich brauche den Raum oben für eine Weile“, richtet sich mein Begleiter an ihn. „Hast du zufällig gerade eine leere Flasche da?“ Entsetzt schaue ich zwischen den beiden Männern hin und her. Kennen diese Typen überhaupt keine Grenzen? Ich muss an Akito denken. Zum Teil war er diesen Männern sehr ähnlich. Auch er kannte keine Hemmungen. Auch er fickte mich kompromisslos. Tränen füllen meine Augen. Ich atme tief ein und versuche jegliches Gefühl in mir, jede Empfindung abzutöten, um die offensichtlich bevorstehende Tortur irgendwie ertragen zu können.
 

Bewegungslos liege ich in einer kleinen Seitengasse, völlig durchnässt, den Blick starr ins dunkle Nichts gerichtet. Ich weiß nicht einmal, ob es Tränen oder Regentropfen sind, die über mein Gesicht laufen. War es das wirklich wert?

„Yamato?“ Die Stimme meines Freiers ist von Angst erfüllt, als er schnellen Schrittes auf mich zukommt. „Was ist passiert? Du warst am Telefon total aufgelöst.“

„Es tut mir leid“, hauche ich reumütig, ohne ihn anzusehen. Obwohl es mitten in der Nacht ist, rief ich ihn an und bat ihn, zu einem von uns häufig genutzten Lovehotel in Shibuya zu kommen. Ich weiß, dass ich viel von ihm verlange, aber ich brauche seine Hilfe. Mehr denn je.

„Warum liegst du hier draußen im strömenden Regen?“ Sehr behutsam nimmt er mich in seine Arme. „Gab es Probleme mit einem Freier? Bist du verletzt?“ Krampfhaft versuche ich meine Emotionen unter Kontrolle zu halten, breche schließlich jedoch hemmungslos weinend zusammen.

„Es tat so weh!“

„Shh… beruhige dich, mein Süßer. Wir gehen jetzt erst einmal rein ins Trockene und dann erzählst du mir alles. Kannst du aufstehen und allein laufen?“

„Ja.“ Vorsichtig hilft mein Freier mir auf die Beine. Er legt seinen Arm an meine Taille, um mir Halt zu geben, während wir das Hotel betreten. Im Zimmer steuert er direkt auf das Bad zu. Ohne ein Wort zu sagen, entkleidet er mich und begutachtet meinen Körper eingehend.

„Du hast einige starke Fissuren. Wie sieht es mit inneren Verletzungen aus?“

„Nein“, sage ich kopfschüttelnd. „Ich glaube nicht.“ Seufzend erhebt mein Freier sich wieder und streicht mir sanft durch die Haare. „Sie sind schmutzig. Geh erst einmal unter die Dusche. Schaffst du es allein?“ Ich nicke.

„Würden Sie trotzdem mitkommen?“, frage ich zurückhaltend. Mein Freier lächelt mich liebevoll an und entkleidet sich ebenfalls. Das warme Wasser umhüllt schützend unsere eng umschlungenen Körper. Mit seinen Händen gleitet mein Freier sachte über meine Haut und schließlich sehr sanft zwischen meine Beine.

„Ist noch etwas von ihm in dir?“, flüstert er leise in mein Ohr.

„Nein. Er selbst ist nicht in mich eingedrungen. Er benutzte eine leere Alkoholflasche.“ Mein Freier drückt mich stärker an sich, schweigt aber bezüglich meiner Aussage. Stattdessen drängt er mich gegen die Wand und schiebt seine Zunge tief in meinen Mund. Die Heftigkeit des Kusses sowie die Hitze des Wassers verursachen ein leichtes Schwindelgefühl in meinem Kopf, sodass ich mich an meinem Freier festkralle. Abrupt beendet dieser das Zungenspiel.

„Ist alles okay?“, fragt er fürsorglich.

„Ja“, entgegne ich keuchend. „Es geht mir gut.“ Skeptisch betrachtet er mich, dann beginnt er damit, mich gründlich einzuseifen. Anschließend wäscht er den Schaum mit sanften Berührungen wieder ab und umhüllt mich mit einem der zur Verfügung gestellten Bademäntel.

„Ich schlage vor, wir gehen ins Bett“, meint mein Freier, während er den anderen Bademantel überzieht. „Sitzen dürfte für dich eher unangenehm sein.“ Mit einem beschämten und zugleich traurigen Lächeln gehorche ich anstandslos. Beschützend zieht er mich unter der Decke in seine Arme.

„Erzählst du mir, was vorgefallen ist? Hast du das freiwillig mit dir machen lassen?“

„Ja“, antworte ich knapp und mit belegter Stimme.

„Warum? Hasst du dich so sehr, dass du derartige Erniedrigungen und Verletzungen in Kauf nimmst? Nur, um dich selbst zu zerstören?“

„Meine Hose. Vordere Tasche. Links.“ Von Unbehagen erfüllt presse ich mich eng an den Körper meines Freiers. Im Augenblick fürchte ich nichts mehr als seine Verachtung. Dieser langt umständlich nach dem Kleidungsstück.

„Heroin? Du gehst für dieses Zeug mittlerweile so weit? Yamato, du hättest an inneren Blutungen sterben können, wenn die Flasche zerbrochen wäre!“

„Über mögliche Folgen dachte ich in dem Moment nicht nach beziehungsweise war mir egal, ob ich verrecke. Ich wollte nur die Droge in meinen Venen spüren und glücklich sein. Der Gedanke an Sie ließ mich jedoch zusammenbrechen. Nie wollte ich Sie hintergehen, geschweige denn so sehr enttäuschen. Wenden Sie sich als Konsequenz nun von mir ab? Ich könnte es nicht ertragen, Sie zu verlieren.“ Mein Hals schmerzt, aber es gelingt mir, meine Tränen zurückzuhalten. Unerwartet liebevoll küsst mich mein Freier auf die Stirn.

„Mein süßer Schatz, du weißt, dass ich dich liebe. Solch ein Vorfall gibt mir mit Sicherheit keinen Anlass, dich zu verlassen. Im Gegenteil, dein Verhalten zeigt, dass du Hilfe brauchst, jemanden, der auf dich aufpasst. Zwar bin ich nicht erfreut, dass du dich nicht an unsere Abmachung gehalten hast, letztlich warst du jedoch ehrlich und vor allem bereust du dein Handeln. Ich sehe es als Rückschritt und Fortschritt zugleich. Hast du von dem Heroin bereits etwas konsumiert?“

„Nein. Es bot sich die Möglichkeit, mir gleich bei diesem Typen einen Schuss zu setzen, aber ich konnte es nicht. Durch das Spritzen hätte ich unsere Vereinbarung vollends missachtet.“ Mit meiner Hand gleite ich unter den Bademantel meines Freiers, um die Haut seines Brustkorbes berühren und seinen Herzschlag spüren zu können. Dieser langsame, gleichmäßige Rhythmus beruhigt mich. Trotzdem laufen stumm einige Tränen über meine Wangen, da diese Art von Nähe mich an Taichi erinnert. Nur war ich ihm schon lange nicht mehr so nah. Weder körperlich noch mental. Ohnehin wird seine Gegenwart für mich immer unerträglicher. Ich liebe ihn so sehr…

„Yamato, ich mache dir einen Vorschlag.“ Die Worte meines Freiers holen mich aus meinen Gedanken. „Deine Heroindosis werde ich zwar nicht wieder erhöhen, aber ich bin bereit dir die Differenz in Form von GHB zu geben. Dafür wirst du dich zukünftig an unsere Abmachung halten, einverstanden?“ Er atmet hörbar aus. „Ich sehe ein, dass es ein Fehler war, die Droge ersatzlos zu reduzieren. Bei dem Abhängigkeitspotential war es nur eine Frage der Zeit, bis du dir deinen Stoff anderweitig beschaffst.“

„Danke“, hauche ich und richte mich etwas auf, um ihn zu küssen. „Ich werde Sie nicht noch einmal hintergehen. Das verspreche ich.“ Ein verlegenes Lächeln legt sich auf meine Lippen.

„In Ordnung. Ich vertraue dir, mein Süßer. Enttäusche mich nicht.“

„Das werde ich nicht.“ Mit einer Hand löse ich den Gürtel des Bademantels und liebkose sinnlich seine nackte Haut, hinab zu seinen Beckenknochen, wobei ich allmählich unter der Bettdecke verschwinde. Als ich damit beginne, ihm einen zu blasen, entlocke ich meinem Freier zunehmend Laute der Erregung.

„Yamato, ich…“, keucht er und vergräbt seine Finger in meinen Haaren.

„Ist okay“, nuschle ich. „Ich schlucke.“ Eigentlich hasse ich es, Sperma schlucken zu müssen. Der Geschmack und das Gefühl im Mund sind in den meisten Fällen absolut widerlich, aber da ich meinen Freier schon länger nicht mehr rangelassen habe, bin ich ihm wenigstens das schuldig. Ich kämpfe gegen die Übelkeit an, als ich spüre, wie die warme Körperflüssigkeit meinen Rachen hinab läuft.

„Komm hoch und spreize deine Beine ein wenig.“ Ohne gänzlich von ihm abzulassen, komme ich seiner Aufforderung nach. Voller Verlangen streicht er mit seiner Hand meinen Rücken hinab. Als er mit seinen Fingern vorsichtig meine Verletzungen berührt, zucke ich vor Schmerz zusammen. Wider Erwarten verzichtet er darauf, in mich einzudringen. „Hör auf, Männern, die du kaum kennst, solche heftigen und gefährlichen Praktiken zu erlauben. Du weißt nie, wie weit die gehen und ob sie aufhören, wenn du an deine Grenzen stößt. Zumal du sie nicht hindern würdest, weiterzumachen, hab ich recht?“ Mein Freier richtet sich auf und rollt unsere Körper so herum, dass nun ich unten liege und er über mir ist. „Ich liebe dich, mein kleiner Schatz.“ Er beugt sich zu mir hinab und küsst mich leidenschaftlich. Dann schaut er zum Nachtschrank, der neben dem Bett steht. „Das Heroin kannst du behalten, schließlich musstest du dafür einiges ertragen. Die Qualität scheint in Ordnung zu sein.“ Liebevoll, aber ebenso ernst sieht er mich an und streichelt durch meine Haare. „Allerdings werde ich zum Ausgleich die nächste Zuteilung streichen und dir nur GHB aushändigen. Ich hoffe, du verstehst, dass ich dir das Heroin nicht zusätzlich überlassen kann, zumal du von dem Typen, vermutlich als eine Art Entschädigung, eine sehr großzügige Menge bekommen hast.“

„Ja“, sage ich etwas missmutig und weiche seinem Blick aus, indem ich zur Seite schaue. Mein Freier seufzt nachsichtig. Diese Zwiespältigkeit scheint ihm ziemlich zu schaffen zu machen. Einerseits versteht er mein Verlangen nach Drogen, da er selbst welche konsumiert, und andererseits fühlt er sich für meine Sucht verantwortlich. Doch es ist nicht seine Schuld. Damals wurde ich von etlichen Freiern zum Ficken unter Drogen gesetzt, denen egal war, ob ich abhängig werde und daran verrecke.

„Hast du dich inzwischen eigentlich mit Taichi ausgesprochen?“, fragt mein Freier plötzlich.

„Was?“ Ich richte meine Augen abermals auf ihn.

„Du weißt, wovon ich spreche, mein Süßer. Schläfst du wieder mit ihm?“

„Nein. Allmählich führen wir nicht einmal mehr eine Beziehung.“
 

Ungeduldig ziehe ich die Spritze auf, lege das Fixierband um meinen rechten Oberarm und zurre es fest. Momentan sehne ich mich nach nichts mehr als diesem Schuss, dem Entfliehen vor der Realität, vor mir selbst. Gerade als die Kanüle meine Haut durchdringt, höre ich, dass die Wohnungstür aufgeschlossen wird. Panisch ziehe ich die Nadel aus meiner Vene, löse das Fixerband und verstaue alles, was auf einen Drogenkonsum hinweist, in dem Schubfach meines Nachtschrankes. Ich schiebe meinen Ärmel nach unten, als Taichi die Tür zu meinem Zimmer öffnet. Mein Herzschlag ist durch den Schreck stark beschleunigt und meine Hände zittern leicht. Hätte ich Musik eingeschaltet, wie ich es ursprünglich wollte, wäre ich von meinem Freund beim Fixen überrascht worden, da ich sein unangemeldetes Erscheinen nicht bemerkt hätte.

„Was ist? Komme ich ungelegen?“, fragt er aufgrund meiner erschreckten Reaktion ein wenig irritiert. Ich muss mich beruhigen, um Tai nicht noch misstrauischer zu machen, als er es ohnehin schon zu sein scheint.

„Nein, nur unerwartet“, entgegne ich mit einem verzerrten Lächeln. Der Gesichtsausdruck meines Freundes bleibt skeptisch, als er sich auf mein Bett setzt. Ich nehme neben ihm Platz. Unangenehme Stille breitet sich zwischen uns aus.

„Fühlst du eigentlich noch irgendetwas?“, fragt Taichi plötzlich. Betroffen schaue ich zu ihm, doch er reagiert nicht, sondern starrt unbewegt ins Nichts. „Fühlst du noch etwas für mich?“

„Ich liebe dich“, gebe ich zur Antwort.

„Wirklich? Warum spüre ich deine Liebe dann nicht? Ist es nicht vielmehr so, dass du innerlich schon längst tot bist?“ Tränen laufen die Wangen meines Freundes hinab und tropfen von seinem Kinn auf seine Hose.

„Nein. Du irrst dich, Taichi. Ich empfinde so schmerzhaft viel für dich…“

„Dann zeig es mir, verdammt, anstatt dich immer weiter von mir zu entfernen! Wenn du mich tatsächlich liebst, warum gehst du mir dann immer mehr aus dem Weg? Warum lässt du mich kaum noch an dich heran?“ Ich antworte nicht und schaue traurig zu Boden. „Sora erzählte mir, dass du wahrscheinlich nicht zur Uni gehst. Zumindest sah sie dich in der letzten Woche kein einziges Mal.“ Meine Miene verfinstert sich.

„Wieso achtet sie so sehr auf mein Handeln? Wieso lässt sie mich nicht einfach in Ruhe? Und wieso hast du Kontakt zu ihr?“ Aufgebracht dreht sich Tai zu mir.

„Wieso nicht? Sie ist eine Freundin und ich mag sie sehr. Was willst du überhaupt? Ansprüche stellen?“ Er lacht bitter. „Ich glaube nicht, dass du bei deinem Verhalten das Recht dazu hast.“

„Fickst du sie?“, frage ich tonlos. Ohne Vorwarnung schlägt mein Freund mir hart ins Gesicht.

„Du bist so ein Idiot!“ Verletzt wendet er seine Augen von mir ab. „Schließe nicht immer von dir auf andere. Was hast du denn die Woche über gemacht? Dir das Hirn von irgendwelchen perversen Wichsern rausvögeln lassen?“

„Nein.“ Meine Stimme ist brüchig und kaum hörbar. „Aber es stimmt. Ich war nicht in der Uni. Ich war zu Hause.“

„Warum?“ Ich zögere mit meiner Antwort.

„Mir ging es nicht gut.“ Tränen brennen in meinen Augen, mein Hals schmerzt und ich kann kaum schlucken. „Am Dritten vor einem Jahr nahm sich Akito das Leben.“ Mir entgeht nicht, dass Tais Hände sich krampfhaft in den Stoff seiner Hose krallen.

„Wann wirst du diesen Typen endlich loslassen? Wie lange muss ich noch gegen einen Toten ankämpfen? Wie lange, Yamato?“ Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich will nicht weiter über dieses Thema sprechen. Die vergangenen Tage überstand ich auch nur, weil ich so oft wie möglich mit Heroin oder GHB zugedröhnt war beziehungsweise in den nüchternen Stunden mithilfe von Schlaftabletten der Realität entfloh.

„Er war damals für mich da, als du unsere Beziehung beendet hattest, obwohl er wusste, dass ich mich immer für dich und gegen ihn entscheiden würde. Ohne ihn hätte ich die Trennung von dir nicht überlebt.“

„Dafür durfte er seinen Schwanz so oft er wollte in dich stecken. Verdammt, mir wird schlecht, wenn ich daran denke, was er alles mit dir gemacht haben könnte.“ Mein Freund dreht sich zu mir, seine Augen fixieren mich, sein Gesichtsausdruck zeigt Entschlossenheit. Zaghaft berührt er mit seinen Fingern meine Wange, beugt sich vor und küsst mich. Als er merkt, dass ich mich auf ihn einlasse, setzt er sich mit gespreizten Beinen auf meinen Schoß, ohne den Kuss zu unterbrechen, und drückt mich sanft, aber bestimmt nach hinten auf die Matratze. Es fühlt sich unendlich schön an, Taichi wieder auf diese Weise spüren zu dürfen. Ich lege meine Hände in seinen Nacken und intensiviere unser Zungenspiel. Sinnlich gleitet Tai mit seinen Fingern unter mein Hemd, streichelt sanft über meine Haut. Mein Herzschlag beschleunigt sich mit zunehmender Erregung. Getrieben von Ungeduld und Begierde öffne ich die Hose meines Freundes. Dieser löst sich von meinen Lippen. Ich bin irritiert, da ich seine Mimik nicht deuten kann.

„Was hast du?“, flüstere ich. Angst schwingt in meiner Frage mit.

„Lässt du mich ran?“

„Ja.“ Liebevoll streiche ich einige Strähnen aus Tais Gesicht, während er meine Hose öffnet. Dann beginnt er mein Hemd aufzuknöpfen. Panisch ergreife ich sein Handgelenk und hindere ihn am Weitermachen. „Nein. Ich kann nicht.“ Voller Selbsthass drehe ich meinen Kopf zur Seite, um meinen Freund nicht ansehen zu müssen. Es wäre ein Fehler, mit ihm zu schlafen, egoistisch und unverantwortlich. Ich darf ihn nicht mehr auf diese Weise spüren. Ich will ihm nicht mehr wehtun. Deshalb muss ich es endlich schaffen, mein quälendes Verlangen nach ihm, nach seinem Körper abzutöten. Hinzu kommen die Vernarbungen und frischen Einstichstellen vom Fixen, die er nie zu sehen bekommen darf.

„Warum, Yamato? Warum stößt du mich schon wieder von dir?“ Von einem Moment auf den anderen ändert sich plötzlich sein Ausdruck, wird teilnahmslos. „Du entziehst dich mir nicht mehr.“ Gewaltsam versucht Tai mich meines Hemdes zu entledigen, wobei er von mir heruntergeht, um mich auf den Bauch zu drehen. Er scheint darauf abzuzielen, mit dem Kleidungsstück meine Hände zu fesseln, um eine Gegenwehr meinerseits zu unterbinden.

„Hör auf, Taichi“, bitte ich ruhig, aber mit Nachdruck. Ich habe Schwierigkeiten, meinen Freund an seinem Vorhaben zu hindern, der enorme Drogenkonsum und die kaum vorhandene Nahrungsaufnahme haben meinen Körper deutlich geschwächt. Es gelingt mir jedoch, mich wieder zu drehen. Unerwartet lässt Tais Versuch, mich zu entblößen, nach, bis er schließlich über mir zusammenbricht. Mit seiner Stirn berührt er meinen Brustkorb, seine Nägel bohren sich schmerzhaft in meine Schultern.

„Hilf mir, Yamato!“ Ich ertrage die Verzweiflung meines Freundes nicht. Es tut weh, seine Tränen auf meiner Haut zu spüren. Dennoch bleibe ich unbewegt liegen. Ich schaffe es nicht, meine Arme tröstend um ihn zu legen. „Was soll ich tun? Ich vermisse meinen Yamato so sehr. Warum hast du ihn mir weggenommen? Warum hast du ihn getötet? Übrig geblieben ist nur eine leblose Sexpuppe, die brav für jeden die Beine breitmacht.“ Ich verzichte darauf, Tais Aussage zu dementieren, obwohl ich schon seit längerer Zeit mit niemandem mehr geschlafen habe. Selbst meinen Freier lasse ich derzeit nicht ran. Zwar befriedige ich ihn hin und wieder oral, aber das bin ich ihm schuldig. Es ist nur fair, ihm eine Gegenleistung für seine uneingeschränkte Hilfe zu geben. Außerdem muss ich seinen Sohn schützen, indem ich das Verlangen meines Freiers auf mich umlenke. Tai jedoch würde das nicht verstehen, weshalb ich mir eine Erklärung sparen kann. Vermutlich würde es ihn sogar wütend machen. „Sag etwas, verdammt nochmal!“, schreit Taichi mich wütend an und krallt seine Finger fester in meine Haut.

„Du hast recht“, antworte ich monoton. „Ich bin nichts weiter als eine leblose Sexpuppe. Du willst es mir doch auch gerade besorgen, oder? Also schön, nimm dir, wonach du verlangst. Ich halte still.“

„Ich möchte dich spüren, Yamato. Dir nahe sein. Und wenn Sex die einzige Möglichkeit…“

„Dann fick mich doch einfach. Komm schon.“ Mein Freund bedenkt mich mit verächtlichen Blicken, während er aufsteht.

„Zieh dich aus“, befiehlt er lieblos. Schweigend komme ich seiner Aufforderung nach und ziehe meine Hose samt Unterhose aus. „Vollständig. Das Hemd auch.“ Seine Stimme ist kalt, emotionslos. Ich rühre mich nicht, sondern starre ihn nur mit einem unguten Gefühl an. „Was ist los? Seit wann zierst du dich wie ein Mädchen? Ich kenne deinen Körper. Oder willst du vor mir verbergen, dass du wieder angefangen hast dir die Arme aufzuschneiden? Sei ehrlich.“

„Ja“, antworte ich leise. Ich gebe Tai eine Wahrheit, die er hören möchte, indem ich lüge. Diese Ironie ist fast schon zum Lachen. Wortlos schauen wir uns an. Erneut laufen Tränen über die Wangen meines Freundes. Die Situation überfordert mich, da ich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll. Warum tue ich ihm immer wieder weh?

„Taichi, ich…“ Meinen Worten ist meine Unsicherheit deutlich anzuhören, weshalb ich den Satz sofort abbreche.

„Was passiert hier mit uns, Yamato?“ Ich wende meinen Blick ab und schaue aus dem Fenster. „Du hast deine Emotionalität verloren. Situationen, in denen du normalerweise ausrastest oder weinend zusammenbrichst, begegnest du mit Gleichmut oder vielmehr Gleichgültigkeit. Ich komme damit nicht klar.“ Verwirrt schaue ich Tai an. Kommt mein Verhalten bei ihm so an? Übelkeit kriecht meine Kehle empor. Plötzlich scheine ich den Boden unter meinen Füßen zu verlieren. Wie fremdgesteuert stehe ich auf und gehe langsam ein paar Schritte auf meinen Freund zu. Meine Sicht verschwimmt, die Umgebung verzerrt sich. Dann breche ich vor Taichi zusammen.
 

Noch leicht benommen öffne ich meine Augen. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen, doch es dauert eine Weile, bis ich mein Zimmer erkenne. Schwerfällig setze ich mich auf, dabei bemerke ich Taichi, der neben mir liegt und zu schlafen scheint. Verliebt betrachte ich meinen Freund. Er ist schön, doch man sieht ihm seine Alkoholabhängigkeit und den damit verbundenen Absturz noch ein wenig an. Seine Gesichtszüge sind sehr markant und auch seine Statur ist nicht so durchtrainiert wie früher. Zärtlich streichle ich über Tais Wange, dann lege ich mich wieder hin und schmiege mich eng an ihn. Sein vertrauter Geruch vermittelt mir Geborgenheit. Müde schließe ich meine Augen. Ich liebe ihn so sehr. Um ihn nicht zu verlieren, würde ich alles tun. Und trotzdem schaffe ich es nicht, Taichi glücklich zu machen. Warum funktioniert unsere Beziehung einfach nicht, obwohl wir uns beide anstrengen unsere Probleme in den Griff zu bekommen? Tai seine Alkoholabhängigkeit und ich, zugegeben durchzogen von Rückfällen, die Prostitution, die Selbstverletzungen sowie die Essproblematik. Und doch reicht es nicht. Früher war unsere Beziehung zwar turbulenter, allerdings auch intensiver. Was hat sich verändert? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es nur daran liegt, dass wir älter sind und somit die normale zeitliche Veränderung verantwortlich ist. Sicher ist das auch ein Aspekt, aber…

„Yama?“, werde ich von der Stimme meines Freundes in meinem Gedankengang unterbrochen. „Wie geht es dir?“ Obwohl er sehr verschlafen klingt, ist seine Sorge deutlich heraushörbar.

„Mir geht es wieder gut“, versuche ich ihn zu beruhigen.

„Ich hatte Angst um dich. Da ich aber unsicher war, ob ein Arzt notwendig ist, legte ich dich erst einmal ins Bett und beobachtete dich. Es gab keine Auffälligkeiten. Du hast ruhig geschlafen, irgendwann muss ich selbst eingeschlafen sein. Bist du sicher, dass…“

„Ja, es ist alles in Ordnung. Vermutlich war es nur ein Kreislaufzusammenbruch.“ Anscheinend schwächte mich die letzte Woche doch mehr, als ich dachte.

„Du siehst auch ziemlich schlecht aus. Allmählich stürzt du wieder ab, merkst du das?“ Verblüfft setze ich mich auf und schaue zu Taichi.

„Nein. Ich fühle mich nicht anders als sonst.“

„Deine Selbstwahrnehmung ist nach wie vor extrem verzerrt. Ich wünschte, du könntest dich einmal so sehen, wie du wirklich bist.“ Interessiert stütze ich mich auf meinen Ellenbogen und blicke fragend zu meinem Freund.

„Wie bin ich denn?“

„Anstrengend, aber sehr süß.“ Er legt seine Hand in meinen Nacken und zieht mich zu sich herunter. Sehnsüchtig berühren sich unsere Lippen und wir versinken in einem innigen Kuss. Ich glaube, im Moment bin ich wirklich glücklich, denn es fühlt sich so viel besser an als auf GHB oder Heroin zu sein. Ohne den Kuss zu unterbrechen, zieht Tai mich auf sich und gleitet mit seinen Händen unter mein Hemd. Ich lasse es geschehen. Meine Haut kribbelt an den Stellen, an denen er mich berührt. Die Nähe zu meinem Freund erregt mich. Ich will mehr. Ich will ihn. Widerwillig löse ich mich von Taichi und betrachte sein Gesicht. An seinem Ausdruck erkenne ich, dass auch er schmerzhaftes Verlangen verspürt.

„Ich liebe dich“, hauche ich ihm ins Ohr. Traurig lächelt Tai mich an.

„Dann verschließe dich nicht vor mir. Stoß mich nicht mehr von dir, okay?“ Liebevoll streichelt er durch meine Haare.

„Das werde ich nicht. Ich verspreche es“, höre ich mich sagen.

„Yamato, ich will nicht, dass du Versprechungen machst, die du mit großer Wahrscheinlichkeit nicht halten kannst. Und dieses Versprechen kannst du nicht halten, das weißt du.“ Schuldbewusst schaue ich Taichi an. Als ich mich von ihm lösen möchte, nimmt er mich fester in seine Arme. „Lass uns noch eine Weile so liegenbleiben, okay?“

„Aber ich bin zu schwer, um…“, beginne ich einzuwenden, werde jedoch von Tai unterbrochen.

„Zum einen halte ich einiges aus und zum anderen bist du eigentlich viel zu leicht. Du hast wieder etwas abgenommen, nicht wahr?“

„Kann sein. Zugegebenermaßen habe ich in letzter Zeit wenig Nahrung zu mir genommen. Aber ich bemühe mich, das zu ändern, ich verspr… versuche es zumindest.“ Mein Freund bringt mir ein mildes Lächeln entgegen und verwickelt mich erneut in einen leidenschaftlichen Kuss. Dabei dreht er unsere Körper, sodass ich unter ihm zum Liegen komme. Ich will ihn spüren. Tief in mir.

„Es wird eng in der Hose, hab ich recht?“, fragt Taichi mit einem Grinsen, welches allerdings sofort wieder verschwindet. „Warum willst du nicht mit mir schlafen? Können deine Freier oder dieser Kinderficker es dir besser besorgen, dich mehr befriedigen als ich?“

„Nenn ihn nicht immer so. Er ist wirklich nett. Du musst ihm nur eine Chance geben.“

„Yamato, der Typ vögelt meinen Freund. Wie stellst du dir das vor? Ich will ihn gar nicht mögen.“ Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen.

„Du bist so süß, wenn du eifersüchtig bist.“ Ich hatte erwartet, dass Tai mit Schmollen oder einer bissigen Entgegnung reagiert, aber er blickt mir nur ernst in die Augen.

„Ich habe Angst, dich zu verlieren. An fremde Männer, Drogen und letztlich an den Tod. Du…“

„Shh.“ Mit Auflegen zweier meiner Finger versiegele ich Taichis Mund und hindere ihn somit am Weitersprechen. „Nicht jetzt. Nicht in diesem Augenblick.“

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

„Taichi“, spreche ich meinen Freund bestimmt an.

„Ja“, entgegnet er abwesend.

„Sieh mich an.“ Ich stehe vor meinem Bett und schaue auf ihn hinab. Er gehorcht.

„Sag etwas.“

„Was soll ich sagen?“ Tais Stimme ist monoton und kalt. Ich setze mich auf seine Oberschenkel und schlage ihm derb mit der Faust ins Gesicht.

„Fällt dir jetzt etwas ein?“, schreie ich ihn an. Er schweigt und betrachtet mich nur unberührt. Ich schlage erneut zu. Diesmal so fest, dass seine Nase zu bluten beginnt.

„Reagiere meinetwegen mit Verachtung, aber reagiere auf mich, verdammt!“, bringe ich ihm weinend entgegen. Mit meiner Stirn berühre ich seinen Brustkorb. Tai bleibt ohne Gefühlsregung. Allmählich wandelt sich meine Verzweiflung in Wut. „Soll ich deinem Verhalten entnehmen, dass du uns aufgibst?“, frage ich aufgebracht. Bevor mein Freund antworten kann, schlage ich zu. Immer und immer wieder. Ich handle wie fremdgesteuert. Erst als ich die Verletzungen in Tais Gesicht bewusst wahrnehme, höre ich auf. Sein Blick ist leer, seine Augen sind ins Nichts gerichtet. Diese Ausdruckslosigkeit hatte er auch jedes Mal, wenn ich in den letzten Tagen mit ihm schlief. Ich ertrage es nicht, ihn so zu sehen. Generell erwartete ich seinerseits wesentlich mehr Gegenwehr und verbale Beschimpfungen. Stattdessen fügte er sich erstaunlich schnell meinen Anweisungen. Dabei kann ich mir nicht vorstellen, dass meine Drohung bezüglich des Alkohols ihn so extrem eingeschüchtert hat. Behutsam streiche ich über eine Platzwunde an seinem linken Auge. Taichi zuckt leicht zusammen.

„Es tut weh, oder?“ Die Frage ist rhetorisch, trotzdem antwortet er:

„Etwas.“

„Du weißt, dass ich dich nicht gehenlassen kann. Du weißt es, nicht wahr?“ Zurückhaltend küsse ich seine Lippen.

„Salzig.“

„Was?“ Irritiert blicke ich meinen Freund an.

„Deine Lippen. Du weinst viel in letzter Zeit. Warum? Müsstest du nicht glücklich sein? Ich gehöre dir und außer dir habe ich nichts mehr.“

„Aber nicht so! Nicht so!“, werfe ich ihm verzweifelt an den Kopf. „Du bist nicht bei mir. Ich kann dich nicht mehr spüren.“

„Merkst du nicht, dass du mit deinem Verhalten am meisten dich selbst zugrunderichtest? Ist das dein Ziel? Benutzt du mich wieder einmal nur für deinen Selbsthass?“

„Nein!“ Tränen laufen weiterhin unablässig über meine Haut.

„Dann beweise es, indem du mich losbindest.“

„Nein.“ Ich sollte ihn freigeben, wenn ich ihm nicht noch mehr Schaden zufügen möchte, aber meine Verlustangst und die schmerzhaft intensiven Gefühle, vielleicht auch Besessenheit, zwingen mich mit diesem Wahnsinn nicht aufzuhören.
 

„Taichi?“

„Hm.“

„Hasst du mich für das, was ich dir antue?“

„Nein. Aber es ist krank, Yamato“, bemerkt mein Freund ruhig. Ich schweige, bleibe mit meinem Kopf auf seinem Brustkorb liegen und schließe die Augen.

„Warum wehrst du dich nicht?“

„Willst du denn, dass ich mich wehre?“

„Antwortest du mit einer Gegenfrage, weil du mir den Grund nicht nennen willst?“

„Es kommen verschiedene Faktoren zusammen. Ich kann dich momentan überhaupt nicht einschätzen. Du bist so labil. Deine Stimmung wechselt nahezu minütlich. In dem einen Augenblick bist du, so wie jetzt, fast schon handzahm und im nächsten Augenblick bist du aufgebracht, gleichgültig oder völlig aufgelöst. Du wirkst psychotisch, wie in einem Wahn gefangen.“ Ich hebe meinen Kopf ein wenig und schaue Tai an.

„Empfindest du das so?“

„Es beängstigt mich immer wieder, wie verzerrt dein Selbstbild ist.“

„Ich finde nicht, dass mein Selbstbild verzerrt ist.“

„Eben.“ Ich sage nichts und schmiege mich enger an Taichi.

„Was würdest du tun, wenn ich dich jetzt freiließe?“, möchte ich wissen, obwohl ich Angst vor der Antwort habe.

„Warum fragst du? Hast du etwa vor, mich freizulassen?“

„Nein“, gebe ich ehrlich zu.

„Dann muss ich mir darüber auch keine Gedanken machen.“

„Bitte, ich brauche eine Antwort.“

„Wozu? Wenn du mich ohnehin nicht freilässt.“ Ich schweige erneut. „Also gut. Wahrscheinlich würde ich Fußball spielen oder zumindest irgendetwas tun, wobei man sich bewegen kann.“ Ein leichtes Lächeln legt sich auf meine Lippen, welches mein Freund allerdings nicht sehen kann, weil ich mit dem Gesicht von ihm abgewandt liege. Mit einer solchen Aussage hatte ich zwar nicht gerechnet, aber sie ist typisch für ihn.

„Und im Bezug auf unsere Beziehung?“ Mein Lächeln weicht einer von Angst dominierten Anspannung.

„Nichts. Was sollte ich auch tun?“, fragt Taichi mit Verwunderung in der Stimme.

„Würdest du mich in den Arm nehmen?“

„Yamato…“ Selten hörte ich Tai meinen Namen mit so viel Traurigkeit sagen.

„Ich bin froh, dass du momentan nicht so leblos wirkst“, wechsle ich das Thema. „Warum bist du so lieb zu mir? Ich verstehe dich einfach nicht.“

„Ich verstehe dich noch viel weniger.“

„Wieso? Ich liebe dich. So einfach ist das.“

„So einfach“, wiederholt mein Freund gedankenverloren. Ich rutsche ein wenig an ihm hoch und hauche einen Kuss auf seine Lippen.

„So einfach“, flüstere ich. „Wir bekommen das wieder hin, oder?“, frage ich mit kindlicher Unschuld. Für einen kurzen Augenblick verspüre ich den Drang, Tai alles zu erzählen. Von meinem Freier und seinem Kontrollverlust, meinen Gefühlen, als er den Sex mit mir auf für mich traumatische Weise erzwang, was ich mir jedoch selbst nicht eingestehen möchte. Von den Übergriffen meines Freiers an seinem Sohn, meinen Schuldgefühlen dahingehend sowie meinem Versuch, den Kleinen zu schützen, indem ich seinem Vater meinen Körper uneingeschränkt zur Verfügung stelle. Von diesen Typen, die ich in Shibuya kennenlernte, der Art und Brutalität ihrer sexuellen Handlungen an mir. Von meinem aufrichtigen Versuch, clean zu bleiben, welcher endete, als ich von jenen Fremden unfreiwillig unter Drogen gesetzt wurde. Und vor allem von meinem Heroinkonsum. Mir kommt ein Lied in den Sinn, welches ich vor einiger Zeit geschrieben habe. Ich versuche mir den kompletten Text und die Melodie ins Gedächtnis zu rufen. Einem Impuls folgend beginne ich leise zu singen, dicht an meinen Freund gekuschelt.
 

Du hörst mir zu

Doch ich glaube du verstehst kein Wort

Denn in Gedanken bist du ganz weit fort

Es ist so schwer dich zu verstehen wenn du nicht bei mir bist

Du schaust mich an

Doch ich weiß du siehst nicht worum es geht

Ich möchte dir alles sagen was mich bewegt

Du drehst dich weg und sagst mir nur du willst alleine sein
 

Wie können wir gewinnen

Wenn du nicht an mich glaubst

Und niemals bei mir bist

Wenn ich deine Hilfe brauche

Ich werde dich vermissen

Doch du musst jetzt gehen

Es wird besser sein

Wenn wir uns nicht wiedersehen
 

Du rufst mich an

Und sagst du willst mir alles gestehen

Es fällt dir schwer mir in die Augen zu sehen

Du hast mir viel zu oft gesagt dass alles anders wird

Du lachst mich an

Doch ich sehe dass mit dir was nicht stimmt

Ich kann nicht warten denn die Zeit verrinnt

Ich weiß genau es wird nie mehr so wie es früher war
 

Wie können wir gewinnen

Wenn du nicht an mich glaubst

Und niemals bei mir bist

Wenn ich deine Hilfe brauche

Ich werde dich vermissen

Doch du musst jetzt gehen

Es wird besser sein

Wenn wir uns nicht wiedersehen
 

Du versprichst mir die Welt

Sagst mir alles wird gut

Uns kann gar nichts passieren

Ich soll verstehen

Unser Stern wird nie untergehen

Uns kann nichts geschehen
 

Wie können wir gewinnen

Wenn du nicht an mich glaubst

Und niemals bei mir bist

Wenn ich deine Hilfe brauche

Ich werde dich vermissen

Doch du musst jetzt gehen

Es wird besser sein

Wenn wir uns nicht wiedersehen
 

Es herrscht Stille im Raum. Ich setze mich auf und betrachte Taichis Gesicht. Mit seinen schönen braunen Augen erwidert er abwartend meinen Blick.

„Wir bekommen das nicht wieder hin, oder?“, frage ich leise und lächle bitter. „Vielleicht leitete ich mit diesem Wahnsinn einfach nur den Anfang vom Ende ein. Einen anderen Weg scheint es für uns nicht mehr zu geben.“
 

Das Rauschen von Meereswellen dringt an mein Ohr. Ich liege mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, meine Arme dicht an meinem Körper. In meinen Händen spüre ich Sand, kalten Sand. Dabei scheint die Luft um mich herum weder kalt noch warm zu sein. Eigentlich spüre ich überhaupt nichts auf meiner Haut. Ich öffne meine Augen und blicke in einen farblosen Himmel, woraufhin ich mich aufsetze und feststelle, dass auch die Umgebung nur aus Schwarz und Weiß besteht. Das Meer, welches sich vor mir ausbreitet, wirkt bedrohlich und anziehend zugleich. Es kommt mir so vor, als müsste ich mich nur von dem Wasser umhüllen lassen und alles würde gut werden. Ich höre Stimmen, doch ich weiß weder, zu wem sie gehören, noch verstehe ich, was sie sagen. Langsam erhebe ich mich und schaue mich noch einmal um. Ich bin allein. Vorsichtig bewege ich mich über den Sand in Richtung Meer. Meine Füße berühren das Wasser, doch genau wie die Luft spüre ich es nicht. Unbemerkt werde ich weiter hineingezogen. Erst als ich mich umdrehe, fällt mir auf, wie weit entfernt der Strand inzwischen ist. Ich frage mich, ob ich in diesem Meer auch ertrinken kann. Doch je weiter ich gehe, desto größer wird die Leere in mir, desto gleichgültiger werde ich und desto mehr verliere ich mich in mir selbst. Die Stimmen werden leiser, bis beängstigende Stille herrscht. Mittlerweile werde ich vollständig von Wasser umhüllt. Schwerelos. Und doch fühlt es sich so an, als würde ich niedergedrückt werden. Ich sinke tiefer, es wird dunkler und dann umgibt mich nur noch Schwärze. Blind taste ich mich voran, ohne dabei etwas zu berühren.

„Yamato“, höre ich eine einzelne, mir bekannte Stimme meinen Namen sagen. „Yamato, du darfst dich nicht noch weiter verirren. Du bist schon viel zu tief gesunken.“ Ich drehe mich um.

„Gabumon?“, frage ich verwundert.

„Ja. Es ist lange her, Yamato. Ich freue mich, dich wiederzusehen, aber hier dürftest du nicht sein.“ Das lediglich aus Daten bestehende Wesen greift nach meiner Hand und zieht mich bestimmt hinter sich her.

„Warte, Gabumon.“ Mich von ihm lösend bleibe ich stehen und hocke mich zu meinem kleinen Freund hinab. Leicht streife ich mit meinen Fingern sein weiches Fell. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr ich ihn eigentlich vermisst habe. Wie konnte ich seine Existenz über die Jahre nur vergessen? Dabei liegt unsere letzte Begegnung noch gar nicht so lange zurück, oder?

„Gehört das hier auch zur digitalen Welt?“

„Ja und nein. Aber jetzt komm. Ich erkläre es dir später.“

„Warum bist du so panisch? Zudem habe ich nicht das Bedürfnis, an einen anderen Ort zu gehen.“

„Siehst du? Genau aus diesem Grund müssen wir hier so schnell wie möglich weg. Wenn du hier bleibst, verliere ich dich. Das möchte ich nicht, denn du bist mein Freund, du egoistischer Sturkopf.“ Gabumon klingt verärgert, aber seine Stimme zittert. Weint er? Irgendwie habe ich das Gefühl, mich schon einmal in einer ähnlichen Situation befunden zu haben. Vor langer Zeit?

„Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun. Aber es fühlt sich richtig an, hier zu sein, verstehst du?“

„Ist das wirklich so? Yamato, das würde bedeuten, du entscheidest dich gegen alles, was du bisher hattest. Mich eingeschlossen. Deine Entscheidung muss ich zwar akzeptieren, aber sieh dich um. Ist es das wert?“

„Ich sehe nichts. Es ist dunkel.“

„Und das bleibt wahrscheinlich so.“ Nachdenklich lasse ich meinen kleinen Freund los und erhebe mich.

„Nein, Yamato! Bitte verschwinde nicht!“, ruft Gabumon ängstlich in meine Richtung.

„Ich verschwinde nicht“, entgegne ich sanft. „Allerdings verstehe ich allmählich. Dieser Weg ist wie eine Einbahnstraße, die in einer Sackgasse mündet, oder? Ich kann mich jederzeit entscheiden, diesen Weg einzuschlagen, allerdings ist es eine endgültige Entscheidung. Ein Zurück gibt es nicht, hab ich recht?“ Ich spüre, wie sich Gabumon an meinem Hosenbein festkrallt.

„In den meisten Fällen nicht“, flüstert er traurig. Liebevoll umarme ich ihn, wobei sein weiches Fell meine Haut angenehm kitzelt.

„In Ordnung, ich begleite dich. Vorerst.“ Tief durchatmend schließe ich meine Augen. Als ich sie wieder öffne, steht Taichi einige Meter von mir entfernt an einer Klippe und schaut durch sein Fernrohr. Kühler Wind lässt meinen Körper leicht zittern.

„Hat der Herr sich entschieden, doch bei der Gruppe zu bleiben und meinen Vorschlag zu akzeptieren? Oder hältst du noch an deinem Alleingang fest? Warum bist du dann zurückgekommen?“ Tai blickt mich ernst an.

„Und warum müssen sich immer alle nach dir richten?“, gebe ich bissig zurück und frage mich gleichzeitig, weshalb ich so reagiere. „Wo sind die anderen überhaupt?“ Mein Freund zeigt zu dem kleinen Wald, der sich unweit von uns befindet.

„Sie schlafen.“

„Und du?“

„Ich wollte ein wenig die Gegend auskundschaften, um einen sinnvollen Weg für uns zu finden. Außerdem…“ Tai wendet sich ab und schaut wieder durch sein Fernrohr. Langsam laufe ich auf ihn zu, bleibe neben ihm stehen und nehme ihm den Gegenstand aus der Hand.

„Außerdem?“

„Ich konnte nicht schlafen, weil ich mir Sorgen um dich machte.“ Mein Freund senkt seinen Blick und sieht zu Boden. „Weißt du, ich bin froh, dass du zurückgekommen bist. Ich habe dich vermisst.“ Den letzten Satz spricht er so leise, dass ich ihn kaum verstehe. Verlegen und schweigend betrachte ich die Umgebung. Erst jetzt fallen mir die vielen Farben auf. Der Himmel und das Meer sind tiefblau, die Bäume erscheinen in einem satten Grün. „Deine Entscheidung war richtig, Yamato.“ Taichi lächelt und küsst mich flüchtig auf die Wange. „Du kannst ohnehin nicht vor mir fliehen, selbst wenn du mich fesselst und gefangen hältst.“

„Was?“ Verwirrt betrachte ich meinen Gegenüber. An seinen Handgelenken fallen mir violett verfärbte Male auf. „Tai…“, beginne ich, unterbreche mich jedoch, als dieser behutsam über die Länge meines Unterarmes streicht. Ich spüre nichts, dennoch klafft eine tiefe, nicht blutende Wunde an der Stelle, die mein Freund gerade berührte.

„Du kannst nicht sterben, mein Liebling. Nicht, wenn ich es nicht möchte.“

„Deshalb bin ich nicht ertrunken, deshalb verblute ich nicht“, murmle ich mehr zu mir selbst. „Hätte ich mich anders entschieden…“

„… hättest du dich mir entzogen“, beendet Tai meinen Satz. Mein Körper wird von einer Erschütterung erfasst und ich öffne die Augen. Es ist hell. Ich ziehe die Decke enger um meinen Körper.

„Bist du wach, Yamato?“, fragt mein Freund vorsichtig.

„Ja“, antworte ich müde, aber mit schnell klopfendem Herz.

„Dein Schlaf war ziemlich unruhig und du zitterst heftig. Hattest du einen Albtraum?“

„Nein.“ Kurz schweige ich. „Taichi? Vor acht Jahren im Sommercamp… ist damals etwas Seltsames vorgefallen? Erinnerst du dich?“

„Hm… ungewöhnlich war auf jeden Fall, dass es im August schneite. Hast du das tatsächlich vergessen?“

„Ja, es scheint so. Für mich ist diese Zeit nur sehr verschwommen… als ob… schon gut. Es ist alles in Ordnung.“

„Was ist los? Du wirkst durcheinander. Und warum sprichst du gerade jetzt auf das Sommercamp an?“ Schutz und Nähe suchend rutsche ich dicht an meinen Freund heran, lege meinen Kopf auf seine nackten Oberkörper und schließe erschöpft die Augen. „Yamato, du glühst. Du hast Fieber“, meint Taichi besorgt.

„Mir ist nur kalt“, nuschle ich schwerfällig.

„Binde mich los, damit ich mich um dich kümmern kann.“

„Nein“, sage ich ruhig, aber bestimmt.

„Du verdammter Sturkopf!“, schreit Tai mich nun an. „Ich werde nicht weglaufen. Aber ich habe Angst um dich, begreife das bitte!“

„Du musst keine Angst haben. Mir geht es gut.“

„Miss deine Temperatur und zeige mir das Ergebnis. Erst dann glaube ich dir und lasse dich in Ruhe.“ Ohne ein Wort zu entgegnen, erhebe ich mich schwerfällig. Ein leichtes Schwindelgefühl bringt mich für einen Augenblick ins Wanken. Unerträglich hämmert der Schmerz in meinem Kopf. Aus dem Bad hole ich das Thermometer, setze mich auf die Kante meines Bettes und messe meine Körpertemperatur. Mein Freund beobachtet mich misstrauisch. Als das Signal ertönt, werfe ich einen Blick auf das Display. „Zeig es mir“, verlangt Taichi streng. Missmutig halte ich ihm das Ergebnis entgegen. „39,3°C“, liest er ab. „Yamato…“

„Nein.“

„Sieh in den Spiegel, dein Körper zittert unkontrolliert und du kannst dich offenbar kaum auf den Beinen halten. Zudem scheinst du zu vergessen, dass ich, solange ich mich nicht frei bewegen kann, auf dich angewiesen bin. Bitte sei vernünftig, hörst du?“ Völlig reglos sitze ich da. Mein Denken ist zäh, meine Konzentration auf dem Tiefpunkt. Das Gefühl, welches der Traum hinterließ, ist noch immer präsent, aber ich bin nicht in der Lage, es zu deuten. „Yama…“ Das Läuten der Türklingel holt mich aus meinen Gedanken. Ich schaue meinen Freund kurz an, dann gehe ich aus dem Zimmer, froh der Situation entfliehen zu können. Ohne darüber nachzudenken, wer der Besucher sein könnte, öffne ich.

„Yamato, du siehst schrecklich aus. Ist etwas passiert?“ Ich schüttle kaum merklich meinen Kopf. Mein Freier betritt die Wohnung, schließt die Tür hinter sich und nimmt mich behutsam in den Arm. Dann mustert er mich durchdringend und sorgenvoll zugleich. Er legt seine Lippen auf meine Stirn und gleitet mit seiner Hand über die mit einem feuchten Film überzogene Haut meines Oberkörpers. „Fieber, kalter Schweiß, Schüttelfrost… ich bringe dich erst einmal ins Bett.“ Geschwächt lehne ich mich bei ihm an.

„Nein. Gehen Sie bitte. Es ist…“ Ich unterbreche mich selbst. Wenn ich ihn abweise, kann ich seinen Sohn nicht schützen. Fahrig öffne ich meine Hose. „Nehmen Sie sich, wonach ihnen verlangt. Nur nicht in meinem Zimmer, einverstanden?“, frage ich nahezu unterwürfig. Mein Freier nimmt mein Gesicht fest zwischen seine Hände.

„Sieh mich an, mein Süßer. Ich werde dich in diesem Zustand nicht ficken. Du bist krank und derartige Anstrengungen sind das Letzte, was du brauchst.“ Unerwartet hebt er mich hoch und trägt mich über den Flur zu meinem Zimmer.

„Nein, bitte. Taichi ist da.“ Überrascht hält mein Freier inne.

„Ist er auch krank oder warum ließ er dich die Tür öffnen?

„Lassen Sie mich runter.“

„Nein. Keine Sorge, ich werde nicht länger bleiben als nötig. Mir ist bewusst, dass dein Freund mich hasst, aber…“ Nun setzt er mich doch ab, hält mich aber weiterhin fest und öffnet meine Zimmertür. Ich senke resigniert meinen Blick, als er mich sanft hineinschiebt. „Habe ich euch gerade gestört?“, fragt mein Freier erstaunt, als er Taichi mit gefesselten Händen auf meinem Bett liegen sieht. Dieser schweigt. Es scheint, als warte er auf eine Reaktion meinerseits.

„Nein“, flüstere ich schließlich, wobei ich das Gefühl habe, jeden Moment das Bewusstsein zu verlieren. „Er darf mich nicht verlassen“, spreche ich abwesend weiter.

„Du hältst Taichi hier fest?“ Ich nicke verhalten. „Das ist Freiheitsberaubung, Yamato! Wie lange…“

„Heute ist der fünfzehnte Tag“, antwortet Tai ohne Betonung in der Stimme. Hinter mir stehend gibt mein Freier mir Halt, indem er meinen Oberarm nicht loslässt, nun verstärkt er den Druck.

„Binde ihn los“, fordert er mich im Befehlston auf.

„Nein.“

„Yamato. Glaubst du wirklich, dass es eurer Beziehung zuträglich ist, wenn du deinen Freund über zwei Wochen Gefangenschaft antust?“ Liebevoll streichelt er über meinen Arm. „Taichi, ich hoffe, du verstehst, dass ich dich nicht befreien werde. Meiner Meinung nach ergibt es nur Sinn, wenn Yamato es selbst und von sich aus tut. Es sei denn…“

„Nein, schon gut“, unterbricht Tai ihn, als wüsste er, wie der Satz enden sollte. Ich spüre, dass es für mich keinen Ausweg mehr gibt. Es ist vorbei. Wie fremdgesteuert gehe ich auf meinen Freund zu und löse seine Fesseln. Zum letzten Mal. Verkrampft streicht sich Taichi über seine Handgelenke, steht auf und streckt sich. Anschließend schlägt er mir ohne Zurückhaltung mit der Faust ins Gesicht. Aufgrund meiner schwachen körperlichen Verfassung stürze ich hart zu Boden und bleibe widerstandlos liegen. Meine Wange schmerzt stark, zufrieden schmecke ich Blut in meinem Mund. Stöhnend krümme ich mich zusammen, als Tai mich mit einem gezielten Tritt in den Bauch endgültig außer Gefecht setzt. Verschwommen sehe ich meinen Freier, der an der Tür lehnend das Geschehen unparteiisch beobachtet. Seine Mimik drückt jedoch Anteilnahme und Traurigkeit aus.

„Das musste sein, Yamato. Das weißt du.“ Vorsichtig nimmt Taichi mich in seine Arme. „Du bist so ein dämlicher Idiot! Was geht nur immer in deinem hübschen Köpfchen vor?“ Mit Tränen in den Augen schließe ich diese erleichtert. Es ist wirklich vorbei. Sein Duft umhüllt mich sanft. Wie sehr habe ich es vermisst in seinen Armen zu liegen.
 

Ich spüre eine kalte Hand auf meiner Stirn. Mein Körper scheint zu verglühen, weshalb ich diese zärtliche Berührung als angenehm empfinde. Zudem lindert die Kälte den pulsierenden Schmerz in meinem Kopf ein wenig. Ich fühle mich schwach und bekomme mein Zittern nicht unter Kontrolle.

„Taichi“, flüstere ich kaum hörbar.

„Nein“, entgegnet die besorgt klingende Stimme meines Freiers. Meine Augen brennen unangenehm und es fällt mir schwer, sie zu öffnen. Fiebrig blicke ich zu ihm.

„Wo ist Tai?“, frage ich müde, doch meine Panik ist deutlich herauszuhören.

„Bei seinen Eltern.“

„Nein…“, ist das einzige, von Verzweiflung gezeichnete Wort, welches über meine Lippen kommt. Tränen bahnen sich ihren Weg über mein Gesicht, ich versuche mich aufzusetzen, werde jedoch von meinem Freier sachte zurück auf das Laken gedrückt.

„Bleib ganz ruhig, mein Kleiner. Er kommt zurück, sobald er seine Eltern überzeugen konnte, dass alles in Ordnung ist. Zudem wollte er ein paar frische Sachen holen.“ Mein Hals ist trocken und ich kann kaum schlucken.

„Steht meine Flasche neben dem Bett?“ Fürsorglich reicht mir mein Freier den gewünschten Gegenstand, aus welchem ich gierig in großen Schlucken von dem Wasser trinke.

„Wie geht es dir?“, will mein Freier wissen, während er mit seinen Fingern über meine von kaltem Fieberschweiß bedeckte Haut streicht. Dann hält er mir das Thermometer entgegen. Ohne Widerrede nehme ich es und messe meine Temperatur.

„Ich fühle mich erschöpft und kraftlos, mir ist schwindelig. Sämtliche Gliedmaßen und mein Kopf schmerzen. Die Kälte und der Schüttelfrost hören einfach nicht auf.“

„Du bist krank. Vielleicht wäre es besser, einen Arzt zu konsultieren.“

„Nein, bitte. Es muss so gehen.“

„Warum, Yamato?“

„Ich befürchte, dass Entzugserscheinungen bei meiner momentanen Verfassung eine Rolle spielen. Durch die Gefangenschaft von Tai habe ich kaum Drogen konsumiert. Wenn Sie mir Heroin…“

„Nein“, unterbricht mich mein Freier mit ernstem Gesichtsausdruck. „Ich spritze dir jetzt bestimmt kein Heroin, selbst wenn du mit deiner Vermutung Recht haben solltest. Außerdem wäre dein Freund zurück, bevor du von deinem Trip runter bist. Willst du ihm auf diese Weise zeigen, dass du ein Fixer bist?“

„Das nicht, aber er kommt ohnehin nicht zurück. Nie hätte er mich mit Ihnen allein gelassen, wenn er noch etwas für mich empfinden würde.“ Erneut brennen Tränen in meinen Augen. Zu meiner Verwunderung lächelt mein Freier.

„Du irrst dich, mein Süßer. Taichi wollte nicht, dass ich mit dir allein bleibe, allerdings war die Alternative, dich gänzlich allein zu lassen, für ihn erst recht keine Option. Glaube mir, er liebt dich sehr, denn er ging nicht, ohne mir alle möglichen Drohungen an den Kopf zu werfen.“ Jetzt legt sich auch ein leichtes Lächeln auf meine Lippen. „Dein Freund ist wirklich sehr süß, vor allem, wenn er seine Besitzansprüche an dir geltend macht.“ Der Signalton des Thermometers weist uns auf die abgeschlossene Messung hin. Ich schaue auf das Display.

„Das Fieber sinkt nicht. 39,4°C“, seufze ich und schließe meine Augen.

„Ich bringe dich jetzt zum Arzt.“

„Nein, bitte…“, hauche ich und werfe meinem Freier einen flehenden Blick zu.

„Sei vernünftig, Yamato. Dein Körper ist ohnehin schon sehr geschwächt.“ Mit spürbar starker Zuneigung streicht er mir durch das feuchte Haar und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Die Tür zu meinem Zimmer wird geöffnet und Taichi betrachtet die sich ihm bietende Szene mit finsterer Miene. Er stellt die Tasche in seiner Hand auf dem Boden ab und richtet sich feindselig an meinen Freier:

„Nehmen Sie Ihre dreckigen Finger von meinem Freund. Meine Warnungen waren anscheinend nicht eindeutig genug. Sie gehen jetzt besser, sonst kann ich für nichts garantieren.“ In Tais Augen erkenne ich eine gefährliche Eifersucht, die ihn, wie so oft, unberechenbar werden lässt. Mit einem forschen Lächeln steht mein Freier auf, macht ein paar Schritte auf meinen Freund zu und zieht ihn eng an sich, wobei er mit seinem Arm dessen Taille umfängt.

„Keine Angst, mein Süßer“, raunt er Taichi lüstern und gerade so laut in sein Ohr, dass ich ihn noch verstehe. „Ich nehme dir Yamato nicht weg. Das würde ich ohnehin nicht schaffen.“ Voller Abscheu stößt mein Freund seinen Gegenüber von sich.

„Sagte ich nicht schon einmal, Sie sollen mich nicht anfassen?“, weist er ihn wütend und mit drohendem Unterton zurecht. Ein leichtes Lächeln legt sich auf meine Lippen. Erstaunlicherweise verspüre ich, trotz des anzüglichen Verhaltens meines Freiers, keine Eifersucht. Wahrscheinlich, weil ich weiß, dass er Tai gern aufzieht und Spaß daran hat, ihn ein wenig zu provozieren. Zudem vertraue ich ihm. Nie würde er mir so sehr wehtun und sich ernsthaft an meinen Freund heranmachen.

„Und ich sagte dir schon einmal, dass ich mich nicht an dir vergehen werde. Obwohl du wirklich einen verdammt süßen Arsch hast.“ Langsam gleitet mein Freier mit seiner Hand nach unten.

„Sie sind nichts weiter als ein perverser Kinderficker. Verpissen Sie sich! Und wagen Sie es nicht noch einmal, meinen Freund zu vögeln, sonst werde ich Sie tatsächlich kastrieren“, zischt Tai hasserfüllt.

„Hör auf“, mische ich mich nun ein. „Taichi, ich…“

„Du hältst dich da raus!“, fordert der mich gereizt auf, ohne seine Augen von meinem Freier abzuwenden.

„Schon gut, Yamato. Ich muss ohnehin los.“ Zärtlich streicht mir mein Freier über meine vom Fieber gerötete, erhitzte Wange. „Ruh dich aus, damit du bald wieder gesund wirst, mein kleiner Liebling.“ Mein Blick fällt auf Tai, dessen Hände zu Fäusten geballt sind. Doch bevor die Situation eskaliert, verlässt mein Freier den Raum und kurz darauf die Wohnung. Ich versuche mich aufzusetzen. Nur mit Mühe gelingt es mir. Mein Körper fühlt sich sehr schwach und demzufolge schwer an.

„Ich verbiete dir, mit diesem Mann weiter zu verkehren, Yamato“, sagt Taichi unerwartet ruhig. Eigentlich will ich protestieren, aber ich fühle mich momentan völlig überfordert. Erschöpft sinke ich zurück auf die Matratze und schließe meine Augen.

„Vor einiger Zeit meintest du, du wolltest mich gern einmal so richtig rannehmen, wenn ich verschwitzt und im Fieberwahn bin.“ Meine Stimme ist leiser und unbeständiger als erwartet. Ich spüre Tais Lippen auf meinen und seine kühlen Hände, die über meine mit kaltem Schweiß benetzte Haut gleiten. Jede Berührung von ihm fühlt sich irreal an, fremd und vertraut zugleich. Mein Kopf ist vollkommen leer. Lediglich das Schwindelgefühl ist greifbar.
 

Der Signalton des Thermometers ertönt, welchen ich jedoch nur am Rande meines Bewusstseins wahrnehme. Er klingt für mich irreal und weit entfernt, ebenso wie die Stimme meines Freundes. Vielleicht fantasiere ich.

„Das Fieber ist auf 39,6°C gestiegen. In deiner momentanen Verfassung Sex zu haben, war keine gute Idee. Dein Körper scheint die Anstrengung nicht zu verkraften.“ Leicht gleiten kalte Fingerspitzen über meinen Brustkorb. „Sollte das Fiebermittel in der nächsten halben Stunde nicht anschlagen und deine Körpertemperatur sinken, bringe ich dich zum Arzt. Auch wenn ich weiß, dass ich damit gegen deinen Willen agiere. Yamato…“ Ich spüre Taichis Hand, die sanft durch meine feuchten Haare streicht. Es fällt mir schwer, meine Augen offen zu halten, mein Blick geht durch meinen Freund hindurch. Verhalten küsst er meine Lippen. „… du bist so leblos, kaum ansprechbar. Deine Atmung ist schwerfällig und du scheinst beinahe zu verglühen. Ich ertrage es nicht, dich so abwesend zu sehen.“ Tais Stimme vibriert, Tränen tropfen auf meine Haut und obwohl ich sie deutlich fühlen kann, zweifle ich nach wie vor an meiner Wahrnehmung. Mit einem Mal steigt Übelkeit in mir auf und mein Körper verkrampft schmerzhaft. Stöhnend krümme ich mich zusammen, erbreche mich auf das Laken.

„Yamato…“ Geistesgegenwärtig löst er den Zopfgummi, den ich aufgrund meiner langen Haare immer um mein Handgelenk trage, und bindet diese notdürftig im Nacken zusammen. Dann verlässt er mein Zimmer. Mit einer Schüssel Wasser und einem Lappen kehrt er zurück. Trotz meiner Benommenheit und des starken Schwindelgefühls beobachte ich meinen Freund, falle jedoch schnell in einen unruhigen, von wirren Träumen geplagten Schlaf.
 

Dumpf und unverständlich dringt eine Stimme an mein Ohr. Ich öffne meine Augen und erblicke eine steril weiß gestrichene Zimmerdecke. Als ich vorsichtig meinen Kopf drehe, wobei mir ein feuchter, lauwarmer Lappen von der Stirn rutscht, stelle ich erleichtert fest, dass Taichi mich nicht ins Krankenhaus brachte und ich somit nach wie vor in meinem eigenen Bett liege.

„Wann?“

„Wirklich?“ Ich schaue in die Richtung, aus der ich Tais Stimme vernehme. Die Tür steht einen Spalt offen. Mein Freund befindet sich im Flur und scheint zu telefonieren.

„Ich bin froh, dass du so zeitnah herkommen wirst.“

„Yamato schläft momentan. Er hat ziemlich hohes Fieber und musste sich mehrfach übergeben.“

„Nein, ich wollte einen Arzt konsultieren, weil seine Körpertemperatur trotz Medikamente kaum sinkt, aber…“

„Ja, genau.“

„Nein.“

„Hiroaki…“ Durch die Art, wie er den Namen meines Vaters ausspricht, wirkt Taichi haltlos, nahezu kindlich. Ich frage mich, ob er weint, denn seine Stimme zittert leicht. „Ich habe Angst um Yamato.“

„Nicht nur deshalb. Er konsumiert wahrscheinlich schon seit längerer Zeit Heroin.“ Zwar vernehme ich die Worte meines Freundes, begreife deren Bedeutung im Moment jedoch nicht.

„Er war nicht bei Bewusstsein, aber völlig durchgeschwitzt. Ich wollte ihm ein frisches Hemd anziehen, als ich ihn entkleidete, sah ich Vernarbungen in seiner Armbeuge.“

„Naja, soweit ich weiß, kann man auch andere Drogen injizieren, allerdings…“

„Ja.“

„Nein, ich habe ihn bisher nicht darauf angesprochen. Er ist seitdem noch nicht wach gewesen.“

„In Ordnung.“ Eine kurze Pause entsteht.

„Wirst du ihn wieder in eine psychiatrische Klinik einweisen?“

„Verstehe.“ Aus Taichis Reaktion kann ich nicht erschließen, was mein Vater auf dessen Frage antwortete.

„Die Vermutung hatte ich auch schon. Wenn er tatsächlich auf Entzug ist, würde das die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes erklären. Seine Symptomatik könnte auch passen.“

„Hiroaki… bitte. Es ist nicht deine Schuld.“

„Sich Vorwürfe zu machen, ändert nichts an der Situation. Auch ich frage mich, wie lange er sich schon mit diesem Zeug kaputt macht und wie ich so blind sein konnte, davon nichts zu bemerken.“

„Ich weiß es nicht, aber ich würde es diesem perversen Kinderficker durchaus zutrauen. Er kann seine dreckigen Finger ohnehin nicht von Yamato lassen, wäre es da verwunderlich, wenn er ihn mit Drogen von sich abhängig macht?“ Traurig schließe ich meine Augen. Ich wünschte, Taichi hätte eine andere Meinung von meinem Freier, zumal er ihn nicht einmal richtig kennt.

„Allein schaffe ich das nicht. Ich brauche dich, Hiroaki“, höre ich meinen Freund voller Sehnsucht sagen.

„Ja.“

„Ich weiß.“

„Du auf dich auch. Bis dann.“ Tai legt auf. Kurz herrscht bedrückende Stille in der Wohnung, dann setzt mein Freund sich in Bewegung. Ich halte meine Augen geschlossen, als er mein Zimmer betritt und sich auf der Bettkante niederlässt. Fürsorglich nimmt er den Lappen von meiner Stirn, wäscht ihn in der Schüssel aus und tupft mir anschließend damit den Schweiß von der Haut. Ich realisiere noch immer nicht ganz, welche Folgen das eben vernommene Telefonat für mich haben wird, auch verstehe ich nicht, warum ich vorgebe, weiterhin zu schlafen. Nur mein Herz schlägt schmerzhaft stark gegen meinen Brustkorb und versucht meinem aus Angst verdrängenden Verstand die wahrscheinlich unausweichlichen Veränderungen begreiflich zu machen.
 

„Mir geht es schon etwas besser“, lüge ich meinen Freund an, wobei ich versuche die Schmerzen durch den Entzug vor ihm zu verbergen. Ich brauche Heroin, an etwas anderes kann ich kaum noch denken. Allerdings kommt mir immer wieder das Telefongespräch zwischen Taichi und meinem Vater in den Sinn. Fand es tatsächlich statt oder unterlag ich im Fieberwahn einer Halluzination?

„Du bist sehr blass.“ Sanft berührt Tai meine Wange und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. „Und dein Fieber ist nur unwesentlich gesunken. Das Mittel schlägt nicht an. Yamato…“

„Nein. Bitte, ein Arzt ist wirklich nicht nötig!“

„Ich verstehe dich nicht. Warum hast du solch eine panische Angst vor einer ärztlichen Untersuchung?“

„Keine Ahnung, vielleicht liegt es einfach an meiner allgemeinen Abneigung gegen Ärzte. Die können einem ohnehin nicht helfen. Zumindest musste ich die Erfahrung mehrfach machen.“

„Aber im Augenblick geht es nicht um deine Psyche. Dein Körper wehrt sich gegen irgendetwas, scheint es allein jedoch nicht zu schaffen. Du…“

„Taichi, hör auf dir unnötige Sorgen zu machen. Ich kenne meinen Körper, immerhin muss ich ihn tagtäglich ertragen. Es ist nichts Ernstes, also…“

„Fast 40°C Fieber nennst du nichts Ernstes? Du lagst bisher die meiste Zeit im Delirium. Momente wie jetzt, in denen du bei klarem Verstand bist, sodass ich mit dir reden kann, sind selten. Findest du das nicht besorgniserregend?“

„Tai…“, setze ich an, werde aber von meinem Freund unterbrochen.

„Bist du auf Entzug?“, fragt er ruhig, mit ernster Miene. „Willst du dich aus diesem Grund nicht untersuchen lassen? Weil du weißt, dass die Symptome Entzugserscheinungen sind?“ Nervös weiche ich Tais prüfenden Blick aus. War das Telefonat doch keine Einbildung? Hat er die Vernarbungen gesehen, die auf meinen Heroinkonsum hinweisen?

„Wie kommst du darauf?“, frage ich vorsichtig, ohne meinen Freund anzusehen.

„Du hast Schmerzen, nicht wahr? Hinzu kommen unkontrollierbares Zittern, Krämpfe… dein Körper verkrampft immer wieder. Auch wenn du versuchst es zu verbergen, ich kenne dich, Yamato.“

„Ich… ja, vielleicht“, lenke ich schuldbewusst ein. Offensichtliches zu leugnen, wäre mehr als dämlich. Sinnvoller erscheint es mir, Schadensbegrenzung zu betreiben und eine andere Erklärung für die Vernarbungen zu finden, um vom Heroin abzulenken. Allerdings muss ich mich mit meinen Äußerungen vorsehen, da ich mir noch immer nicht sicher bin, wie viel Taichi und mein Vater tatsächlich wissen. „Wenn du meinen Zustand kennst, müsste dir klar sein, dass es mit der Zeit besser wird und ein Arzt nicht notwendig ist. Der Entzug von GHB bedarf keiner medizinischen Betreuung.“ Mein Freund sagt nichts, betrachtet mich lediglich mit Skepsis. „Sieh mich nicht so an. Vertrau mir wenigstens einmal“, bringe ich ihm vorwurfsvoll entgegen und setze mich dabei leicht auf. Tai langt nach dem Thermometer, welches auf meinem Nachtschrank liegt, und hält es mir entgegen.

„Miss“, fordert er mich einsilbig und relativ tonlos auf. Schweigend nehme ich es ihm aus der Hand und leiste ohne Widerworte Folge. Während ich auf das Ergebnis warte, schließe ich meine Augen und konzentriere mich auf das beständige Pulsieren in meinem Kopf. Der Rhythmus ist unangenehm, durchzogen von starken, stechenden Schmerzen. Durch den Entzug treffen diese Symptome auch auf den Rest des Körpers zu. Ich spüre überdeutlich das Blut durch meine Adern fließen, es tut weh. Am Leben zu sein tut so verdammt weh. Dennoch muss ich mich zusammenreißen und darf mir nichts anmerken lassen, um nicht noch mehr Grund zur Besorgnis zu geben. Der Signalton des Thermometers holt mich aus meinen Gedanken. Ich werfe einen Blick auf das Display.

„38,9°C“, informiere ich meinen Freund, der meine Aussage jedoch überprüft, indem er selbst auf das Display schaut. „Du vertraust mir wirklich nicht“, stelle ich enttäuscht fest.

„Bei all deinen Lügen, die du Hiroaki und mir erzählt hast, beziehungsweise handelt es sich eher um Halbwahrheiten, wundert es dich, dass dir kein Vertrauen entgegengebracht wird?“ Taichi sieht mich ungläubig an. „Bist du so naiv?“ Mit trauriger Miene streicht er ein paar Strähnen hinter mein Ohr. Seine braunen Augen fixieren mich, nehmen mich gefangen. „Manchmal würde ich gern in deine Welt eintauchen, vielleicht könnte ich dich dann besser verstehen.“ Ich spüre Tais warmen Atem auf meiner Haut, seine Lippen zaghaft auf meinen. Behutsam drücke ich seinen Körper etwas von mir und drehe meinen Kopf zur Seite.

„Nicht“, flüstere ich, erfüllt von Selbsthass. Ich möchte meinen Freund nicht abweisen, ich sehne mich sogar nach ihm, aber im Moment kann ich nicht anders handeln. Einmal mehr agiere ich ohne ersichtlichen Grund. Einfach nur gegen mich.

„Was ist los?“, fragt Tai verwirrt. „Erträgst du gerade keine Berührungen, keine Zuneigung?“

„Es tut mir leid“, hauche ich unsicher. Schwindel überkommt mich und Schüttelfrost ergreift Besitz von meinem Körper.

„Dein Befinden verschlechtert sich wieder, hab ich recht?“

„Es fühlt sich so an“, gebe ich ehrlich zu, während ich in eine liegende Position rutsche. „Vielleicht ist es nur ein kurzer Schub, den ich gleich überstanden habe.“ Müde schließe ich meine Augen. Der feuchte Lappen, der von Taichi fürsorglich auf meine Stirn gelegt wird, ist angenehm kühl. Abgesehen von den körperlichen Entzugserscheinungen bin ich innerlich extrem unruhig, da mein Verlangen nach Heroin allmählich unerträglich wird. Irgendwie muss ich an einen Schuss kommen. Aushalten ist für mich keine Option mehr. Zwar stehe ich normalerweise auf Schmerzen, brauche sie sogar, aber im Fall eines Heroinentzuges gleichen sie eher einem Todeskampf, der nicht einmal mit dem Tod belohnt wird. Und wenn ich an das letzte Mal denke, befinde ich mich erst am Anfang. Damals waren die Krämpfe dermaßen schmerzhaft, dass ich schrie, mich krümmte und einfach nur sterben wollte. Bevor dieser Zustand eintritt, muss ich einen Weg finden, mir die Droge unbemerkt in die Venen zu spritzen.

„Du wirst an ihnen zugrunde gehen“, höre ich die Stimme meines Freundes traurig sagen.

„Was?“ Ich öffne meine Augen und schaue ihn irritiert an.

„Drogen. Sei ehrlich, du kommst von diesem Scheißzeug nicht los, weil du es überhaupt nicht möchtest.“

„Taichi, ich…“ Ein Klingeln an der Tür beendet das für mich eher unangenehme Gespräch. Zumindest vorerst. Ohne ein Wort zu sagen, steht mein Freund auf und verlässt das Zimmer, wobei die Tür ein Stück weit offen bleibt. Ich schließe meine Augen erneut und konzentriere mich auf das Atmen.

„Sagte ich Ihnen nicht, Sie sollen sich von Yamato fernhalten?“, höre ich meinen Freund unfreundlich, beinahe gereizt fragen.

„Ich werde mich von ihm fernhalten, wenn er es von mir verlangt. Und momentan mache ich mir große Sorgen um Yamato. Lass mich bitte zu ihm, Taichi.“ Der Tonfall meines Freiers ist nachsichtig und fordernd zugleich. Schwerfällig richte ich mich auf.

„Nein. Und wenn Sie nicht sofort…“

„Was dann?“, will mein Freier amüsiert wissen.

„Verdammt, lassen Sie mich los!“, entgegnet Tai wütend, aber auch Panik meine ich herauszuhören. Auf wackeligen Beinen schleppe ich mich zur Tür, stütze mich kraftlos am Rahmen ab, lehne mich Halt suchend dagegen. Mein Blick fällt auf Taichi, der mit dem Rücken zur Wand steht, und meinen Freier, der sich mit einer Hand an der Wand abstützt und mit der anderen die Taille meines Freundes umfängt und ihn dicht an sich zieht.

„Weißt du, Taichi, besonders in Momenten, in denen du dich bedroht fühlst, und vor allem, wenn du deinen Besitzanspruch an Yamato geltend machst, finde ich dich unglaublich süß.“ Er küsst Tai auf die Wange, dann wendet er sich von ihm ab. Als er mich erblickt, kommt mein Freier mit sorgenvoller Miene auf mich zu.

„Berühre Yamato und du bist tot, perverses Arschloch!“, ruft mein Freund ihm drohend nach und wischt sich mit dem Handrücken angeekelt über die Wange.

„Hör auf, Tai“, mische ich mich nun in das Geschehen ein, doch meine Stimme ist schwächer als beabsichtigt, weshalb meine eigentliche Forderung deutlich an Ausdruck verliert.

„Bist du auf der Seite dieses Pädophilen?“, entgegnet er verständnislos.

„Ich bin auf keiner Seite, aber du verhältst dich kindisch.“ Laut lacht mein Freund auf.

„Ausgerechnet von dir muss ich mir eine solche Bemerkung anhören?“, spottet er. Doch sofort wird sein Gesichtsausdruck wieder ernst. „Yamato, er trägt die Hauptschuld an deiner schlechten Verfassung. Warum willst du das nicht begreifen?“ Ich schaue meinem Freier, der vor mir steht, in die Augen. Der streicht mir liebevoll durch die Haare und zieht mich eng an seinen Körper.

„Du hast noch immer hohes Fieber“, mutmaßt er. Ich spüre seine Lippen dicht an meinem Ohr. „Und du brauchst Heroin, nicht wahr? Die Symptome, welche, wie du bereits vermutetest, überwiegend Entzugserscheinungen sind, werden durch deine selbstzerstörerischen und somit schwächenden Handlungen noch zusätzlich verstärkt“, flüstert er selbst für mich kaum hörbar, um sicher zu gehen, dass Taichi seine Worte nicht versteht. Ich nicke leicht und kralle mich Halt suchend im Stoff seines Hemdes fest. Alles dreht sich. Mein Blick fällt auf Taichi. Seine Eifersucht ist ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, dennoch bleibt er unbewegt, aber mit geballten Fäusten an der noch immer geöffneten Wohnungstür stehen.

„Tai…“, hauche ich. Tränen füllen meine Augen. Er ist nicht nur wütend, sondern auch ziemlich verletzt. Dabei schätzt er die Situation falsch ein. Zwar befinde ich mich im Augenblick in den Armen meines Freiers, weil er Angst um mich hat und für mich da sein will, zudem kennt er das eigentliche Problem, dennoch gilt meine Sehnsucht Taichi, seiner Nähe, seinen Berührungen und seiner Zuwendung. „…ich liebe dich so sehr.“ Seufzend schließt mein Freund die Tür.

„Manchmal frage ich mich, warum ich nicht einfach gehen kann.“ Seine Aussage schmerzt, doch auch ich stellte mir diese Frage schon oft, vor allem, wenn man bedenkt, was ich ihm bisher alles antat. Ich verkrampfe meine Finger stärker im Stoff des Hemdes meines Freiers, da ich drohe mein Gleichgewicht zu verlieren. Mein Körper zittert und die aufkommende Übelkeit bereitet mir Schwierigkeiten.

„Taichi“, richtet sich mein Freier plötzlich an meinen Freund. „Ich denke, du solltest meine Position einnehmen.“ Schweigend kommt der auf uns zu und zieht mich besitzergreifend an sich. Ich schließe meine Augen, ziehe seinen Duft tief in mich ein. Tai zu spüren, ist beruhigend und unglaublich schön.

„Gehen Sie endlich. Wir brauchen Sie nicht“, höre ich ihn mit feindseligem Unterton sagen.

„Doch, ich brauche ihn“, widerspreche ich leise.

„Weil du von diesem Wichser deine Scheißdrogen bekommst?“ Aufgebracht drängt Taichi mich gegen den Türrahmen zu meinem Zimmer, presst seinen Unterarm gegen meinen Hals. „Aber ich lasse nicht zu, dass du auf diese Weise verreckst. Ich werde nicht gegen GHB, Heroin und was du noch alles konsumierst, verlieren! Hörst du? Du darfst nicht sterben, verdammt!“ Weinend lehnt sich mein Freund an mich. Er wirkt so schutzlos, zerbrechlich. Unsicher umfange ich ihn mit meinen Armen und blicke ratlos zu meinem Freier. „Du solltest zurück ins Bett“, meint Tai unerwartet, löst sich von mir und begleitet mich stützend in mein Zimmer. Während ich mich hinlege, geht er zu meinem Schreibtisch und entnimmt einem der Schubfächer einen Gegenstand, den ich nicht sofort erkenne. Erst als mein Freund das Zimmer wieder verlässt, begreife ich sein Vorhaben. Aus Panik stehe ich zu schnell auf und werde von einem heftigen Schwindelgefühl wieder auf die Matratze gezwungen.

„Wie konnten Sie nur so unverantwortlich handeln, ihn von Drogen abhängig zu machen? Sie behaupten, Yamato zu lieben, zerstören ihn aber systematisch. Letztlich wollen Sie an meinem Freund nur Ihre abartige, pädophile Lust befriedigen.“ Noch einmal versuche ich aufzustehen. Es gelingt mir. So schnell ich kann, stolpere ich in den Flur. „Ich habe Sie mehrfach gewarnt, nun müssen Sie mit den Konsequenzen leben.“ Wie ich befürchtete, handelt es sich bei dem Gegenstand um mein Klappmesser, welches Tai meinem Freier gerade an die Kehle hält. Seine Worte sprach er erwartet kalt und emotionslos. Ich schaue zu meinem Freier, der zwar in die Enge getrieben mit dem Rücken zur Wohnungstür steht, allerdings sehr gefasst wirkt. Er kennt meinen Freund zu wenig, um zu wissen, wie skrupellos der sein kann und wozu er in bestimmten Situationen fähig ist. In seiner augenblicklichen psychischen Verfassung würde Taichi ihn ohne zu zögern töten.

„Bitte hör auf“, flehe ich mit belegter Stimme, während ich unsicheren Schrittes langsam auf die Beiden zugehe.

„Yamato, bleib im Bett. Du siehst wirklich nicht gut aus“, sagt mein Freier sanft. „Das hier…“

„Verschwinde, Yamato! Und du hältst deinen Mund oder ich ziehe die Klinge sofort durch!“ Seine Aufforderungen spricht Tai nach wie vor ohne jede Gefühlsregung aus. Allmählich habe ich Angst, dass er die Kontrolle verliert und die Situation eskaliert. Das Fieber sowie die Kopfschmerzen verhindern jedoch jeden klaren Gedanken, auch meine Beine tragen das Gewicht meines Körpers nicht mehr lange. Erschöpft lehne ich mich gegen die Wand.

„Dein Freund braucht dich, Taichi.“ Bestimmt ergreift mein Freier dessen Handgelenk, verharrt jedoch in der vorherrschenden Position, sodass sich die Klinge des Messers noch immer gefährlich nah an seinem Hals befindet. „Wenn du ihn liebst, wie du sagst, sollte Yamato wichtiger sein. Deinen Hass kannst du später an mir auslassen.“ Anstatt zu antworten, verstärkt Tai den Druck auf das Messer. „Verstehe, er ist dir gerade ziemlich egal. Du…“

„Sei endlich still, verdammt!“, schreit mein Freund seinen Gegenüber ungehalten an. „Wenn ich dich töte, kannst du Yamato nicht mehr für deine Perversion missbrauchen! Deinetwegen ist er überhaupt erst drogenabhängig geworden, du widerlicher Scheißkerl!“

„Nein, Taichi. Du irrst dich“, widerspreche ich. Durch die Schmerzen und Krämpfe, welche ich so gut es geht und vor allem unbemerkt zu kompensieren versuche, fällt es mir schwer, zu atmen, geschweige denn zu sprechen. „Ohne ihn wäre ich schon längst völlig abgestürzt. Vor ihm wurde ich bereits von anderen Freiern unter Drogen gesetzt und mit Sicherheit war die Qualität des Stoffes ziemlich minderwertig, somit…“

„Warum nimmst du dieses Arschloch immer wieder in Schutz? Liebst du ihn? Ist er inzwischen an die Stelle deines Vaters getreten? Ist er ein Ersatz für ihn? Ebenso wie Akito ein Ersatz für mich war?“

„Du weißt, dass du Unsinn von dir gibst, oder?“ Ich hasse meinen Körper. Wäre er nicht so schwach, könnte ich auf die Situation besser reagieren beziehungsweise überhaupt erst einmal agieren. Die anhaltende Übelkeit wird stärker. Wenn ich mich nicht im Flur erbrechen möchte, muss ich es irgendwie schaffen, ins Badezimmer zu gelangen. Unsicheren Schrittes taumele ich zur Toilette, in welche ich mich schmerzhaft würgend übergebe. Dann sinke ich kraftlos zu Boden. Ich brauche Heroin. Ich muss es in meinen Venen spüren, sonst wird sich mein Zustand nicht verbessern. Die Entzugserscheinungen verschwinden zwar irgendwann, aber ohne diese Leichtigkeit, das Glücksgefühl, welches die Droge mir schenkt, kann ich nicht mehr leben. Ertrage ich das Leben nicht mehr. Weinend krümme ich mich zusammen.

„Tai… hilf mir…“, flehe ich stimmlos. Ich sollte aufgeben und hoffen, dass mich die Bewusstlosigkeit von der Realität befreit. Stattdessen bemühe ich mich und schaffe es unter Anstrengung, aufzustehen. Fast schon mechanisch schleppe ich mich zur Tür. Ich richte meinen Blick auf die beiden Männer am Ende des Flurs, dann auf das Messer, welches noch immer in der Hand meines Freundes verweilt. Zwar ließ er es sinken, scheint aber weiterhin fest entschlossen zu sein, meinen Freier anzugreifen. Entsetzt bemerke ich die klaffende Wunde an Tais linkem, blutüberströmtem Unterarm. Offenbar versuchte mein Freier ihm das Messer zu entwinden. An seinem Hals sehe ich ebenfalls einen leicht blutenden Schnitt. Wollte Taichi ihn wirklich töten, woraufhin mein Freier sich wehrte? Ich muss etwas unternehmen, allein wird mein Freund in diesem Zustand nicht zur Vernunft kommen.

„Taichi, deine Wunde muss versorgt werden. Der Schnitt ist wirklich tief und blutet sehr stark“, redet mein Freier ruhig auf ihn ein. Sein Gegenüber reagiert nicht. „Du liebst Yamato mehr als alles andere, hab ich recht?“

„Ja“, antwortet Tai tonlos.

„Und du hast Angst um ihn, willst ihn beschützen und ihm Halt geben.“

„Ja.“

„Dann dreh dich um und sieh ihn dir an.“ Wieder keine Reaktion. Der Blick meines Freiers verfinstert sich. Er hält sich nicht zurück, als er Tai mit der Rückhand eine kräftige Ohrfeige verpasst. Für einen Moment herrscht bedrohliche Stille in der Wohnung. „Es reicht, Taichi. Gib mir das Messer“, befiehlt mein Freier in autoritärem Tonfall. Unerwartet gehorcht mein Freund, wendet sich um und läuft wie fremdgesteuert auf mich zu. Seine Augen sind leer, seine Miene vollkommen ausdruckslos. Vor mir bleibt er stehen. Leblos.

„Taichi?“ Behutsam streiche ich über seine noch immer stark gerötete, geschwollene Wange. Mein Freier hat wirklich hart zugeschlagen. Angsterfüllt und sehr unsicher, beinahe zurückhaltend umfange ich meinen Freund mit meinen Armen. Wie erwartet reagiert er auch auf mich nicht, selbst als ich seinen Körper fest an mich ziehe, bleibt er regungslos. „Taichi“, versuche ich es erneut, dabei weiß ich nicht einmal, ob er mich hört. „Was ist passiert?“, richte ich mich nun an meinen Freier.

„Ich wollte ihm das Messer entwinden und ihn dazu bringen, zu dir zu gehen. Die Situation eskalierte etwas. Auch unterschätzte ich seine Kraft ein wenig. Es tut mir leid, es lag nicht in meiner Absicht, Taichi zu verletzen.“

„Ich weiß. Aber warum entschuldigen Sie sich? Immerhin ist er auf Sie losgegangen und hat Sie sogar verletzt.“

„Das ist nur ein Kratzer.“ Ein sanftes Lächeln legt sich auf die Lippen meines Freiers. „Zudem verstehe ich ihn. Er will dich beschützen. Yamato…“ Plötzlich löst Tai sich aus meiner Umarmung und sieht mich durchdringend an.

„Ich liebe dich. Du sollst glücklich sein, deshalb…“ Entschlossen legt er seine Hände um meinen Hals und drückt zu. „Lächle, Yamato. Ich erfülle dir endlich deinen sehnlichsten Wunsch. Lächle ein letztes Mal für mich, mein Liebling.“ Voller Zärtlichkeit küsst er die Tränen von meinen Wangen.

„Nicht, Taichi…“, will mein Freier ihn aufhalten. Schnell kommt er auf uns zu.

„Bitte lassen Sie ihn“, entgegne ich stockend. „Vielleicht gibt er sich mir auf diese Weise wieder zurück. Es wäre nicht das erste Mal.“ Tai verstärkt seinen Druck, mir wird schwarz vor Augen. Kraftlos sinke ich mit meinem Freund zu Boden.

„Selbst im Sterben finde ich dich noch wunderschön“, flüstert er liebevoll. „Öffne deine Augen und schau mich an. Ich möchte sehen, wie das Leben allmählich aus ihnen entweicht.“ Auch ich will mich ein letztes Mal in seinen unergründlichen, braunen Augen verlieren. Ich liebe ihn so sehr. Mit einem Lächeln verabschiede ich mich von Taichi.

„Danke.“

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

„Herr Ishida, Sie werden während der gesamten Zeit Ihres Aufenthaltes genau protokollieren, welche Nahrungsmittel Sie in welcher Menge am Tag zu sich nehmen. Angedacht sind drei Hauptmahlzeiten, früh, mittags und am Abend, die Sie vollständig aufessen werden, sowie zwei kleine Zwischenmahlzeiten Ihrer Wahl, beispielsweise ein Apfel oder ein Joghurt. Die Protokolle sind bis spätestens einundzwanzig Uhr selbstständig, ohne Aufforderung des Personals bei der diensthabenden Schwester abzugeben. Bei Nichteinhaltung der Auflagen werden Sie mit den vorhin von uns gemeinsam erarbeiteten und besprochenen Sanktionen rechnen müssen. Haben Sie das verstanden, Herr Ishida?“

„Ja“, bestätige ich mürrisch.

„Das Wiegen findet jeden Morgen vor dem Frühstück statt. Unbekleidet. Selbstverständlich übernimmt bei den männlichen Patienten ein Pfleger diese Aufgabe, der auch die Körperinspektion bezüglich möglicher Selbstverletzungen durchführen wird. Für die Dauer dieser Maßnahmen werden die Schwestern den Raum verlassen.“ Finster schaue ich meine Bezugstherapeutin an. Würde ich derartige Erniedrigungen nicht schon von anderen Klinikaufenthalten kennen, fiele es mir mit Sicherheit schwer, ruhig zu bleiben. Dennoch gehen mir die Regeln und Verbote bereits jetzt auf die Nerven und fast bereue ich, mich gegen die Einweisung nicht richtig gewehrt zu haben. Einzig für meinen Vater leistete ich keinen Widerstand. Ich will ihn nicht noch weiter in die Verzweiflung treiben und erst recht nicht, wie Taichi, in den Alkoholismus.

„… shida! Herr Ishida!“ Eindringlich versucht eine Stimme mein Bewusstsein zu erreichen. „Hören Sie mir zu?“

„Nein“, antworte ich wahrheitsgemäß, noch immer leicht abwesend. Der Blick meiner Therapeutin ist vorwurfsvoll.

„Wir können das hier auch abbrechen und Sie gehen nach Hause. Meine Zeit kann ich besser nutzen, denn es gibt Patienten, die ernsthaft ihre Probleme in den Griff bekommen wollen.“ Ich schweige und schaue betreten auf meine Finger, die ich verkrampft ineinander verhake, um das Zittern zu unterbinden. „Welche Gedanken gehen Ihnen gerade durch den Kopf? Was ist momentan von so großer Wichtigkeit, dass Sie es nicht schaffen, mir Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken?“, will sie seufzend wissen. Ich beschließe aufrichtig zu sein.

„Mein Vater. Sein Konsumverhalten im Bezug auf Alkohol verändert sich allmählich. Ich weiß, dass ich die alleinige Schuld daran trage, weil er auf diese Weise seine Angst um mich zu kompensieren versucht. Bei meinem Freund begann es genauso und ich musste hilflos zusehen, wie er immer weiter in die Alkoholabhängigkeit rutschte. Ich muss etwas tun, damit sich die Geschichte nicht mit meinem Vater wiederholt.“ Es gelingt mir nicht, das Zittern meiner Stimme zu verbergen. Verstohlen wische ich mir eine Träne von der Wange, halte meinen Kopf weiterhin gesenkt.

„Ich verstehe die Sorge um Ihren Vater, aber Sie sollten zunächst an sich und Ihre eigenen Probleme denken. Es klingt hart, doch in erster Linie sind Sie deshalb hier. Sicher gehört das Umfeld als einflussreicher Faktor dazu, momentan sollten die akuten Probleme, spich jene, die Ihr Leben bedrohen, allerdings Vorrang haben. Verstehen Sie das, Herr Ishida?“

„Ja“, gebe ich mechanisch zur Antwort, obwohl es nicht der Wahrheit entspricht. Mein Vater und Taichi bedeuten alles für mich. Wie kann diese Frau von mir erwarten, deren selbstschädigendes Verhalten, auch noch meinetwegen, zu ignorieren, obwohl ich mir egal bin? Ich verstehe es tatsächlich nicht.

„Gut, dann machen wir weiter.“ Noch mehr Regeln und Verbote. Mein Wille, etwas zu verändern, schwindet und im Augenblick bin ich mir nicht sicher, ob ich die nächsten Monate durchhalte, die Therapie beende, geschweige denn Verbesserungen erziele. Bekäme ich jetzt die Möglichkeit, mir einen Schuss zu setzen, würde ich es dankbar und ohne zu zögern tun, um dieser ganzen Scheiße zu entfliehen. Das uneingeschränkte Glücksgefühl, die Leichtigkeit, ich sehne mich danach. So sehr.
 

Über Kopfhörer dringt schwermütige Musik an meine Ohren, während ich auf dem Bett liegend gedankenversunken zur steril weiß gestrichenen Decke starre. Erst seit zwei Wochen bin ich in dieser psychiatrischen Anstalt eingesperrt, vom Gefühl her dauert meine Gefangenschaft jedoch bereits Monate. Mein Vater und Taichi besuchen mich täglich und wie erwartet meist zusammen. Ich versuche mir meine Eifersucht nicht anmerken zu lassen, obwohl ich ziemlich sicher bin, dass die beiden meine Abwesenheit nutzen, um intim zu werden. Unerwartet war auch meine Mutter mit Takeru zu Besuch. Durch die Anwesenheit meines Bruders verlief das Treffen relativ entspannt, generell hat sich mein Verhältnis zu ihr inzwischen gebessert, auch wenn der Umgang miteinander noch sehr unbeholfen wirkt. Ich drehe mich auf die Seite. Auf dem benachbarten Bett liegt ein Mann mittleren Alters. Er ist in ein Buch vertieft und scheint nicht zu bemerken, dass ich ihn beobachte. Als ich das Zimmer bezog, war er schon seit einigen Wochen hier, trotzdem weiß ich kaum etwas über ihn, da wir in verschiedenen Therapiegruppen sind. In den ersten Tagen erzählte er mir, dass er von Beruf Polizist ist, wegen Drogenmissbrauchs jedoch suspendiert wurde und die Klinik seine einzige Chance ist, sein Leben wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen. Hauptsächlich konsumierte er Kokain, um leistungsfähiger sein zu können. Erst nur bei der Arbeit, dann auch zu Hause. Irgendwann verlor er die Kontrolle, rutschte tief in den Strudel aus Abhängigkeit, Lügen und Gedanken, die ihn allmählich in den Tod trieben. Selbst seine Familie verlor durch die Sucht an Wichtigkeit. Verantwortung für seine Ehefrau und seine Kinder, ein Junge und ein Mädchen, konnte er kurz vor der Einweisung gar nicht mehr übernehmen. Umso erstaunlicher finde ich die Fortschritte, welche er innerhalb weniger Wochen schaffte. Offenbar erlangte er seinen Lebenswillen und die Kraft zu kämpfen zurück. Die größte Motivation für ihn ist vermutlich seine Familie. Sie bleiben bei ihm, unterstützen ihn, sind jeden Tag zu Besuch. Auch ich habe Menschen, die mich nicht so weit aufgeben, dass sie mich mir selbst überlassen, dennoch sind die bisher erzielten Veränderungen eher überschaubar. Mein Verlangen nach Heroin ist unverändert stark, trotz Methadon. Zwar hält dieser Ersatzstoff die Entzugsymptome in einem erträglichen Maß, der Kick, weshalb ich eigentlich fixe, bleibt jedoch aus. Auch mit dem Essensplan habe ich ziemliche Schwierigkeiten. Mein Körper ist die für mich enorme Nahrungszufuhr nicht gewöhnt und reagiert mit heftigen, anhaltenden Bauchkrämpfen. Ein paar Mal übergab ich mich unfreiwillig nach dem Essen, da ich den Brechreiz nicht mehr unterdrücken konnte, woraufhin ich mir Vorwürfe von meiner Bezugstherapeutin anhören durfte. Sie meinte, ich würde meine Magersucht, die nun offiziell als Diagnose in meiner Akte dokumentiert ist, aufgrund des Essenszwangs in eine Bulimie umwandeln. Zugegebenermaßen half ich in Ausnahmefällen tatsächlich nach, da die Bauchkrämpfe unerträglich wurden, aber derartige Vorwürfe sind absolut unsinnig. Die Auflage, mich nicht selbst zu verletzen, konnte ich bisher ebenfalls nicht erfüllen. Zwei Mal fügte ich mir Schnittwunden zu, was schließlich mit einer Ausgangssperre für unbestimmte Zeit quittiert wurde, ganz zu schweigen von den unzähligen Sanktionen, die ich ableisten musste. Diese Einrichtung nicht verlassen zu dürfen ist dabei weniger schlimm, als meinem Freier nicht helfen zu können. Seit meiner Einweisung war nur ein einziges Treffen möglich. Wir nutzten, wie früher, eines der Love Hotels in Shibuya. Drogen bekam ich von ihm natürlich nicht, aber er fickte mich ausgiebig und hart, weil ich ihn darum bat. Ich hatte es verdammt nötig. Sich in der Klinik einen runterzuholen, ist nicht gerade einfach, wenn die Türen nicht abschließbar sind. Und die Besuchertoiletten sind wegen der Öffentlichkeit keine Option. Mir bleiben nur die Momente, in denen ich allein im Zimmer bin und weiß, dass mein Mitpatient so schnell nicht zurückkehren wird. Von Taichi erhalte ich überhaupt keine körperliche Zuwendung mehr, selbst als ich noch Ausgang hatte und sich die eine oder andere Gelegenheit bot. Vielleicht reicht ihm der Sex mit meinem Vater, immerhin ist er gut im Bett. Befriedigt er Taichi besser als ich? Ich weiß, dass ich auf diesem Gebiet ebenfalls sehr versiert bin, aktiv wie passiv. Hiroakis Statur jedoch kann ich meinem Freund nicht bieten. Möglicherweise findet Tai, wie ich, eher an älteren Männern gefallen, wenn er sich hin und wieder auf das gleiche Geschlecht einlässt. Andererseits verhalten sich die beiden bei ihren Besuchen völlig normal. Haben sie mir gegenüber kein schlechtes Gewissen? Können sie mich inzwischen eiskalt hintergehen? Oder besteht eine solche Beziehung doch nicht mehr zwischen ihnen, sondern nur in meiner Fantasie? Aber warum schläft er dann nicht mit mir? Mein Mitpatient schaut plötzlich zur Tür, weshalb ich mich umdrehe, meine Aufmerksamkeit ebenfalls in diese Richtung lenke. Eine der Schwestern schaut mich an und bedeutet mir, die Kopfhörer abzusetzen. Ich schiebe sie in den Nacken und werfe ihr einen fragenden Blick zu.

„Sie haben Besuch, Herr Ishida“, meint sie mit einem Lächeln. Etwas verwundert schalte ich meinen Player aus und erhebe mich.

„Danke“, entgegne ich knapp, als ich an ihr vorbei in den Besucherraum gehe. Beim Betreten bleibe ich sofort erstarrt stehen. „Sora?“ Irritiert mustere ich die junge Frau, die auf dem Sofa Platz genommen hat und dort wartet.

„Hallo Yamato“, begrüßt sie mich unerwartet freundlich. Ich setze mich auf den Sessel ihr gegenüber.

„Warum bist du hier, ich meine… also… mein Vater…“

„Taichi erzählte mir, dass außer ihm und deiner Familie niemand zu dir gelassen wird. Deshalb sprach ich mit deinem Vater, erklärte ihm mein Anliegen. Er zeigte Verständnis und informierte das Personal über die Ausnahme meines Besuches.“

„Verstehe“, murmle ich nachdenklich mehr zu mir als zu ihr. „Und was willst du? Aus Freundschaft oder Sorge besuchst du mich sicher nicht…“ Soras Gesichtsausdruck ist ernst.

„Ich möchte mit dir reden. Unser letztes Gespräch verlief nicht sehr angenehm und vor allem nicht sachlich. Ich warf dir gemeine Dinge an den Kopf, die mir im Nachhinein leid tun.“ Eine Entschuldigung ihrerseits war das Letzte, womit ich rechnete. Seufzend senke ich meinen Blick.

„Schon gut. Mein Verhalten dir gegenüber war auch nicht gerade nett. Vergessen wir unseren kleinen Disput einfach, okay?“, schlage ich vor, wobei mein Tonfall desinteressierter als beabsichtigt klingt. Allerdings habe ich keine Lust, mich noch länger mit dieser Nichtigkeit auseinanderzusetzen.

„Einverstanden.“ Sie lächelt verhalten. Unangenehme Stille breitet sich zwischen uns aus, weshalb ich noch einmal das Wort ergreife:

„Gibt es sonst noch etwas, worüber du mit mir sprechen möchtest?“

„Warum bist du immer so kalt und abweisend zu mir? Auch früher schon. Hasst du mich so sehr?“, fragt Sora, ohne vorwurfsvoll zu klingen.

„Ich hasse dich nicht. Dafür kenne ich dich zu wenig. Das Problem sind deine Gefühle für meinen Freund.“ Meine Betonung liegt auf den letzten beiden Worten und ich blicke ihr fest in die Augen.

„Versteh mich bitte nicht falsch, Yamato, aber eure Beziehung… du solltest sie beenden.“

„Was bitte soll ich an dieser Forderung nicht falsch verstehen? Du versu…“

„Es ist keine Forderung, sondern ein gut gemeinter Rat. Wenn du ihn annimmst und dich jetzt von Taichi trennst, wirst du vermutlich am wenigsten verletzt.“ Ich bin irritiert.

„Wie meinst du das?“, hake ich vorsichtig nach.

„Hattest du wirklich noch nie etwas mit einer Frau?“, ignoriert sie meine Frage und verwirrt mich mit diesem offensichtlichen Ausweichmanöver noch mehr.

„Nein, Frauen interessieren mich einfach nicht.“ Warum antworte ich Sora überhaupt? Meine Sexualität geht sie rein gar nichts an, ebenso wie mein restliches Leben, wozu auch Tai gehört. Plötzlich steht Sora auf und kommt auf mich zu. Bevor ich reagieren kann, küsst sie mich. Ich bin wie erstarrt, spüre ihre Lippen auf meinen und ihre Zunge in meinem Mund, da ich diesen vor Schreck nicht schloss. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, in Wirklichkeit sind es vermutlich nur wenige Sekunden, bis ich diese Frau, aufgrund meines durch die Lähmung kurz aussetzenden Reflexes des Selbstschutzes, von mir stoße. Verstört und komplett überfordert starre ich sie an, wische mir dabei abwesend und doch angeekelt mit dem Ärmel über den Mund.

„Deine Lippen sind rau und du schmeckst ganz leicht nach Zigarette. Völlig anders als bei Taichi.“

„Was?“, hauche ich stimmlos, beinahe abwesend. Mein Hals ist trocken und schmerzt. Zudem kämpfe ich gegen die aufkommende Übelkeit an.

„Sind die Berührungen einer Frau tatsächlich so schlimm für dich?“ Argwöhnisch lasse ich Sora nicht aus den Augen. Sie zuckt mit den Schultern und nimmt erneut auf dem Sofa Platz. „Einen Versuch war es wert. Ich habe nun verstanden, dass du ausschließlich auf Männer stehst.“

„Was willst du eigentlich von mir?“

„Zwar ist der Umgang mit dir nicht einfach, aber da du, wie Taichi meinte, weder schüchtern noch anspruchsvoll in der Wahl deiner Sexualpartner bist, wirst du mit Sicherheit einen anderen Mann finden, der dich erträgt und hoffentlich nicht an dir zugrunde geht. Abgesehen davon brauchst du jemanden, der dir Halt geben kann.“

„Wie kannst du dich erdreisten, dir ein Urteil über unsere Beziehung zu bilden, obwohl du uns überhaupt nicht kennst?“

„Glaub mir, Yamato, ich kann mir ein Urteil bilden. Dein Freund ist nicht wie du. Er hat durchaus Interesse an Frauen.“ Ich senke meinen Blick, meine Finger verkrampfen im Stoff meiner Hose. „Yamato. Ich will dir nicht wehtun, aber vielleicht hilft es dir beim Loslassen. Taichi hat mit mir geschlafen. Freiwillig.“ Obwohl ich nicht überrascht bin, laufen Tränen über meine Wangen. Sora steht auf und kommt erneut auf mich zu. Als sie ihre Hand nach mir ausstreckt, schlage ich sie sofort weg.

„Wie oft muss ich dir noch sagen, du sollst mich nicht anfassen“, weise ich sie mit zitternder Stimme zurecht. Eigentlich wollte ich sie hasserfüllt anschreien, aber mir fehlt die Kraft.

„Yamato“, beginnt sie ruhig. „Du weißt, dass auch ich Taichi liebe und möchte, dass es ihm gut geht. Ich verspreche dir, alles dafür zu tun, damit er glücklich ist, okay?“ Schweigend starre ich ins Nichts. „Bitte denke über meine Worte nach. Ich hoffe, du triffst die richtige Entscheidung.“ Sora nimmt ihre Tasche vom Sofa und geht zur Tür. Bevor sie den Raum verlässt, wendet sie sich noch einmal an mich. „Du wirst auch ohne ihn glücklich. Die Therapie ist ein guter Anfang.“ Ich höre die Tür ins Schloss fallen. Einen Moment bleibe ich noch regungslos sitzen, dann begebe ich mich langsamen Schrittes in mein Zimmer, lege mich auf mein Bett und schließe die Augen. Ich fühle mich leer. Unendlich leer.
 

„Ist deine Ausgangssperre inzischen eigentlich aufgehoben worden?“, will mein Vater, der neben meinem Freund auf dem Sofa sitzt, wissen. Behutsam schüttele ich lediglich meinen Kopf, weiche den Blicken der beiden aus. Mir ist schlecht und der stechende Kopfschmerz löst bereits ein leichtes Schwindelgefühl aus. Ich vernehme ein Seufzen meines Vaters. „Was ist los, Yamato?“, fragt er deutlich besorgt. „Warum sprichst du kein einziges Wort mit uns? Ist etwas vorgefallen? Geht es dir nicht gut? Du bist schrecklich blass.“ Nachdenklich schaue ich meinen Vater an, dann richte ich meine Aufmerksamkeit auf Taichi.

„Ich möchte, dass du aus meinem Leben verschwindest“, höre ich mich sagen. Eigentlich wollte ich Entschlossenheit in meine Stimme legen, was mir jedoch nicht gelang. Stattdessen klang meine Aufforderung eher jämmerlich. Fassungslos starrt mein Vater mich an, während ich bei Tai keinerlei Gefühlsregung erkenne. Schon die ganze Zeit fixiert er mich mit seinen braunen Augen und deren unergründlichem Ausdruck.

„Yamato, was soll das?“ Ich ignoriere die Frage meines Vaters. Warum reagiert Taichi nicht? Hält er das Ganze für einen Scherz meinerseits? Oder ist er froh über diese Forderung, weil er ohnehin genug von mir hat? Ich versuche den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken.

„Es ist besser, wenn du jetzt gehst“, sage ich so ruhig wie möglich. Mein Freund nickt wortlos und erhebt sich vom Sofa, wird jedoch von meinem Vater am Handgelenk zurückgehalten.

„Kannst du mir bitte einmal erklären, was hier gerade passiert? Yamato, sieh mich an! Was soll dieser Unsinn?“

„Schon gut, Hiroaki.“ Tais Lächeln wirkt fast entschuldigend, als er sich mit sanfter Gewalt aus der Umklammerung löst und auf mich zukommt. „Dein Sohn hat recht. Ich sollte besser gehen.“ Vor mir bleibt er stehen und küsst mich ein letztes Mal. Ich lasse es unbeteiligt geschehen. Schließlich verlässt mein Freun… Taichi den Raum.

„Warum?“, fragt mein Vater voller Bestürzung. Bewegungslos sitze ich auf dem Sessel, noch immer mit vor Entsetzen geweiteten Augen die geschlossene Tür anstarrend.

„Er ist weg“, nuschle ich abwesend. Ohne ein Wort zu sagen, steht mein Vater auf und drückt mich ratlos an sich, legt seine Arme schützend um meinen leblosen Körper. Ich nehme weder seine Berührung noch seine Besorgnis wahr. „Jetzt kann ich endlich sterben“, flüstere ich müde.
 

„Bitte gib dich und uns nicht so einfach auf!“, höre ich eine Stimme sagen. Ich drehe mich um, doch es ist niemand zu sehen. Als ich wieder nach vorn schaue, blicke ich direkt in Akitos Augen.

„Was ist, Yamato? Warum starrst du mich so an?“

„Ich… weiß es nicht“, gebe ich stockend zu. „Für einen kurzen Moment überkam mich ein merkwürdiges Gefühl.“ Wir sitzen in meinem Zimmer auf meinem Bett. Müde lasse ich mich zur Seite fallen, bette meinen Kopf auf seinem Schoß. „Versprich mir, mich nicht allein zu lassen“, hauche ich mit brüchiger Stimme. Eine diffuse Angst ergreift Besitz von mir, sodass ich meine Finger Halt suchend im Stoff seiner Hose festkralle.

„Was ist denn nur los mit dir? Du bist heute so liebebedürftig.“ Leicht spielt er mit einigen meiner Haarsträhnen.

„Es kommt mir so vor, als hättest du etwas Ähnliches schon einmal zu mir gesagt.“ Akito entzieht sich mir, lässt aber meinen Kopf behutsam auf die Matratze sinken. Entschlossen setzt er sich auf meine Oberschenkel und beugt sich so weit zu mir hinab, dass sich unsere Lippen fast berühren.

„Ich liebe dich“, sagt er mit durchdringendem Blick. Tränen füllen meine Augen.

„Ich liebe dich auch. So sehr.“ Ungewohnt zärtlich wischt Akito die salzige Flüssigkeit von meinem Gesicht.

„Du weinst“, flüstert er irritiert.

„Ja.“ Ich streichle behutsam über seine Arme, an den Handgelenken befinden sich tiefe, längs verlaufende Einschnitte.

„Deshalb?“ Seine Miene verfinstert sich und er betrachtet mich vorwurfsvoll. „Hör auf dich selbst zu beweinen. Du bist nicht wie diese jämmerlichen Kreaturen, die unsere Gesellschaft bilden. Anteilnahme, Mitleid… sinnlose Empfindungen, die angeblich Menschlichkeit ausdrücken, letztlich jedoch reine Selbstdarstellung sind.“ Ein trauriges Lächeln legt sich auf meine Lippen.

„Ich weiß. Aber ich vermisse dich so sehr.“ Akito erwidert das Lächeln, dann küsst er mich auf sehr fordernde Weise. Als wir uns schwer atmend voneinander lösen, blicke ich in wunderschöne braune Augen.

„Taichi“, hauche ich.

„So einfach ist es nicht, Yamato. Du musst weiterleben. Meinetwegen. Für mich. Das ist mir egal. Aber ich will dich nicht verlieren, hörst du?“ Verwirrt schaue ich mich um. Ich bin allein. Dennoch spüre ich, wie jemand meine Hand ergreift. Zögernd öffne ich meine Augen, sehe eine fremde Zimmerdecke. Ich drehe meinen Kopf ein wenig zur Seite. Taichi sitzt an meinem Bett und hält meine Hand fest in seiner.

„Yamato?“, fragt er vorsichtig.

„Was…“, setze ich an, doch aufgrund des Schlauches, der durch meine Nase über den Hals bis in den Magen geführt wurde und wodurch ich mit einer Nährstofflösung künstlich ernährt werde, wird mir das Sprechen erheblich erschwert. „Warum weinst du?“, bringe ich mühsam hervor. Tai drückt meine Hand fester.

„Weil ich eine verdammte Angst hatte, dich zu verlieren, du dämlicher Trottel!“ Ich sage nichts, schaue ihn nur fragend an. „Nachdem ich gegangen war, meintest du gegenüber deinem Vater, dass du sterben möchtest, woraufhin er dich auf die geschlossene Station einweisen ließ. Da du jegliche Nahrungsaufnahme verweigert hast, wurde eine Zwangsernährung angeordnet. Schließlich lagst du nur noch apathisch im Bett und warst überhaupt nicht mehr ansprechbar. Hiroaki rief mich völlig aufgelöst an. Er erzählte mir, was passiert war und in welchem Zustand du dich befindest. Wahrscheinlich hoffte er, meine Anwesenheit könnte etwas bewirken, doch selbst auf mich hast du nicht reagiert. Nur anhand der Tränen, die manchmal über dein Gesicht liefen, wussten wir, dass du noch nicht tot bist.“

„Wie lange…“ Nach wie vor fühlt sich für mich alles irreal und nicht greifbar an, als wäre ich noch immer nicht aus einem Traum erwacht.

„Etwas über eine Woche. Dich so leblos im Bett liegen zu sehen, zeitweise sogar mit geöffneten Augen und teilnahmslosem Blick, war beängstigend. Ich sprach mit dir, aber meine Worte erreichten dich einfach nicht.“ Taichis Stimme zittert leicht.

„Ich hörte dich“, widerspreche ich verkrampft. „Nur verwob sich das Gesagte jedes Mal mit meinen Träumen. Es…“ Die Tür zum Zimmer öffnet sich, weshalb ich mich im Satz unterbreche.

„Taichi, ich habe dir Kaffee mitg…“ Mein Vater, der zwei Becher in der Hand trägt, verharrt in der Bewegung, als sein Blick auf mich fällt.

„Yamato.“ Er stellt die Getränke auf den kleinen Nachttisch und setzt sich zu mir, auf die Bettkante. Sanft streichelt er durch mein Haar, wobei er besorgt mein Gesicht betrachtet. Die Probleme, die ich ihm ständig bereite, hinterlassen mittlerweile deutliche Spuren. Er ist sehr blass, hat dunkle Augenringe, wirkt müde und älter. Angestrengt versuche ich mich etwas aufzusetzen, muss allerdings feststellen, dass mein Körper geschwächter ist, als ich erwartete.

„Bleib liegen, Yamato. Die Magensonde ist sicher unangenehm. Am besten ich informiere gleich das Personal über deine Loslösung aus der Apathie und der damit verbundenen Ansprechbarkeit.“ Behutsam drückt mein Vater meine Hand, an dessen Zeigefinger sich das Pulsoximeter befindet, dann verlässt er das Zimmer. Schmerzlich schaue ich zu meinem Freund.

„Taichi, ich erinnere mich. Bitte geh nicht weg, auch wenn ich dich dazu aufforderte.“

„Ich ging nicht, weil ich dich verlassen wollte. Allerdings hielt ich es in dem Moment für angebracht, dir etwas Zeit zu geben. Sora erzählte dir, dass ich mit ihr geschlafen habe, nicht wahr?“ Ich nicke lediglich und kämpfe gegen die aufkommende Übelkeit an. „Vielleicht war es ein Fehler, da sie sich nun Hoffnung auf eine Beziehung macht, aber das nahm ich bereitwillig in Kauf. Mir ging es einzig darum, dich zu verletzen, und ich wusste, dass ich dir auf diese Weise am meisten wehtue. Doch eigentlich solltest du es nicht von ihr erfahren.“ In Tais Tonfall ist, wie immer, keine Reue erkennbar, trotzdem, und zu meiner Verwunderung, klingt er nicht so kalt wie sonst in solchen Situationen.

„Du bist so ein gemeiner Idiot“, entgegne ich mit Tränen in den Augen. Taichi nimmt mich vorsichtig, wegen der medizinischen Kontroll- sowie Lebenserhaltungsmaßnahmen, und sehr liebevoll in den Arm.

„Ich weiß. Vermutlich habe ich mich auch nur aufgrund meiner Idiotie in dich verliebt. Anders wäre dieser Wahnsinn nicht zu erklären.“ Gespielt beleidigt drücke ich meinen Freund etwas von mir.

„Du wirst ja immer gemeiner“, schmolle ich. Ein unschuldiges Lächeln legt sich auf Tais Lippen. „Bezüglich deiner Aussage…“, flüstere ich ernst, muss jedoch husten, was durch die Sonde unangenehm und schmerzhaft ist. „…Es stimmt. Du bist ein Teil dieser Realität. Deshalb werde ich sie auch ohne Drogen ertragen können.“ Vom Wahrheitsgehalt meiner Worte versuche ich nicht nur Tai zu überzeugen.
 

Abwartend, dass mein Vater die Tür zur Wohnung aufschließt, stehe ich dicht neben meinem Freund, der mich ermutigend anlächelt, meine Hand ergreift und unsere Finger verhakt. Wir folgen in den Flur, wo mein Vater meine Tasche im Eingangsbereich an der Wand abstellt.

„Deine Entlassung zögerte sich lange hinaus, umso erleichterter bin ich, dich endlich wieder bei mir zu haben.“ Er dreht sich zu mir und berührt mich am Oberarm. „Du hast die stationäre Therapie bis zum Ende durchgezogen.“ Seine Augen bekommen einen traurigen Ausdruck. „Auch wenn du es nicht für dich getan hast.“ Ich schweige, weil ich nicht weiß, wie ich auf seine Worte reagieren soll. Oft war ich kurz davor, abzubrechen. Und mit Sicherheit ist mein Vater nicht so naiv etwas anderes zu denken. Doch immer wieder gelang es ihm und Taichi, mir Halt zu geben. Auch wenn ich mit ihnen nicht über meine weiter bestehenden selbstzerstörerischen Gedanken oder mein kaum abgeklungenes Drogenverlangen sprach, um sie zu schützen, sondern mich während der letzten sieben Monate ausschließlich meinem Freier anvertraute. Erfahrungsgemäß wird sich daran auch nach meiner Entlassung nichts ändern. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich die Fortschritte, die ich in der Klinik machte, auf Dauer im Alltag beibehalten und weiter ausbauen kann. Zudem weiß ich, dass ich von meinem Freier unter bestimmten Umständen jederzeit wieder Drogen ausgehändigt bekommen würde. Da er selbst ein Junkie ist, hat er zu meinem Glück viel zu viel Verständnis für den Konsum solcher Substanzen.

„…to! Yamato!“ Ein Rucken an meinem Arm holt mich aus meinen Gedanken. Ich schaue zu Taichi, der mich besorgt ansieht. Dann blicke ich zu meinem Vater, dessen Miene nicht weniger Besorgnis ausdrückt. „Ist alles in Ordnung?“, will der schließlich wissen. „Du bist schon wieder so abwesend.“

„Nein, ich… ja.“ Mir fällt keine beruhigende Antwort ein, deshalb sollte ich besser schweigen. Die Wahrheit zu sagen, dass ich oft an meinen Freier denke und ihn sehr vermisse, ist keine Option. Allein die Erwähnung meines Freiers bringt sowohl meinen Vater als auch Taichi in Rage. Die beiden hassen ihn, weshalb sie nie von den nach wie vor stattfindenden Treffen und der weiterhin bestehenden sexuellen Beziehung erfahren dürfen.

„Geht erst einmal in dein Zimmer, während ich uns etwas zu Essen mache. Yamato, wenn du deine Tasche auspackst, leg die Schmutzwäsche einfach ins Bad, ich…“

„Nein, Papa. Ich wasche selbst. So wie früher.“ Eine unangenehme Stille entsteht. Schließlich zupft Tai an meinem Ärmel.

„Komm.“

„Ich rufe euch dann, okay?“, schlägt mein Vater noch vor, woraufhin mein Freund nur nickt und mich hinter sich her zieht. In meinem Zimmer stößt er mich bestimmt auf das Bett, beugt sich über mich und zwingt mir einen fordernden Kuss auf, den ich sofort verlangend erwidere. Mit seinen Fingern gleitet er unter mein Hemd, streicht begierig über meine Haut.

„Wie sehr habe ich das vermisst“, nuschelt er in den Kuss, während er hastig mein Oberteil aufknöpft und von meinen Schultern streift. In der letzten Zeit blieben uns nur die Wochenenden, an denen ich nach Hause durfte, um intimer zu werden. Taichi besuchte mich zwar auch in der Woche, mit mir geschlafen hat er dann aber nie. Bisher fragte ich ihn nicht nach den Gründen. Mit meinem Freier hingegen hatte ich wesentlich häufiger Sex. Das Besuchsverbot, welches mein Vater veranlasste, ließ sich leicht umgehen. Nachmittags hatten wir meist keine Therapien und das Personal war froh, wenn die Patienten in ihrer Freizeit sozialen Aktivitäten nachgingen. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich mit meinem Freier in Shibuya in einem der Lovehotels zu treffen.

„Zieh dich vollständig aus“, weist Taichi mich mit musternden Blicken an. Ich komme dem wortlos nach und beobachte meinen Freund dabei, wie er es mir gleichtut. Da er seit einiger Zeit wieder Fußball spielt, ist seine Muskulatur ähnlich trainiert wie früher und sein Körper wirkt noch anziehender auf mich. Ich stehe auf, beginne ihn zu berühren und Küsse auf seiner leicht gebräunten Haut zu verteilen. Langsam wandere ich tiefer. Ein Stöhnen entweicht Tais Kehle, als ich ihm ausgiebig einen blase. Er legt seine Hände auf meinen Hinterkopf, ohne jedoch meine Handlungen zu dirigieren. Kurz bevor er in meinem Mund abspritzt, gebietet er mir sanft, aber bestimmt Einhalt. Fragend blicke ich zu meinem Freund auf.

„Dieses Mal nicht.“ Er kniet sich ebenfalls auf den Boden, vor mich, und streicht liebevoll meine Haare zurück.

„Ich sollte sie zu einem Zopf zusammenbinden, oder? Sie nerven.“

„Nein. Lass sie offen.“ Die Frage, ob es dadurch für ihn einfacher ist, mit mir zu schlafen, schlucke ich hinunter. Ich weiß, dass meine Angst, ihn an eine Frau zu verlieren, nicht unbegründet ist, aber vielleicht ist es tatsächlich meine Eifersucht, die ihn am meisten in diese Richtung treibt. Voller Zuneigung lege ich meine Arme um meinen Freund und presse mich dicht an ihn.

„Bitte nimm mich. Ich möchte dich in mir spüren. Fülle mich ganz aus. Meinen Körper. Meine Gedanken. Nur du sollst noch in mir existieren.“ Taichi grinst mich an.

„Das würde aber bedeuten, ich schlafe mit mir selbst. Dabei erregst du mich jetzt, da du nicht mehr nur aus Haut und Knochen bestehst, noch mehr als ohnehin schon. Sei mir nicht böse, aber ich ziehe es vor, dich zu vögeln.“ Spielerisch boxe ich ihm gegen die Schulter.

„Du Spinner“, lache ich, doch mein Freund sieht mich ernst an, drückt mich nach hinten und spreizt meine Beine. Ich lasse mich vollkommen fallen, als er unerwartet hart in mich eindringt. Seine Penetration ist gewohnt ausdauernd und wird mit jedem Stoß schmerzvoller. Verkrampft kralle ich meine Finger in den Teppich, suche nach Halt. Unsere Atmung wandelt sich in lauter werdendes Stöhnen. Zwar befindet sich mein Vater ebenfalls in der Wohnung, doch bereits seit meiner Beziehung mit Akito ist mir egal, ob er hört, dass ich Sex habe. Ich schließe meine Augen, um Taichi noch intensiver spüren zu können.

„Nicht, Yamato. Du weißt, dass du mich ansehen sollst, wenn ich in dir bin“, keucht er beinahe atemlos. Ehe ich Tais Worten Folge leisten kann, bäume ich mich auf vor Schmerz und Verlangen.

„Taichi“, stöhne ich lustvoll. Schweiß perlt auf seiner Haut, wodurch er noch verführerischer auf mich wirkt. Für die letzten, kraftvollen Stöße legt er meine Beine auf seine Schultern, damit er so tief wie möglich in mir sein kann. Bevor er sich aus mir zurückzieht, spritzt er ab. Dann lässt er sich erschöpft neben mich fallen. Ich zittere am gesamten Körper.

„Ist alles in Ordnung?“, will mein Freund besorgt wissen.

„Ja.“ Ich lächle etwas verzerrt. Tai setzt sich auf und dreht mich ein wenig auf die Seite.

„Offenbar war ich doch etwas zu grob. Hast du starke Schmerzen?“ Statt zu antworten, wende ich mich wieder um und hauche ihm einen Kuss auf die Lippen.

„Ich liebe dich.“
 

Verschlafen betrete ich die Küche. Mein Vater sitzt am Tisch und scheint in seine Zeitung vertieft zu sein.

„Morgen“, nuschle ich. Aus dem Schrank hole ich eine Tasse, fülle Kaffee hinein und lasse mich auf meinen Stuhl fallen. Mit meiner Hand streiche ich mir müde über das Gesicht.

„Yamato.“ Mein Gegenüber legt seine Zeitung beiseite und mustert mich. „Du bist ungewohnt früh wach. Musst du heute zeitiger zur Uni?“

„Das nicht. Ich konnte nur einfach nicht mehr schlafen.“ Vorsichtig nippe ich an meiner Tasse, damit ich mir die Lippen nicht verbrenne, falls der Kaffee nicht genug abgekühlt ist.

„Möglicherweise hat sich dein Körper bereits an die Medikamente gewöhnt, sodass sie nicht mehr die gleiche Wirkung wie früher erziehlen“, überlegt mein Vater. „Sprich bitte bei deinem nächsten Termin mit dem Arzt über das Problem.“ Ich nicke. „Wie kommst du ansonsten im Alltag zurecht?“, fragt er weiter.

„Ganz gut“, antworte ich mit einer Halbwahrheit, weiche dem Blick meines Gegenübers aus. Vor ein paar Tagen bekam ich die ärztliche Erlaubnis, wieder zur Universität zu gehen. Doch obwohl ich meinen Vater in dem Glauben lasse, bin ich nicht ein Mal dort gewesen. Zeitnah werde ich ihn allerdings davon in Kenntnis setzen müssen, dass ich beschlossen habe mein Studium abzubrechen. Ich denke, es ist sinnvoller, wenn ich mir einen Job suche, um meinen Vater zu entlasten. Vor allem solange ich bei ihm wohne.

„Soll ich uns Frühstück machen?“ Er sieht mich erwartungsvoll an.

„Ja, danke“, entgegne ich, obwohl ich eigentlich keinen Hunger verspüre. Nach wie vor fällt es mir schwer, regelmäßig Nahrung zu mir zu nehmen. Ich lange über den Tisch nach der Zigarettenschachtel und zünde mir eine Zigarette daraus an. Tief inhaliere ich den Rauch und beobachte meinen Vater dabei, wie er Eier in eine Pfanne aufschlägt. Schmerzliche Zuneigung überkommt mich, als ich ihn dabei betrachte. Ich möchte aufstehen, ihn umarmen und küssen, von ihm berührt werden, ihn in mir… heftig schüttele ich meinen Kopf. Warum schaffe ich es einfach nicht, meine Gefühle für ihn zu töten? Ich zucke leicht zusammen, als mein Vater nach einiger Zeit einen Teller vor mir auf dem Tisch abstellt. Dann setzt er sich zurück auf seinen Platz und beginnt zu essen. Ich drücke die Reste der Zigarette im Aschenbecher aus und starre das Rührei an.

„Hast du doch keinen Hunger?“, will mein Vater besorgt wissen. Ich schaue ihn an.

„Papa? Hasst du mich?“ Bestürzt lässt er seine Stäbchen sinken.

„Wie kommst du darauf?“

„Weil du meinetwegen so viel aufgeben musstest.“

„Nein, Yamato. Es war meine eigene und freie Entscheidung, nicht wieder nach Deutschland zu fliegen, sondern für meinen Sohn dazusein. Denkst du wirklich, ich hätte so einfach gehen können, während du apathisch in der Klinik liegst und künstlich am Leben gehalten wirst? Niemand wusste, ob du in die Realität zurückfindest.“

„Genau deshalb solltest du eher an dich und dein Leben denken.“

„Ich denke an mein Leben, indem ich auf dich aufpasse. Sagte ich dir nicht schon einmal, dass es mir gut geht, wenn es dir gut geht? Yamato, ich liebe dich mehr als alles andere auf dieser Welt. Auch wenn du es nicht verstehen kannst, weil du dir selbst nichts bedeutest.“ In den Worten meines Vaters schwingt Verzweiflung mit.

„Meinetwegen wurdest du zwangsversetzt“, bemerke ich bitter.

„Darüber musst du dir deinen Kopf nicht zerbrechen. Es ist alles in Ordnung. Und es hat Vorteile. Ich bin eher zu Hause als früher.“ Ein trauriges Lächeln legt sich auf meine Lippen. Davon, dass er in seiner neuen Position weniger verdient, sagt er nichts. Schweigend nehmen wir unsere Mahlzeit ein. „Darf ich dich etwas fragen?“, durchbricht mein Vater schließlich die erdrückende Stille.

„Klar.“ Ich leere meine Tasse, in der sich noch ein kleiner Schluck Kaffee befindet.

„Hast du noch immer vor, auszuziehen?“ Kurz höre ich auf zu atmen. Allein der Gedanke lässt meinen Körper verkrampfen und mein Herz schmerzhaft gegen meinen Brustkorb schlagen. Vor allem, da ich meinen Vater nun wieder dauerhaft in meiner Nähe haben kann, möchte ich bei ihm bleiben.

„Ja“, antworte ich knapp und einmal mehr entgegen meinem Willen.

„Warum, Yamato?“ Ohne ein Wort zu sagen, stehe ich auf, gehe zu meinem Vater und beuge mich zu ihm hinab. Fordernd zwinge ich ihm einen Kuss auf, streiche dabei verlangend durch sein kurzes Haar. Als ich merke, dass er sich nicht auf mich einlässt, hauche ich in sein Ohr:

„Damit du mich und meine Gefühle für dich nicht mehr ertragen musst, Hiroaki.“ Seufzend berührt mein Vater meine Wange.

„Mir ist bewusst, dass du inzwischen erwachsen bist und eigenverantwortlich handeln solltest. Trotzdem habe ich Angst. Meiner Meinung nach ist es für dich noch zu früh, du wirst allein nicht zurechtkommen. Bitte versteh mich nicht falsch…“

„Nein, schon gut. Ich weiß, wie du das meinst, und vermutlich hast du sogar recht. Allerdings gibt es die Überlegung, mit Tai zusammenzuziehen.“

„Ehrlich gesagt finde ich diese Option nicht unbedingt beruhigend. Immerhin ist Taichi auch eher labil, hinzu kommt seine Alkoholabhängigkeit.“

„Er ist seit etwa einem Jahr trocken“, wende ich verteidigend ein.

„Worüber ich sehr froh bin. Aber, Yamato, letztlich seid ihr beide stark rückfallgefährdet.“ Ich setze mich auf den Schoß meines Vaters und sinke mit meinem Kopf auf seine Schulter.

„Bitte nimm mich in den Arm“, flüstere ich sehnsüchtig. Unerwartet zieht er mich tatsächlich dicht an sich. Sein Duft umhüllt mich sanft und gibt mir ein Gefühl von Geborgenheit. „Ich liebe dich so sehr, Hiroaki. Und an meinem Wunsch, mit dir zu schlafen, hat sich nichts geändert.“

„Yamato…“

„Shh.“ Flüchtig hauche ich einen Kuss auf die Lippen meines Vaters. „Keine Sorge. Vor einiger Zeit versprach ich dir, dich nicht mehr zum Sex zu zwingen. Daran halte ich mich.“ Ich löse mich von ihm, stehe auf und fülle meine Tasse erneut mit Kaffee. Wieder an meinem Platz sitzend, zünde ich mir eine weitere Zigarette an, ebenso wie mein Gegenüber. „Ich komme heute später nach Hause“, wechsle ich das Thema. „Taichi wird erst am Abend hier sein. Ich hoffe, ich schaffe es bis dahin, zurück zu sein. Aber ihr werdet euch sicher auch ohne mich nicht langweilen.“ Meine Bemerkung klingt eifersüchtiger als beabsichtigt. Ich ziehe an meiner Zigarette und lasse den Rauch zwischen meinen Lippen entweichen. „Darf ich dich diesbezüglich etwas fragen?“ Mein Vater nickt und nimmt ebenfalls einen kräftigen Zug von seiner Zigarette. „Wie fühlt es sich für dich an, wenn du mit meinem Freund schläfst? Immerhin ist auch er ein Mann. Beim Sex mit mir empfindest du keine Lust. Allerdings bin ich dein Sohn, mit Tai begehst du jedoch keinen Inzest.“

„Das stimmt zwar, aber der Altersunterschied bleibt. Zudem ist er dein Freund und, wie du bereits anmerktest, ein Mann. Mein sexuelles Interesse gilt trotz allem nach wie vor eher Frauen.“

„Ich weiß, dass du lediglich aus Mitleid mit mir geschlafen ha…“

„Nein, Yamato“ unterbricht mich mein Vater bestimmt. „Nicht ein Mal empfand ich Mitleid, wenn ich deinem Begehren nachgab. Einzig meine Liebe für dich ließ mich derart handeln. Ich hoffte, dir mit dem Sex helfen zu können, deine offensichtliche Einsamkeit zu überwinden. Die Trennung von Taichi, der Verlust von Akito…“

„Und du gingst mit mir ins Bett, weil du wolltest, dass ich im Gegenzug aufhöre, meinen Körper an fremde Männer zu verkaufen“, unterbreche ich meinen Vater und trinke einen Schluck Kaffee.

„Ja.“

„Ich hätte das ausnutzen können, dich erpressen und somit indirekt zum Sex zwingen können.“

„Warum hast du die Gelegenheit nicht genutzt?“ Erstaunt mustere ich meinen Gegenüber.

„Das solltest du wissen. Ich gebe mich dir jederzeit bedingungslos hin, aber wenn du in mir bist, möchte ich dich spüren. Ansonsten bestünde der einzige Unterschied zwischen dir und den Freiern in der Brutalität und Rücksichtslosigkeit.“ Ich nehme einen letzten Zug von der Zigarette und drücke sie anschließend im Aschenbecher aus. „Mit Taichi hast du freiwillig geschlafen, oder?“

„Was willst du eigentlich von mir hören? Einen detaillierten Vergleich? Dafür seid ihr zu verschieden. Du bist wesentlich hingebungsvoller als Taichi, er hingegen ist fordernder.“ Mein Vater seufzt. „Yamato, aus welchem Grund kommst du heute später?“ Mit durchdringendem Blick sieht mein Vater mich an. Einerseits will er mir auf diese Weise bedeuten, dass ich den Themenwechsel kommentarlos akzeptieren soll, andererseits schwingt Misstrauen in seiner Stimme mit. „Triffst du dich mit jemandem?“

„Nein“, lüge ich. „Wegen meiner langen Abwesenheit von der Uni muss ich vieles nachholen.“
 

Bewegungslos sitze ich auf dem Bett und starre auf meine verkrampft ineinander verhakten Finger. Da ich mittlerweile volljährig bin, ist es nun ganz legal möglich, im Zimmer des Lovehotels auf meinen Freier zu warten. Ich schließe meine Augen. Das Gespräch mit meinem Vater heute Morgen lässt mich noch immer nicht los. Zwar sind meine Gefühle für ihn unverändert stark, dennoch habe ich beschlossen, mich in Zukunft zurückzuhalten, solange er nicht freiwillig Befriedigung bei mir sucht. Für meinen Vater würde ich jederzeit die Beine breit machen, aber eine derartige Forderung seinerseits wird mit großer Wahrscheinlichkeit auf ewig Wunschdenken bleiben. Seufzend öffne ich meine Augen wieder und fixiere einen unbestimmten Punkt vor mir auf dem Boden. Ich frage mich, ob mein Vater sowie auch Taichi meine Lügen bezüglich der Uni wirklich glauben. Sind sie tatsächlich so naiv zu denken, dass ich meinen Freier so einfach aufgeben konnte, dass ich keinen Kontakt mehr zu ihm habe? „Einfach…“, flüstere ich mit einem verächtlichen Lächeln auf den Lippen und lasse mich nach hinten auf die Matratze fallen. Nichts, das Leben betreffend, ist einfach. Schon gar nicht, wenn es um den Verlust eines Menschen geht, der mir ausnahmsweise nicht egal ist. Erst jetzt bemerke ich die Tränen, die meine Haut benetzen. Warum muss immer alles so verdammt wehtun? Die Tür zum Zimmer wird geöffnet. Verstohlen wische ich mir über das Gesicht und setze mich auf.

„Es tut mir leid, wartest du schon la…“ Mein Freier sieht mich besorgt an. „Yamato, was ist passiert?“ Er nimmt neben mir auf dem Bett Platz und streicht mit seinem Daumen über meine Wange. Anstatt zu antworten, küsse ich ihn hingebungsvoll. Nur zögernd geht er auf mein Verlangen ein. Hastig öffne ich seine Hose, dann setze ich mich auf seinen Schoß und knöpfe sein Hemd auf, während mein Freier Küsse auf meinen Hals haucht. Leises Stöhnen entweicht meiner Kehle und ich lege meinen Kopf genießerisch in den Nacken.

„Yamato“, haucht mein Freier auf meinen mittlerweile entblößten Oberkörper. „Willst du mir nicht erst sagen, was los ist? Warum hast du geweint?“ Ich schaue ihn schmerzlich betrübt an, bevor ich meinen Blick mutlos senke. Mein Freier hebt mit seinem Finger meinen Kopf am Kinn wieder an. „Süßer, sieh mich an.“ Erneut füllen Tränen meine Augen.

„Verdammt“, fluche ich und möchte mich abwenden, doch mein Gegenüber hält mich fest und zieht mich dicht an sich, wodurch ich den letzten Rest Selbstbeherrschung verliere und hemmungslos zu schluchzen beginne. Vorsichtig dreht mein Freier unsere Körper, sodass ich unter ihm zum Liegen komme. Liebevoll küsst er die salzige Flüssigkeit von meiner Haut.

„Bitte hassen Sie mich.“

„Nein, Yamato“, widerspricht mein Freier sehr bestimmt.

„Herr Takano…“ Ich atme tief durch. „Shinya… bisher konnte ich mich nicht überwinden das Angebot anzunehmen und die Höflichkeitsform dir gegenüber abzulegen. Dadurch schaffte ich allerdings eine Distanz, die zwischen uns schon lange nicht mehr existiert.“ Meine Stimme bebt. Ich drehe meinen Kopf zur Seite, damit Shinya mein verheultes Gesicht nicht mehr sieht und es mir leichter fällt, weiterzusprechen. „Ich habe dich wahnsinnig lieb. Glaubst du mir das?“

„Natürlich.“

„Warum? Wie du weißt, bin ich ein egoistischer Lügner.“

„Yamato, spricht gerade dein Selbsthass aus dir?“ Ich lächle leicht.

„Du bist der Mensch, der mich am besten kennt, ein unersetzbarer Freund und ein wichtiger Halt in meinem Leben. Ich brauche dich so sehr!“ Meine Stimme versagt.

„Shh. Es ist doch alles in Ordnung. Ich liebe dich und bin für dich da. Nichts wird sich daran ändern.“ Er zwingt mich ihn anzusehen. „Süßer, hast du das verstanden?“, fragt er eindringlich. Ich nicke, ziehe ihn zu mir hinab und küsse ihn fordernd. Shinya gleitet voller Begehren mit seinen Händen über meinen Körper, zieht mir die restlichen Kleidungsstücke aus. Dann entkleidet auch er sich. Sehnsuchtsvoll spreize ich meine Beine und lasse ihn über mich kommen. Erneut versinken wir in einem leidenschaftlichen Kuss, wobei mein Freier derb in mich eindringt. Seine Penetration ist hart und mit jedem Stoß scheint er tiefer in mich einzudringen. Meine Gefühle werden zu stark, sodass ich psychisch zusammenbreche.

„Hör auf, Shinya! Bitte!“, flehe ich völlig aufgelöst. Sofort zieht er sich aus mir zurück und drückt mich deutlich verwirrt an sich. „Nein… nicht anfassen“, hauche ich kraftlos, verharre dabei jedoch ohne Gegenwehr in seinen Armen. Shinya sagt nichts, sondern streichelt nur beruhigend über meinen Kopf. „Ich… will dich nicht verlieren. Aber der heutige Abschied ist… endgültig.“ Mit jedem Wort werde ich unsicherer und meine Stimme leiser. Wider Erwarten schweigt Shinya weiterhin und betrachtet mein Gesicht eingehend. Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn, dann setzt er sich auf. Nachdenklich starrt er auf irgendeinen Punkt im Zimmer. „Shinya… bitte. Ich…“

„Schon gut, Yamato. Diese Entscheidung uns betreffend war nur eine Frage der Zeit, weshalb ich nicht besonders überrascht bin.“

„Du akzeptierst es einfach so?“

„Das muss ich. Nicht zuletzt, weil ich Taichi sagte, ich würde dich gehen lassen, wenn du es wollen würdest.“ Mein Freier klingt zwar sachlich, trotzdem spüre ich seine Haltlosigkeit. Schützend lege ich von hinten meine Arme um ihn, presse meinen Körper eng an seinen Rücken.

„Jetzt hasst du mich mit Sicherheit. Ich zumindest hasse mich abgrundtief, weil ich dich einmal mehr aufgrund meines Egoismus im Stich lasse.“

„Tust du es nicht für Taichi?“

„Nein. Ich tue es wegen meiner Angst, ihn zu verlieren. Und dafür nehme ich sogar in Kauf, dass du deinen Sohn…“ Vorsichtig löst sich Shinya aus meiner Umklammerung, dreht sich zu mir und nimmt mein Gesicht zwischen seine Hände.

„Yamato, es ist nicht deine Aufgabe, mit mir zu schlafen, um meinen Sohn zu schützen. Ich allein bin für meine Taten verantwortlich, versteh das endlich. Seit ich das letzte Mal Hand an Shota legte, ist er mir gegenüber vorsichtiger, seiner Mutter jedoch sagte er wider Erwarten nichts. Dass ich das Vertrauen meines Sohnes vollständig zurückgewinnen kann, wage ich zu bezweifeln. Ich habe durch meinen Kontrollverlust und der damit verbundenen Auslebung meiner Gefühle viel kaputt gemacht.“

„Um derartige Übergriffe zu vermeiden, hast du dir Ersatz gesucht. Deshalb darf ich mich dir nicht einfach entziehen.“

„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich dich liebe und deshalb mit dir schlafen will? Begreife das endlich und gib dir nicht immer die Schuld an allem!“ Bevor ich etwas erwidern kann, küsst er mich. „Es tut weh, dich zu verlieren, Yamato. Dich… nicht nur deinen Körper.“ Alles in mir zieht sich schmerzhaft zusammen und ich kann kaum atmen.

„Shinya? Können wir dieses Treffen nicht wie die anderen ablaufen lassen und dann wie immer einfach nach Hause gehen?“ Shinya drückt mich nach hinten auf die Matratze und lächelt mich voller Zuneigung an. Dennoch ist die Verzweiflung im Raum deutlich spürbar. Unter Tränen gebe ich mich meinem Freier ein letztes Mal hin.
 

„Was ist los, Yamato? Du wirkst so bedrückt, starrst die ganze Zeit nur abwesend aus dem Fenster und rauchst eine Zigarette nach der anderen.“ Taichi hockt sich vor mich und betrachtet mich eindringlich. Ich lasse den Rauch zwischen meinen Lippen sanft entweichen, dann schaue ich meinem Freund direkt in die schönen braunen Augen.

„Ich liebe dich, Taichi Yagami. So sehr.“ Achtlos werfe ich den verbliebenen Filter aus dem Fenster, stehe auf und lasse mich auf mein Bett fallen. Der Verlust von Shinya ist schmerzhafter als erwartet. Ich fühle mich leer, zudem fehlt mir mit ihm nun ein wichtiger Halt in meinem Leben. „Taichi“, flüstere ich. „Halt mich fest.“ Schweigend kommt mein Freund zu mir, legt sich hinter mich auf die Matratze und umfängt mich schützend mit seinen Armen. Ich spüre seinen beruhigenden Herzschlag, sein warmer Atem kribbelt auf der Haut in meinem Nacken.

„Ich liebe dich auch, Yamato Ishida“, raunt er in mein Ohr. Mit seiner Hand gleitet er in erregender Weise über meinen Körper, unter mein Hemd, zwischen meine Beine. Unerwartet richtet Taichi sich auf. Er dreht mich auf den Rücken, setzt sich auf meine Oberschenkel und grinst mich an. Irritiert mustere ich ihn, doch bevor ich etwas sagen kann, stürzt Tai sich auf mich und beginnt damit, mich durchzukitzeln. In einem Versuch der Befreiung winde mich unter ihm, bis ich mich vor Lachen und beginnenden Bauchschmerzen nur noch krümme.

„Nicht… mehr…“, flehe ich nach Luft ringend. „Ich kann… nicht…“

„Was kannst du nicht?“, säuselt mein Freund, hört aber auf und beugt sich zu mir hinab. Sanft küsst er die Tränen von meinem Gesicht, bei denen ich nicht sicher bin, ob sie wirklich durch das Lachen verursacht wurden. Dann spielt er mit einigen meiner Haarsträhnen, lässt sie immer wieder durch seine Finger gleiten. „Nun muss ich mich wieder umgewöhnen. Du hast deine Haare ziemlich lang werden lassen.“

„Stimmt, aber sagte ich letztens nicht, dass sie beim Sex nerven“, erkläre ich mit einem unschuldigen Lächeln.

„Verstehe. Mit den halblangen Haaren wirkst du… jünger.“ Der Gesichtsausdruck meines Freundes wird ernst. Ich weiß, dass er auf meinen Freier anspielt, lenke jedoch ab, indem ich Tai zu mir hinabziehe und seine Lippen mit meinen versiegele. Die Trennung von Shinya würde er mir ohnehin nicht glauben, also kann ich darüber genauso gut schweigen. Hastig öffnet Taichi meine Hose. Ich bäume mich leicht auf, um ihm das Ausziehen zu erleichtern. Mein gesamter Körper bebt vor Erregung und scheint an den Stellen, die er berührt, zu verbrennen.

„Du gehörst mir, Yamato. Also vergiss nicht, dass ich jeden Schmerz, der dir zugefügt wird, freiwillig und unfreiwillig, um ein Vielfaches überdecken werde.“ Tai fixiert mich mit seinem stechenden Blick und einmal mehr verliere ich mich in seinen schönen braunen Augen.
 

Ich liebe dich. Ich sehne mich nach dir.

Was soll ich tun?

Ich weiß es nicht mehr.
 

Liebe und Wahnsinn…

Ich weine und weiß nicht einmal, warum.

Was kümmert mich das Ende der Welt… soll dieser Kampf doch auf ewig weitergehen.

Du bringst mir unfassbares Glück und unfassbares Leid.
 

Liebe… Wahnsinn…

Kummer und Leid…

Schmerz und Hass…
 

Ich liebe dich. Sonst nichts. Es genügt mir.

Ich liebe dich. Sonst nichts. Das ist alles, doch…
 

…wenn das alles ist… warum ist es dann

so schwer?


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das Lied Hitoribocchi no Seesaw von den Teen-Age Wolves inspirierte mich zu dem Ende von "So einfach" und ist für mich persönlich so etwas wie ein inoffizielles Abspannlied. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von:  Muto_Yuugi
2014-10-11T12:21:46+00:00 11.10.2014 14:21
ich liebe diesen ff. diese verzweiflung der liebe.. du hast sie so wundervoll rüber gebracht. ich konnte mich mehr als ich wollte in yama hinein versetzrn.. es muss ihn zerrossen haben das tai sich frauen hingab.. doch auch tai verstehe ich. ich liebe den wahnsinn der beiden. wobei ich zugeben muss das ich die liebezu akito mehr als verstand genauso zu srinem vater.. aver ich das nicht wahrhaben wollte. besonders bei solchen psychisch labielen ffs genieße ich die abhänigkeit und doe eifersucht in vollen zügen aber die wahre liebe gehört für mich nur einer person alleanderen hätte ich benutzt xD von mir abhänih hemacht um meinen selbsthass befriedigt zu bekommen und und und xD aber an sich ist der ff soooo gefühlvoll und zerreißend.. ich kann kaum erwarten bis ich eventuell mehr von unseren sportass und dem sänger zu lesen.was ich besonders toll fand war das yama hauptsächlichder oassive part zuhesprochen wurde. ich selbst sehe ihn auch eher so =3
Von:  Mju
2014-09-07T15:25:27+00:00 07.09.2014 17:25
Dass die Geschichte jetzt zu Ende ist, finde ich einerseits schade, aber andererseits finde ich es toll, dass du sie zum Abschluss gebracht hast.
Ich gehe mal davon aus, dass Yamato und Taichi endlich glücklich miteinander und sich selber sind. Oder sagen wir mal, zufrieden. Die Stimmung hat sich im letzten Kapitel aufgehellt und ich empfinde es als positiven Schluss.
Von:  TheDarkVampire
2013-12-03T13:28:06+00:00 03.12.2013 14:28
Jeeyy, ein neues Kapi *freu*

Es ist super. Genauso gut wie die Anderen
Yama tut mir immer so leid. Was er alles durch machen muss
Doch auch die Anderen tuen mir leid, besonders Tai und sein Vater

ach, ich freue mich schon, wenn es weiter geht. Du schreibst echt super und ich schaue täglich nach, ob schon ein neues Kapi hoch geladen ist

Lg TheDarkVampire
Von:  TheDarkVampire
2013-11-12T14:30:08+00:00 12.11.2013 15:30
Jetzt habe ich alle Kapital durch und hinterlasse mal ein Kommentar :D

Es ist eine super FF, Kein einfacher Anfang und Einfach so auch :)
Ich mag dein Schreibstil sehr und wie du die Geschichte schreibst, finde ich einfach nur große Klasse
Mein Problem ist, dass ich nicht mit den Zeitsprüngen so klar komme. Manchmal weiß ich gar nicht, wie viel Zeit jetzt vergangen ist, was jetzt genau passiert und so. Vielleicht kannst du das noch ein bisschen klarer schreiben. Sonst eine Super Ff und mach weiter so

Freue mich schon auf die nächsten Kapitel :)
Von:  Mju
2013-09-01T13:22:57+00:00 01.09.2013 15:22
Jetzt muss ich endlich mal einen Kommentar schreiben, der vermutlich nicht einmal sonderlich konstruktiv ist:
Ich finde deine Geschichte nach wie vor sehr faszinierend und interessant, obwohl teilweise Dinge dabei sind, wo ich mir an den Kopf greife. Trotzdem möchte ich am Ende immer unbedingt wissen, wie es weitergeht. Vorallem dein Schreibstil gefällt mir auf eine Weise sehr gut. Interessant finde ich es auch, dass bei dir all die aufgegriffenen Themen ineinander verschwimmen. Außerdem die Wahl der "Probleme", die im Laufe der Geschichte auftreten. Wenn man sich in die einzelnen Themenbereiche ein wenig einliest kann man die Handlungen der Personen relativ gut nachvollziehen. Du beschreibst auch die Charaktere in einer Art, wie ich es bis jetzt noch nicht gelesen habe. Kurzum gesagt finde ich den Aufbau und die Handlung spannend, allerdings auch schockierend (was nicht negativ gemeint sein soll). Deine FF ist die erste die ich lese, obwohl sie schon soviele Kapitel hat und ich finde es auch toll, dass du regelmäßige Uploads machst.

lg,
Hajime


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