Cinder und Soul
»Also wird nun River der Leitwolf von Schattenfang, wer hätte das gedacht. Er war immer so… nun ja, viel zu lieb um sich durchzusetzen, gar nicht zum Anführer geeignet… irgendwie«, fand Soul und setzte elegant über einen Baumstamm. Cinder folgte ihr leichtfüßig, nur Lugh Akhtar blieb stehen und neigte nachdenklich den Kopf.
»Ich verstehe das irgendwie nicht alles…«, merkte er an und ließ verwirrt die Ohren hängen.
»Es hat dir ja auch noch keiner erklärt«, warf Soul ein und ihre Augen blitzen wissend auf. Cinder dagegen lächelte, schüttelte dann aber besänftigend den Kopf.
»Es ist gar nicht so kompliziert. River und ich kommen eigentlich aus dem Eismond-Rudel«, begann sie.
»Eismond?«, Lugh Akhtar setzte nun ebenfalls über den Baumstamm.
»Ich sehe schon, Sly hat dir wirklich nichts erzählt«, seufzte sie.
»Er erzählte von vier Rudeln, die er kennt. Schattenfang, Nordwind, Eisfell und Blutmond. Sie leben hier in dem Gebiet. Und du hast von den Treffen der Leitwölfe erzählt«, er beobachtete sie genau durch seine Nordlichtaugen.
»Ja, das Gefüge unserer Welt aber viel tiefer. Innerhalb des schwarzen Berges leben sieben Wolfsrudel. Die südlichen vier kennst du ja. An Schattenfang-Gebiet liegen Eisfell und Blutmond im Norden und Nordwind im Süden. Hinter Eisfell und Blutmond gibt es erst einmal eine ganze Weile nichts, dann beginnt das Gebiet der Wolkenjäger. Daran grenzt Lichtfänger und ganz im Norden liegt Eismond. Weißt du, welchen Sinn die Rudel überhaupt haben?«, sie schaute ihn fragend an, während sie nebeneinander herliefen.
»Sie bieten Schutz vor Feinden, außerdem lässt sich so mehr Beute machen und…«, wollte er erklären, doch Soul lachte auf und auch Cinder schnitt ihm mit einem Lächeln und einem Kopfschütteln das Wort ab.
»Glauben Menschen das wirklich?«, fragte sie ruhig.
»So… wurde es mir beigebracht. Es macht Sinn und in Wolfsgestalt ist mir noch kein Eiswolf über den Weg gelaufen, den ich fragen könnte«, brummte er mit einem unwilligen Zucken des Ohres.
»Dann mögt ihr das ruhig glauben, doch so ist es nicht. Nicht nur. Unser Leben ist sehr viel komplexer, als das es bloß aus Jagd und der Arterhaltung besteht. Wir sind hier im Reich des Winters, es ist sein höchsteigenes Reich. Hier muss sie nichts mit einem anderen teilen. Hier gibt es keinen Frühling oder einen Herbst und einen Sommer schon gar nicht. Hier zählt allein der Wille des Winters, und der Wille ihrer Geschwister bedeutet hier nichts«, erklärte Soul und schaute zu ihnen zurück.
»Geschwister?«, fragte Lugh Akhtar verblüfft.
»Ja. Sommer, Frühling und Herbst sind ihre Geschwister«, lächelte Cinder.
Lugh Akhtar schwieg verblüfft, wartete darauf, dass Soul fortfuhr.
»Innerhalb des schwarzen Berges besteht nur ihr Wille und wir müssen auf ihre Gnade hoffen. Sie gibt uns Gnade, sie sorgt dafür, dass alles vorhanden ist, was wir zum Leben benötigen. Dafür sind wir ihre Wächter in jenen Tagen, in denen sie Schwach und Krank ist. Und wir folgen ihrem Ruf, wechseln in ihr Rudel, wenn einer ihrer Gefährten stirbt«, erklärte die auch schon weiter.
»Wie meinst du das, wenn einer ihrer Gefährten stirbt? Und in ihr Rudel überzuwechseln…?«, fragte der weiße Wolf unsicher.
»Das würde zu weit führen. Du wirst es verstehen, wenn du den Winter erst einmal getroffen hast. Aber das ist ja jetzt eher unwichtig. Immerhin wolltest du wissen, was mit River und mir ist, oder?«, Cinder lächelte schüchtern.
»Ja. Und auch, woher du sie kennst«, er warf Soul einen kurzen, scheuen Blick zu. Sie kam ihm seltsam vor. Sie trug einen Pony, der eines ihrer Augen verdeckte, auf eine so menschlich wirkende Art und Weise. Zudem hatte sie einen lilanen Reif um ihre Rute und ihre Hinterbeine zierten eine Art goldener Fesseln, in dem ihr Name eingraviert war. Sogar noch einzelne Kettenglieder hingen daran.
»Die ist meine kleine Schwester«, antwortete Cinder, einige Grade kühler, als zuvor, als schien sie seine Gedanken gelesen zu haben.
»Wir sind Zwillinge«, warf Soul gleich ein.
»Du bist trotzdem jünger. Zwar nur ein paar Minuten, aber jünger ist und bleibt jünger. Ist jetzt aber auch egal. River und ich kommen aus Eismond. Meine Mutter ist Duana, sie ist im Moment dort die Leitwölfin, und Soul ist meine Schwester. Allerdings ist Duana immer ein wenig… abweisend Soul gegenüber gewesen, als wenn sie ihr nichts bedeuten würde… Vielleicht liegt es daran, das ich unserem Vater ähnlich sehe, vielleicht…«, Cinder wurde von Lugh Akhtar unterbrochen.
»Du siehst deinem Vater ähnlich?«, fragte er mit gespitzten Ohren und blieb abermals stehen, um sie aus großen Augen anzustarren.
»Ja«, antwortete Cinder und neigte den Kopf. Sie verstand seine Reaktion nicht.
»Ich glaube… dass ich ihn getroffen habe… vor noch nicht allzu langer Zeit…«, erklärte er leise.
»Das kann nicht sein. Er ist tot, seid Jahren schon«, sie schaute ihn misstrauisch aus ihren ungleichen Augen an.
»Tod…? Aber wie…«, Lugh Akhtar schüttelte langsam den Kopf. »Wie kann das sein…?«
»Ich weiß nicht, was du gesehen hast, aber es war gewiss nicht unseren Vater«, Cinder ging wieder weiter und Lugh Akhtar folgte ihr langsam und zögernd.
»Duana auf jeden fall zog mich bei allem vor«, fuhr Cinder fort und merkte gar nicht, das der weiße Wolf ihr eigentlich gar nicht mehr wirklich zuhörte. »Irgendwann ist es mir dann zu viel geworden. Ich mochte nicht mehr mit ansehen, wie sie meine Schwester zusetzt und ich bin gegangen. River hat Duana erzählt, das mich ein Bär erwischt hätte und ist mir dann mit Soul gefolgt. Soul ist bei Sternenfänger geblieben, aber River ist mit mir nach Süden gezogen, bis wir auf Schattenfang trafen. Der damalige Leitwolf hat uns beide aufgenommen und wir sind dort geblieben. Er hat sich dann dem Winterrudel angeschlossen, und mich zu seiner Nachfolgerin gemacht. Soul besucht uns ab und an noch, und das ist schon die ganze Geschichte.«
Sie schaute zu ihm zurück und merkte, dass er nur mäßiges Interesse zeigte.
»Worüber denkst du nach, Lugh Akhtar?«, fragte sie so.
»Über deinen… euren Vater. Erzählt mir von ihm, ich habe das Gefühl, das er wichtig sein könnte« bat er die Schwestern.
»Nun… er war ein nachtschwarzer Wolf. Er hatte weiße Beine und noch ein paar andere weiße Flecken. Und einen weißen Halbmond auf seiner Stirn, das habe ich von ihm. Seine Augen schimmerten wie das Nordlicht, genauso wie deine und wie…«, Cinder warf Soul einen Blick zu, und Lugh Akhtar folgte ihrem Blick. Doch Souls Auge war blau, deswegen verstand er ihren Blick nicht.
»Er war stolz und gerecht. Egal was wir auch anstellen mochten, er hat war niemals wirklich böse mit uns. Nur besorgt. Er hat immer daran geglaubt, dass jedes Wesen, egal wie schrecklich und grauenvoll seine Taten auch sein mögen, im Grunde seines Herzens gut ist. Er hat immer viel gelacht und war immer gut gelaunt. Er hat uns jeden Abend eine Geschichte erzählt, über das, was er erlebt hat, als er noch jung war, und über das, was hinter den schwarzen Bergen liegt«, fuhr sie fort.
»Mit den schwarzen Bergen meinst du die Mauer?«, fragte Lugh Akhtar Gedankenversunken.
»Ja, ich denke schon. Ikaika sagt auch immer Mauer«, nickte sie.
»Wusste er wirklich, was hinter ihr liegt, oder war es nur eine Geschichte?«
»Das wissen wir nicht, den wir waren niemals dort. Er erzählte und von einem riesigem Land, in dem Menschen leben. Zauberer und solche, die nicht mit der Magie umgehen können. Es gibt Städte, so groß wie ein ganzes Rudelgebiet, und die Größte, die Mächtigste, heißt Altena. Dort gibt es einen Turm, der so hoch ist, wie der Himmel und in seinem Innern funkelt ein Licht, das tausendmal schöner ist, als das Nordlicht. Es gibt aber auch kleinere Städte und Dörfer, in denen die Menschen ein einfaches Leben leben«, mischte sich Soul ein.
»Dann war es keine Geschichte, dann ist er dort gewesen. Von dort komme ich, aber glücklich war ich in den Menschenstädten nie«, nickte Lugh Akhtar.
»Gibt es Altena denn wirklich? Und diesen Turm?«, fragte Cinder aufgeregt. »Ich habe es immer für eine Geschichte von Ikaika und unserem Vater gehalten.«
»Altena gibt es, und auch den Turm. Ich habe dort gelebt und gelernt. Wie hieß euer Vater?«, der weiße Wolf setzte sich nieder.
»Kanoa Kuroi«, antwortete ihm Soul und sogleich starrte er sie aus großen Augen an.
»Kanoa Kuroi?«, keuchte er.
»Ja«, antwortete Cinder misstrauisch. »Was sagt dir der Name?«
»Oh, eine Menge«, lache Lugh Akhtar bitter. »Ich habe ihn nie persönlich kennen gelernt, er wurde in die Verbannung geschickt, noch bevor ich meine Lehre bei Nikolai begann. Aber Kanoa Kuroi ist dennoch so ziemlich jedem Zauberer ein Begriff. Obwohl Nikolai der Meister der Zauberergilde ist, war Kanoa immer ungleich mächtiger, als es Nikolai jemals sein könnte. Er ist… eine Legende… und er ist euer Vater… ihr könntet zu den mächtigsten Zauberinnen dieser Welt gehören!«, rief er aus.
»Was? Er war ein Mensch?«
»Wie auch ich, ja. Er war ein Verwandelter, einst ein Mensch, ein Zauberer«, nickte Lugh Akhtar.
»Ein Mensch… wir sind zur Hälfte Menschen…«, Cinder setzte sich in den Schnee und starrte vor sich hin.
»Ist doch egal, was wir sind, wir sind jetzt hier«, fand Soul und stellte sich neben ihre Schwester.
»Das stimmt. Wir sind hier… lasst uns zurückkehren«, Cinder stand wieder auf und wollte weiterlaufen. Soul folgte ihr, doch der weiße Wolf blieb stehen.
»Geht vor, ich komme gleich nach«, sagte er leise. Sogleich lief Cinder weiter, doch Soul schaute ihn und dann die Luft neben ihn eine ganze Weile an.
»Kannst du ihn auch sehen?«, fragte sie leise.
»Sehen? Wen?«, Lugh Akhtar neigte den Kopf.
»Wieso begleitet er dich? Wieso nur schließt er sich einem Fremden an, statt bei seinen Töchtern zu bleiben?«, fragte sie bitter und ihre Augen blitzten böse auf die Luft an seiner Seite.
»Ich… weiß nicht, was du meinst«, antwortete der weiße Wolf unsicher und machte zwei Schritte zurück.
»Er ist hier, Lugh Akhtar. Kanoa, mein Vater. Er steht an deiner Seite. Er ist bei dir er begleitet dich, er ist dir so nah. Und das, obwohl du ihm nicht einmal begegnet bist. Ich verstehe nicht, wieso!«, sie schüttelte heftig den Kopf und lief davon, dabei glitzerte eine Träne in ihrem Auge.
Verwundert und mit einem beklemmenden Gefühl im Magen schaute er ihr nach. Er verstand nicht, was geschehen war, wen nur sollte er sehen? Und sie konnte Kanoa hier sein, wenn er doch Tod war?
Und doch, der schwarze Wolf war schon einmal zu ihm gekommen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass es sich um dieselbe Gestalt handelte. Dazu hatte er viel zu viel Erfahrung mit dem Schicksaal.
»Kanoa Kuroi… Kanoa! Wo bist du? Ich möchte mit dir reden!«, rief er in die Schneelandschaft hinaus. Natürlich tat sich nichts, eigentlich hatte er auch nichts anderes erwartet. Dennoch blickte er mit gespitzten Ohren um sich.
»Warum nur bist du zu mir gekommen? Was steckt nur hinter deiner Geschichte…? Ich habe so unglaublich viele Fragen an dich…«, sprach er leise vor sich hin und blickte traurig zu Boden.
Da war es mit einem mal, als würde ihm der Wind antworten. Er hob den Blick und lauschte und tatsächlich war es ihm, als flüsterte es um ihn herum eine Botschaft, die nur für ihn bestimmt war.
Bald, Fjodor, bald wirst du Antworten bekommen, flüsterte er und es war dem weißen Wolf so, als spürte er wieder tiefe Geborgenheit in seinem Herzen.
Er nickte langsam und mit einer tiefen, inneren Ruhe wandte er sich um und folgte den Spuren Cinders und ihrer Schwester, zurück zu seinen Freunden.