Zum Inhalt der Seite

Wolfserinnerungen - Der Erste Schnee

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Sommer

Seufzend schloss Lugh Akhtar die Tür hinter sich und rutschte am rauen Holz hinab, sodass er bald auf dem Boden saß. Er starrte einen Moment den steinernen Boden an, dann schaute er auf.

»So anstrengend gewesen?«, erkundigte sich Vivamus mitfühlend.

»Es ist einfach so… so viel Leid. Ich glaube, ich brauche mal wieder ein paar Tage nur voll Lachen und Freuen, aber die sind noch so fern.«

»Sogar noch ferner, als du glaubst. Geht es Tariq so schlecht?«, wollte Schatten wissen.

»Du machst ja richtig Mut«, kommentierte Kenai mit hochgezogener Augenbraue.

»Ich bin realistisch«, antwortete das Mädchen mit einem Schulterzucken.

»Ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt etwas mitbekommt. Ich habe den Wind gebeten, dass er Ikaika hierher holt, damit sich irgendwer um die Belange Lantas kümmert. Ich denke nicht, das Tariq dazu in der Lage ist, zumindest nicht in nächster Zeit und ich weiß nicht, wem man das sonst anvertrauen könnte.«

»Die Idee ist auf jeden Fall gut. Menschen sind zu Machtgierig, irgendwer könnte es nur allzu schnell ausnutzen«, nickte Kenai.

»Renas Vater? Bleiben wir noch, bis er hier ist? Ich würde ihn recht gerne einmal kennen lernen«, überlegte Vivamus.

»Ja. Ich kann Tariq so nicht einfach alleine lassen«, meinte Lugh Akhtar, stand dann umständlich auf und kam zu ihnen. Er setzte sich zu Schatten auf die Fensterbank, doch sie stand auf und ging ein paar Schritte von ihm fort. Er hatte schnell gemerkt, dass sie Nähe vermied, doch er wusste nicht, woran es lag.

Er betrachtete sie einen Moment lang nachdenklich, dann beschloss er, dass es Zeit war, sie endlich zu fragen.

»Schatten, kannst du mir helfen?«

»Kommt darauf an, wobei?«, wollte sie wissen.

»Nanook. Kannst du mir… einen Hinweis geben? Wie ich ihm helfen kann? Wo sein Seelenstück ist? Weißt du es?«

Schatten senkte ihren Blick. Sie begann auf ihrer Unterlippe herumzukauen und lehnte sich an die kalte Wand, während sie nachdenklich vor sich hin starrte.

»Du weißt es, aber du willst es mir nicht verraten.« Der junge Zauberer wirkte, als habe er nie etwas anderes erwartet.

»Ich weiß es. Und ich kann dir einen Hinweis geben, aber ich bin mir nicht sicher, ob du das wirklich willst, Lugh Akhtar. Das Ergebnis wird dir letztlich nicht gefallen«, warnte sie genau das, was Hope schon vermutete.

»Kannst du das nicht mich entscheiden lassen?«

»Wenn du erkennst, worauf das alles hinauslaufen wird, ist es schon zu spät, dann kannst du nicht mehr umdrehen und auch nicht auf der Stelle verweilen. Ab einem bestimmten Punkt gibt es kein zurück mehr und das Ziel siehst du erst, wenn du ihn schon überschritten hast.«

»Aber das allerschlimmste, was ich Nanook antun könnte, ist doch sowieso, wenn ich nichts tun würde, oder?«

Sie biss sich so sehr auf die Lippen, das sie zu bluten begann, während es sichtbar in ihrem Kopf raste. Schließlich nickte sie.

»Du hast recht. Ich kann dir nicht genau sagen, wo er ist, aber ich kann dir immerhin einen Hinweis geben. Und das, was geschehen wird, ist wirklich besser, als auf der Stelle zu treten. Der fehlende Seelensplitter ist ein Stern.«

»Ein… Stern.« Lugh Akhtar zog bloß vielsagend die Augenbraue hoch und warf Vivamus einen kurzen Blick zu, der dennoch alles aussagte, was er in diesem Augenblick dachte. Sein großer Bruder zuckte darauf hilflos mit dem Schultern.

»Ja, ein Stern. Nicht irgendein Stern natürlich, aber… doch, ein Stern«, meinte sie darauf und leckte sich das Blut von den Lippen.

»Gut. Also darf ich jetzt nicht nur herausfinden, wie ich zu den Sternen hinaufkomme, sondern auch, welcher von den Milliarden es nun genau ist. Das hat mich jetzt wirklich weitergebracht«, erklärte er bissig und sarkastisch.

»Das Nordlicht ist der Weg zu den Sternen, das soll nicht das Problem sein, aber…« Sie hielt erschrocken inne, als wenn sie ihm begriff war, etwas zu sagen, was sie nicht sagen durfte. »Über das Nordlicht kommst du jedenfalls hinauf. Du musst nur Aurora bitten.«

»Na, immerhin etwas«, seufzte der junge Zauberer und stand auf. Mit harschen Schritten lief er an ihr vorbei und verließ den Raum. Draußen lehnte er sich gegen die Tür. Er verstand selbst nicht, was mit ihm los war. Er seufzte und stieß sich ab, ging die Gänge entlang, zu einem der ausladenden Innengärten, wo er sich im Schatten ins Gras legte und den blauen Himmel über sich betrachtete. Schließlich schloss er die Augen und lauschte auf den Geräuschen in seiner Umgebung.

»Du hast es noch immer nicht verstanden, oder?«, fragte ihn da eine Stimme. Er hatte niemanden kommen hören, so hatte er damit nicht gerechnet, doch er erschrak dennoch nicht. Dazu war er es viel zu sehr gewohnt, dass der Wind plötzlich neben ihm auftauchte. Der Wind besaß eine gewisse Narrenfreiheit in der Welt der Jahreszeiten, als Bote war es ihm erlaubt, zu jeder Zeit zu tun, was er wollte. Doch er kannte die Stimme und er wusste, dass sie nicht dem Wind gehörte. Sondern dem Sommer.

Er überlegte, ob er sich schlafend stellen sollte. Es war nicht so, das er den Sommer nicht mochte, aber er konnte ihn nicht einordnen, er war zu undurchschaubar und das war ihm suspekt. Letztlich entschied er sich jedoch dagegen. Wenn er wirklich der Winter werden würde, musste er sich mit dem Sommer ebenfalls gut stellen.

»Was soll ich denn verstehen?«, fragte er und öffnete die Augen. Der Sommer lag in der Gestalt des Löwen neben ihm und schaute auf ihn hinab.

»Sie will dir nichts Böses. Keiner hier will dir etwas Böses. Sie alle sind nur dazu da, um dir zu helfen. In dieser Geschichte gibt es keinen Bösewicht. Es gibt Probleme, aber zu jedem Problem gibt es die passende Antwort und du hast doch schon jetzt alles, was du brauchst«, erklärte er sanft.

»Ich weiß, was ich brauche, aber dieses Wissen nutzt nichts, wenn ich es nicht bekommen kann.«

»Aber das kannst du. Du hast alles was du brauchst, bereits in deinen Besitz. Du könntest nach Hause gehen, Nanook befreien und einen Packt mit dem Winter schließen. Einfach so.«

Lugh Akhtar runzelte die Stirn.

»Aber um Nanook zu helfen, muss ich einen Stern finden«, meinte er.

»Ja, genau.« Der Winter lächelte wissend.

»Du darfst mir auch nicht mehr sagen«, seufzte der junge Zauberer.

»Doch. Ich habe es aus eigener Kraft erkannt, mir musste man es nicht sagen. Deswegen bin ich an kein Schweigen gebunden. Das bedeutet aber nicht, dass ich es dir verrate. Wenn du Winters Platz einnimmst, musst du auch so etwas begreifen, sieh es als Teil deiner Ausbildung.«

»Macht es dir nichts aus, das Nanook deswegen leiden muss?«

»Nein.«

Diese Antwort kam nicht einmal unerwartet. Der junge Zauberer war sich nicht sicher, ob der Sommer so etwas wie Leid überhaupt empfinden konnte. Er schien ihm Mitleidlos.

»Wieso?«, fragte er dennoch.

»Weil ich weiß.«

Das war nicht die Antwort, die sich der Zauberer erhofft hatte, zumal er sie nicht verstand, doch er wusste, das er keine genauere erhalten würde.

»Hab ich eigentlich eine Wahl, was den Winter betrifft?«, fragte er stattdessen.

»Ja. Du wirst es, auf die eine oder andere Weise, aber du hast dennoch die Wahl.«

»Welche denn? Wenn ich es so oder so werde, dann ist das keine Wahl mehr«, fauchte der Zauberer und setzte sich kopfschüttelnd auf. »Dann ist es Zwang, das Gegenteil einer Wahl. Wo soll da die Wahl denn sein? Ob ich es heute oder morgen werde?«

»Auch. Du hast ein ganzes Menschenleben zeit, um den richtigen Zeitpunkt zu finden.«

»Auch? Wo darf ich denn noch wählen?«

»Wer dich auf deinem Weg begleiten wird. Und welche Gestalt sie haben werden.«

»Bleibt denn nicht das jetzige Rudel erhalten?«, fragte Lugh Akhtar erstaunt.

»Nein. Wenn Winter ihren Posten abgibt, dann verlieren sie ihre Langlebigkeit. Sie alle sterben dann, wenn sie ihr Leben gelebt haben. Außer du nimmst sie in deine Dienste, aber ich denke nicht, dass sie das wollen. Du musst also dein eigenes Rudel um dich scharren. Wähle gut aus, sie begleiten dich so lange des Weges, wie sie selbst es wollen.«

»Wie, sie selbst…? Wann sterben sie? Ab und zu geschieht das, das weiß ich, aber wann? Und wieso?«

»Wir sind unsterblich, wusstest du das? Solange wir unsere Arbeit tun, sind wir unsterblich. Und die, die uns begleiten, sind es auch«, begann der Sommer.

»Drafnar sagte, das auch ihr sterben könnt, also seid ihr es nicht. Oder? Irrt er sich?«

»Nein. Wir können sterben, aber wir sind trotzdem unsterblich. Solange wir die Jahreszeiten sind, können wir auch nicht sterben. Stell dir aber vor, du müsstest ewig leben, gleich ob du es willst, oder nicht. Alles um dich herum vergeht, alles verändert sich, nur du bleibst immer da.«

Lugh Akhtar musste nicht nachdenken, er schüttelte sofort den Kopf.

»Ich würde es nicht wollen«, sagte er.

»Nein, wir auch nicht. Und deswegen dürfen wir unseren Posten abgeben, wir werden dann sterblich.«

»Und eure Gefährten auch?«

»Bei ihnen ist es noch einmal anders. Ja, sie sind solange unsterblich, wie wir sind, was wir sind, aber sie haben noch eine andere Wahl. Wenn sie finden, dass ihre Zeit gekommen ist, dann können sie auch schon vorher gehen. Sie sterben, obwohl die Jahreszeiten noch sind, was sie sind. Anders herum geht es nicht, du könntest sie nicht mehr aus deinen Diensten entlassen. Du hast nur die Wahl, sie zu dir zu holen, sie wieder gehen zu lassen, liegt nicht in deiner Macht. Das müssen sie selbst tun.«

»Oder man tötet sie«, murmelte Lugh Akhtar.

»Oh, ich sehe, du hast von Brand gehört«, lächelte der Sommer.

»Ja. Mana hat mir in der Höhle der Nornen davon erzählt.«

»Er hat etwas Unverzeihliches getan. Ich habe ihm vertraut, genauso, wie allen anderen auch. Und er hat dieses Vertrauen mit Füßen getreten. Früher hätte ich gesagt, dass er bekam, was er verdiente, aber das stimmt nicht. Ich handelte, ohne nachzudenken, ebenso wie er. Nur hatte ich Erfolg.«

»Und er nicht.«

»Nein. Aber seine Stelle habe ich seither nur einem Einzigen wieder angeboten. Gleich zweimal. Er hat beides mal abgelehnt.«

»Wem?«

Der Sommer schwieg, schien sich nicht sicher, ob er darüber sprechen sollte, doch wie auch Lugh Akhtar zuvor, schien ihm klar zu sein, das er sich mit dem jungen Zauberer einlassen musste.

»Meinem Sohn.«

»Hope«, nickte der. »Ich habe es mir fast gedacht.«

»Du weißt mehr, als ich dachte.« Der Löwe stand auf. Er schien verunsichert, er wirkte nicht begeistert.

»Außer mir und meiner Tochter, die es mir erzählte, weiß davon niemand. Zumindest nicht von mir. Ich habe auch nicht vor, es jemanden zu verraten«, beruhigte der junge Zauberer ihn.

»Hope weiß es auch, ich habe es ihm verraten. Als er sich mir als Licht anschloss.«

»Hope weiß bescheid?« Diese Aussage überrascht Lugh Akhtar, damit hatte er nicht gerechnet.

»Ja. Allerdings hat er keinen Zweifel daran gelassen, dass es ihm egal ist. Ich bin der Sommer, nicht mehr, nicht weniger. Ein Mittel zum Zweck für ihn.«

»Nimmst du es ihm übel?«

»Sollte ich denn?«

Lugh Akhtar schaute in die grünen Augen. Er sah den Schmerz in den Augen des Sommers, den er zu unterdrücken versuchte. Er verstand ihn.

»Ich glaube, ich würde es tun. Wenn Kekoa mir sagte, das ich ihm egal wäre, würde ich es ihm wohl übel nehmen. Ich… denke, ich hoffe, das ich ihm nicht schaden würde, aber ja, es wäre für mich, wie ein Messerstich, wie ein offener Verrat. Ja, ich würde es ihm übel nehmen.«

Der Sommer lächelte still vor sich hin.

»Aber du kannst auch ihn verstehen, nicht wahr?«, mutmaßte er.

»Natürlich. Für mich wird immer Channa meine Mutter bleiben und Vivamus mein Bruder, obwohl wir nicht verwandt sind. Nicht direkt.«

»Ja, das dacht ich mir. So ist es eben, wenn man nicht bei seinen Kindern ist, wenn sie aufwachsen, wenn man diesen Platz einem anderen überlässt. Mach nicht den gleichen Fehler, Lugh Akhtar. Egal wie sehr man dich auch an anderer Stelle brauchen mag, lass es niemals wichtiger werden, als deine Familie. Selbst wenn es dein Bruder ist«, mahnte der Sommer.

»Nein. Dahingehend muss ich Vivamus recht geben. Familie ist immer mehr, als Frau und Kind. Auch meine Brüder und Schwestern sind meine Familie und sie sind nicht weniger wichtig.«

Der Sommer zögerte, schließlich jedoch lächelte er.

»Du wirst deinen Weg finden. Du kannst und weißt alles, was nötig ist. Folge dem Leben und der Dunkelheit, dann ist dein Ziel zum greifen nah. Versuch zu begreifen. Sieh das, was verborgen ist und vor allem: Hör auf die Worte, die nicht ausgesprochen werden, den sie sind viel, viel wichtiger, als jedes gesprochene Wort je sein könnte.«

»Ich werde tun, was ich kann«, nickte der junge Zauberer.

»Gut. Mehr kann ich von einem Sterblichen wohl nicht erwarten. Ich muss jetzt gehen. Auf wieder sehen, Lugh Akhtar. Das nächste Mal treffen wir uns von gleich zu gleich. Oder gar nicht mehr. Es liegt in deiner Hand.«

Lugh Akhtar nickte, doch da fiel ihm noch etwas ein.

»Sommer, Mana sagte, das auch Nea vom selben Blut ist, wie Hope. Stimmt das?«

Der Sommer zögerte, schaute ihn an, dann lächelte er. Er sagte nichts, er lächelte nur, doch Lugh Akhtar verstand sie. Die Worte, die nicht ausgesprochen wurden. Und er verstand sie.

»Danke«, flüsterte er, während der Sommer verschwand. Bis zu ihrem Wiedersehen. Von gleich zu gleich, den nun wusste Lugh Akhtar genau, was er tun würde. Er erkannte nun das leuchtende Tor, von dem sein Vater einst gesprochen hatte, vor so unendlich langer Zeit. Er sah es, und er würde hindurchgehen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2011-06-29T19:57:33+00:00 29.06.2011 21:57
Nanook kann einem ja schon Leid tun :/ Ok, es ist verständlich das solche Prüfungen angebracht sind, aber doch nicht auf solch eine Art O.o
Aber Schatten ist wieder mal so knuffig *___* Bloß nicht zu viel verraten xD
Ich muss Flämmchen recht geben, der Schluss ist super :3
Von:  Seelentraeumerin
2011-06-08T12:59:24+00:00 08.06.2011 14:59
Ich mag den Schluss oo
Ich liebe es einfach wenn ejmand keine antwort gibt sondern einfach nur lächelt, aber man genau weiß was die antwort ist*.*


Zurück