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Every Little Thing

von

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Misfortune

Ich erinnere mich noch an den ersten Tag in dieser Stadt. Ich war gerade umgezogen, um meine Ausbildungsstelle als Erzieherin in dem hiesigen Kindergarten anzutreten, und ich war neunzehn.
 

Alles war plötzlich so groß und neu. Kein Wunder, ein "Landmädchen" in der Stadt, da muss einem wohl zwangsläufig alles gigantisch vorkommen. Die vielen Menschen, die riesigen Geschäfte. Ich saugte alles auf, alle Eindrücke, versuchte, mir alle Straßennamen und Häuser zu merken, alle Wege und die Standorte vom Postamt, der Bank und anderen, lebensnotwendigen Institutionen.

An meinem ersten Tag - eigentlich an meinem zweiten, denn am ersten war ich mit Auspacken und Möbelrücken beschäftigt gewesen -, bummelte ich durch die Stadt und schaute mir alles neugierig an - den Brunnen auf dem Marktplatz, das große Rathaus, den Bücherladen. Vor allem aber beobachtete ich die Menschen.
 

Zu Hause hatte jeder jeden gekannt und man kam kaum ungesehen von A nach B, aber hier, hier achtete niemand auf niemanden. Obwohl die Straßen voll mit Menschen waren, fühlte man sich eigenartig allein - und frei.

Ich atmete die Stadtluft ein und fühlte mich plötzlich so viel besser - so viel erwachsener. Die Sonne schien und kein Wölkchen war am klaren, blauen Himmel zu sehen, es war Frühling, draußen war es schön frisch, aber nicht kalt und die Bäume waren dabei, sich in ihrer vollen, grünen Pracht zu entfalten.

Ich schlenderte in der Mitte der Fußgängerzone und fühlte mich so erhaben wie noch nie – es war, als läge die Welt mir zu Füßen -, schaute nach links und rechts, belauschte neugierig Gesprächsfetzen der Menschen, die hastig vorbeigingen. Ich muss unvorstellbar zufrieden ausgesehen haben, weil ich mich auch genauso fühlte.
 

Ein Pärchen kam mir entgegen. Ein ziemlich gutaussehender, dunkelblonder Kerl, lässiger Gang, schien mit den Gedanken ganz woanders, während seine ebenfalls blonde Freundin, an seinem Arm hängend, ihm irgendetwas erzählte. - ja, regelrecht auf ihn einredete. Sie gingen an mir vorbei und für einen kurzen Moment drehte ich mich um und schaute ihnen hinterher, ein bisschen wehmütig vielleicht. Da waren sie, zwei schöne Menschen, die einander gefunden hatten. Gleich und gleich gesellt sich ja bekanntlich gern, dachte ich noch, seufzte und setzte meinen Spaziergang fort. Ich hatte die zwei genauso schnell wieder vergessen, wie ich sie gesehen hatte.
 

Die folgenden Monate gestalteten sich als schwierig. Ich hatte irgendwie... Pech. Ich hatte schon immer eher das Gefühl gehabt, nicht gerade vom Glück geküsst worden zu sein, aber was sich hier abspielte, war jenseits meiner Vorstellungskraft.

Ich stolperte in der Öffentlichkeit, was eigentlich nichts Neues war, verpasste ständig irgendwelche Busse oder Züge, zwei Mal ist es mir passiert, dass mir die Einkaufstüte gerissen ist und alle meine Lebensmittel - Tomaten, Äpfel und so weiter - auf die Straße kullerten. Vor allem die Eier ergaben eine riesige Sauerei. Nachdem mein "Ich-habe-eine-Andere"-jetzt-Ex-Freund mich von heute auf morgen sitzen gelassen hat, hatte ich ein paar unglückselige Dates - der Eine ging bereits nach der ersten Viertelstunde auf Tuchfühlung und das nicht gerade auf subtile Weise und der Andere war so ein Pseudo-Intellektueller, der sich einen lächerlichen Oberlippenbart wachsen ließ und mir ständig mit Zitaten von mir unbekannten Schriftstellern kam, dass ich nicht wusste, ob ich eher lachen oder einschlafen sollte.

Ich erinnere mich auch noch an den Rohrbruch - meine ganze Wohnung unter Wasser, wie könnte ich dieses Bild jemals aus meinem Gedächtnis kriegen?

Auf der Abschlussfeier meines Bruder vor nur wenigen Monaten ist mir der Schuhabsatz abgebrochen, ich stolperte, trat auf den Saum meines Kleides und zerriss es - es war ein einziges Desaster.

Erst vorletzte Woche habe ich meinen Schlüssel verloren - oder er wurde mir geklaut - und das allerschlimmste von allem ist: meine beste Freundin war vor kurzem nach Südafrika abgereist, um dort ein Praxissemester zu verbringen. Es war zum Heulen.
 

Das alles hätte mir eigentlich schon gereicht, doch nun stand ich vor meiner Wohnungstür - meine Wohnung befand sich im Erdgeschoss und ich musste mir nach meinem Einzug ganz schnell Jalousien anschaffen, weil man wunderbar von außen hineinsehen konnte, was die aberwitzige Jugend von heute sich ja auch nicht entgehen ließ -, und wunderte mich: ich hatte die Tür doch zugemacht. Sie war jedoch nur angelehnt und ein schrecklicher Gedanke kroch in meinen Kopf. Mein Puls beschleunigte sich, als mein Blick auf das kaputte Schloss fiel.

Langsam stieß ich die Tür auf, gewappnet für das allerschlimmste, und trat ein.

Das Erste, das ich sah, war die schreckliche Unordnung. Ich war zwar aufräumfaul, aber Sso nun auch wieder nicht... die zerbrochene Vase auf dem Boden, die Bücher, die herumlagen, die rausgerissenen Seiten, meine ganzen Klamotten - die Kleiderschranktüren standen sperrangelweit offen. Auf meinem Schreibtisch fehlte der Laptop, der Fernseher war verrückt worden, hinten hingen herausgerissene Kabel heraus.
 

Mit zitternder Hand, sprachlos, fassungslos, griff ich nach dem Telefon - es stand noch an seinem Platz.
 

"Wir schicken sofort einen Einsatzwagen bei Ihnen vorbei."

Almost Miserable

"Guten Tag, ich bin Inspektor Dickinson, das ist mein Kollege Inspektor Blake, wir sind von der Polizei."

Ein älterer Mann, vielleicht in den Endvierzigern, mit ansatzweise grauem Haar und Geheimratsecken, stand vor mir und hielt mir seine Polizeimarke kurz vor die Nase, gerade so, als könnte ich eine echte von einer gefälschten unterscheiden.

Dabei schaute er mich kein einziges Mal an, seine Augen waren bereits in meiner verwüsteten Wohnung und er kramte geschäftsmäßig einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Brusttasche hervor, während ich ihm Platz machte und er eintrat.

Sein Kollege, der sich hinter ihm befand, betrat nach ihm die Wohnung, aber ich beachtete ihn kaum. Stattdessen konzentrierte ich mich ganz allein auf Mr Dickinson, der mir eben so emotionslos seinen Text heruntergeleiert hatte. Er schien ganz kompetent zu sein, vor allem aber machte er der Eindruck, als hätte er das schon tausendmal erlebt und als wäre dieser Einsatz reinste Routine für ihn.

Zum aller ersten Mal drängte sich mir die Frage auf, bei wie vielen Menschen an einem Tag eingebrochen wurde, in dieser Stadt, in unserem Land, auf der Welt? Schnell schüttelte ich diesen Gedanken ab und schaute Trockenpflaume erwartungsvoll an. Meine Situation schien ihn schwer zu langweilen, aber er erschien mir auch nicht sonderlich interessant.
 

Auch, wenn das alles ziemlich schrecklich und erschütternd und ich noch immer vollkommen außer mir war, war es doch irgendwie spannend. Zum ersten Mal war die Polizei bei mir zu Hause und das nicht, weil ich irgendetwas angestellt hatte!

Nicht, dass ich jemals irgendetwas verbrochen hatte, was die Polizei dazu gebracht hatte, an meine Tür zu klopfen - oder vielmehr an die meiner Eltern.

Durch die Tür kamen noch zwei andere Polizisten hereinspaziert, die nickten mir kurz angebunden zu und gingen dazu über, durch die Wohnung, die ja wirklich nicht sonderlich groß war, zu tigern und nach Spuren zu suchen.

"Das sind die Kollegen von der Spurensicherung", verkündete Trockenpflaume auch sogleich mit seiner rauen, monotonen Stimme. Ein bisschen Mitleid hätte ich schon erwartet, immerhin war ich jung und nun sogar auch noch fast mittellos. Zumindest ohne Laptop, DVD-Player, meiner Leselampe und, was sehr kurios war, meinem neuen Edelstahltopfset!

Dafür hatte ich eine Küche voller zerbrochener Teller, deren Reste immer noch auf den Fließen herumlagen, weil ich ja nichts anfassen durfte, und einem Chaos, mit dem ich wohl für die nächsten drei bis vier Tage bedient war. Klasse. Das ist genau das, was mir noch gefehlt hatte.

Die Einbrecher - Gott weiß, was sie ausgerechnet bei mir, die ich ja nun wirklich nicht sonderlich wohlhabend war, gesucht hatten -, aber hinterlassen haben die - falls es denn mehrere waren, wovon ich ausging -, eine Unordnung, die ich in dieser Form so bis jetzt noch nicht gesehen habe.

Der Gedanke, jemand anderes hätte in meinen persönlichen Sachen herumgeschnüffelt, war viel zu gruselig und zu erschütternd, als dass ich mich damit aufhielt, ihn noch weiter zu vertiefen. Es würde mir dazu sicherlich noch genügend Zeit bleiben, sobald Mr Langeweile persönlich und seine Spurensicherungsfreunde meine Wohnung verlassen und mich allein zurücklassen würden. Wie sollte ich heute bloß einschlafen?
 

Ich seufzte herzerweichend und ließ den Kopf ein bisschen hängen, um den gefühlskalten Polizisten meine Misere vor Augen zu führen. Vergeblich.

"Schildern Sie bitte den genauen Tathergang", spulte Trockenpflaume ab, als ich einen Blick zu seinem Kollegen warf, der mit dem Rücken zu mir stand und den Spurensicherungspolizisten bei der Arbeit zuschaute. Diese knieten gerade vor meinem Fernsehtisch und leuchteten etwas mit einem roten Lämpchen ab, was mich gewissermaßen sehr faszinierte, doch genaueres konnte ich nicht erkennen, da mir drei breite Männerrücken die Sicht versperrten - Trockenpflaume erforderte auch noch meine Aufmerksamkeit.

"Ähm also... ich weiß nichts über den Tathergang..." Was wollte er eigentlich von mir? Ich stand noch immer neben mir und war bei dem "Tathergang" wohl kaum dabei gewesen, soviel stand jedenfalls fest.

"Ich meine", erklärte er geduldig, mit der gelangweiltesten Stimme der Welt, "schildern Sie einfach, was passiert ist."

Sag das doch gleich, du Dörrobst.

"Äh also..." Ich kramte in meinem Kopf. Was war passiert, was war passiert? "Ich bin nach Hause gekommen." Ich machte eine Pause. Er nickte.

"Und weiter?"

"Und dann... die Tür!" Da fiel es mir wieder ein. Natürlich, die Tür war offen gewesen. Ich schnappte nach Luft bei dieser Erkenntnis. Ich bin bestohlen worden!

"Ich wurde bestohlen!", teilte ich dem schreibenden Trockenobst verwundert mit.

"Was war mit der Tür?" Der Mann ließ sich davon ganz und gar nicht beeindrucken. Verstand er denn nicht, dass hier einer gewaltsam mein Türschloss aufgebrochen hatte, um mich wehrloses Wesen meiner kostbarsten Besitztümer – im Form eines veralteten DVD-Players im Sonderangebot und der ältesten Leselampe der Welt - zu berauben? Und wenn ich früher nach Hause gekommen wäre? Was hätten die mit mir gemacht? Hätten die mir mit einem meiner Edelstahltöpfe eins übergebraten oder hatten die gar... Pistolen dabeigehabt? Ich hätte tot sein können! Und der verflixte Beamte interessierte sich nur für seinen dämlichen Notizblock.
 

Ich erstarrte, als ich mir vorstellte, wie mir eine Knarre an den Kopf gehalten wurde. Ich und meine ausschweifende Fantasie!

"Vielleicht sollten Sie sich erst mal beruhigen", sagte eine freundliche, bisher noch unbekannte Stimme. Ich starrte den Besitzer dieses wundervollen Wohlklangs an und ich glaube, für einen Augenblick stand mir sogar der Mund offen.

Vor mir stand ein junger, gutaussehender Mann mit kurzen, dunkelblonden Haaren und dunklen, grünen Augen. In seiner Polizeiuniform sah er - im Gegensatz zu Pfläumchen - richtig autoritär und erhaben aus, zugleich hatte er aber etwas Lässiges an sich, wie er da stand, an die Wand gelehnt, und mir aufmunternd zulächelte. Und erst dieser muskulöse Körperbau! Nicht übertrieben, aber gerade richtig, um mich in Verzückung zu bringen. Kein Zweifel: da stand ein echter Mann vor mir.

Wie ein gefrorener Eisblock stierte ihn an, was mir aber gar nicht richtig bewusst war. Die Pistole an meiner Schläfe hatte ich schon längst vergessen, genauso wie den wirklichen Grund für die Anwesenheit dieses Gottes in meiner Wohnung. In meiner Fantasie spielten sich schon wieder ganz andere Dinge ab... wirklich ganz andere Dinge...

"Sie sind nach Hause gekommen", half mir Trockenpflaume, der von meinem Ausflug in unkeusche Gefilde wohl genug hatte, wieder auf die Sprünge und klang dabei tatsächlich etwas ungeduldig. "Was ist dann passiert?"

Zurück in der Realität war ich nun noch verwirrter als ohnehin schon. Irritiert schaute ich von Dickinson zu seinem Kollegen - wie hieß er doch gleich? In meinem Gehirn war nicht so viel Platz für so viele Informationen auf einmal -, und blinzelte.

"Ja, richtig, also äh, ich...", stotterte ich, nervös, da mich Mr Perfect immer noch anschaute, und versuchte, mich zu konzentrieren, was alles noch schlimmer machte. Sich unangenehm seiner Anwesenheit bewusst, versuchte ich, die Erinnerungsreste in meinem Gehirn zusammenzukratzen. "Die Tür war offen und äh..."

Der alte Mann machte sich Notizen. So viel, wie er schrieb, sagte ich genau genommen gar nicht, es sei denn, er schrieb jedes einzelne "äh" mit auf.

"War das Schloss schon vorher kaputt gewesen?", wollte er desinteressiert wissen.

Machte er Witze? So, wie es nun an der Tür hing, hätte ich doch weder rein noch raus gekonnt.

"Natürlich nicht", sagte ich, etwas empört, und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie der tollste Polizist der Welt vergnügt grinste. Jedenfalls war ich wieder drin im Geschehen, dank Trockenpflaume, und versuchte, so gut es ging, den umwerfenden Dunkelblonden zu ignorieren, weil er, ähnlich wie Alkohol, nur meine Gehirnzellen vernebelte.

"Ich kam in die Wohnung rein und habe das hier-", ich machte eine ausschweifende Handbewegung, in die ich das Chaos in meinem Zuhause implizierte, "gesehen."

Er notierte sich wieder etwas und blickte nun zu mir auf. Wahrscheinlich das erste Mal, dass er mich direkt ansah. Oder vielmehr: er sah durch mich hindurch.

"Haben Sie Grund zur Annahme, dass irgendjemand irgendetwas in ihrer Wohnung gesucht haben könnte?"

Hortete ich hier Diamanten oder geraubte Dollarnoten, oder was? Schön wär’s!

"Nein."

"Sie haben nichts an dem Zustand der Wohnung verändert, nachdem Sie uns angerufen haben?" Wieso klang der Gute eigentlich dauernd so gelangweilt?

Auf sein Stichwort hin drehten wir drei ums um und beäugten alle das Durcheinander um uns herum.

Trockenpflaume's Blick fiel auf die geschundenen Bücher, Mr Godlike's Blick fiel auf meine - verdammt noch mal! - herumliegende Unterwäsche, da die perversen Säue von Tätern auch meine Schubladen durchwühlt haben - und mein Blick fiel auf Mr Perfect, der eben jene interessiert musterte und auf dessen Lippen ein angedeutetes, amüsiertes Lächeln lag.

Alles Blut in meinem Körper schoss hoch in mein Gesicht - ich glaube sogar, dass meine Zehen ganz taub wurden - und meine Wangen und Ohren glühten plötzlich um die Wette.

"Ich äh... am Telefon hat man mir gesagt, ich soll nichts anfassen", stammelte ich, in einem Versuch, mich vor ihm zu rechtfertigen, obwohl er es doch war, der hier meine Unterwäsche so offensichtlich unverschämt in Augenschein nahm.

Oh Gott, das Ganze war mir so peinlich, dass ich sofort beschloss - nur für den Fall eines zweiten Einbruchs und eines Polizisten, der so attraktiv war -, meine Unterwäsche demnächst irgendwo an einem versteckten Ort aufzubewahren, an den Einbrecher nicht mal im Traum dachten... Vielleicht irgendwo außerhalb der Wohnung also.

Er unterdrückte ein Grinsen, während er mich belustigt musterte und schwieg - wenigstens klebte sein Blick nicht mehr an der Unterwäsche -, und ich versuchte, im Boden ein sich auftuendes Loch ausfindig zu machen, was mir aber leider nicht vergönnt blieb. Immer ich!

Trockenpflaume war auch keine große Hilfe. In seinen kleinen Notizblock vertieft ergriff er wieder das Wort: "Haben Sie vielleicht eine Vermutung über die Identität der Täter?"

Ganz hibbelig durchforstete ich meinen Kopf nach Vermutungen, während Mr Dickinson geduldig wartete und Mr Incredible mich immer noch sehr gutaussehend und leicht grinsend beobachtete, was natürlich nicht gerade zur Besserung der Situation und meiner Zurechnungsfähigkeit beitrug.

"Nein", krächzte ich dann schließlich verzweifelt. "Keine Vermutungen."

Dickinson nickte. Das umwerfende männliche Wesen neben ihm brachte mich hingegen fast aus der Fassung.

"Nun, Miss Jones. Sie sollten sich schnell ein neues Schloss besorgen", riet der geduldige alte Mann. "Wir melden uns bei Ihnen. Mein Kollege wird Ihre Personalien aufnehmen."

Er wandte sich ab, steckte seinen Kugelschreiber wieder in die Brusttasche und gesellte sich zu seinen Spurensicherungskollegen, die anscheinend schon alle Spuren gesichert und das ein oder andere Kabel in so eine von diesen polizeimäßigen Frischhaltefolien gesteckt hatten. Langsam aber sicher wurde ich meinen Besitz Stück für Stück los.

Zögernd wandte ich mich zu seinem Kollegen um und bedachte ihn mit einem unsicheren, misstrauischen Blick. Er lächelte.

"Ihren Ausweis müsste ich sehen", sagte er freundlich. Ich beeilte mich schnell, ihn mit zitternden Fingern aus meinem Portemonnaie zu ziehen und ihn ihm auszuhändigen.

Er schrieb irgendetwas ab und gab ihn mir wieder.

Für einen kurzen Moment schaute er mich einfach nur schweigend an, in seinem Blick lag etwas Abschätzendes. Ich kam mir plötzlich schrecklich unattraktiv vor. Ich hatte nicht einmal die Zeit oder die Idee gehabt, in den Spiegel zu schauen, weil ich so durcheinander gewesen war, meine Haare hingen lose an mir herunter, da es draußen geregnet und ich keinen Regenschirm dabei gehabt hatte, und wer weiß, was in der Zwischenzeit in meinem Gesicht alles für Furunkel aufgetaucht waren? Alles war möglich, zumindest hier und heute und vor allem: bei mir.

Ich senkte schnell meinen Blick und war sehr damit beschäftigt, meinen Pass wieder in das dafür vorgesehene Fach der Geldbörse reinzufriemeln. Wieso ging er nicht einfach und ließ mich mit meinem Elend alleine? Das hier war wahrlich kein Ort für gutaussehende Götter, das hier war eine verwüstete Wohnung eines Pechvogels. Ich musste mich dringend unter meiner Bettdecke verkriechen. Man sollte eine kräftige Portion Selbstmitleid kombiniert mit Schokolade, einem Pyjama und sinnlosen Soaps im Fernsehen niemals unterschätzen.

"Darf ich Ihre Telefonnummer haben?", fragte er wieder mit seiner atemberaubenden Stimme - oder kam es mir nur so vor? - und klang dabei so liebenswürdig, dass ich unwillkürlich wieder aufblicken musste. Telefonnummer?

"Damit wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen können", erklärte er hastig, als er meinen fragenden Blick registrierte.

Natürlich. Wofür auch sonst. Unfassbar, dass da eben tatsächlich auch nur das kleine Korn einer Hoffnung in mir aufgekeimt war.

Ich diktierte sie ihm, ziemlich mutlos und demotiviert, in Gedanken schon allein in der Wohnung mit den Artefakten eines Diebstahls. Wenigstens war der Fernseher noch da, wenn ich auch erst mal die Kabel überprüfen musste, denn die wurden ja gewaltsam rausgerissen, als der DVD-Player gekidnappt wurde und den Rest hatten wahrscheinlich die netten Spurensicherer mitgenommen. Na Dankeschön!

"Danke." Er lächelte mir noch einmal aufmunternd zu und schaute mich einen Moment länger an, als nötig gewesen wäre. Sein Blick wirkte auf mich hypnotisch, doch bevor ich vergaß, zu atmen und zurückstarrte, wich ich ihm lieber aus. Ich fühlte mich so elend wie nie zuvor.
 

Dann ging er aus der Wohnung und ich wollte gerade die Tür hinter ihm schließen, als er sich noch einmal umdrehte, grinste und sagte: "Sie dürfen jetzt übrigens Ihre Wäsche wegräumen."

Blown Away

Nach 37 Stunden, von denen ich die ersten 29, aus Angst einzuschlafen, im Wachzustand verbracht habe, bis der Schlaf mich schließlich doch noch übermannt hat, blinzelte ich meine weiße Decke an. Da es hell im Zimmer war, musste es bereits Tag sein.

Es war einer von diesen Momenten, an denen man morgens aufwacht und nichts Schlimmes erwartet. Alles fühlt sich angenehm normal an, bis zwei, drei Sekunden später die Gewissheit wieder langsam und grausam in das Gedächtnis kriecht. Und das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht normal und in Ordnung ist.

Ich kniff die Augen zusammen, drehte mich ruckartig auf den Bauch und umklammerte mein Kissen, während ich mein Gesicht in dasselbe drückte. Am liebsten wäre ich sofort wieder eingeschlafen. Verschiedene Gedanken schwirrten mir alle gleichzeitig durch den Kopf: die Arbeit, meine verwüstete Wohnung, die ich bis jetzt noch nicht angerührt hatte, die Mitleidsbekundungen der Nachbarn.

Im Haus wohnten ein älteres Ehepaar, eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die über den Einbruch fast noch betroffener schien als ich, ein alter Mann, den man kaum zu Gesicht bekam, weil er nie aus der Wohnung ging, ein junger Mann, den man kaum zu Gesicht bekam, weil er nie in die Wohnung ging, und drei junge Studenten in einer WG, die allerdings alle älter waren als ich.

Gestern hatte man mir sogar ein warmes Mittagessen vorbeigebracht, zubereitet von der netten alten Mrs Forster mit dem wohl griesgrämigsten Ehemann der Welt.

Das Schloss hatte ich bereits auswechseln lassen, das Chaos jedoch, vor allem in der Küche, war geblieben. Ich hatte lediglich die Scherben aufgekehrt, doch wie lange würde ich mich noch davor drücken können?

Mit einem Seufzer setzte ich mich auf und schaute auf die Uhr. Elf.

Wie viel ich wohl bis zum Mittagessen schaffen würde...?
 

Fast eine Woche war vergangen und ich hatte den Schweinestall in meiner Wohnung schließlich doch noch beseitigt und war ziemlich stolz auf das Funkeln und Glänzen der Fensterscheiben. Es hätte mich nicht gewundert, wenn plötzlich eine Taube dagegen geflogen wäre, so klar war jetzt das Glas, und auch der Rest der Wohnung sah besser als, als je zuvor.

Ziemlich zufrieden mit mir selbst saß ich an diesem späten Nachmittag auf meinem Bett und betrachtete stolz mein Werk, während nebenbei der Fernseher lief. Ich wartete auf meine Lieblingssendung, die in wenigen Minuten anfangen würde, als das Telefon klingelte.

Ich nahm ab und war zunächst etwas erschrocken, als sich die Polizei meldete, bis mir wieder einfiel, dass nicht ich diejenige war, die etwas verbrochen hatte.

Nach einigen Tagen der Furcht, meine Wohnung zu verlassen und sie dann genauso wiederzufinden wie an jenem Tag, aber auch, in der Wohnung zu bleiben und abgeknallt zu werden, falls der oder die Einbrecher doch noch den ein oder anderen Edelstahltopf vergessen hatten, habe ich es beeindruckend gut geschafft, das Ganze zu verdrängen. Das konnte so aber auch nicht weitergehen, denn ständig, wenn mich jemand ansprach, fuhr ich erschrocken zusammen und vermutete gleich einen tätlichen Angriff.

Das ging sogar so weit, dass man mich im Kindergarten kurzfristig in ein verlängertes Wochenende geschickt hatte, damit ich "mal so richtig ausspanne" und mich "erhole". So haben sie es jedenfalls formuliert. Ich allerdings vermute eher, dass sie mich für psychisch gestört hielten und mich aus dem Weg haben wollten, da ich ihnen und den Kindern bereits Angst machte. Aber was konnte ich denn dafür, wenn mir zurzeit alle Angst machten?

Am Telefon war eine freundliche Dame - gab es Sekretärinnen bei der Polizei? - die mir mitteilte, ich sollte doch am nächsten Tag - ein Dienstag übrigens - ins Revier kommen, wenn ich Zeit hätte. Es handelte sich um den Zwischenfall von vor einer Woche, erklärte sie und gab mir das Gefühl, beim Reden ständig zu lächeln.

Sofort war ich wieder nervös. Ich hatte weder vorher etwas mit der Polizei zu tun gehabt - und das ist ja bekannterweise nicht sonderlich reibungslos verlaufen mit Trockenpflaume und seinem Kollegen, der noch größeren Pflaume -, noch war ich jemals auf dem Revier gewesen. Was würde mich da erwarten?

Lauter Männer in Uniformen! Nun, das dürfte sich ja für Außenstehende ganz nett anhören, aber wenn man mittendrin war, hatte der Gedanke schon weitaus weniger Reiz. Man musste schließlich auch Mr Trockenpflaume und "so weiter" hinzuzählen.

Die Erinnerung an ihn und sein schalkhaftes Grinsen trieb mir wieder die Röte ins Gesicht und ich wünschte mir von Herzen, dass ich ihm nicht begegnen würde.

Aber dann sagte ich mir, dass er doch sicherlich einer von diesen "im-Polizeiwagen-Umherfahrer" war und keiner von den "Büro-Polizisten". Damit schaffte ich mir eine untrügliche Illusion, die mich ein bisschen beruhigte.

Mr. Unwiderstehlich würde sicherlich nicht noch mal in den Genuss meiner Unterwäsche kommen...
 

Ein bisschen eingeschüchtert ging ich auf den Haupteingang des städtischen Polizeireviers zu. Auf dem Parkplatz standen eine Menge Polizeiautos. Eins davon könnte vielleicht der Dienstwagen von Mr Perfect sein, was bedeuten würde, er wäre doch hier... aber schon wieder schweiften meine Gedanken zu ihm ab, verdammt noch mal! Ich schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, ihn somit auch aus meinem Kopf verbannen zu können.

Das Gebäude war groß. Er konnte überall sein und außerdem, wer sagte denn, dass er anwesend war? Das Risiko war also minimal.

Neuen Mut gefasst trat ich vor die Tür, die sich sogleich automatisch öffnete.

Die Eingangshalle war groß, rechts führt ein Gang zu den öffentlichen Toiletten, im linken Gang befand sich eine Informationsstelle, wo ich mich wahrscheinlich ankündigen sollte.

Die Dame in Polizeikleidung hinter dem Glas saß an ihrem Schreibtisch und ordnete irgendwelche Unterlagen, ohne mich zu bemerken.

Etwas unschlüssig stand ich hibbelig vor dem Fenster, doch als sie noch immer keine Notiz von mir nahm, klopfte ich zweimal leicht an das Glas, woraufhin sie sofort aufblickte und sich zu mir hin beeilte.

Sonderlich freundlich war sie nicht, als sie mich nach meinem Namen und dem Grund meines Erscheinens fragte. Meinen Ausweis konfiszierte sie auch, gab ihn mir aber wieder, nachdem sie irgendwelche Daten in ihren Computer eingegeben hatte.

"Büro 2.07", sagte sie noch zu mir, tödlich gelangweilt. "Das ist im zweiten Stock."

Was sie nicht sagte. Wo ihre Zelle doch mit der 0.11 versehen war.

Ich bedankte mich trotzdem artig und suchte die Treppe, die mich nach oben führen sollte. An der Wand hingen kleine bedruckte Hinweisschilder, die in die Richtung wiesen, wo man jeweils hinwollte. Ich befand mich auf dem Weg zur "Einbruchssicherung".

Es war sehr still im Gebäude und ich traute mich kaum, irgendein Geräusch zu machen, geschweige denn zu atmen.
 

Im zweiten Stock angekommen suchte ich nach der Raumnummer sieben, stand jedoch noch einen geschlagenen Moment davor, nicht wissend, ob ich reingeholt werde oder doch lieber klopfen sollte. Hatte die Empfangstussi mich angekündigt? Würde ich in irgendeine Vernehmung reinplatzen?

Ich beschloss, einfach mal an der Tür zu lauschen und näherte mich ihr mit meinem Ohr. Von Innen drang kein einziger Laut nach außen.

Ich seufzte und beschloss, ins kalte Wasser zu springen und zu klopfen.

Ich wusste zwar nicht, was ich erwartet hatte, aber das leise "Herein", das hinter der verschlossenen Tür zu mir hervordrang, erschreckte mich.

Zögerlich drückte ich die Klinke herunter und trat ein.

Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, das Erste, was ich sah, war Mr. Dickinson alias "die Trockenpflaume" - und ich wünschte, es wäre tatsächlich so gewesen. Aber nein, wer mir zuerst ins Auge fiel, war natürlich der Polizist, von dem ich mir geschworen hatte, ihn nie wiederzusehen.

Augenblicklich lief ich tiefrot an, bis zu den Zehenspitzen, und blieb wie angewurzelt stehen, während ich ihn anstarrte. Er sah immer noch sehr gut aus, noch besser, als ich ihn in Erinnerung hatte, und er saß an seinem Schreibtisch, gebeugt über irgendwelche Papiere.

Als ich die Tür öffnete, blickte er nach einer kurzen Verzögerung auf und auf seinem Gesicht erschien der Ausdruck des Erkennens. Mist, er wusste also noch, wer ich war!

Er lächelte, während ich noch immer panisch seinen Blick erwiderte und wie ein begossener Pudel in der Tür herumstand.

"Ah, Miss Jones", begrüßte er mich und mir fiel plötzlich ein, dass ich seinen Namen ja gar nicht wusste. "Mein Kollege ist sofort für Sie da, setzen Sie sich doch", bot er an und deutete auf einen Stuhl unweit seines Schreibtisches.

So etwas konnte ja auch nur mir passieren. Ich schaute mich um, doch Mr Dickinson, meine einzige Rettung momentan, war nirgends zu sehen.

Er bemerkte, dass ich nach ihm suchte und fügte beruhigend hinzu: "Er wird gleich wiederkommen."

Mit einem staubtrockenen Mund, der anscheinend gerade einen Ausflug in die Sahara ohne mich unternommen hatte, nickte ich, schloss behutsam die Tür hinter mir und bewegte mich steif auf meinen Sitzplatz zu.

Ich setzte mich vorsichtig auf die Stuhlkante, jederzeit bereit, im Notfall zu fliehen, und betrachtete nervös meine Schuhspitzen, ohne aufzusehen.

Doch auch Mr Godlike schwieg und schien mich gar nicht zu beachten. Stattdessen wandte er sich wieder seiner Arbeit zu und füllte irgendwelche Formulare aus, eins nach dem anderen.

Als er kurz aufblickte und dabei peinlicherweise bemerkte, dass ich ihn heimlich beobachtete, lächelte er mir gequält zu.

"Papierkram", erklärte er und legte seinen Kugelschreiber beiseite, verschränkte die Finger ineinander, ließ die Hände auf dem "Papierkram" ruhen und betrachtete mich mit einem interessierten Lächeln.

Mein Gesicht und meine Ohren glühten auf und ich sah mich gezwungen, meinen Blick abzuwenden.

"Ach so", murmelte ich, nicht gerade geistreich, und warf einen hilflosen Blick zur Tür, die zu meiner großen Überraschung just in diesem Augenblick tatsächlich aufging.

Erleichtert atmete ich auf, als Mr Dickinson hereintrat, mit demselben gelangweilten, emotionslosen Ausdruck im Gesicht, wie ich ihn immer noch in Erinnerung hatte. Dieser Mann war meine Rettung und ich wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, was jedoch etwas seltsam gewesen wäre. Also begnügte ich mich damit, ihm dankbare Blicke zuzuwerfen und Mr Irresistible so gut es ging zu ignorieren. Soweit ich das verstanden hatte, war sowieso Mr Dickinson für mich zuständig.

Dieser starrte mich einen Moment lang ausdruckslos an. Anscheinend erkannte er mich nicht wieder.

"Miss Jones", kam ihm sein Kollege zur Hilfe, der wieder nach seinem Kugelschreiber gegriffen hatte und zur mir herübernickte.

"Ah, natürlich!" Zu meinem Erstaunen deutete sich auf Dickinson's Gesicht so etwas wie ein freundlicher Ausdruck an und er nickte mir entschuldigend zu. "Kommen Sie nur..." Er zeigte auf den anderen Stuhl, der gegenüber seinem eigenen Schreibtisch, weiter hinten im Raum, stand, und wartete, bis ich mich erhoben hatte. Dann geleitete er mich geduldig die paar Schritte weiter, setzte sich jedoch nicht an den Tisch mir gegenüber, sondern blieb einfach neben mir stehen, wobei er mir die Sicht auf den, dessen Namen ich nicht kannte, versperrte. Zum Glück.

Mr Dickinson kratzte sich ratlos am Kopf und seufzte. "In der letzten Woche", verkündete er, "sind in der Gegend, in der Sie auch wohnen, etliche Einbrüche gemeldet worden. Es ist also anzunehmen, dass Sie nur ein zufälliges Opfer einer sehr dreisten Bande geworden sind. Die Einbrecher warten nicht einmal, bis die Dunkelheit hereinbricht." Er schüttelte fassungslos den Kopf und ich schaute ihn ängstlich, mit großen Augen an. "Es ist bis jetzt niemand ernsthaft zu Schaden gekommen, aber wir haben mittlerweile so viele Beweise, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir auf ihre Fährte kommen. Trotzdem... Sie müssen uns Ihre Aussage noch einmal schriftlich selbst niederschreiben..." Er klang erschöpft. "Es tut mir leid, dass wir Sie wegen so einer Formsache belästigen müssen, aber Vorschrift ist nun mal Vorschrift."

Ganz offensichtlich fand er diese Vorschrift mehr als nur unnötig, aber ich atmete erleichtert auf. Hatte ich doch schon befürchtet, dass es irgendetwas Ernstes war, weshalb ich hierher beordert wurde.

"Das macht überhaupt nichts", versicherte ich Mr Dickinson erfreut, für den ich immer mehr Sympathie empfand, aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht, weil er, mal abgesehen davon, dass er mich eben aus dieser äußerst unangenehmen Stille gerettet hatte, mir immer menschlicher erschien.

Er nickte. "Es dauert auch nicht lange", murmelte er, während er zum Aktenschrank herüberging, eine Schublade öffnete und ein bisschen darin herumkramte. Ich wagte einen kurzen, unauffälligen Seitenblick zu seinem jungen Kollegen, dessen Anwesenheit mir die ganze Zeit über grausam bewusst war, als säße sie mir geradezu im Nacken. Schließlich zog Dickinson ein Formular heraus, das er mir anschließend vorlegte.

"Füllen Sie das einfach aus", erklärte er mir und legte einen Kugelschreiber neben das Formular. "Dann sind Sie auch schon entlassen."

Ich nickte, griff nach dem Stift und las mir trotzdem noch die Anweisungen durch, die besagten, meine Aussage möglichst detailgetreu und knapp zu halten. Ausschmückungen waren nicht erlaubt.

Während ich überlegte, entschuldiget sich Mr Dickinson für einen kurzen Moment, als es an der Tür klopfte. Er versprach, in Kürze wieder zu kommen.

Und wieder war ich allein im Raum mit dem unverschämt gutaussehenden Kerl, versuchte aber so gut es ging, seine Anwesenheit nicht zu beachten und mich meinem Geschreibsel zuzuwenden, was jetzt vielleicht viel einfacher klingt, als es in Wirklichkeit war.

Da nun auch schon ein paar Tage Gras über die Sache gewachsen war, war ich nicht mehr ganz so durch den Wind wie am besagten Abend und konnte mich viel besser auf das konzentrieren, was wirklich geschehen war.

Nach ein paar wenigen Sätzen - die aus Uhrzeit, Ort, dem Zustand der Wohnung und dem gestohlenen Gut bestanden - legte ich den Stift beiseite und blickte mich ratlos um.

Was sollte ich jetzt tun? Wie lange musste ich in dieser Hölle verweilen und auf Mr Dickinson warten, allein mit dem Typ, der mich aus irgendeinem mir vollkommen unerklärlichen Grund so nervös machte?

"Äh..." Ich warf ihm einen schüchternen Blick zu und ärgerte mich über meine piepsige Stimme. "Ich bin soweit..."

Er schaute augenblicklich auf, als ich das Wort an ihn richtete.

"Fertig?" Er schenkte mir sein reizvolles Lächeln und nahm das Papier entgegen, dass ich ihm hinstreckte. Nachdem er es kurz überflogen hatte, erhob er sich und ich tat es ihm gleich.

Ich konnte kaum erwarten, hier raus zu kommen.

"Kann ich jetzt gehen?", fragte ich hoffnungsvoll und fühlte mich wie ein Schüler, der in das Büro des Direktors gerufen wurde, klopfte mir dann den imaginären Staub von meiner Hose und strich mir nervös eine Strähne hinter das Ohr, nur, um irgendetwas zu tun und diesem unverschämt gutaussehenden jungen Mann nicht ansehen zu müssen.

Er hingegen musterte mich immer noch neugierig.

"Wollen Sie mit mir ausgehen?", fragte er dann unvermittelt und ich blickte geschockt auf.

Ausgehen?

Für einen Augenblick hatte es mir doch tatsächlich die Sprache verschlagen und ich fürchte, ich starrte ihn mit offenem Mund entgeistert an.

"Warum?", platzte es dann schließlich aus mir heraus, was zweifellos nicht die beste Frage war, die ich ihm in diesem Augenblick hätte stellen können, aber ich war einfach viel zu perplex, als dass mir etwas anderes eingefallen wäre.

Er? Ausgehen? Mit mir? So etwas passierte mir normalerweise nur in meinen Träumen - in meinen wildesten Träumen, um genauer zu sein.

Er sah wohl auch ein, dass es eine seltendämliche Frage war, denn plötzlich verlegen kratze er sich am Hinterkopf und grinste ein bisschen peinlich berührt.

"Na ja, ich... Sie sind attraktiv und..." Er brach ratlos ab und mir schoss bei seiner Aussage das Blut ins Gesicht.

Ich und attraktiv? Normalerweise hätte ich das für einen dummen Scherz gehalten, aber er schien es tatsächlich ernst zu meinen. Und dann lächelte er mich wieder so entwaffnend an und ich schmolz fast dahin.

"Oh, äh, na gut, okay...", stammelte ich, nicht gerade geistesgegenwärtig, immer noch ein bisschen verblüfft von seiner Direktheit.

Er ließ erleichtert die angespannten Schultern sinken. "Perfekt. Ziehen Sie sich warm an", warnte er noch.

Jetzt war ich doch etwas misstrauisch. Sollte das eine Drohung sein à la "Zieh dich warm an, Freundchen"?

"Wozu?", hakte ich nach. Vielleicht war die ganze Sache doch keine so gute Idee... Wer weiß, was er mit mir vor hatte!

Aber das gottgleiche Exemplar von Mann grinste nur munter. "Wir gehen Schlittschuh laufen", verkündete er und mir fiel fast die Kinnlade herunter.

"Sie wollen mich wohl umbringen!", jaulte ich aufgeregt. Wirklich, eine Halle voller Eis, Menschen und spitzen Schlittschuhhacken, das war nun wirklich nichts für mich. Und jeder, der mich kannte, wusste das auch. Ich war nicht nur eine Gefahr für mich selbst, sondern darüber hinaus noch gefährlich für alle, die sich in meiner unmittelbaren Nähe befanden. Ach was, unmittelbare Nähe... am besten sollte man zu mir 500 Meter Sicherheitsabstand halten – und zwar in jeder Lebenslage.

Ich würde liebend gern auch Sicherheitsabstand zu mir selbst halten, aber man konnte ja leider nicht aus seiner Haut.

Der Gute schien mich jedenfalls nicht besonders ernst zu nehmen, denn er belächelte meine erschrockene Reaktion nur.

"Keine Angst, ich passe schon auf Sie auf", versicherte er mir großspurig und ich stellte mir insgeheim die Frage: Und wer passt auf Sie auf?

"Ich hole Sie am Freitag um 20 Uhr ab", unterbrach er meine Gedanken ziemlich bestimmt. Ich merkte sofort: das war ganz sicherlich keine Frage.

Die Selbstverständlichkeit und Arroganz, mit der er davon ausging, dass ich nur darauf warten würde, von ihm abgeholt zu werden und sonst nichts Weiteres zu tun hatte, ließ meine Alarmglocken schrillen und ich verschränkte unbewusst die Arme vor der Brust und warf ihm einen widerwilligen, bockigen Blick zu - ein Relikt, das aus der Pubertät stammte und irgendwie nicht mehr abzugewöhnen war.

"Und was ist, wenn ich da schon etwas vor habe?", wollte ich trotzig wissen und versuchte, ihn so kalt wie möglich anzuschauen – etwas, was mir noch nie wirklich gelungen war. Mit meinem "eisigen Blick" ließ sich nicht einmal einem schreckhaften Kaninchen Angst einjagen, geschweige denn einem erwachsenen Mann, der anscheinend ganz genau wusste, was er wollte.

Besagter lächelte nachsichtig. "Haben Sie denn?"

Ich errötete und ließ die Arme resigniert sinken. "Nein", nuschelte ich ertappt, nicht gerade schlagfertig. Meine Unfähigkeit zu lügen hatte mir mal wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht.

"So ein Glück", sagte der Mann ohne Namen und für einen kurzen Moment dachte ich, er freut sich, dass ich nichts vorhabe, doch dann sprach er schon weiter: "Sonst hätten Sie das ja absagen müssen."

Er grinste frech und selbstsicher, als ich ihm einen empörten Blick zuwarf und mit mir kämpfte, ob ich ihn denn nun über alle Maßen arrogant und unmöglich, oder aber über alle Maßen - und zwar so, dass es schon gar nicht mehr gut für mich sein konnte -, hinreißend finden sollte, aber irgendwie hatte ich schon so ein untrügliches Gefühl, dass ich mich bereits längst entschieden hatte, denn warum sonst klopfte mein Herz in diesem Moment viel schneller, als mir lieb war?

Noch während ich besorgt zu fassen versuchte, was in aller Welt bloß mit mir los war, wurde die Tür wieder geöffnet und Dickinson trat ein.

Plötzlich war ich sehr verlegen und hatte es überaus eilig, hier rauszukommen.

"Ähh, ich geh dann mal!", stieß ich hervor, ergriff hastig Dickinson’s Hand, um sie schnellstmöglich zu schütteln und rauschte an dem alternden Mann vorbei, der etwas perplex von mir zu seinem Kollegen schaute, der mit dem von mir fertig ausgefülltem Formular in der Luft wedelte, um ihm zu bedeuten, dass er sich darum gekümmert hatte.

"Na dann, auf Wiedersehen, Miss Jones!", rief Mr Dickinson mir noch hinterher und zu allem Überfluss fügte der Mann, mit dem ich ganz offensichtlich ein Date hatte - das musste ich aber erst noch verdauen - hinzu: "Bis Freitag dann."

"Äh, ja, auf Wiedersehen", ächzte ich, vollkommen überlastet, stieß die Tür, durch die ich ins Büro gelangt war, auf und hörte gerade noch, wie Mr Dickinson seinen unglaublich attraktiven Kollegen - Mist, ich wusste noch immer nicht, wie er hieß! - fragte: "Na, Sean. Ich dachte, du hättest den Frauen vorerst abgeschworen?"

Was folgte, war das angenehme, leise Lachen des Mannes, der ganz anscheinend Sean hieß, doch seine Antwort bekam ich leider nicht mehr mit, da die Tür hinter mir ins Schloss fiel, und alles, was ich jetzt noch hörte, war die Stille eines bereits bekannten Polizeirevierflures. Und das ungewollt laut schlagende Herz in meiner Brust.

Melting Like Ice

Verdrängungstaktiken funktionierten für gewöhnlich immer nur so lange, bis man sich mit dem Gegenstand seiner Verdrängung konfrontiert sah, wobei es deutlich einfacher war, Vergangenes zu verdrängen.

Bei mir verhielt es sich natürlich ganz anders: bis Donnerstag Abend habe ich jeden Gedanken an das, vermutlich katastrophal werdende, Date, das ich am nächsten Abend haben würde, in die Flucht geschlagen, doch kurz vor dem Schlafengehen setzten die obligatorischen Bauchschmerzen ein und mit ihnen einher gingen die Fragen, die die Welt einer jeden Frau bewegten: was ziehe ich an? Worüber soll ich mit ihm reden? Was ist, wenn ich was Falsches sage? Was, wenn er mich nie mehr wiedersehen will? Was, wenn ich mich total blamiere? Was, wenn er gar nicht erst auftaucht? Was, wenn ich so nervös bin, dass ich kein einziges Wort zustande bekomme? Was, was, was...?

Ich lag also im Bett, die Augen so weit geöffnet wie eine nachtaktive Eule, und stierte bewegungslos die Decke an, während sich in meinem Kopf ein skandalöses Szenario nach dem anderen abspielte.

Es war erst sehr spät in der Nacht, als ich endlich wegdämmerte und schon nach nur wenigen Minuten - so kam es mir zumindest vor - klingelte mein äußerst penetranter Wecker in altbewährter Manier.

Grummelnd stellte ich ihn aus. Mein erster Gedanken war: zum Glück war bald Wochenende. Mein zweiter: Oh. Mein. Gott.

Bei "Oh. Mein. Gott." meldete sich mein unruhiger Magen wieder, weshalb ich das Frühstück getrost weglassen konnte, stattdessen aber mit ein paar Beruhigungstabletten liebäugelte, die ich aus rein schlechtem Gewissen dann doch lieber an ihrem Platz liegen ließ.

Auf ziemlich wackeligen Beinen stakste ich zur Arbeit. Der Kindergarten lag zum Glück ganz in meiner Nähe, sodass ich keinerlei Ärgernisse mit Bus und Bahn erdulden musste. Wenigstens etwas in meinem ach-so-glücklichen Leben.

Bei meinem Glück würde der Bus sich jeden zweiten Tag um 20 Minuten verspäten und an Tagen, an denen er pünktlich wäre, würde es zu Erdbeben, Unfällen oder sonstigen, von höheren Mächten gelenkten Katastrophen kommen. Da war ich mir ziemlich sicher.
 

"Oh mein Gott."

Moment mal, das kam mir doch bekannt vor? Hatte ich das nicht bereits gedacht?

Ich schaute auf, während ich in der Küche des Kindergartens stand und ein paar kleine, kindgerechte Teller in den Hängeschrank einräumte.

Martha, unsere hauseigene "Köchin", stand in der Tür und betrachtete mich mit einem skeptischen Gesichtsausdruck.

"Kindchen, wie siehst du denn aus? Hast du die Nacht überhaupt ein Auge zugetan?" Sie schüttelte besorgt den Kopf, kam zu mir herüber und nahm mir mitfühlend die Teller aus der Hand, um dazu überzugehen, sie selbst einzuräumen.

Martha war 51 und somit die Älteste unter uns. Sie sorgte dafür, dass unsere Kinder jeden Tag auf's Neue zur Mittageszeit etwas zwischen ihre Zähnchen bekamen. Sie hatte selbst drei Kinder, mit deren Erziehung sie ihr ganzes Leben daheim verbracht hatte, da ihr Mann Karriere machen wollte. Und außerdem gehörte es damals angeblich "zum guten Ton", dass die Frau zu Hause blieb, hatte sie uns erklärt. Aber Martha hatte eine Ausbildung zur Erzieherin hinter sich und stürzte sich, kaum, dass ihre Kinder aus dem Haus waren, wieder in den Job.

Obwohl es Julie, der Leiterin des Kindergartens, eigentlich untersagt war, eine Erzieherin mehr einzustellen, überzeugte sie den Vorstand von der Notwendigkeit einer Köchin.

So kam es, dass Martha unter dem Deckmantel der "Köchin" bei uns arbeitete, aber eigentlich viel mehr als nur das war. Sie war die gute Seele, die jedem zuhörte, für alles eine Lösung hatte und darüber hinaus konnten nicht nur die Kinder von ihren Köstlichkeiten nicht genug bekommen.

Ich seufzte. "Nein."

Sie drehte sich zu mir um und beäugte mich prüfend. "Ist es immer noch wegen des Einbruchs? Es ist schrecklich, was für Folgeschäden so etwas haben kann! Wenn das so weitergeht, solltest du dir eine Selbsthilfegruppe suchen oder dir vielleicht einen Hund zulegen?"

Ich verdrehte die Augen, während Martha immer noch munter über die Vorzüge eines Wachhundes weiterplapperte. Den Einbruch hatte ich, voll und ganz eingenommen von meinem anderen "Problem", tatsächlich schon fast vergessen.

"Nein, nein", widersprach ich ihr und unterbrach somit ihre Ausführungen über einen "besser großen Hund. Obwohl die Kleinen aggressivere und bissigere kleine Kläffer sind".

Sie verstummte augenblicklich und sah mich weiterhin misstrauisch an, als versuchte sie, in meinen Augen die Antwort zu finden. Dann gab sie auf.

"Was ist es denn dann?"

Ich ging hinüber zum Wasserkocher und stellte ihn an, um das Wasser aufzubrühen. Gleich würden Julie und Eve antanzen, die zwei Hardcore-Kaffeetrinker. Und mir würde ich einen beruhigenden Tee gönnen... Und vielleicht ein Sandwich, denn mein Magen rebellierte bereits gegen die ihm verwehrt gebliebene Frühstücksration.

"Ach...", versuchte ich abzuwinken und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ich..." Ich hielt inne, als mir klar wurde, dass ich eben dabei gewesen war, ihr anzuvertrauen, dass ich nervös war. Aber Martha würde mich ohnehin so lange drängen, bis ich alle schmutzigen Details vor ihr ausgebreitet hatte. Also konnte ich ja auch sofort damit anfangen.

"Ich glaub, ich hab heute Abend eine Verabredung", gestand ich ziemlich kleinlaut, ganz so, als wäre mir diese Tatsache irgendwie peinlich.

Martha starrte mich an und ich versuchte, ihrem Blick auszuweichen. "Aha", kommentierte sie entgeistert und schwieg dann ein paar Sekunden. "Wie kann man GLAUBEN, eine Verabredung zu haben?"

Ich zuckte verschüchtert mit den Schultern. "Mir geht's ziemlich schlecht deshalb..."

"Also ehrlich, Kindchen... du bist die einzige Frau, die ich kenne, die sich wegen einer Verabredung schlecht fühlt", sagte sie pragmatisch und äußerst verständnislos.

Einfach gesagt, wenn man keine Ahnung davon hatte, mit WEM ich verabredet war. Mit Mr. Hinreißend persönlich. Mit einem Polizisten. Mit dem Gesetz. Mit... mit... dem Mann, dessen Nachnamen ich nicht kannte!

Ich wurde rot, als ich an die letzte Nacht dachte und daran, wie ich im Halbschlaf, oder zumindest kurz davor, seinen Namen - Sean - tausendmal in Gedanken wiederholt hatte, wie ein verliebter, geistesgestörter Teenager - und das war wohl der Knackpunkt: genau das wollte ich nicht sein. Doch irgendetwas sagte mir, dass ich mit meinen 21 Jahren gar nicht so weit vom Teenagerdasein entfernt war, wie zum Beispiel... Martha!

"Er ist Polizist", stieß ich hervor, in einem kläglichen Versuch, mich vor Martha zu rechtfertigen. Warum mir ausgerechnet diese Tatsache helfen sollte, wusste ich auch nicht.

"Wer ist Polizist?", kam es von der Tür her und Julie und Eve traten gleichzeitig herein. Während Julie's Augen sofort den Wasserkocher fixierten, schaute Eve neugierig von mir zu Martha und zurück.

Somit wären wir dann komplett, fehlen also nur noch die Kinder. Eve war 26 Jahre alt und vor mir die Jüngste hier gewesen, Julie war 34.

Bevor ich den Mund aufmachen konnte, tat Martha dies bereits. "Unser Küken hat heute ein Rendezvous mit einem Polizisten", feixte sie und sah die anderen beiden vielsagend an.

"Oooh", machte Eve lüstern und grinste mich anzüglich an. "Bist du wohl mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, was, Emily?"

"Nein", antwortete ich ehrlich schockiert.

"Dann wird es aber allerhöchste Zeit." Sie wackelte mit den Augenbrauen und zwinkerte mir dann bedeutsam zu.

Julie kam zu mir herüber und fischte im Schrank nach dem Instant-Kaffeepulver. Seitdem unsere Kaffeemaschine nicht mehr funktionierte, mussten wir uns mit diesem Zeug behelfen, war mir gar nichts ausmachte, denn ich trank ja nie etwas davon.

"Lasst Emily doch in Ruhe", wies sie die anderen beiden zurecht. "Ihr macht sie nur unnötig verrückt."

In aller Seelenruhe nahm Julie den Wasserkocher und goss sich das kochende Wasser in eine Tasse ein.

Eve seufzte. "Du Glückliche. Ich hätte auch nichts gegen ein Date mit einem sexy Polizisten einzuwenden..."

Ich hatte nie behauptet, er wäre "sexy", obwohl das natürlich voll und ganz der Wahrheit entsprach.

"Du hast einen Freund", machte ich sie auf diese unbedeutende, kleine Tatsache aufmerksam und runzelte die Stirn, verschränkte die Arme vor der Brust. Dass mein Date hier so ausgiebig besprochen werden würde, darauf habe ich mich irgendwie nicht eingestellt.

Eve blickte mich aus traurigen Rehaugen an. "Du sagst es..."

Martha tätschelte ihr kurz die Schulter. "Du brauchst nur ein bisschen Abwechslung, das ist alles."

"Genau das ist ja das Problem", jammerte Eve. "ICH brauche Abwechslung, aber Paul sieht das ganz und gar nicht so." Paul war Eve's langjähriger Freund und das hier war nicht das erste Mal, dass sie sich über ihn beschwerte. Höchstens das erste Mal an diesem Tag.

Ich witterte meine Chance, dieser Diskussion zu entfliehen, da sie sich in eine andere Richtung wendete, und versuchte, mich heimlich aus der Küche zu schleichen.

"Halt!", rief Eve und zog mich am Ärmel wieder zurück. "So schnell kommst du uns nicht davon." Sie grinste, beugte sich zu mir herüber und fügte halblaut hinzu: "Ich hoffe, du wirst heute Abend die Abwechslung kriegen, die ich so dringend nötig habe."

"Eeeveeee!", quiekte ich panisch und wurde puterrot - ein Zustand, in dem ich mich anscheinend ständig befand in letzter Zeit. Julie, immer ruhig und gelassen, verdrehte die Augen angesichts Eve's Kommentar und nippte an ihrem Kaffee.

"Dazu wird es gar nicht erst kommen, weil ich heute Abend wahrscheinlich eh im Krankenhaus lande", verriet ich den Dreien entmutigt, als ich wieder an die Location unserer Verabredung dachte - die Eishalle.

"Warum das denn?", fragten Martha und Eve synchron und sahen mich verständnislos an.

"Schlittschuh laufen", erwiderte ich knapp und stieß einen tiefen Seufzer aus, während Julie mir eine Tasse Tee reichte, die ich dankbar entgegennahm. Der heiße Dampf, der aufstieg und der zarte Geruch nach Pfefferminze war schon so viel tröstender.

Meine drei Kolleginnen sahen mich entgeistert an.

"Das kann ja nur schief gehen", kommentierte Eve schließlich trocken und Martha fügte vorsichtig hinzu: "Ihr kennt euch wohl noch nicht so lange, oder?"

Sie hatte es mal wieder auf den Punkt gebracht.

"Genauer gesagt gar nicht. Er war derjenige, der wegen des Einbruchs zu mir geschickt wurde und als ich am Dienstag da war, also auf dem Revier, um irgendeinen Wisch auszufüllen, na ja... da hat er mich halt gefragt...", stammelte ich, vor meinem Inneren Auge spielte sich die Szene noch einmal ab.

"Ist das süüüüüüß", quietschte Eve und hüpfte hibbelig um mich herum, mich an den Schultern festhaltend, sodass ich mich mit ihr im Kreis drehte.

"Sieht er wenigstens gut aus?"

Wenn sie wüsste... auf meinem Gesicht breitete sich ein unkontrolliertes Grinsen aus, das sich selbstständig gemacht zu haben schien und sich nicht mehr wegwischen ließ.

Eve grinste zurück. "So gut also, ja?"
 

Ein unsicheres, grün-graues Augenpaar starrte zurück, als ich einen Blick in den Spiegel warf.

Ich betrachtete meine hellbraunen Haare, von denen ich mich entschlossen hatte, sie offen zu lassen, und mein Blick wanderte nach unten, über den dunkelroten Pullover, die blauen Jeans und meine blau-weiß gestreiften Socken.

Da ich mich "warm anziehen" sollte, ließ das glücklicherweise nicht viel Spielraum für ein raffiniertes, verführerisches Outfit, bei dessen Zusammenstellung ich sowieso kläglich versagt hätte. Es war Ende März und noch relativ kalt draußen. Und in der Eishalle herrschten ja sowieso Minustemperaturen. Glaubte ich zumindest.

Mit meinen 1,64 Metern war ich nicht unbedingt die Größte im Lande, aber so schlimm fand ich das gar nicht. Von meinem Bruder, der sich auf seine Größe ganz offensichtlich etwas einbildete, musste ich mir zwar ständig Witze darüber anhören, aber den sah ich ja zum Glück nicht so oft.

Ich warf noch mal einen letzten Blick in den Spiegel. Erst letzten Monat war ich beim Friseur gewesen und meine Haare sahen noch einigermaßen vorzeigbar aus. Vorne etwas kürzer, bis zum Kinn etwa, und nach hinten hin wurden sie bis zu den Schulterblättern immer länger.

Ich wagte es, kurz zur Uhr herüberzusehen. 19:38 Uhr. Noch 22 Minuten. Falls er überhaupt auftauchen würde... Für alle Fälle hatte ich das Abendessen sausen lassen, denn wenn ich gedacht hatte, dass mein Magen heute morgen Saltos schlug, dann hatte ich mich da gehörig getäuscht. Das war nichts gewesen im Vergleich zu jetzt. Wie sollte ich das nur aushalten?

Ich war nervös wie selten zuvor und ich musste mich wirklich mit aller Kraft davon abhalten, nicht an meinen Fingernägeln zu kauen.

Vollkommen fertig angezogen setzte ich mich auf die Kante meines Bettes und faltete die Hände im Schoß zusammen, sodass ich nicht in Versuchung kam, mit ihnen irgendeinen Unsinn anzustellen.

Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus, in der Hoffnung, mich dadurch beruhigen zu können und fragte mich gerade, wie schnell wohl mein Herz schlug, als das Telefon unangekündigt klingelte und ich zusammenschreckte, als hätte mir jemand eine Tarantel zugeschmissen.

Mein erster Gedanke war, er rief an, um abzusagen. Mein zweiter, dass er meine Telefonnummer ja gar nicht kannte.

Mit zitternden Finger griff ich nach dem Hörer.

"Ja...?"

"Emiiiily!", ertönte eine mir sehr wohlbekannte Stimme und ich entspannte mich augenblicklich, setzte mich erleichtert wieder auf die Bettkante. Es war Joanna, meine beste Freundin, die Weltenbummlerin. Momentaner Aufenthaltsort: Südafrika.

"Jo", japste ich atemlos und wollte ihr sofort alles erzählen, was in der Zwischenzeit vorgefallen war, doch ich schluckte das Verlangen runter und fragte stattdessen: "Wie geht's dir?"

Jo rief sehr selten an, diesen Monat war das erst ihr zweiter Anruf, weil sie viel zu tun hatte und andererseits gab es auch nicht immer eine Möglichkeit, ins Ausland zu telefonieren. Außerdem musste sie sich ihre Gelegenheiten auch noch aufteilen auf ihre Eltern und ihren Freund.

"Gut wie immer", kam es prompt aus dem Hörer. Sie hörte sich fröhlich an und ich glaubte ihr auf’s Wort. Joanna war der Typ Mensch, der aus jedem noch so schlimmen Umstand etwas Gutes herausfiltern konnte und nie den Kopf in den Sand steckte. "Und wie geht es dir? Du hörst dich ganz schön fertig an", lachte sie. Ihre Stimme war leise und kam von weit, weit weg.

"Auch gut", erklärte ich niedergeschlagen und bedachte die Uhr mit einem weiteren, vorwurfsvollen Blick. 19:43 Uhr.

"Erzähl schon, was los ist." Sie glaubte mir natürlich kein Wort. Kein Wunder, so wie ich mich anhörte.

Ich beschloss, sie vor die Wahl zu stellen, denn wir hatten nicht mehr viel Zeit.

"Willst du lieber die Geschichte hören, wie jemand meine Wohnung aufgebrochen und mich beraubt hat, oder doch lieber die von dem Polizisten, mit dem ich heute Abend verabredet bin?", schlug ich ihr vor, in der Hoffnung, sie würde das richtige Thema auswählen.

Sie dachte einen kurzen Moment lang nach. "Ist dir was passiert?"

"Nein."

"Dann die vom Polizisten", entschied sie und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Ich erzählte ihr die ganze Geschichte von Anfang bis Ende, wodurch ich auch das ganze Fiasko mit dem Einbruch erläuterte. Als ich fertig war, kicherte meine Freundin und ich konnte an ihrer Stimme hören, wie sie übers ganze Gesicht strahlte.

"Das ist super", freute sie sich. "Ihr werdet sicher Spaß haben und er klingt nach einem sehr netten Kerl. Also, mach das Beste draus!"

"Ja, aber...", wollte ich Widerspruch einlegen, doch sie kam mir zuvor.

"Kein aber, Em", maßregelte sie mich. "Nach Tom, dem Arschloch, brauchst du endlich mal wieder ein bisschen Abwechslung, also ran an den Speck!"

Schon wieder dieses Wort: Abwechslung. Ich fragte mich, ob das ein bestimmter, allgemein bekannter Geheimcode war, den alle Frauen verwendeten?

"Es ist nur...", stammelte ich nicht sehr überzeugt, "was soll ich ihm nur sagen? Worüber soll ich mit ihm reden? Was ist, wenn er mich nicht mag?"

Jo schwieg am anderen Ende der Leitung.

"Du bist doch sonst nicht sooo schüchtern", stellte sie dann verwundert fest.

Ich versuchte, mich zu verteidigen, obwohl ich auch nicht wusste, weshalb ich schon allein bei dem Gedanken an ihn - Sean - so schwach wurde. "Das ist anders", erwiderte ich, leicht unsicher, was denn GENAU anders war.

"Oooh, verstehe", entgegnete Jo bedeutungsschwer und lachte vergnügt. "Du bist verliiiebt!"

Ich schnappte nach Luft. "Das bin ich nicht!"

"Doch, doch! Du magst ihn, keine Widerworte! Und das erst nachdem du ihn zwei Mal gesehen hast... also das nenn ich mal Liebe auf den ersten Blick, uh làlà!"

Hätte ich es nicht besser gewusst, würde ich glatt sagen, dass sie mich verhöhnte. Die Wahrheit war aber: so war Jo nun mal.

Mit einem hochroten Kopf stotterte ich irgendwelche Rechtfertigungen in den Hörer, doch sie ließ mich kaum noch zu Wort kommen.

"Hör zu, ich muss Schluss machen. Ich bin sicher, du kommst klar. Ich rufe dich demnächst noch mal an. Es dauert nicht so lange wie dieses Mal, versprochen. Ich muss doch wissen, wie das Ganze ausgegangen ist!"

Ich schaute auf die Uhr. Noch sechs Minuten.

"Jo, ich... das wird eine Katastrophe!", klagte ich weinerlich und umklammerte den Telefonhörer, als könnte er mir besseren Halt geben. Als wäre ich dadurch meiner besten Freundin näher.

"Das wird es nicht", sagte Joanna bestimmt, streng und fügte dann sanfter hinzu: "Ihr werdet viel Spaß haben."

Wenn ich nur halbwegs so überzeugt wäre wie sie!

"Bis ganz bald und ich hoffe, du hast dir ein paar hübsche Dessous besorgt!", rief sie noch einmal lachend und als ich entsetzt den Mund aufmachte, um darauf etwas zu erwidern, klickte es bereits in der Leitung und alles, was ich nun hörte, war das Besetzt-Zeichen.

Seufzend ließ ich den Hörer sinken und legte das Telefon beiseite.

Ein angsterfüllter Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich nur noch drei Minuten hatte.

Ich setzte mich wieder auf die Kante meines Bettes und wartete.
 

20:06: Er war nicht da! Er würde auch nicht mehr auftauchen! Er hatte mich versetzt. Ich saß hier angezogen und vollkommen eingehüllt in meine Dummheit, meine freudige, fiebrige Erwartung, naive Hoffnung, und er hatte mich versetzt! Das war doch klar gewesen, redete ich mir ein und versuchte, die Enttäuschung nicht zu sehr an mich herankommen zu lassen.

Warum sollte sich so jemand wie ER - durch und durch perfekt, selbstsicher, gutaussehend und einfach... haach! - für mich - unbedeutend, klein und alles andere als besonders - interessieren?

Wahrscheinlich war das alles nur ein gelungener Spaß von ihm... wahrscheinlich saß er gerade mit seinen Freunden bei einem kühlen Bier und sie amüsierten sich prächtig über die Art und Weise, wie er mich verunsichert, mich umgehauen hatte... Ich war eben ein leichtes Opfer...

Noch mitten in meinem Selbstmitleid versunken, klingelte es an der Tür.

Erschrocken sprang ich auf, hin und hergerissen zwischen kindlicher Hoffnung und absoluter Ungläubigkeit. Vielleicht war er es gar nicht, sagte ich mir, aber vielleicht ja doch!

Schwungvoll riss ich die Tür und war ehrlich überrascht, ihn dort anzutreffen.

Mein erstaunter Blick traf den seinen. Er musterte mich ebenso überrascht, hatte ich doch wie ein Berserker die Tür aufgeschlagen, als ginge es um Leben und Tod.

"Guten Abend", sagte er freundlich, mich höflich anlächelnd, als ich immer noch dastand und ihn aus großen Augen anstarrte. Er hatte eine helle Jeans und einen dunkelbraunen Pullover mit einem kleinen V-Ausschnit an, der locker anlag und ihm sehr gut stand. Darunter trug er ein gestreiftes, helles Hemd, das unter dem Pullover hervorlugte. Den Hemdkragen trug er jedoch unter dem Sweater. Sein dunkelblondes Haar, weich und perfekt durcheinander, lud geradezu ein, ihm mit gespreizten Fingern hindurchzufahren und noch ganz andere Sachen anzustellen...

Ich räusperte mich kurz, um mich wieder auf den Boden der Tatsachen zu holen, und seufzte erleichtert: "Sie sind ja tatsächlich gekommen."

Das schien ihn ein wenig zu verwirren, denn er runzelte fast unmerklich die Stirn und warf mir einen fragenden Blick zu.

"Aber natürlich", bestätigte er etwas verblüfft und verzichtete zum Glück darauf, expliziter auf meine Aussage einzugehen. "Sind Sie soweit?"

"Äh, ja, na klar", stammelte ich und zwang mich, sich von seinem Anblick loszureißen. Hastig schlüpfte ich in meine Schuhe, riss meine Jacke mit solch einer Heftigkeit vom Haken, dass der Garderobenschrank bedenklich schwankte und schloss die Tür hinter mir gründlich ab.

Er schwenkte die Eingangstür auf und wartete, bis ich hindurchgegangen war. Dann folgte ich ihm schweigend und mich sichtlich unwohl in meiner Haut fühlend zu seinem Wagen.

Es war ein Rover - das konnte ich aber auch nur erkennen, weil ich es ablas, denn ich kannte mich mit Autos kein Stück weit aus.

Was ich allerdings wusste, war folgendes: dieser Wagen war schwarz, hatte vier Türen, einen Kofferraum und eine Motorhaube. Er sah stinknormal aus - wie jeder andere Wagen auch.

"Wie geht es Ihnen heute?", fragte er höflich, trat dabei an die Beifahrertür und steckte den Schlüssel hinein.

"Ganz gut...", nickte ich nervös. "Und Ihnen?"

Mit einem leisen Summen wurde das Auto entriegelt. Ganz selbstverständlich öffnete er die Beifahrertür und lächelte, um mir zu signalisieren, ich sollte einsteigen.

Ziemlich geschmeichelt - Tom hatte mir nie die Türen geöffnet und demnach war das vollkommen neues Terrain für mich - erwiderte ich unwillkürlich sein Lächeln und stieg ein.

"Auch gut", antwortete er, als er neben mir auf dem Fahrersitz Platz nahm und den Motor startete.
 

Die kurze Fahrt zur Eishalle zog sich ewig hin und das Gespräch kam nicht richtig in Gang. Er stellte zwar hin und wieder eine Frage, jedoch war ich, vollkommen mit den Nerven fertig, in meinen Antworten so unkreativ und beschränkt, dass ich immer wieder nur kurze, teilweise unzusammenhängende Sätze stammelte, die nicht wirklich Anlass zu einem Gespräch boten.

Je schlechter es lief, desto unruhiger und unsicherer wurde ich. Er hielt mich wahrscheinlich für eine langweilige Tussi, die nicht mal einen ganzen Satz mit Subjekt, Prädikat und Objekt formulieren konnte, geschweige denn, eine normal-intelligente Unterhaltung zwischen zwei Menschen führen. Jedoch musste man ihm zu Gute halten, dass er sich das alles nicht anmerken ließ und sehr freundlich blieb.
 

In der Eishalle angekommen parkte er den Wagen und ich folgte ihm mit einem flauen Gefühl im Magen hinein, das sich noch verstärkte, als mein Blick auf die beeindruckende Menschenmasse fiel, die sich da dicht an dicht auf der Eisfläche tummelte.

Oh Gott. Das würde ein Todeskampf werden, schoss es mir panisch durch den Kopf.

Während ich hinter der Absperrung stand und fasziniert, in Erwatung meines baldigen Ablebens, die Selbstmörder auf dem Eis betrachtete, hatte Sean sich abgekapselt, um den Eintritt zu bezahlen und die Schlittschuhe zu leihen.

Zuvor hatte er mich nach meiner Schuhgröße gefragt - 38 - und ich hatte ihm angeboten, selbst zu bezahlen, doch er hatte mich nur angelächelt und behauptet, das würde er als persönliche Beleidigung auffassen.

"Wollen wir?", holte er mich aus meinen Gedanken, als er wieder neben mich trat, legte mir behutsam die Hand auf den Rücken und schob mich in Richtung Bänke, auf denen wir dann unsere Schuhe gegen die Killerhacken eintauschten.

Misstrauisch betrachtete ich meine Füße und überlegte, ob sie mich wohl noch immer noch tragen würden, wenn ich mich jetzt erhob, aber Sean lenkte mich wieder ab, als er aufstand und zu mir herunterblickte.

"Sind Sie schon einmal Schlittschuh gefahren?"

Ich richtete mich ebenfalls auf und stand nun auf etwas wackligen Beinen. Während ich ihm hinterher stakste - geradewegs in mein Verderben hinein - erzählte ich: "Ja... aber das ist schon zu lange her..." Sechs Jahre, um ehrlich zu sein, aber davon sagte ich ihm nichts. Ich war 15 und irgendwer hatte vorgeschlagen, doch in den Winterferien Eislaufen zu gehen.

Den Rest kann man sich ja denken - wer mit einem angeknacksten Knöchel in der Notaufnahme landete, brauche ich hier wohl kaum zu erwähnen.

"Bei mir auch", stimmte er mir fröhlich zu und glitt elegant auf die Eisfläche, geradezu so, als würde er hier jeden Tag drei Stunden verbringen.

Argwöhnisch schaute ich das Eis an und dann ihn.

"Kommen Sie nur", sagte er freundlich und streckte mir seine Hand hin, die ich ein paar Sekunden lang verblüfft anstarrte. Dann gab ich mir einen Ruck und ergriff sie. Sie war etwas rau, im Gegensatz zu meiner cremeverwöhnten eigenen, und angenehm warm.

Ich war mir sicher, dass mein Gesicht geradezu astronomisch schnell eine gesündere Färbung annahm, aber andererseits war es hier drin kalt und ich war bei weitem nicht die Einzige mit rosa Wangen. Wobei mir die rote Nase zum Glück erspart blieb - noch.

Ich wagte einen Schritt auf das Eis und spürte, wie er seinen Griff verstärkte, als ich ein wenig wankte. Dann befand sich auch sogleich mein zweites Bein auf der glatten Fläche und zusätzlich hielt ich mich am Geländer fest.

Puh, geschafft.

"Ganz schön rutschig, was?", lachte Sean und ließ seinen Blick in der Halle schweifen. Ich nickte. Zu rutschig für meinen Geschmack.

Er sah mich wieder an und zögerte. "Wollen Sie... alleine fahren oder...?" Er deutet mit einem vagen Kopfnicken zu unseren Händen und ließ den Satz unausgesprochen in der Luft hängen, aber ich verstand ihn auch so.

"Bloß nicht!", japste ich geschockt und mit aufgerissenen Augen, bis mir wieder klar wurde, wie das wahrscheinlich bei ihm angekommen war.

"Ich meine, ich wollte sagen, dass... ich bin nicht sicher, ob ich hier lebend rauskomme", gestand ich ihm peinlich berührt ein und schaute weg. Als ich ihn wieder ansah, lächelte er verständnisvoll und drückte meine Hand.

"Ja, es ist ziemlich voll, nicht wahr?", sagte er im Plauderton, als hätte das irgendetwas mit meiner Aussage eben zu tun. Verwirrt nickte ich, und da hatte er sich schon in Bewegung gesetzt und zog mich mit sich.

Wankend stolperte ich hinter ihm her, im Begriff, sofort auf die Nase zu fliegen, doch er packte mich am Ellbogen und ich schaffte es, mein Gleichgewicht zu halten.

"Langsam", verlangte ich atemlos, ganz bleich im Gesicht.

Vorsichtig probierte ich aus, wie weit ich kam und nach kurzer Zeit schaffte ich es tatsächlich, einige Meter zu fahren, ohne auch nur in die Versuchung zu kommen, den Boden zu küssen.

Begeistert strahlte ich ihn an. "Das funktioniert ja tatsächlich."

Er musste über meinen Miene lachen. "Aber sicher tut es das. Kommen Sie, jetzt schneller", sagte er aufmunternd und zog mich wieder mit. Langsam konnte ich mich seinem Tempo anpassen und wenn ich hin und wieder stolperte, hielt er mich mit eisernem Griff davon ab, auf Konfrontationskurs mit dem Eis unter meinen Schlittschuhen zu gehen. Außerdem fuhren wir auch immer in der Nähe der Absperrung, wo sich meistens nur Kinder aufhielten, was ich sehr süß von ihm fand.

"Sagen Sie, Emily", sagte er dann nach einer Weile und schaute mich an, was mir ein bisschen Sorgen bereitete, weil das bedeutete, er sah nicht mehr geradeaus, "was machen Sie eigentlich beruflich?"

"Ich, äh... oh!" Ich hielt erschrocken die Luft an, als uns ein fahrendes Geschoss mit Pudelmütze kreuzte. "Ich arbeite im Kindergarten", antwortete ich schließlich etwas verlegen. So ein Beruf musste ihm sicherlich total läppisch und lächerlich vorkommen, wo er doch Polizist war.

"Oh, wirklich?", wollte er interessiert wissen. "Mögen Sie Kinder?"

"Aber sicher", ereiferte ich mich verzückt. Das war endlich ein Thema mit dem ich wohl fühlte. "Später will ich mindestens drei oder vier haben!"

Sofort biss ich mir auf die Unterlippe. So was war doch nichts, was man einem Mann erzählte, schon gar nicht, wenn er einem gefiel und das bei der ersten Verabredung! Selbst ich wusste, dass so etwas die Männer nur verschreckte, aber anscheinend hatte ich nicht nachgedacht und nun hatte ich den Salat. Wenn ihn nicht diese Verabredung zur Strecke bringen würde, dann war das sicherlich dieser äußerst intelligente Satz von mir gewesen. Klasse gemacht.

Ich wagte einen Blick zu ihm hin und er lächelte nachsichtig.

"Kommen Sie aus einer großen Familie?", hakte er nach.

Ich schüttelte den Kopf. Es war klar, dass er das Thema so schnell wie möglich wechseln wollte. "Ich habe nur einen Bruder", erklärte ich ihm ein bisschen resigniert. Aber über den wollte ich jetzt auch nicht reden...

"Oh, wirklich. Ich habe zwei Schwestern", informierte er mich. "Eine Ältere und eine Jüngere."

"Das muss hart gewesen sein", sagte ich mitfühlend. Als einziger Junge in der Familie und dann noch ein Sandwichkind. Östrogen-Overkill mal zwei.

"Sie sind eigentlich ganz nett. Zumindest, seitdem sie... oder besser gesagt, wir alle, aus der Pubertät raus sind." Er grinste und ich musste lächeln. In der Pubertät waren die meisten unausstehlich - siehe mein Bruder - deshalb war es ein großes Glück, dass die Kinder im Kindergarten alle zwischen drei und sechs waren. Das größte Problem, dass es dort gab, war, wenn Benny Cecily's Puppe mal wieder die Haare schneiden wollte oder Anna und Louisa sich darum zofften, wer von ihnen mit den Bauklötzen spielen durfte.

"Das kann ich mir gut vorstellen", pflichtete ich ihm bei, um die Konversation am Laufen zu halten, und erzählte ihm noch ganz nebenbei von den Missetaten meines jüngeren Bruders während seiner Pubertätsphase - aus der er meiner Meinung nach noch immer nicht rausgewachsen ist.

"Haben Sie sich eigentlich schon von dem Schock erholt?", wollte er wissen und spielte damit auf den Einbruch an, den ich nur allzu gerne verdrängte - vielleicht spielte er aber auch darauf an, dass er mich auf meine herumliegende Unterwäsche aufmerksam gemacht hatte, was kein geringerer Schock war, und eine neue Ladung Blut wurde direkt in mein Gesicht gepumpt.

"Ja, ein bisschen...", antwortete ich ausweichend, zögernd, doch ich hätte mir gar keine Sorgen machen müssen, denn er erklärte mir, dass er das sehr gut verstehen könnte und dass seine Familie, als er noch ein Kind war, auch so etwas durchlebt hatte. Allerdings waren sie im Urlaub gewesen und haben den Überfall erst bei der Rückkehr, mehrere Tage später, bemerkt.

"Ich konnte nächtelang nicht mehr schlafen", schmunzelte er erinnerungsselig. "Damals war ich neun gewesen."

Ich lächelte unwillkürlich - das war irgendwie recht süß von ihm, so etwas einzugestehen.

"Es ist schrecklich, wenn in den privaten Sachen herumgeschnüffelt wird, ohne, dass man etwas dagegen machen kann", beklagte ich mich. Ich fühlte mich ehrlich gesagt etwas missbraucht, aber Martha hatte mir erklärt, es wäre ganz normal, so zu empfinden. Das waren die "Folgeschäden", wie sie immer sagte und Julie hatte mich noch am selben Tag nach Hause geschickt. Ich glaube auch, Eve hat etwas von "Therapie" gemurmelt, aber so genau konnte ich das nicht sagen und Eve redete sowieso viel, wenn der Tag lang war.
 

Er erzählte mir ein paar weiterer solcher Geschichten, während wir weiter ruhig unsere Runde drehten, und nach einiger Zeit stellte ich überrascht fest, dass ich mich tatsächlich so weit entspannt hatte und mich in seiner Gegenwart sehr wohl fühlte. Er hatte so eine beruhigende Wirkung auf mich, was nicht letztendlich daran lag, dass er noch immer meine Hand hielt und mich vor dem ein oder anderen Unfall bewahrte.

Er sprach sehr ruhig, ganz ohne jede Verächtlichkeit in seiner Stimme, egal, was ich sagte, und hörte aufmerksam zu, stellte hin und wieder eine Frage und ich fühlte mich, wie im siebten Himmel. Irgendwie hatte er es geschafft, meine Nervosität auszuschalten und mich in wundervolles Wohlbefinden zu lullen, aus dem ich nur ungern wieder herausgeholt werden wollte.

Der Fahrtwind wehte meine Haare zurück und ich wurde immer übermütiger und sicherer auf dem Eis, sodass er mich irgendwann fragte, ob ich es nicht mal allein versuchen wollte.

Ich nickte begeistert. Das war die Chance für mich, zu beweisen, dass ich doch nicht so eine Versagerin auf diesem Gebiet war, wie man bis dahin vielleicht annehmen könnte.

Wir holten Schwung und er lächelte mir aufmunternd zu, bevor er meine Hand losließ.

In vollem Tempo flog ich durch die Lüfte, zumindest kam es mir so vor, und fühlte mich wieder ein Stück weit sicherer und selbstständiger allein.

Meine Euphorie hielt allerdings nicht lange an, denn plötzlich schnitt mich ein Jugendlicher von links. Er entwischte mir noch gerade so, kurz bevor ich ihn fast umgefahren hätte, aber die Aktion hatte mich so erschrocken und aus dem Konzept gebracht, dass ich das Gleichgewicht verlor und gefährlich wankte. Irgendwo dicht hinter mir hörte ich ein lautes, sorgenvolles "Emily!", als ich gerade die Absperrung nur einige Meter vor mir erblickte.

Erleichtert schlitterte ich schwankend darauf zu, streckte die Hände nach ihr aus, hatte jedoch nicht meine Geschwindigkeit mit eingerechnet.

Es kam, wie es kommen musste: ich bretterte mit vollem Tempo gegen das Geländer, aber anstatt mich daran zu klammern, prallte ich heftig ab und merkte, wie ich rücklings stürzte. Im Fallen gelang es mir zwar, mich noch schnell auf die Seite zu drehen, um meinen Sturz mit den Armen abzufangen, jedoch war auch das nicht gerade von Erfolg gekrönt.

Ich fiel genau auf meinen rechten Arm und schlug anschließend noch mit der Schläfe hart auf dem Eis auf.

Irgendwie kam mir das Ganze recht unwirklich vor und erschöpft blieb ich erst einmal einen Moment lang liegen, die Augen fest zusammengekniffen. Mein Kopf dröhnte.

War das eben wirklich passiert? Vielleicht war ich ja nur aus dem Bett gefallen...?

Sean war auf der Stelle bei mir, kniete sich nieder und versuchte, mir aufzuhelfen.

In seinen Augen spiegelte sich ehrliche Sorge wider und er zog mich sachte hoch und führte mich sicher zu den Bänken, während ein paar Schaulustige sich um uns herum versammelt hatten und die Show sichtlich genossen.

"Alles in Ordnung, tut Ihnen etwas weh?", wollte er wissen und drückte mich mit sanfter Gewalt auf die Bank, bevor er mich einer genauen Musterung unterzog.

Meine rechte Hand schmerzte höllisch, mein Kopf fühlte sich ein bisschen lädiert an.

"Es geht schon", krächzte ich niedergeschlagen, als mir wieder einmal bewusst wurde, wie peinlich ich mich verhalten hatte. Das konnte auch nur mir passieren. Und dann ausrechnet in seiner Anwesenheit. Das war sicherlich nichts anderes als Murphy's Gesetz: "Alles, was schief gehen kann, wird auch schief gehen." Es bestimmte mein ganzes Leben.

Um mich nicht sofort mit ihm auseinander setzen zu müssen, hob ich meine Hand und betrachtete sie eingehend und wackelte höchst konzentriert mit ein paar Fingern. Alles schien noch zu funktionieren, also war sie nicht gebrochen. Zum Glück!

"Die Hand, hm?", wollte Sean wissen und nahm meine schmerzende Hand in seine, drehte sie ein bisschen herum, um sie sich genauer anzusehen. "Tut's sehr weh? Soll ich Sie ins Krankenhaus fahren?", fragte er sehr mitfühlend und sah mich ernst an.

Ich schüttelte schnell den Kopf. Nur das nicht!

"Halb so schlimm." Ich zwang mich zu einem gequälten Lächeln. Er schien zwar nicht überzeugt, bestand aber auch zum Glück nicht darauf.

Stattdessen beugte er sich zu mir herunter und legte die Stirn in Falten, beäugte mich äußerst skeptisch.

"Ich muss kurz zum Auto. Bin gleich wieder bei Ihnen, in Ordnung?"

Ich nickte benommen und schaute zu, wie er mit Leichtigkeit aus seinen Schlittschuhen schlüpfte und seine blau-gestreift-besockten Füße sogleich in seine Schuhe steckte.

Dann verschwand er aus meinem Sichtfeld.

In meinem Kopf hämmerte ein tauber Schmerz, sodass ich die Augen zusammenkneifen musste, und meine Hand schmerzte fürchterlich. Ich betrachtete sie eingehend, doch kein einziger Kratzer war zu sehen und alle Finger waren auch noch dran.

Ich machte mich daran, auch meine Füße aus den unbequemen, unglücksseligen Schlittschuhen zu schälen. Gerade schnürte ich meinen zweiten Sneaker zu, als Sean wieder auftauchte.

Ohne etwas zu sagen ging er vor mir in die Hocke. Selbst im kauernden Zustand war er immer noch einige Zentimeter größer als ich, die ich auf der niedrigen Bank Platz genommen hatte.

Verwundert blickte ich ihn an. Was sollte das werden?

Er öffnete seine Hand und zeigte mir, was er aus dem Auto geholt hatte: ein Pflaster. Ich betrachtete es verstört.

"Sie... bluten da ein wenig an der Stirn", erklärte er in einem beruhigenden Tonfall - wahrscheinlich, um eine hysterische Reaktion meinerseits zu vermeiden.

"Oh", war meine äußerst geistreiche Antwort darauf.

Dass er hier so besorgt vor mir kniete und mir so nah war, brachte mich ein bisschen aus dem Konzept.

Ich musste mich dringend auf andere Gedanken bringen.

"Schleppen Sie immer eine halbe Apotheke mit sich herum?", wollte ich skeptisch wissen und brachte ihn damit zum Lachen.

"Ein Pflaster ist für Sie schon eine halbe Apotheke?", lautete seine amüsierte Gegenfrage.

Nun, für mich traf das jedenfalls zu.

Nichts ging bei mir so schnell weg, wie diese kleinen, hilfreichen Dinger... Wie warme Semmeln beim Bäcker.

Aber das konnte er ja schlecht wissen - obwohl, spätestens jetzt vermutlich schon...
 

Er strich mir mit seiner Hand behutsam eine Haarsträhne aus der Stirn. Sein Gesicht befand sich nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, seine Berührung elektrisierte mich augenblicklich. Meine Atmung ging flacher, ich wagte es kaum noch, mich zu bewegen.

Er klebte das Pflaster auf meine verletzte Stirn, während ich ihn unverhohlen anstarrte und schließlich einen ziemlich roten Kopf bekam, als mir das bewusst wurde.

Obwohl um uns herum nur ohrenbetäubender Lärm herrschte, kam er nur gedämpft zu mir herüber. Sean war der Einzige, den ich in diesem Moment wahrnahm, es war, als wären nur wir zwei hier. Mein Herzschlag beschleunigte sich, als er einen kurzen Moment lang meinen Blick hielt und mir in die Augen sah. Es hatte sich eine Art intime Atmosphäre zwischen uns aufgebaut und mir wurde seine körperliche Anwesenheit, dass er hier so bereitwillig vor mir kniete, mit einem Mal schmerzlich, stark, bewusst. Meine Nervosität meldete sich wieder und war noch stärker als zuvor, ganz so, als wollte sie mir sämtliche Luft zum Atmen rauben. Vielleicht war es aber nur er, in seiner ganzen glanzvollen Erscheinung, der mich so aus der Fassung brachte...

"So, jetzt sind Sie wie neu", lächelte er, strich das Pflaster noch einmal glatt. Dann nahm er seine Hand, mit der er mir immer noch die Haarsträhne aus dem Gesicht hielt, wieder weg und sie fiel mir erneut in die Stirn.

"Ich sehe bestimmt aus wie ein Idiot...", sagte ich verlegen und wich seinem freundlichen Blick aus, der immer noch aufmerksam auf mir ruhte.

"So ein Unsinn", widersprach er und lächelte mir wieder aufmunternd zu. "Pflaster stehen Ihnen unheimlich gut", neckte er mich.

Das überraschte mich nicht. Wundschutzpflaster und ich, wir hatten eine Art symbiotische Beziehung zueinander. Ich konnte nicht ohne sie und sie konnten ganz offensichtlich auch nicht ohne mich. Wahrscheinlich hatte die Pflasterindustrie die Hälfte ihres Umsatzes mir zu verdanken.

Sean zwinkert mir grinsend zu und fügte leiser hinzu: "Sie sehen bezaubernd aus."

Das kam unerwartet.

Ich wurde noch verlegener und meine Wangen begannen zu glühen. Noch nie hatte mich jemand "bezaubernd" genannt, schon gar nicht mir einem lädierten, pflasterbeklebten Gesicht...

Bevor ich mich stotternd für das Kompliment bedanken konnte, erhob er sich.

"Ich bringe Sie besser mal nach Hause." Er sammelte geschäftig unsere Sachen ein, sodass ich Zeit hatte, seine Freundlichkeit zu verdauen und mich ein bisschen zu sammeln.

"Eigentlich wollte ich Sie ja noch zum Abendessen ausführen", gab er zu und hängte sich seine Jacke über den Arm. "Aber ich fürchte, das ist keine gute Idee mehr." Er deutete mit einem besorgten Kopfnicken auf meine schmerzende Hand. "Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht ins Krankenhaus bringen soll?"

Ich schüttelte bestimmt den Kopf. Alles, bloß kein weiterer Besuch im Krankenhaus.

"Es geht schon, danke", lehnte ich höflich ab. Ob er wohl die Panik in meinen Augen bemerkt hatte? Es gab nicht Schlimmeres als Krankenhäuser. Und ich wäre so gerne noch mit ihm Essen gegangen... Aber die Kopfschmerzen brachten mich fast um und mit meiner Pflastervisage konnte ich mich unmöglich irgendwo blicken lassen, schon gar nicht in einem Restaurant...

"In Ordnung", sagte er nicht ohne Zweifel und warf mir noch einen prüfenden Blick zu. Ich stand auf, nahm meine Jacke von der Bank und wollte gerade nach den Schlittschuhen greifen, als er mir zuvorkam.

"Die nehme ich", lächelte er.
 

Ich wartete an der Tür, während er die Schlittschuhe zurückgab und als er wiederkam, hielt er mir in aller Selbstverständlichkeit wieder die Tür auf, damit ich hindurchgehen konnte.

Auf dem Parkplatz holte er seine Autoschlüssel heraus und wollte gerade aufschließen, als er plötzlich innehielt und entgeistert die Straße hinauf starrte.

Verunsichert folgte ich seinem Blick, konnte jedoch nichts Auffälliges erkennen.

Er runzelte die Stirn und schüttelte anschließend den Kopf.

"Es ist nicht", sagte er mehr zu sich als zu mir, als ich ihn mit einem fragenden Blick bedachte. "Ich dachte nur... aber es war nichts."

Er schloss das Auto auf der Beifahrerseite auf und hielt mir wieder mal gekonnt die Tür auf. Ziemlich geschmeichelt lächelte ich ihn dankbar an und stieg ein, während er schnell herumkam, um neben mir am Steuer Platz zu nehmen.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es erst halb 10 Uhr war. Ein neuer Tiefpunkt in meinem Liebesleben. Wessen erste Verabredung mit einem unwiderstehlichen Mann dauerte nur knapp eine Stunde und 30 Minuten, wenn nicht meine? Deprimiert ließ ich mich in meinen Sitz zurücksinken und starrte trübselig aus dem Seitenfenster.

Er warf mir an einer roten Ampel einen kurzen Blick zu.

"Es tut mir leid."

Ich schaute überrascht auf. "Was denn?"

"Ich hätte Sie an einen weniger gefährlichen Ort bringen sollen", entschuldigte er sich geknickt. "Das ist meine Schuld. Und nun sind Sie verletzt."

Ich riss die Augen auf. "Aber nein", widersprach ich ihm heftig und fuchtelte wild mit den Händen, während ich gleichzeitig den Kopf schüttelte. "So was passiert mir ständig, wirklich", beteuerte ich. "Das hier ist noch gar nichts!" Ich lachte nervös.

Perfekt, Emily. Nur weiter so, schieß schön weiter deine Eigentore und erzähl ihm von deinen anderen Unzulänglichkeiten, schimpfte ich mich in Gedanken, als mir klar wurde, dass ich mal wieder meinen Mund nicht hatte halten können.

Ich ließ schnell den Kopf sinken und traute mich nicht, ihn anzusehen. Das war sicherlich nicht klug, die Bandbreite meiner Fehler und Schwächen schon nach nur einer Stunde vor dem wundervollsten, höflichsten Mann auf der Welt auszuwalzen.

"Ach ja?" Er klang amüsiert. "Das glaub' ich Ihnen auf's Wort."
 

Er hielt in meiner Straße, unweit meiner Wohnung, und wir stiegen aus. Mein Herz begann wild gegen meine Brust zu hämmern, denn meine einzige Chance, zu verhindern, dass er - ER - jetzt gleich vielleicht für immer aus meinem Leben verschwinden würde, war, ihn auf einen Kaffee einzuladen.

Das einzige Problem war, dass "Kaffee" ein allseits bekannter Code für "Sex" war und diesen Eindruck wollte ich ganz sicher nicht bei ihm hinterlassen.

Ich legte es auch nicht darauf an, ehrlich nicht, jedoch fürchtete ich, dass, ob ich nun das Wort "Kaffee" durch ein anderes Getränk ersetzte oder nicht, das nichts an der allgemeingültigen Regel der Codierung ändern würde. Mal ganz zu schwiegen von der Angst, dass er ablehnen würde.

Denn ob er nun davon ausging, ich wollte ihm nur etwas zu trinken anbieten oder ihn gar mich selbst anbieten, würde ein "nein" doch nichts anderes bedeuten, als dass er nicht mit mir zusammen sein wollte. Weder für die Dauer eines Wasser, noch für die Dauer eines... nun ja, lassen wir das...

Und das wäre sicherlich alles andere als schmeichelhaft.

Noch ganz vertieft in meine fiebrigen Gedanken und die Überlegung, ob mein ohnehin bereits angeknackstes Selbstwertgefühl ein "nein" verkraften konnte, bemerkte ich gar nicht, wie wir bereits vor meiner Tür standen. Ich mit dem Rücken zur Tür, er mir gegenüber, mir zugewandt.

Ich beschloss, all meinen Mut zusammen zu nehmen und blickte ihn entschlossen an.

Leider habe ich nicht mit seinem aufmerksam-höflichen, unwiderstehlichen Lächeln gerechnet, das mein Herz sofort wieder in meine Hosen sinken ließ, während ich nur so dahinschmolz.

Schweigend starrte ich ihn an, alle Gehirnzellen schienen kurzfristig einen Last-Minute-Urlaub gebucht zu haben...

"Also dann", sagte er nach einer schier endlosen Stille. "Es war ein sehr netter Abend, Emily."

Da! Das war's! Das war meine Chance gewesen und ich hatte sie verpasst.

Mit trockenem Mund nickte ich enttäuscht und wollte mich gerade abwenden, als er blitzschnell nach meiner schmerzenden Hand griff und mit seinen weichen Lippen einen zarten, sanften Kuss auf meine Handoberfläche drückte.

Ich war so verdattert, dass ich ihn nur perplex angaffen konnte.

Er hingegen lächelte mir verschmitzt zu.

"Auf Wiedersehen", verabschiedete er sich, drehte sich um verschwand aus der Eingangstür, sowie auch aus meinem Blickfeld.

"Auf Wiedersehen", quiekste ich aufgeregt, zwei Sekunden zu spät, vollkommen überrumpelt, und die Röte, die sich auch erst mit einiger Verzögerung meldete, stieg mir augenblicklich ins Gesicht.

Mit zitternden Fingern schloss ich automatisch meine Tür auf und lehnte mich von der anderen Seite dagegen, meine Hand umklammert und sie fasziniert betrachtend.

Es war das erste Mal, dass mir jemand einen Handkuss gegeben hatte und es war ein unglaublich angenehmes Gefühl. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und ein verspätetes Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ich fühlte mich wie mit 16, wollte mich sofort auf's Bett schmeißen und mein grienendes Gesicht im Kissen vergraben.

Joanna hatte Recht gehabt, schoss es mir durch den Kopf.

Ich mochte ihn. Ich mochte ihn wirklich. Solch intensive Gefühle hatte ich noch nie empfunden.

Sean war perfekt. Er war höflich, zuvorkommend, freundlich, liebevoll, gentlemenlike, einfach bezaubernd, hinreißend, seine weichen, dunkelblonden, unordentlichen Haare verführten fast dazu, ihm durch das Haar zu fahren, seine muskulöse Brust, sich an ihn zu schmiegen und nur zu gern würde ich mich von seinen Armen umschlingen lassen...

Irgendetwas hatte der Mann... viel besser gesagt: er hatte alles. Und ich hatte mich erstaunlich schnell um den Finger wickeln lassen.

Die Hitze, die sich bei alle diesen Gedanken in meinem Kopf staute – und nicht nur dort - verfärbte diesen zu einer ungesunden, roten Farbe. Könnte heißer Dampf durch meine Ohren entweichen, würde er es bei dem bloßen Gedanken an Sean pfeifend tun.

Doch schon einige Momente später verflüchtigte sich mein stupides Grinsen und meine Zuversicht. Ich spürte, wie mir sämtliches Blut aus dem Gesicht entwich.

Es gab da eine unbedeutende Kleinigkeit: er hatte mich weder nach einem zweiten Date gefragt. Noch nach meiner Telefonnummer...

Couldn't Resist You

Natürlich hatte ich in der Nacht nicht viel Schlaf bekommen, also stand ich bereits früh auf und machte mich fertig. Nach einem kurzen Frühstück - bestehend aus einem Käsetoast während der Acht-Uhr-Nachrichten - brachte ich meine Wohnung in Ordnung.

Viel war nicht zu tun, da nach meinem gezwungenen Frühjahrsputz letzte Woche alles noch an seinem rechtmäßigen Platz lag.

Ich wischte also halbherzig den Staub von den Regalen und saugte kurz durch.

Im Fernsehen lief auch nichts Gutes und auf ein Buch konnte ich mich nicht konzentrieren.

In meinem Kopf rasten die Gedanken nur so durcheinander. Obwohl ich mich nach Außen hin ganz ruhig und konzentriert gab, war ich innerlich sehr aufgewühlt.

Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder bangen sollte, denn einerseits war der gestrige Abend wirklich toll gewesen - zumindest bis zu meinem oberpeinlichen Unfall - andererseits aber hat Sean keine Anstalten gemacht, mich wiedersehen zu wollen.

Dann allerdings hatte er mir einen Handkuss gegeben, schoss es mir erfreut durch den Kopf, gefolgt von Zweifel: was bedeutete das? Bedeutete das überhaupt etwas? Wollte er bloß nicht unhöflich sein und einfach so sang- und klanglos verschwinden?

Ich wurde fast verrückt, denn genau das war es, was mir immer wieder durch den Kopf ging - und zwar in Endlosschleife. Es war einfach anstrengend und ermüdend.

Ich beschloss, nicht den ganzen Tag zu Hause herumzulungern und mich stattdessen etwas abzulenken.

Es war zwar noch früh, aber die Läden hatten schon offen. Ich hatte sowieso noch ein paar Besorgungen zu erledigen.
 

Als ich mittags zurückkehrte, war ich schon reichlich müde und beschloss, ein kleines Nickerchen zu halten. Wenn es nachts nicht klappte, dann musste eben der Nachmittag herhalten.

Schnell verstaute ich die Lebensmittel im Kühlschrank und packte meine neue Leselampe aus, platzierte sie auf dem davor vorgesehenem Platz auf dem Schreibtisch, der seit etwa einer Woche leer stand. Zufrieden mit dem Ergebnis warf ich mich einfach so, wie ich war - in Jeans und Pullover - auf das Bett und schloss genüsslich die Augen. Nachdenken wollte ich jetzt nicht und am besten wäre es, ich würde gar nicht erst damit anfangen.

Leider klingelte das Telefon und machte mir einen Strich durch die Rechnung.

Verwirrt durch das Klingeln sprang ich auf und stellte fest, dass ich bereits 25 Minuten geschlafen hatte - ich hatte gar nicht mitbekommen, wie die Zeit vergangen war! Als mir klar wurde, dass es das Telefon war, das mich mit dem schrillen Klingeln aus dem Dämmerschlaf geholt hatte, hob ich ganz aufgeregt den Hörer ab.

"Hallo?"

"Ich bin's", kam es nur fröhlich vom anderen Ende der Leitung - die sich in Südafrika befand.

Ich sackte ein wenig in mir zusammen und versuchte, die Enttäuschung nicht allzu stark aufwallen zu lassen.

"Jo", entfuhr es mit tonlos.

"Sehr begeisterte Begrüßung", lachte sie, ganz und gar nicht beleidigt angesichts meines dummen Verhaltens. Immerhin war es fast eine Ehre, dass sie sich an zwei Tagen hintereinander bei mir meldete! Und ich Depp hatte nicht mal ein paar freudige Worte dafür übrig.

"Hast wohl wen anders erwartet, was?", lauerte sie mir hinterlistig auf und ich hörte sofort auf, meine Reaktion auf ihren Anruf zu bereuen. Das war's dann wohl mit "Nicht-Nachdenken". Vielen Dank auch!

"Eigentlich nicht", log ich stattdessen und versuchte, das Thema zu wechseln, indem ich sie fragte, wie es ihr ging.

"Wie immer, lenk nicht ab", erwiderte sie darauf nur, heiter wie eh und jäh. Manchmal fragte ich mich, ob sie überhaupt irgendwann mal niedergeschlagen oder frustriert war. Ich hatte sie zumindest noch nie in so einem Zustand erlebt.

"Und, wie war's gestern?", hakte sie nach, als ich schwieg, in Gedanken versunken.

Obwohl ich eigentlich nicht hatte darüber reden wollen, überkam mich plötzlich das dringende Bedürfnis, mich meiner besten Freundin anzuvertrauen.

"Ich weiß nicht...", sagte ich skeptisch, zögerlich. "Es war ziemlich... kurz..."

Ein gedämpftes Lachen kam aus der Leitung. "Kurz? Wie bitte? Was genau?" Joanna amüsierte sich köstlich und kicherte immer noch, als ich hastig eine Erklärung hinterher schob.

"Der Abend, meine ich."

Wir schwiegen einige Sekunden, dann erbarmte sie sich zu fragen: "Warum denn?"

"Tja, weil..." Zögernd hielt ich inne. Das hier würde mich mein Leben lang verfolgen, dafür würde sie schon sorgen. "Also, ich hatte einen kleinen Unfall..."

Sie prustete los, wie erwartet. Ja, ich war ein wirklich guter Entertainer, meine Freundin jedenfalls schien aus dem Lachen gar nicht mehr herauszukommen.

"Das ist doch nicht zum Lachen", keifte ich ein wenig gereizt. "Das hätte auch schlimm ins Auge gehen können!"

Sie zeigte sich kein bisschen beeindruckt. "Aber du bist zu Hause und nicht im Krankenhaus, also geht's dir gut", schlussfolgerte sie, scharfsinnig wie immer. "Das hat höchstens dein Ego angekratzt, wie ich sehe." Sie kicherte wieder. "Also, was ist passiert?"

"Ich bin gegen die Bande gefahren...", murmelte ich leise, in der Hoffnung, sie könnte es nicht hören. Konnte sie aber.

"Typisch du", sagte sie leichthin und ich konnte vor meinem inneren Auge sehen, wie sie gleichmütig die Schultern zuckte. "Daran muss sich dein Typ wohl gewöhnen. Wie heißt er eigentlich?"

"Sean", sagte ich automatisch und fügte noch hinzu: "Er ist nicht 'mein Typ'." Obwohl ich nichts dagegen hätte...

"Ich wette, du hättest nichts dagegen", stellte Jo fest. Verdammt! Sie kannte mich viel zu gut!

Ich ignorierte sie. "Wahrscheinlich findet er mich nach dieser peinlichen Aktion sowieso etwas merkwürdig", gestand ich zerknirscht meine Ängste ein. "Und will sicherlich nichts mehr mit mir zu tun haben..."

"Ach, so ein Quatsch", widersprach Jo energisch und fröhlich wie immer. "Ich bin ja auch noch mit dir befreundet."

Ich verdrehte die Augen, was sie zum Glück nicht sehen konnte. Was für ein schlagkräftiges Argument. Irgendwo am Rande fiel mir auf, dass sie nicht gesagt hatte, ich wäre nicht merkwürdig, sondern nur, dass sie "trotzdem" mit mir befreundet war, doch ich wischte den Gedanken schnell beiseite.

"Das kann man wohl kaum miteinander vergleichen", giftete ich etwas frustriert, weil sie mich ganz offensichtlich nicht zu verstehen schien. Jo machte es sich immer zu einfach. Wo ich fiebrig überlegte und mir den Kopf zerbrach, war sie einfach mit Gleichmut gesegnet, lachte, unterbreitete anderen ihre äußerst eigensinnigen Standpunkte und für sie war die Sache dann gegessen. Und, wie sollte es auch anders sein, lösten sich ihre Probleme in Luft auf, während ich von meinen erschlagen wurde. Immer und immer wieder...

"Warum denn nicht?", flötete sie wieder gedankenlos. Irgendwie war das Gespräch bis jetzt mehr als nichtssagend verlaufen. Ich wollte mich nicht mit Jo streiten, schon gar nicht angesichts der Tatsache, dass sie meilenweit von mir entfernt war und ich nicht wusste, wann das nächste Telefonat stattfinden würde, um mich wieder mit ihr vertragen zu können.

"Jedenfalls", kam ich wieder sachlich auf das eigentliche Thema zurück, "hat er mich schon nach eineinhalb Stunden nach Hause gefahren und nichts mehr gesagt."

"Nicht mal 'Tschüss'?", witzelte sie und brachte mich dazu, eine genervte Grimasse zu schneiden. Ich überging das einfach.

"Du weißt schon, kein zweites Treffen oder so. Obwohl ich auch nicht wüsste, ob ich das überleben würde..."

"Ist das wichtig?", fragte sie nachdenklich.

"Was?" Ich war verwirrt. Was war wichtig? Ob ich es überleben würde?

"Dass er dich nicht gefragt hat. Hast du nicht gesagt, du empfindest nichts für ihn?"

Ich schluckte hart. Das hatte ich tatsächlich. Und irgendwie nagte es an mir...

"Na und", erwiderte ich störrisch und fühlte mich wie ein sturer Esel, der nicht zugeben wollte, dass er im Unrecht war. "Das tu ich ja auch nicht, aber..."

"Aber?", unterbrach Jo mich wieder mit ihrem lauerndem Tonfall. Jetzt saß ich in der Falle und wir beiden wusste es.

Ich gab auf. "Ich weiß es nicht", gab ich ehrlich zu und fügte verzweifelt hinzu: "Aber ich würde es gerne rausfinden..."

Das schien ausschlaggebend zu sein, denn Jo war plötzlich nicht mehr zum witzeln aufgelegt, sondern ganz ernst und bei der Sache. "Warte doch erst mal ab. Es sind keine 24 Stunden vergangen und du machst dir schon in die Hose. Stell dich gefälligst nicht so an."

Und sie hatte mal wieder Recht. Ich benahm mich wie ein kleines, unreifes Kind. Ich sollte nicht auf irgendeinen Anruf warten und eine eventuelle Abfuhr erhobenen Hauptes einstecken, als wäre nichts gewesen. Als kümmerte es mich nicht im Geringsten...

Einfacher gesagt als getan, weil es mich doch kümmerte, mehr, als ich zugeben würde.

"Abwarten und Tee trinken. Ich bin schon gespannt, was du sonst noch so erlebst." Jo war wieder zu ihrem normalen Selbst zurückgekehrt und lachte heiter in den Hörer hinein.

"Wie geht's eigentlich dir? Wann kommst du zurück?" Ich wechselte das Thema, aber ich vermisste Jo wirklich hier an meiner Seite. Die Filmabende, die sonntäglichen Frühstücksgelage in unserem Lieblingscafé in der Altstadt, die Shoppingtouren, die Rückendeckung... aber mehr als alles andere vermisste ich ihren Frohmut, denn egal, wie sehr sie sich auch bemühte, mich aus dem fernen Afrika aufzumuntern, war der Effekt doch um einiges bedeutsamer, wenn ich sie von Angesicht zu Angesicht vor mir stehen sah.

"Das weißt du doch", sagte sie mild. "Zwei Monate noch."

Zwei Monate... da konnte ja alles passieren! Oder nicht passieren...

"Das ist zu lang...", jammerte ich, gerade so, als würde das irgendetwas an der Sachlage verändern.

Jo schwieg eine Weile. Hatte ich etwas Falsches gesagt?

"Ich vermisse euch auch alle", gestand sie dann, etwas leiser. "Aber die zwei Monate sind im Nullkommanix um, versprochen. Dann holen wir alles nach." Und sie lachte wieder.

Ich rang mir ein dünnes, gequältes Lächeln ab. Ich saß hier, in meinem Selbstmitleid versunken und dachte gar nicht daran, dass es ihr vielleicht noch schlimmer erging. In einem fremden Land und ganz allein. Es musste schrecklich sein, so lange so weit weg von seiner Familie, seinen Freunden, seinem Freund zu sein... Und hier saß ich nun und ließ mich von ihr aufheitern, obwohl ich eigentlich gar kein Recht hatte, mich zu beschweren. Alles war in bester Ordnung. Ich kam mir unheimlich egoistisch vor und mein schlechtes Gewissen rebellierte bereits.

"Ja, bestimmt." Ich nickte, in dem Bestreben, nun sie ein bisschen aufzuheitern. "Es heißt doch, je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit." Ich grinste.

"Was soll das denn heißen?", wollte Joanna sofort skeptisch wissen. "Willst du mir etwa einen Strick daraus drehen, dass ich fast ein Jahr älter bin als du?"

Ich konnte praktisch vor meinem inneren Auge sehen, wie sie argwöhnisch eine Augenbraue hob und das Münztelefon anstarrte statt meiner.

"Ganz und gar nicht", antwortete ich gut gelaunt und wusste, dass sie mir nicht glaubte. Aber wenigstens hatte ich sie und mich auf anderen Gedanken gebracht.

"Na klar", spottete sie. "Aber ich muss jetzt aufhören, meine Telefonkarte läuft bald aus."

"Na gut. Ich wollte sowieso eine Runde schlafen." Wie aufs Stichworte ließ ich mich zu einem langen Gähnen hinreißen.

"Na dann gute Nacht", grinste Jo. "Ich meld mich nächsten Monat."

Nächsten Monat... noch eine Ewigkeit bis dahin.

"Okay. Bis dann."

Ich legte auf und schaute mich einen Moment lang im Zimmer um. Das Gespräch mit Jo und mein schlechtes Gewissen hingen noch immer über mir wie eine Regenwolke, aber dann musste ich noch einmal gähnen und entschied mich dafür, meinen verdienten Schlaf nachzuholen.

Ich ließ mich auf's Bett fallen und versank mit dem Kopf in die weichen Kissen, schloss die Augen und -

Das Telefon klingelte.

Verwirrt blinzelte ich. Ich war wirklich müde. Wirklich! Und langsam wurde ich wütend...

Unzufrieden schnappte ich mir den Hörer, den ich auf dem Nachtschränkchen abgelegt hatte, und drückte auf die grüne Taste, um das Gespräch anzunehmen. Das konnte doch nur Jo sein, sie vergaß ständig etwas und rief Sekunden später wieder an.

"Jo", knurrte ich missmutig. Ich hatte ihr doch gesagt, ich gehe ins Bett!

"Nein, hier ist Sean", meldete sich eine etwas verwirrte Männerstimme. Eine Männerstimme, die mein Herz höher schlagen ließ!

In Sekundenschnelle saß ich aufrecht im Bett und presste das Telefon so nah an mein Ohr, das ich es ganz plattdrückte - mein Ohr, nicht das Telefon.

"Hallo", piepste ich aufgeregt. Zu meinem eigenen Missfallen hatte ich mal wieder einen Frosch im Hals und musste mich erst mal räuspern. "Hier ist Emily", fügte ich überflüssigerweise hinzu.

Er lachte leise und mein Herz pochte schneller. "Das dachte ich mir schon."

Einen kurzen Moment herrschte Stille zwischen uns, gerade mal so lange, wie ich Zeit hatte, mich zu fragen, was er wohl von mir wollen könnte. Dann redete er schon wieder weiter.

"Hören Sie, Emily..." Er stockte, schien zu überlegen. "Haben Sie kurz Zeit? Ich habe gestern etwas vergessen und würde gerne kurz vorbeikommen, wenn es Ihnen nichts ausmacht?"

Da war ich baff. Etwas vergessen?

"Nein, natürlich nicht", beeilte ich mich schnell zu sagen, noch bevor ich richtig überlegen konnte. "Ich meine, natürlich macht es mir nichts aus." Meine Worte überschlugen sich fast, so hastig hatte ich sie ausgesprochen. Ich war ganz aufgeregt, mein Puls hatte sich mindestens um das zweifache beschleunigt, in weniger als einer Minute. Das musste mir erst mal einer nachmachen! Die Aussicht, ihn heute noch zu sehen, wenn auch nur ganz kurz, ließ mich alles um mich herum vergessen - das Telefonat mit Jo, mein schlechtes Gewissen, meine Müdigkeit.

Ich stand rasch auf und warf einen Blick in den Kleiderschrankspiegel. Eine Haarbürste war dringend gefragt, aber ansonsten hatte ich noch immer die Kleidung von heute Morgen an. Die konnte bleiben. Ich würde mich jawohl kaum in ein enges Negligé schmeißen und ihm halbnackt die Tür öffnen. Fast musste ich bei dieser absurden Vorstellung laut lachen, als mir einfiel, dass ich ihn immer noch am Telefon hatte.

"In Ordnung", sagte er etwas zögerlich. "Ich bin in Kürze da."
 

Ich öffnete ihm die Tür, als er leise anklopfte. Wieder einmal vollkommen überrascht von seinem Anblick begann mein Herz, unregelmäßig in meiner Brust zu trommeln. In meinen Erinnerungen sah er nicht halb so gut aus, wie jetzt, als er vor mir stand.

Ich rang mir ein verwundertes "Hallo" ab, war mir doch der Grund für seinen Besuch bei mir vollkommen schleierhaft. Er hatte am Telefon nichts genaues verlauten lassen und ich habe mir die ganze Zeit Gedanken darüber gemacht, was er wohl vergessen haben wollte. Vor allem bei mir - wo er doch gestern gar nicht in der Wohnung gewesen war!

"Hallo", sagte er mit einem angespannten Lächeln. Täuschte ich mich, oder war er etwas unruhig?

"Kommen Sie doch rein", bat ich, da er nichts unternahm und einfach nur so vor der Tür herumstand, ohne etwas zu sagen. Ich konnte ihn ja schlecht dort stehen lassen.

Er trug eine leichte, graue Jacke und eine Jeans, woraus ich schloss, dass er weder von der Arbeit kam, noch zur selbigen unterwegs war. Ich wusste nicht, ob ich eine Waffe in dieser Wohnung dulden könnte, zumindest nicht privat. Sie könnte ja losgehen... sie WÜRDE bei meinem Glück auch noch losgehen.. Herrje. Bei dem Gedanken daran und an das viele Blut - mein Blut - wurde mir ganz schlecht.

Sean trat ein und schloss die Tür hinter sich, dann fixierte er mich wieder mit seinen hübschen, grünen Augen.

"Sie sehen müde aus", stellte er fest. Erwischt!

Ich lächelte ertappt. "Ich musste früh aufstehen", log ich. Ich konnte ihm ja kaum sagen, dass ich wegen ihm kein Auge zugetan habe! Schon die zweite Nacht.

Er nickte und sah mich wieder schweigend an, während ich mich unter seinem Blick mehr und mehr unwohl fühlte.

"Hören Sie... wollen Sie sich nicht setzen?", bot ich an und machte eine ausschweifende Handbewegung Richtung Bett. Ups. Hoffentlich würde er das nicht falsch verstehen...

Ich hatte eine Ein-Zimmer-Wohnung. Meine Couch war also gleichzeitig mein Bett... oder sollte ich besser sagen, mein Bett war meine Couch? Er warf einen Blick in die Richtung und schüttelte den Kopf.

"Nein, ich muss gleich wieder weg... Ich wollte nur kurz vorbeischauen, um..."

Er unterbrach sich und ich wurde langsam wirklich unruhig. Unbewusst knete ich nervös meine Hände, bis ich merkte, wie sein Blick darauf fiel und er lächelte. Sofort hörte ich auf und errötete ein wenig.

"Um...?", hakte ich schnell nach, um ihn von meiner Nervosität abzulenken, was zu klappen schien. Allerdings schien er sich jetzt seiner Sache viel sicherer und gar nicht mehr so zögerlich wie eben noch.

"Eigentlich wollte ich sie nur fragen, ob sie im Kindergarten eine Mittagspause haben", erklärte er. "Dann könnte ich sie zum Mittagessen einladen. Montag", fügte er noch hinzu.

Ungläubig blickte ich zu ihm auf und er lächelte hoffnungsvoll zu mir herunter.

"Ähm, nein, so was haben wir nicht", sagte ich schnell, während mir hundert Gedanken durch den Kopf rasten. Juhu, er wollte mich wiedersehen! "Aber ich hab sowieso um 13 Uhr frei, also..." Ich versuchte ein Lächeln und er strahlte.

"Perfekt. Ich hole sie dann also um 13 Uhr ab, wenn's recht ist." Bei allem, was mir heilig war, JA!

Ich nickte nur, während ich innerlich jubelte. Vielleicht, schoss es mir durch den Kopf, vielleicht würde sich ja mehr ergeben als nur ein Handkuss. Bei dem Gedanken musste ich unwillkürlich grinsen und fing dabei seinen irritierten Blick auf. Schnell riss ich mich wieder zusammen.

"Das wäre schön", fügte ich hastig hinzu, während meine Ohren vor Glück regelrecht zu glühen begannen. Diese Verräter...

Da fiel mir noch etwas ein. "Woher haben Sie denn meine Telefonnummer?", fragte ich ahnungslos. Natürlich habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie man mich finden könnte... Telefonbuch, Auskunft...

"Aus Ihrer Akte." Er grinste schuldbewusst, was mich ins Grübeln brachte.

"Ist das denn erlaubt?" Ich hob eine Augenbraue und musterte ihn prüfend. Dass man irgendetwas aus Polizeiakten für die persönliche Verwendung heraussuchte, konnte unmöglich legal sein.

"Eigentlich nicht." Er lächelte mich noch immer gelassen an. "Werden Sie mich verraten?", witzelte er. "Ich konnte einfach nicht widerstehen."

Während sämtliches Blut in meinem Körper mit 200 Stundenkilometer in mein Gesicht gepumpt wurde, als er mir zuzwinkerte, verlor ich den Kopf, wie immer in Stresssituationen, und bei all den Erwiderungen, die mir darauf eingefallen waren, platzte ich mit der denkbar Peinlichsten heraus: "Ich bin froh, dass Sie das nicht konnten!"

Mit großen Augen starrte ich ihn an, wie er mich überrascht musterte. Schnell senkte ich den Blick und wagte es nicht mehr, ihn anzusehen. Oh Gott! Wofür hielt er mich denn jetzt? Ich konnte mich gar nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal in der Gegenwart eines Mannes so dämlich benommen hatte.

Zu meinem großen Erstaunen lachte Sean nur leise, fast erleichtert. "Ja, ich auch."

Für einen Moment legte sich wieder die unangenehme, erwartungsvolle Stille zwischen uns, doch Sean wusste sie schnell zu durchbrechen.

"Da wär noch etwas...", sagte er, wieder etwas zögerlich, und ich schaute ihn aufmerksam an.

Er kam einen Schritt auf mich zu, beugte sich zu mir herunter, sein heißer Atem streifte meine Wange.

Ich spürte, vollkommen von Sinnen, wie er seine Hand gegen mein Kreuz und mich so näher an sich drückte und das nächste, woran ich mich erinnerte, waren seine weichen Lippen auf meinen.

Er küsste mich! Einfach so, mitten in meiner Wohnung, im Hintergrund lief das Radio, er hatte noch Schuhe und Jacke an und ich hatte zwei Nächte lang nicht geschlafen und trotzdem...
 

Zu schnell war es wieder vorüber. Er ließ von mir ab, seine Augen funkelten belustigt und ich, hochrot, das Herz bis zum Hals hämmernd, konzentrierte mich auf die Sauerstoffaufnahme, die mein überfordertes Hirn, zu sehr damit beschäftigt, Adrenalin und Glückshormone zu produzieren, in den letzten Sekunden eindeutig vernachlässigt hatte.

Das hatte ich nicht erwartet... Dieser Typ hatte doch echt ein Händchen für solche Überraschungsmomente.

Zu meinem Entsetzen lachte er leise. Ich schaute ihn erschrocken an. War ich so schlecht im Küssen? Lachte er mich aus?

"Sie sehen erschrocken aus", stellte er fest. "Entschuldigung. Aber ihr enttäuschter Gesichtssausdruck gestern, als ich sie nach Hause brachte, ging mir nicht mehr aus dem Kopf..." Ach herrje... er hatte es bemerkt?!

Ich war so leicht zu durchschauen... beschämt starrte ich auf seine Schuhe, meine grauen Zellen hatten sich noch immer nicht von diesem Adrenalinstoß erholt, den er mir da eben verpasst hatte. Ich musste mich erst einmal sammeln.

Er lehnte sich locker gegen die Kante des Schranks, seine Hände in die Jackentasche vergraben. Mir schwirrte angenehm der Kopf.

"Wer ist Jo?", fragte er beiläufig, während er sich interessiert in meiner Wohnung umsah. Am Fenster spazierte gerade langsam meine alte Vermietern mit ihrem Mann vorbei. Sie konnten durch die Vorhänge im Tageslicht nicht hineingucken, aber wir konnten sie wunderbar sehen.

"Und dann sagte ich zu ihr, Peter, also ich sagte zu ihr...", hörten wir ihre eifrige Stimme durch das offene Fenster gedämpft in die Wohnung dringen, während sie wild mit den Armen gestikulierte und ihrem Ehemann irgendetwas zu erzählen versuchte.

"Joanna", korrigierte ich ihn eilig. Er sollte bloß nichts Falsches denken. Dass ich zwei Eisen im Feuer hätte oder so... bis vor einer Woche hatte ich ja weder Eisen, noch Feuer... "Eine Freundin."

"Ah." Er nickt verstehend und wandte sich wieder an mich

"Nachdem wir uns schon geküsst haben und ich einen Einblick in Ihre Unterwäsche hatte..." Bei diesen Worten grinste er frech. "Wollen wir nicht endlich aufhören, uns zu siezen?"

Dieser Mistkerl!

"Das ist echt nicht lustig", erwiderte ich, hochrot und böse, schwer damit beschäftigt, meine Gedanken nicht um den wundervollen Kuss kreisen zu lassen. Die Erinnerung daran war schon schlimm genug, ohne dass er drauf herumtrampeln musste.

"Das tut mir leid." Er lachte erheitert und es klang gar nicht so, als ob es ihm wirklich leid täte. "Ich musste dich doch irgendwie auf mich aufmerksam machen."

"Ich bin auch ohne diese Peinlichkeit auf dich aufmerksam geworden", beschwerte ich mich sofort, ohne zu überlegen, was ich da wieder sagte. Die Blamage meiner Unterwäsche auf dem Boden ließ sich noch schwerer verdauen als der zweifelhafte Einbruch. Jedes Mal, wenn ich daran dachte, hatte ich das dringende Bedürfnis, mir eine Papiertüte über den Kopf zu ziehen, um mein glühendes Gesicht zu verbergen. Peinlicher wäre nur gewesen, nackt dazustehen... Gott, was für eine Vorstellung! Schnell schüttelte ich den Kopf und diesen Gedanken ab.

Er warf mir einen neugierigen Blick zu. Seine grünen, dunklen Augen blitzen vergnügt auf und wurden noch dunkler, als er sich viel zu nah zu mir herüberbeugte.

"Ach ja?" Tja, da es schon mal raus war, gab es kein zurück mehr.

"J... ja", stammelte ich verlegen und versuchte, seinem Blick auszuweichen, was nicht einfach war, denn er war nur wenige Zentimeter von mir entfernt.

"Tatsächlich...", murmelte er leise, fast abwesend, und strich mir mit dem Daumen über die Wange.

Hatte ich gerade noch zu meiner regulären Atmung zurückgefunden, war nun schon wieder Schluss damit.

Seine Hand wanderte in meinen Nacken, unsere Köpfe lagen Stirn an Stirn aneinander und ich schaute ihm direkt in die ernsten, dunklen Augen. Seine Pupillen waren geweitet, schwarz. Und sie waren das Letzte, was ich sah, bevor ich ein zweites, unvergessliches Mal versank, in seinen Lippen, seinen Augen, seinem Duft, seinen Händen...

So Many Secrets

In dem Moment, in dem ich Ben sah, hatte ich Sean ganz vergessen.

Vergessen, dass er mich abholen kommen würde und vergessen, dass das bereits in wenigen Minuten eintreffen sollte.

Ben hatte feine, blonde Haare, die ihm im Nacken widerspenstig abstanden und eisblaue Augen, die vor Vergnügen wie kleine Kristalle funkelten. Wenn er lachte, wurde ein Grübchen in seiner linken Wange sichtbar und eine erste, süße Zahnlücke.

Zum gegenwärtigen Augenblick saß er im nassen Sand - sollte ich eher sagen Matsch? - auf unserem kleinen Spielplatz im Hinterhof des Kindergartens und ließ sich selig beregnen. Sein Haar klebte ihm am Kopf und an der Stirn und er hatte zwar Pulli und Jeans an, jedoch keine Schuhe. In seinen durchnässten, weißen Socken, die nun alles andere als weiß waren, wühlte er sich durch den Sandkasten.

Ich stand gerade in der Küche und pickte gedankenverloren an einem Stück Kuchen vom Vortag herum, den Martha mir hingestellt hatte, als ich zufällig einen Blick aus dem Fenster warf, gegen das der Regen angefangen hatte zu trommeln.

Als ich Ben erblickte, mutterseelenallein auf dem Spielplatz, total durchnässt, aber richtig glücklich, wurde ich jäh aus meinen Gedanken gerissen und richtete mich erschrocken auf. Es fiel mir natürlich nicht ein, ihn durch das Fenster zu rufen, also stolperte ich hastig hinaus auf den Flur und in den Gruppenraum, von dem aus man nach draußen gelangen konnte. Sofort sah ich, wie Ben nach draußen gekommen war: die Tür stand sperrangelweit offen und im Schloss steckte noch der Schlüssel. Unser Hinterhof war zwar umzäunt, aber dennoch sollten die Kinder in diesem strömenden Regen nicht draußen spielen. Ben's Mutter würde mir den Kopf abreißen!

Ich stürmte raus - zum Glück hatte ich meine Schuhe an! - und rief nach Ben, der sich mit funkelnden Augen zu mir umdrehte, mich anstrahlte und winkte.

Seine Hände waren dreckig und er hinterließ eine Sandspur quer über seinem Gesicht, als er sich die klatschnassen Haare aus der Stirn strich. Auf befremdliche Art wirkte er vollauf zufrieden mit sich selbst.

"Ben, was machst du denn da?", schimpfte ich verzweifelt und griff nach seinem Arm, um ihn mit sanfter Gewalt hochzuzerren. Er ließ es bereitwillig mit sich geschehen.

Während ich ihn an der Hand haltend im Laufschritt zurück ins Gebäude hinter mir herzog, plapperte er unermüdlich drauflos.

"Die Tür war offen und meine Schwester hat gesagt, wenn man im Regen spielt, wird man ganz schnell ganz viel größer", erklärte er stolz und warf mir dann einen mitleiderregenden Blick zu. "Ich muss größer werden als meine Schwester, dann kann ich auch mit ihren Sachen spielen! Sie schimpft mich immer, wenn ich sie anfasse, aber wenn ich größer werde, dann hat sie Angst vor mir!"

Ich schmunzelte und schloss die Tür hinter mir, drehte den Schlüssel im Schloss um und nahm ihn an mich. Meiner war es nicht, also musste er Julie, Eve oder Martha gehören.

Dann kniete ich mich hin, sodass ich mit Ben auf Augenhöhe war.

"Deine Schwester ist vier Jahre älter, das ist ganz natürlich, dass sie größer ist als du. Aber wenn du ein bisschen älter wirst, dann passiert es ganz von alleine, dass du vielleicht größer wirst als sie", versuchte ich ihn zu beruhigen. "Aber ich fürchte, Regen kann dir da nicht weiterhelfen."

Er sah enttäuscht aus. "Und wie lange noch?", hakte er mit einem kleinen Anflug von Hoffnung nach.

Ich überlegte. "In etwa neun Jahren vielleicht?", schlug ich vor. Mein Bruder jedenfalls, der drei Jahre jünger war als ich, war auch mit 14 in die Höhe geschossen und hatte mich weit hinter sich gelassen.

Ben dachte gründlich über die Sache nach und zog die Stirn in Falten. "Wie lange ist das?"

Ich unterdrückte ein Lachen. "Noch neun Mal Geburtstag feiern", antwortete ich ihm ganz ernst und hoffte, er würde nicht allzu enttäuscht sein, doch da hatte ich mich geirrt. Stattdessen strahlte er mich wieder an wie ein Honigkuchenpferd, als sei das die beste Neuigkeit, die er je gehört hatte.

"Ich habe bald Geburtstag!", verkündete er erfreut. "Meine Mama sagt, ich darf mir etwas wünschen!"

Ich lächelte und strich ihm über den nassen Kopf. "Das ist doch schön. Komm, lass uns deine Haare trocknen und..." Ich warf einen Blick auf seine mittlerweile dreckigen, braunen, nassen Socken und seufzte gequält auf. Ihm musste schrecklich kalt sein. "...und die Socken ausziehen."

Er nickte folgsam und ich richtete mich auf. Er schob seine sandige Hand in meine.

"Weißt du schon, was du dir wünschst?"

Aus dem Flur drang Eve's Geplapper zu uns heraus, aber ich achtete nicht weiter darauf, da Eve ständig quasselte.

"Na klar!", ereiferte Ben sich. "Ich will einen Nintendo DS. Da gibt's dieses suuuupercooole Spiel, mit dem Dinosaurier, weißt du und..."

Ben redete noch weiter, aber ich hörte ihm nicht mehr zu, denn wir hatten uns mittlerweile in den Flur durchgekämpft und spätestens da verstand ich auch, mit wem Eve sich unterhielt: Sean!

Ich hatte in den letzten fünf Minuten in diesem ganzen Durcheinander total vergessen, dass er mich ja zum Mittagessen abholen wollte!

"Emily, da bist du ja!", kam Eve mir zuvor, noch bevor ich nur den Mund aufmachen konnte. Dann beäugte sie mich misstrauisch und hob eine Augenbraue. "Wie sehr ihr zwei denn aus?"

"Jemand hat die Tür nach draußen aufgelassen", erwiderte ich knapp, und strich mir eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann wandte ich mich Sean zu. Sein Anblick wirkte mal wieder total entwaffnend auf mich. Ich wusste wirklich nicht, was das mit diesem Mann war, aber er hatte diese gewisse Wirkung. Ich schluckte mit trockenem Mund und mir fiel sofort ein, dass das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, er mich so unglaublich geküsst hatte... Sofort wurde ich rot und um das zu überspielen, lächelte ihn schnell an.

"Hallo. Tut mir leid, wenn du warten musstest, wir hatten da ein kleines Problem..." Bei diesen Worten warf ich Ben einen bedeutungsvollen Blick zu, der noch immer meine Hand umklammert hielt, nur fester als noch eben, und Sean argwöhnisch musterte.

"Das macht doch nichts, ich bin gerade erst durch die Tür gekommen", schüttelte Sean den Kopf.

Dann entstand wieder diese seltsame Stille, in der mir vollauf bewusst war, dass Eve uns beide erwartungsvoll und neugierig angaffte.

"Ich muss nur kurz..." Anscheinend plötzlich unfähig, meine Sätze zu beenden, nickte ich in Richtung Waschraum. "Wir müssen nur kurz die Hände waschen... Setz dich doch."

Was für ein Witz... die Bänke waren in praktischer Kinderhöhe angebracht. Sich darauf zu setzen war fast dasselbe, als würde man auf dem Boden sitzen.

"Das geht schon." Sean schien amüsiert und lehnte sich stattdessen mit der Schulter gegen den Türrahmen.

Nervös schob ich Ben in den Waschraum, Eve folgte mir auf dem Fuße, wie ein braves Entenküken. Wie zu erwarten war, schnatterte sie auch sofort drauflos.

"Ist er es?", wollte sie halblaut von mir wissen. Ich nickte, während ich das Wasser anließ und Ben aufforderte, sich Hände und Gesicht zu waschen.

"Und?", drängte meine neugierige Freundin.

Ich zuckte die Achseln. "Nichts und."

"Komm schon, Em. Für wie dumm hältst du mich? Wie viel ist da gelaufen bei eurem Date? Wie lang hat er gewartet, um dich wieder anzurufen? Wie ist er so? Sag schon!"

Ich blinzelte. Stimmt ja... seit Freitag hatte ich sie nicht mehr gesehen und auch keine Möglichkeit gehabt, ihr von der Verabredung zu erzählen und heute hatten wir viel zu viel zu tun, um über solche Lappalien zu sprechen. Montage waren meistens anstrengend, da die Eltern ihre Kinder viel zu früh ablieferten und viel zu spät abholen... Obwohl ich und Julie heute früher frei hatten, lief nicht immer alles, wie man es gerne wollte.

Ben's Ausflug in den Matschkasten war das beste Beispiel dafür.

"Er ist sehr nett", sagte ich ausweichend und mied ihren tödlichen Blick, da ich genau wusste, wie wenig zufrieden sie mit dieser Antwort war.

"Du weißt schon, wie ich das meine...", fuhr sie bedeutungsschwanger und mit einem anzüglichen Grinsen fort.

"Nein." Aber ich hatte da so eine Ahnung...

Sie rollte genervt die Augen und ließ nicht locker. "Und was war nun mit der Verabredung?"

Ich kapitulierte, sonst würde ich diesen Waschraum wohl niemals verlassen, da Eve vor der Tür stand und mir womöglich den Weg versperren würde, bis sie nicht alle Details aus mir herausgepresst hatte.

"Bei der Verabredung ist nichts gelaufen. Ich hab mir ein paar blaue Flecke geholt, und das ist alles", antwortete ich wahrheitsgemäß und steckte nun auch meinerseits meine schmutzigen Hände unter den Wasserstrahl. "Und angerufen hat er mich schon am nächsten Tag, um vorbeizukommen. Oh je, wie sehe ich denn aus?", entfuhr es mir, als ich einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken warf. Ich hatte eine eindeutige Sandspur im Gesicht. Und so war ich Sean gegenübergetreten? Argh!

Eve war es egal, wie ich mich ihm präsentiert hatte. Sie war ein Klatschmaul und das mit Leib und Seele. "Er ist vorbeigekommen?", japste sie aufgeregt, woraufhin ich sie mit einem zischenden "Psssst!" maßregelte.

"Er ist vorbeigekommen?", wiederholte sie unnötigerweise, um ein paar Dezibel leiser.

"Ben, zieh die Socken auch aus, ja? Sonst wirst du noch krank."

"Emily!!!"

"Ja, schon gut." Verdrießlich sah ich sie an. Eigentlich wollte ich nicht preisgeben, was passiert war, da ich es selbst noch nicht so recht glaubte und es anderen zu erzählen würde es zwar real, aber auch weniger magisch machen... "Er wollte sich nur für heute Mittag verabreden", versuchte ich es so unschuldig wie möglich.

"Und?" Eve war unersättlich.

Ich seufzte. "Und er hat..." Plötzlich war es mir peinlich. Komm schon, Emily, du bist doch schon ein großes Mädchen und kein 13jähriger Teenager, schimpfte ich mich selbst. Mit festerer Stimme fuhr ich fort: "Und er hat mich geküsst."

Eve quietschte vergnügt und strahlte mich an. Ich erwiderte ihr Lächeln gequält.

"Endlich! Und wir dachten alle schon, du wärst lesbisch oder so!"

"Was?!" Entgeisterte starrte ich sie an.

"Nur ein Scherz!" Sie lachte, als sie mein ungläubiges Gesicht sah. "Wirklich, das war nur ein Witz, niemand hat das gedacht." Beruhigend redete sie auf mich ein, Ben schaute fragend von Eve zu mir und wieder zurück. Doch bevor er die naheliegende Frage stellen konnte, geleitete ich ihn hinaus und Eve trottete uns beiden selig grinsend hinterher, geradeso, als wäre sie von einem tollen Mann geküsst worden, der nun in der Vorhalle auf sie wartete, und nicht ich.

"Reiß dich gefälligst zusammen", warnte ich sie durch die Mundwinkel, aber sie schaffte es nicht, ihr vielsagendes Grinsen abzuwischen und begegnete in genau diesem Zustand Sean, zu dem sich Martha gesellt hatte. Sie erzählte ihm gerade, wie stressig es Montags immer zuging, weil die Kinder ihre angestaute Energie vom Wochenende dringend loswerden mussten. Wahrscheinlich, um mein Verbleiben zu entschuldigen.

Als wir herauskamen, drehte sie sich zu uns um. "Da bist du ja, Emily. Ich glaube, der junge Mann hier wartet auf dich."

Ich war nun etwas ruhiger, hauptsächlich, weil Ben und Eve mir die letzten Nerven geraubt hatten.

"Das glaub ich erst, wenn ich es selber höre", witzelte ich und warf ihm ein schelmisches Lächeln zu. "Ich bin sofort fertig", schob ich hinterher, noch bevor er etwas sagen konnte.

Ben verscheuchte ich auf die Bank zu seinem Garderobenhaken mit dem Tiger-Aufkleber, damit er nachschauen konnte, ob sich in seinem Fach Extrasocken befanden. Anscheinend hatte er Glück, denn er machte sich sofort daran, diese über seine nackten, kleinen Füße zu ziehen.

Ich betrachtete Sean heimlich, nur für einen ganz kurzen Augenblick. Er hatte seine Uniform an, allerdings nur das hellblaue, sauber gebügelte Hemd ohne die Jacke darüber und die dunkelblaue Krawatte, die er etwas gelockert hatte, stand ihm wirklich ausgezeichnet. Ich schluckte erneut bei der Vorstellung, noch einmal von diesem Mann geküsst zu werden und wandte mich nervös, aber auch voller Vorfreude, ab.

"Wo sind jetzt meine Schuhe?", murmelte ich, mich im Raum umsehend, während ich meine Schuhe für Innen, die nun dank Ben's kleinem Abenteuer auch nicht mehr danach aussahen, abstreifte.

"Ich geh dann mal wieder in die Küche und backe den Nachtisch", sagte Martha übertrieben laut, im Begriff, sich diskret zurückzuziehen und uns alleine zu lassen, und warf Eve einen vielsagenden Blick zu, den diese gekonnt ignorierte. Die Gute hatte es sich neben Ben auf der Bank gemütlich gemacht und beobachtete die ganze Szenerie, als wäre sie im Kino. Am liebsten hätte sie wahrscheinlich eine Cola in der Hand und einen Popcorneimer auf dem Schoß gehabt, dann wäre sie vollauf zufrieden.

"Es gibt Kuchen", fügte Martha erklärend an Sean hinzu, der etwas verwirrt schien, sich aber nicht aus der Ruhe bringen ließ.

"Käsekuchen?", hakte er höflich nach und ich nahm mir vor, ihn später zu fragen, ob das sein Lieblingskuchen war. Man konnte ja nie wissen.

"Nein, Schokoladenkuchen. Bei den Kindern sehr beliebt", erklärte Martha, fast so, als müsste sie sich für diesen einfallslosen Nachtisch entschuldigen. "Eve, hilfst du mir in der Küche?"

Martha's Blicke, die sie Eve zuwarf, wurden langsam strenger und drängender, aber diese hörte gar nicht hin. "Eve! Hast du gehört?"

"Hm?"

"Ich brauche deine Hilfe in der Küche", presste unsere Pseudo-Köchen durch zusammengebissene Zähne hervor und nickte nicht sehr subtil mehrmals Richtung Küche.

Eve warf uns noch einen enttäuschten Blick zu, bis sie Matha's Aufforderung nachkam.

"Na dann viel Spaß." Sie winkte fröhlich, obwohl wir uns noch nicht einmal in Bewegung gesetzt hatten. Ich schaute mich um, ob irgendwo meine Schuhe unter den Bänken zu finden waren.

"Bis dann." Sean hob zum Abschiedsgruß lässig die Hand.

"Ja, dir auch..", nuschelte ich abwesend, als ich sie endlich entdeckte und in die Hocke ging, um sie hervorzufischen.

"Ja, danke", erwiderte sie trocken und warf einen bedeutungsvollen Blick auf Ben, der einen Meter von mir entfernt immer noch auf der Bank saß, sein blondes Haar ganz durcheinander, und versuchte, sich die Schuhe anzuziehen. Leider falsch herum.

Ich unterdrückte ein Lachen und holte meine eigenen hervor.

Ben blickte auf.

"Gehst du schon?", wollte er wissen und schaute mich mit geweiteten Augen an.

Ich nickte. "Ja."

"Oh nein!" Er sprang auf, wollte einen Schritt auf mich zu machen und stolperte über seine eigenen Füße, mit jeweils dem falschen Schuh dran. Instinktiv lehnte ich mich vor und streckte die Arme aus und genau dort landete er auch.

Erleichtert stieß ich die Luft aus, doch Ben lachte nur.

"Du hast deine Schuhe übrigens falsch herum an", bemerkte ich trocken und als er sich wieder aufrichtete, grinste er mich an.

"Kannst du nicht noch kurz bleiben? Ich wollte dir noch so gerne zeigen, wie gut ich meinen Namen schreiben kann! Meine Mama hat mir das beigebracht, weißt du?"

Die Anmerkung mit den Schuhen überging er einfach und klang so stolz, dass nicht anders konnte und Sean einen bittenden, zerknirschten Blick zuwarf. Seine Mittagspause konnte ja nicht ewig dauern, aber so hoffnungsvoll, wie Ben mich anschaute...

"Haben wir noch zwei Minuten Zeit?", fragte ich vorsichtig, doch Sean reagierte sofort. Er nickte nur lächelnd.

"Wir haben alle Zeit der Welt", bemerkte er und schaute mich dabei bedeutungsschwer an, sodass mir in den Sinn kam, er meinte nicht nur die Sache mit Ben's Namen.

"Super, klasse", jubelte Ben, noch bevor ich mir etwas auf Sean's Bemerkung einbilden konnte, und zog mich am Ärmel in seinen Gruppenraum.

Ich winkte Sean zu und bedeutete ihm, mitzukommen.

Ben ließ sich am Tisch nieder, wo Louisa, ein sechsjähriges Mädchen mit flachsblonden Haaren und einer niedlichen Stupsnase, alleine saß und etwas malte. Sie warf ihrem Freund einen genervten Blick zu und pustete sich das Pony aus dem Gesicht.

Louisa war oft etwas herablassend und überheblich, aber im Grunde doch ein nettes Mädchen. Und im Herbst würde sie in die erste Klasse kommen. Sie und Ben waren gute Freunde, vor allem dann, wenn er sich von ihr herumkommandieren ließ.

Sean und ich setzten uns an den kleinen Tisch, auf dem Papier und Stifte dank Louisa schon bereitlagen, dazu.

Mit großen, schiefen Buchstaben brachte Ben es hochkonzentriert nach einer schier endlos langen Zeit fertig, das WORT "BENJAMIN" zu schreiben. Schief und krakelig, aber nichtsdestotrotz erkennbar.

Ich jubelte begeistert, Sean verhielt sich eher still und Louisa schaute recht verdrießlich drein.

"Das kann doch jeder, seinen Namen schreiben", beschwerte sie sich, doch Ben ignorierte sie.

"Kannst du mir deinen Namen auch aufschreiben, Emily?", wollte er wissen und schob mir sein Blatt zu.

Ich weiß, so was sollte man nicht denken oder tun, aber zu meiner Schande musste ich gestehen, dass ich Ben mit der Zeit richtig lieb gewonnen habe. Man könnte fast sagen, er war mein Lieblingskind in der ganzen Gruppe. Er war unglaublich süß und lieb und ich war mir sicher, er würde später mal die Herzen aller Frauen brechen... Natürlich sagte ich niemandem, dass es so war, denn das war sicherlich sehr unprofessionell. Ich versuchte trotzdem, mich den anderen Kindern genauso zu verhalten und im Grunde mochte ich sie ja alle, aber Ben war einfach zu süß für diese Welt.

Schnell und ebenfalls in Großbuchstaben notierte ich meinen Vornamen.

Louisa bedachte Sean mit einem misstrauischen Blick. "Und wie heißt er?", hakte sie nach. "Ist das dein Freund?" Das Wort "Freund" sprach sie mit einer solchen Abfälligkeit aus, dass ich nicht wusste, ob ich mich schämen oder über ihre Einstellung schmunzeln sollte.

Verdammte Kinder... die meiste Zeit über waren sie ja sehr süß, aber wenn sie erst mal anfingen, sich in Privatsachen einzumischen...

"Ähh... das ist Sean... Das ist, äh, sein Name", stammelte ich verlegen und entschied, die Freund-Frage einfach zu ignorieren. "Er ist Polizist", fügte ich noch hilfreich hinzu, nur für den Fall, dass sie meinen Sabotageversuch bemerken sollte.

Sofort hatte ich die Aufmerksamkeit beider Kinder auf meiner Seite - oder sollte ich besser sagen: Sean hatte sie auf seiner Seite?

Ben und Louisa starrten ihn mit unverhohlener Bewunderung und Ehrfurcht an.

"Ehrlich? Cool!" Ben war ganz außer sich. "Wenn ich groß bin, werde ich auch mal Polizist. Oder Feuerwehrmann", fügte er schnell hinzu. "Aber meine Mama erlaubt mir nicht, mit Feuer zu spielen, also doch Polizist." Er schien wirklich hart zu überlegen.

Sean lachte, kam jedoch nicht zum Antworten.

"Haben Sie schon einmal jemanden getötet?", wollte Louisa wissen, eingeschüchtert und respektvoll zugleich. Sie erinnerte mich irgendwie an mich selbst...

Ebenfalls neugierig schaute ich ihn an. Diese Frage war mir auch schon in den Sinn gekommen, aber so etwas konnte man ihn doch nicht fragen. Und vor allen Dingen: die Antwort wollte ich gar nicht wissen.

"Nein, habe ich nicht", antwortete Sean. Was sollte er einer Sechsjährigen auch sonst erzählen? Aber ob das die Wahrheit war?

Da fiel mir noch etwas anderes ein und ich wurde ganz unruhig.

"Hast du deine, ähm, na, du weißt schon..."

Er verstand sofort.

"Hab ich im Auto gelassen", nickte er ernst. "Das ist eigentlich verboten, aber was soll's."

Ich lehnte mich entspannt zurück. Wenigstens hatte er den Anstand, einen Kindergarten voller unberechenbarer Rotzgören ohne eine geladene Waffe zu betreten. Und auch ich fühlte mich so um ein vielfaches sicherer.

"Schaut her!", rief Ben, der Nimmersatt. "Ich kann ein Polizeiauto malen!"

Und er schnappte sich einen Stift und begann eifrig, sein Blatt Papier zu bearbeiten.

"Ich kann das besser!" Louisa rümpfte die Nase, griff sofort ebenfalls zu einem Stift und tat es ihm gleich.

Ben feixte. "Emily kann das bestimmt nicht."

"Aber Sean kann das!", konterte ich - das durfte ich nicht auf mir sitzen lassen - und schob Sean augenblicklich Blatt und Buntstift zu. "Rette meine Ehre", wisperte ich ihm zu. "Diese Dreikäsehochs dürfen mich nicht schlagen."

Er grinste und machte sich an die Arbeit.
 

"Herrgott, was ist denn hier los?"

Es war Julie, die hereingepoltert kam und auf der Stelle stehen blieb, als sie uns vier seltsamen Gestalten an dem kleinen Tischchen sitzen und munter auf dem herumliegenden Papier malen sah.

"Oh Julie." Mir war das Ganze plötzlich irgendwie peinlich. Ich grinste entschuldigend. "Was machst du denn hier?"

Julie und ich waren heute diejenigen, die früher gehen durften. Morgen waren also Martha und Eve an der Reihe. Das System hatten wir uns überlegt, da nur noch wenige Eltern das Ganztagsangebot beanspruchten und somit nicht wir alle vier anwesend sein mussten.

Diejenigen, die länger blieben, kamen also etwas später, während die, die mittags schon frei hatten, zwei Stunden früher kamen und Frühstück und alles andere vorbereiteten.

Zwei mal die Woche hatten wir also früher frei und zusätzlich jeden zweiten Mittwoch.

Sie betrachtete uns verwirrt. "Ich hab meinen Schlüssel hier irgendwo rumliegen lassen", erklärte sie entgeistert, ohne ihren Blick von uns loseisen zu können.

Da machte es klick. "Ist es zufällig der da?" Ich nickte zum Regal herüber, das gerade so hoch angebracht war, dass kein Kind dort herankommen konnte. Dort bewahrten wir alles auf, was die Knirpse nicht in die Finger bekommen sollten.

Julie schaute nach. "Ja, das ist er." Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus. "Und ich dachte schon..."

Dann sah sie mich mit strengem Blick an. "Was machst DU eigentlich noch hier? Du hast heute frei, schon vergessen?"

"Äh, ja, aber...", stotterte ich, doch Ben kam mir zu Hilfe.

"Emily musste sich noch angucken, wie ich meinen Namen schreiben kann und dann haben wir Polizeiautos gemalt!", erklärte er freudestrahlend und in seiner ganzen Unschuld. Ich wollte ihn am liebsten drücken!

Julie seufzte und schüttelte missbilligend den Kopf. Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich wusste, dass sie mir am liebsten gesagt hätte, ich sollte mich nicht ständig von den Kindern aufhalten lassen, wie schon so oft, aber angesichts der Tatsache, dass Sean anwesend war und sie höchstwahrscheinlich ahnte, wer er war, verkniff sie sich zum Glück diese Bemerkung und rief stattdessen nach Martha.

Diese war sofort zur Stelle und klatschte in ihre mehlbedeckten Hände, sodass dadurch eine staubige Mehlwolke entstand, die kurz vor ihrem Gesicht schwebte.

Als sie uns sah, verengten sich ihre Augen. "Was macht ihr denn noch hier? Ich dachte, Ben und Louisa spielen so ausgelassen, aber das seid ihr!"

"Wir gehen dann jetzt, hab ein Auge auf die zwei, in Ordnung?" Julie fixierte mich und nickte in Richtung Tür. Ihre Art, um mir zu bedeuten, dass es Zeit war, zu gehen. Und sie hatte Recht... schließlich hatte ich eine Verabredung mit Sean - gehabt?!

"Kommt Kinder, wir backen!", verkündete Martha, der Engel, und beide sprangen sofort auf und verkrümelten sich, ohne auch nur "Tschüss" zu sagen. So einfach war das also, warum war ich nicht von selbst drauf gekommen?

Ich richtete mich auf und er tat es mir gleich. Julie und Martha verließen den Raum.

"Oh je, das waren wohl mehr als zwei Minuten, tut mir leid." Ich sah ihn zerknirscht an, er schüttelte nur den Kopf.

"Ganz und gar nicht, es war doch sehr lustig." Er lächelte. "Hast du Hunger?"

Hatte ich Hunger? Gute Frage. Ich horchte tief in mich hinein, um auf eine Reaktion meines Magens auf diese Frage zu horchen. Er gab nichts von sich.

"Eigentlich nicht", gab ich zu. Vielleicht hätte ich den Kuchen nicht essen sollen?

Er zuckte mit den Schultern. "Vielleicht hast du ja lieber Lust auf einen Kaffee? Ich glaube, um die Ecke gibt es ein kleines Café, oder?"

Das Café kannte und liebte ich. Nicht selten huschte eine von uns kurz rüber, mit einer Sammelbestellung von uns allen bepackt, um uns die weltbesten Kuchen mitzubringen.

"Ja, dort gibt es den besten Kuchen!", begeisterte ich mich und schnappte mir meine Jacke vom Haken, über dem ein Aufkleber eines Kängurus prangte. Der Haken war frei, weil der Kindergartenplatz noch frei war, also benutzte ich ihn hin und wieder.

Er lachte und hielt mir die Tür auf, legte seine andere Hand leicht an meinen Rücken, um mich herauszugeleiten.

In diesem Moment steckte Eve ihren Kopf aus der Küche heraus und flötete: "Viel Spaß, ihr zwei, und tut nichts, was ich nicht auch tun würde!"

Ich errötete und schlüpfte so schnell wie möglich aus dem Gebäude, ohne mich noch einmal nach Eve umzudrehen.

Sean sagte zu meiner peinlichen Freundin auch nichts und hielt mir nur mit einem auffordernden Lächeln den Arm so hin, damit ich mich einhaken konnte. Geschmeichelt und dankbar nahm ich sein Angebot an und genoss es, so nah bei ihm zu sein.

Wir schlenderten gemütlich in das kleine Lokal, zum Glück hatte es aufgehört zu regnen.

Sean hielt mir die Tür auf, im Hintergrund dudelte leise Musik und die Beleuchtung war angenehm und eher diskret.

Wir ließen uns in einer kleine Nische nieder und ich lächelte ihn schüchtern an. Das war für mich immer noch alles wie ein surrealer Traum.

"Tut mir leid", sagte ich noch einmal schuldbewusst. "Jetzt musst du dich mit dem Kuchen echt beeilen, damit du wieder rechtzeitig bei der Arbeit bist."

Er schenkte mir ein nachsichtiges Lächeln. "Hör auf, dich zu entschuldigen. Ich habe selbst eine fünfjährige Nichte, ich weiß also, wie das ist."

Ich horchte auf. "Ach ja?"

Er nickte. "Ja, die Tochter meiner älteren Schwester und meines besten Freundes."

Ich dachte kurz nach. Ich wusste ja schon, dass seine Schwester zwei Jahre älter war als er. "Also ist dein bester Freund zwei Jahre älter als du", folgerte ich, ziemlich scharfsinnig wie ich fand, aber er grinste nur schief und schüttelte den Kopf.

"Nein."

Nein? Plötzlich interessierte mich die Frage, wie alt Sean wohl sein könnte, brennend. Ich hatte mich bis jetzt nicht wirklich damit befasst. Dass er älter war als ich, das stand fest, aber wie viel älter? Ich war leider miserabel im Schätzen, also war er meiner Meinung nach irgendwas zwischen 20 und 30 Jahre alt. Wie gesagt: miserabel!

Aber wie würde ich das herausfinden können? Ihn zu fragen, das traute ich mich nicht wirklich. Was wäre, wenn er doch zu alt war und die Antwort mir nicht gefallen würde? 35 oder so... 14 Jahre älter! Ich glaubte das zwar nicht, aber wer konnte es schon so genau wissen?

Nervös rutschte ich auf meinem Platz hin und her, als die Kellnerin kam, um unsere Bestellung aufzunehmen.

"Emily?", fragte Sean abwesend, aber höflich, während er die Karte studierte, die ich selbstverständlich fast auswendig kannte. Aber konnte ich alles bestellen, auch Kuchen? Soweit ich wusste, hatte er nur etwas von einem Kaffee gesagt.

"Ich nehme äh... einen Cappuccino", entschied ich zaghaft und erntete ein verwunderten Blick.

"Keinen Kuchen? Ich dachte die wären so gut. Ich glaube, ich nehme einen Kaffee... und den Käsekuchen." Ich hatte also Recht! Käsekuchen war sein Lieblingskuchen. Er schaute mich an. "Und für dich?"

"Umm... den Himbeerkuchen?", schlug ich unsicher vor. Er lächelte mir und dann der Kellnerin zu, die sich gelangweilt alles aufschrieb.

"Und den Himbeerkuchen", fügte er der Bestellung hinzu und das gelangweilte Mädchen verließ unseren Tisch.

Sean nahm unser Gespräch wieder auf. "Mein Freund ist auch zwei Jahre jünger als meine Schwester." Er grinste, als er meinen überraschten Gesichtsausdruck bemerkte.

Nicht, dass ich intolerant war oder so, aber trotz allem war es doch eher ungewöhnlich, dass Frauen sich jüngere Männer angelten und andersrum. Hörte man nicht immer von viel zu alten Männern, die lieber jüngere Frauen bevorzugten? Anscheinend funktionierte das auch andersherum... obwohl zwei Jahre, wie in diesem Fall, ja nicht wirklich die Welt waren.

Wie auch immer, ich musste zugeben, dass meine Sicht der Dinge wohl veraltet und nicht ganz auf dem neuesten Stand war.

Sean, der meine Mimik während all dieser Überlegungen zu beobachten schien, zuckte belustigt mit den Schultern. "Evan war schon immer eher auf der Überholspur unterwegs." Bei dieser Bemerkung verdüsterte sich sein Ausdruck für den Bruchteil einer Sekunde und er warf einen traurigen Blick auf die Tischplatte vor sich, doch als er wieder zu mir aufschaute, war der Ausdruck genau so schnell wieder verschwunden, wie er sich eingeschlichen hatte.

Hatte ich mir das nur eingebildet? Ich blinzelte etwas verwirrt, aber Sean ließ sich nichts anmerken. Stattdessen erzählte er mir von seiner kleinen Nichte, die vor kurzem erst fünf geworden war und Holly hieß. Am Samstag war er unterwegs gewesen, um seine Schwester zu besuchen, nachdem er bei mir vorbeigeschaut hatte.

Die Bedienung kam und stellte unsere Bestellungen vor uns ab. Sean kippte sich Zucker in den Kaffee. Aha, zwei Löffel, notierte ich mir in meinem Hinterstübchen.

Dann nahm er seine Gabel, ich tat es ihm gleich, und wir beide waren für einen kurzem Augenblick still und genossen unsere Kuchen.

Ich war immer noch schwer damit beschäftigt, eine Strategie zu entwickeln, wie ich ganz einfach, ohne ihn zu fragen, herausfinden könnte, wie alt er war.

Dass er wusste, wie alt ich war, konnte ich mir denken - immerhin hat er ja bereits meinen Personalausweis mit diesem schrecklichen Foto darin gesehen.

"Wie alt ist deine Schwester noch mal?", hakte ich nach und tat so, als hätte ich das vergessen.

Er antwortete prompt. "Zwei Jahre älter."

Mist, das ging dann wohl in die Hose.

"Ach so", sagte ich, etwas peinlich berührt, und fühlte mich ein wenig dumm, wofür er mich nun vermutlich auch hielt. Und für unaufmerksam wohl noch dazu. "Und wann hat sie Holly bekommen?"

Er lachte. "Na, vor fünf Jahren."

Dieser Kerl war aber auch nicht zu knacken. Ich warf ihm einen kurzen, unzufriedenen Blick zu, bevor ich mich wieder besann und versuchte, so gleichmütig wie möglich zu gucken.

Die Frage seines Alters nagte an mir. Nun, da ich wusste, dass er absolut informationsundurchlässig war, natürlich noch viel mehr als zuvor.

Er musterte mich prüfend und legte dann seine Gabel neben seinen Teller auf die Serviette.

"Emily." Seine grünen Augen funkelten amüsiert, als ich mich ihm zuwandte und ihn fragend ansah.

"Kann es sein, dass du gerade versuchst, herauszufinden, wie alt ich bin?", grinste er.

Ich wurde rot und fing an, rumzustottern. Ich war wirklich leicht zu durchschauen, das musste ich irgendwie ändern! Am besten so schnell wie möglich.

Er achtete nicht auf meinen stammelnden Protest. "Ich bin 25. Warum hast du nicht einfach direkt gefragt?", wollte er freundlich wissen.

"Ich wollte nicht unhöflich sein", druckste ich beschämt herum, immer noch peinlich berührt, dass er mich so einfach geknackt hatte, obwohl das eigentlich MEIN Plan gewesen war.

Er verkniff sich ein Lachen. "Ich dachte, dieses Tabu würde nur für Frauen gelten?"

"Und für alte Menschen", fügte ich schnell hinzu, erleichtert, dass er das nicht allzu eng sah. Und dann biss ich mir wieder erschrocken auf die Unterlippe. Dachte ich eigentlich jemals nach, bevor ich meinen großen Mund aufmachte?!

Er hob eine Augenbraue. "Soll das etwa heißen, ich sei alt?"

Oh Gott... Du dumme Kuh, schimpfte ich mich innerlich und schüttelte schnell den Kopf. "So meinte ich das nicht", beeilte ich mich hastig zu sagen und stotterte noch ein paar Entschuldigungen hinterher, als ich sein Grinsen bemerkte, das er verzweifelt und erfolglos zu unterdrücken versuchte.

Ich unterbrach mich und warf ihm einen empörten Blick zu. "Du nimmst mich auf den Arm", warf ich ihm vor und sein Lächeln wurde breiter.

"Ein bisschen", gab er mit einem hilflosen Schulterzucken zu, doch es fiel mir auf, dass er sich nicht dafür entschuldigte. "Sei nicht böse", bat er mich stattdessen lächelnd und mein Widerstand schmolz mal wieder dahin, genauso wie ich selbst auch - wie Margarine in der heißen Mittagssonne.
 

Als er mich nach Hause brachte, beschäftigte ich mich mit der Frage, inwieweit der Altersunterschied von vier Jahren relevant war. Ein bisschen schüchterte es mich ja schon ein, wie viel Erfahrung und Weisheit musste er mir voraus haben? Aber er war nicht einer dieser sprunghaften Jungen, die ich noch aus der Schulzeit kannte, und das war gut.

Ich hatte noch nie einen vier Jahre älteren Freund gehabt. Sean schien so verantwortungsbewusst und reif, dass ich mich in seiner Gegenwart so sicher vorkam, aber andererseits auch irgendwie kindisch und klein, vor allem, wenn ich mit Sand im Gesicht, als sei ich gerade dem Sandkasten entstiegen, vor ihm stand oder gegen die dämliche Bande beim Schlittschuhlaufen fuhr. Allerdings war das auch schon so gewesen, bevor ich wusste, wie alt er war.

Also, beschloss ich, machte der Altersunterschied gar nichts. Es wäre sowieso egal, denn ob er nun vier Jahre älter oder jünger war, ich war ihm so oder so schon hoffnungslos verfallen.

Nach diesem schönen Nachmittag mit ihm schwebte ich wie auf Wolke sieben. Er hatte seine Mittagspause um eine halbe Stunde verlängert – unerlaubt - um noch gemütlich den Kuchen aufzuessen und mich nach Hause fahren zu können, obwohl ich ihm natürlich versicht hatte, dass das nicht nötig wäre. Er wollte nichts davon wissen und außerdem hatte es wieder zu regnen angefangen. Aprilwetter halt.

Als ich meine Tür aufschloss, kribbelte es in mir bei dem Gedanken daran, was sich vor zwei Tagen dahinter, in meiner Wohnung, abgespielt hatte und unweigerlich stellte ich mir die Frage, ob heute, genauer gesagt jetzt gleich, eine Wiederholung all dessen drin war.

Ich trat ein und hielt ihm die Tür auf, doch er folgte mir nicht, sondern legte den Kopf schief und blickte die Fußmatte an. Dann beugte er sich runter und hob einen zusammengefalteten, weißen Zettel auf, den ich gar nicht gesehen und wahrscheinlich darauf rumgetrampelt hatte.

"Hier ist etwas für dich", sagte er und kam in meine Wohnung. Ich schloss die Tür und nahm ihm den Zettel ab.

Da er nicht in einem Umschlag steckte und auch sonst nichts drauf stand, nahm ich an, es wäre vielleicht eine Nachricht von einem der Nachbarn.

Ich faltete ihn auf und las. Sean stand schräg hinter mir und konnte über meine Schulter wunderbar mitlesen.

Er sog hörbar die Luft ein und griff nach dem Zettel, während ich mir verwirrt mit einer Hand die Haare aus dem Gesicht strich.

Es war eine einfach verständliche Nachricht, wahrscheinlich am Computer geschrieben und ausgedruckt.
 

"Ich beobachte dich. Pass auf, was du tust."
 

Unterschrieben war sie natürlich nicht.

"Was bedeutet das?", wollte ich verblüfft wissen. "Ist das ein Scherz?"

Er musterte mich kurz, sein Gesicht ernst und angespannt.

"Klingt eher nach einer Drohung, Emily", versuchte er mir vorsichtig beizubringen und wartete auf ein Zeichen eines hysterischen Anfalls oder etwas ähnlichem.

Ich schüttelte verwundert den Kopf. "Quatsch. Wer sollte mir drohen und warum? Das ist sicherlich nur ein Kinderstreich."

Ich klang ganz selbstsicher, als ich das sagte. Es stimmte doch. Wieso sollte mir irgendwer drohen und warum und wer überhaupt? Ich hatte doch gar nichts Falsches gemacht, niemanden verärgert und eine absolut blütenweiße Weste. Ich hatte mir nichts vorzuwerfen.

"Das muss irgend so ein dämlicher Kleinjungenstreich sein", winkte ich ab und nahm Sean den Zettel aus den Händen, um ihn zu zerknüllen und anschließend in den Papierkorb zu schmeißen.

"Bist du sicher?", wollte er besorgt wissen. "Viele nehmen so was nicht ernst und dann..." Er brach ab und ich war ganz froh drum, dass er nicht weitersprach. Das wollte ich gar nicht wissen. "Sollten wir das nicht lieber überprüfen?"

Ich schüttelte den Kopf. Was sollte die Polizei schon tun? Es war schließlich nur ein Stück Papier. Aber Sean sah so besorgt aus, dass ich das Verlangen verspürte, ihn zu beruhigen und zu trösten.

"Das passiert mir ständig", log ich grinsend. "Es ist wirklich nicht der Rede wert!"

Seine Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. "Du wurdest schon öfter bedroht?", wollte er nun wissen, nicht mehr besorgt, sondern hochgradig alarmiert. Da hatte ich mal wieder die falschen Worte gewählt, ich Hornochse. Gleich würde er eine ganze Armee bei mir einmarschieren lassen und mich in Schutzhaft stecken, wenn ich die Sache nicht sofort wieder bereinigte.

"Äh, ich meine", stammelte ich, "die Jungs von oben haben 'nen echt fragwürdigen Humor, ehrlich", beteuerte ich, kurz vor einem Schweißausbruch, und grinste ihn unsicher an.

"Ach ja?", wollte er misstrauisch wissen. Ich nickte. "Vielleicht solltest du mal mit den Eltern reden...?"

Er sah zwar immer noch nicht so aus, als ob er mir hundertprozentig glaubte, aber das war besser als nichts.

"Gute Idee!", rief ich begeistert und absolut nervös, als wäre ich selbst nicht darauf gekommen und hörte das zum ersten Mal. Ich kam mir vor, wie eine totale Idiotin. "Das werde ich gleich machen!"

Er studierte mich kurz, dann musste er schief grinsen. "Du bist mir vielleicht ein Exemplar...", sagte er mit absolut sanfter Stimme, sodass es fast klang, wie ein Kompliment, und sein Ausdruck wurde dabei wieder viel weicher.

Wie er mich so ansah, wurde mir ganz mulmig zu Mute und tausend Schmetterlinge regten sich in meiner Bauchgegend.

"Du kommst zu spät zur Arbeit", erinnerte ich ihn mit piepsiger Stimme, als er mir eine Hand auf die Wange legte, mit dem Daumen drüberstrich und diese schließlich in meinen Nacken wanderte, während er mich an sich zog und mir auf halben Wege entgegenkam.

Unsere Lippen trafen sich zu einem Feuerwerk, in meinem Nacken kribbelte es angenehm und unbewusst hielt ich mich an seinem Hemd fest, während ich mich ihm auf Zehenspitzen entgegenstreckte.

Als er von mir abließ, war ich schon wieder ganz benommen und irgendwo in einer wolkenweichen, himmelblauen Parallelwelt.

"Wenn so was aber noch mal passiert, dann lässt du es mich wissen, in Ordnung?", versicherte er sich, wieder ganz geschäftsmäßig.

Ich nickte taumelnd und rang mir ein beduseltes, dämliches Lächeln ab. Problem war nur, ich konnte gar nicht mehr aufhören, zu lächeln.

Als er ging, sagte er doch tatsächlich die vier Worte, die auf Platz drei einer jeden Frau standen, gleich nach "Ich liebe dich" und "Willst du mich heiraten?": "Ich ruf dich an."

"Okay", erwiderte ich in pseudotrunkener Glücksseligkeit und schloss die Tür hinter ihm.

Ich war nicht blöd. Ich wusste, dass ein "Ich ruf dich an" nicht gleichbedeutend mit der Tatsache war, dass das gegenwärtige Objekt der Begierde es auch tatsächlich tun würde.

Aber Sean würde, da war ich mir sicher.

Na gut... vielleicht war ich doch blöd. Welche Frau war sich schon mal NICHT sicher gewesen, dass das gegenwärtige... und so weiter, sie tatsächlich anrufen würde?

Aber, wirklich, ich war mir absolut sicher!

Knights In Shining Armour

Ein bisschen beunruhigt war ich ja schon. Ich hatte Sean natürlich angelogen, was diesen seltsamen Zettel auf meiner Türmatte anging, aber was hätte ich auch anderes tun sollen?

Nachdem er weg war und ich mich wieder einigermaßen erholt hatte, fischte ich das Blatt doch wieder aus dem Papierkorb heraus und faltete es auseinander.

Die Nachricht war immer noch dieselbe, nichts hatte sich verändert.

Sollte ich das wirklich ernst nehmen, wie Sean gesagt hatte? Oder war es wirklich nur ein dummer, schlechter Scherz? Was auch immer es sein mochte, es lieferte keinerlei Hinweise und so kam ich auch nicht weiter.

Ich seufzte und das Blatt landete wieder dort, wo es hingehörte: im Müll.
 

"Verflixt noch mal...", murmelte ich, als der Regen einsetzte. Vor zwei Minuten schien noch heiter die Sonne und von gleich auf jetzt hatte sich der Himmel verdunkelt und nun goss es wie aus Eimern.

Ich hatte natürlich keinen Regenschirm dabei.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, ein bisschen durch die Stadt zu bummeln und mich nach ein paar neuen Klamotten umzusehen, aber heute schien nicht unbedingt mein Glückstag zu sein. Ich fand nichts, was mich besonders umhaute und war mit den Gedanken sowieso woanders.

Bei Sean, um genauer zu sein - wer hätte das gedacht?

Drei Tage war unser letztes Treffen nun her, doch bis jetzt hatte er noch immer nicht angerufen und mich davor bewahrt, auch den letzten meiner Nägel anzuknabbern.

Verdrießlich und schlecht gelaunt sah ich mich nach Ablenkungsmöglichkeiten um und vergaß dabei fast, dass es in Strömen regnete. Meine Haare waren mittlerweile ganz nass, aber meine Jacke war zum Glück wasserdicht. Was man von meinen Jeans nicht unbedingt behaupten konnte... Kalt und eklig klebte sie an meinen Beinen, die Kälte kroch langsam in meine Glieder und ich begann, zu frösteln.

Mein Blick fiel auf das riesige, graue Gebäude der Polizei. Stimmt ja... am Ende der Einkaufsstraße war das Revier. Es war schon immer hier gewesen, aber mich hatte es nie sonderlich interessiert.

Bis jetzt natürlich. Sofort vergaß ich, dass ich mich eigentlich ablenken wollte und starrte das Bauwerk an. Ob sich hinter einem dieser Fenster Sean's Büro befand? Ob er jetzt gerade dort war? An seinem Schreibtisch saß und "Papierkram" ausfüllte und dabei nicht gerade glücklich aussah? Oder war er vielleicht gerade in einem dieser blau-weißen Polizeiwagen unterwegs und jagte Verbrecher?

Sean auf Verbrecherjagd. Dieser Gedanke setzte sich fest und ich sponn ihn noch ein wenig weiter. Vor meinem inneren Auge erschien er als attraktiver James Bond-Verschnitt im Anzug, cool und unnahbar und niemals die Nerven verlierend. Attraktiv und sexy und gefährlich und...

"Emily?!", meldete sich eine entsetzte, fast schrille Stimme hinter mir, die mich aus meiner Fantasiewelt wieder in die Realität zurückholte. Leider.

Nichts Gutes ahnend drehte ich mich langsam um, in der Hoffnung, der Besitzer dieser Stimme, die ich zugegebenermaßen schon lange nicht mehr gehört hatte, würde sich in dieser Zeit in Luft auflösen, aber mein Wunsch blieb natürlich unerfüllt.

Ein braunes, geschocktes Augenpaar stierte mich an und ich war mir sicher, ich starrte ebenso geschockt zurück. Wär ich doch nur in meiner Fantasiewelt geblieben!

Zu dem Augenpaar gehörte selbstverständlich auch ein Gesicht, ein Kopf und ein Körper und zu dem Körper gehörte ein weiterer Körper mit Kopf, eingehakt und dicht an ihn geschmiegt und mich misstrauisch beäugend.

Oh Goooott. Wieso immer ich?

Schweigend glotzte ich Tom an. Die Haare klebten mir im Gesicht und Regentropfen perlten an meinen Wimpern hinunter, meine Haare waren plattgedrückt vom Wasser und zu allem Überfluss hielt Tom, der edle Ritter, seiner überaus hübschen Freundin und sich einen Regenschirm über die Köpfe.
 

Genau, das war Tom. Ich hatte schon ziemlich lange nicht mehr an ihn gedacht und es hatte mich lange Zeit gekostet, endlich über ihn hinwegzukommen, nachdem er mich so gnadenlos abserviert und mich auch noch belogen hatte.

Es reichte ihm nicht, mich einfach sitzen zu lassen, nein, er musste mich wegen einer anderen sitzen lassen und zu allem Überfluss - das war wirklich das Schlimmste und Widerlichste - war er mit dieser anderen, zufälligerweise genau der, die sich da gerade so erbärmlich an ihn drückte, schon zusammen, als er mit mir noch nicht auseinander war. Und das ganze drei Monate lang! Was das übersetzt im Klartext bedeutete, konnte man sich ja denken.

Zwei Eisen im Feuer. Zwei Frauen im Bett.

Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass es zwei verschiedene Betten waren, sonst wäre ich wahrscheinlich vor Panik und Ekel aus dem Fenster gesprungen. So aber empfand ich nur Ekel und Abneigung.

Es war wirklich widerlich. Ich war zwar ein mehr oder weniger ausgeglichener Mensch, na ja, meistens zumindest, aber nachdem ich das erfahren hatte, war ich wochenlang in einer Art wütendem Dauerzustand und hab alle um mich herum verrückt gemacht, indem ich wegen jeder Kleinigkeit fürchterlich aufgebracht war und auch mit Kritik nicht hinter dem Berg halten konnte. Zum Glück haben mich weder meine Freunde, noch meine Familie an die Luft gesetzt und mich einfach als "unzurechnungsfähig" abgeschrieben, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Heute zumindest. Damals kam mir deren Haltung unglaublich selbstgerecht vor und ich fühlte mich mehr als nur unverstanden. Ich war sozusagen ein Pulverfass und eine einzige falsche Bewegung hatte ausgereicht, um mich losgehen zu lassen wie einen höchst explosiven Vulkan.

Irgendwann hatte ich mich beruhigt, wenngleich ich tief im Inneren immer noch wütend war, doch das geriet mit der Zeit in Vergessenheit und tatsächlich war es schon ganze acht Monate her, dass ich Tom das letzte Mal gesehen habe. Die Phase der Trauer hatte ich einfach übersprungen, weshalb auch immer, aber das war auch besser so. Diesem Verräter wollte ich keine einzige Träne nachweinen.
 

Warum musste mir immer so was passieren? Hier stand ich nun, nassgeregnet und bestimmt alles andere als atemberaubend schön. Ein Zustand, in dem man seinem Ex nicht begegnen wollte. Und seiner neuen Flamme mit dem wallenden, blonden Haar schon gar nicht.

Tom's Ausdruck wechselte von entgeistert zu überheblich.

"Lange nicht gesehen", stellte er fest und entspannte sich ein wenig, musterte mich abschätzig von oben bis unten und hob unmerklich die Augenbrauen, als wollte er sagen: was für ein Glück, dass ich diese dumme Pute noch rechtzeitig losgeworden bin.

Zu allem Überfluss tat seine Freundin, die an seinem Arm klebte, dasselbe.

Zwei gegen eine war wirklich ungerecht, oder? Ich war mir sicher, dass ich unter ihren Blicken um einige Zentimeter schrumpfte und wünschte mir, einfach - plopp! - zu verschwinden. Unglaublich, wie manche es mit nur einem Blick schafften, dass man sich fühlte, wie der totale Idiot.

"Ja, stimmt", nuschelte ich und ließ mich beregnen, während mir ein Wasserfall vom Kopf floss.

"Tania kennst du ja." Er nickte kurz mit dem Kopf in Richtung seiner Freundin.

Ja genau... Tania, die all die Zeit über von meiner Existenz wusste und trotzdem skrupellos mit meinem Freund rumgemacht hatte! Ja, ich kannte sie.

Ich spürte, wie ein kleiner Funke Wut wieder in mir hochstieg, obwohl ich eigentlich gedacht habe, ich hätte das überwunden. Aber das war das erste Mal, dass ich den beiden von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand und sie erdreisteten sich auch noch, so zu tun, als wäre ICH hier der dreckige Schleim unter den verfaulten Fußbodendielen!

"Und?", hakte Tom mit einem arroganten Lächeln nach, noch bevor ich etwas sagen konnte. "Arbeitest du immer noch im Kindergarten?"

Er sprach "Kindergarten" so verächtlich aus, als würde ich irgendwo in einer drittklassigen Disko die Klos putzen.

Außerdem... was sollte die Frage? Ich hatte dort meine Ausbildung gemacht, also werde ich jawohl kaum plötzlich Architektin geworden sein. Aber ich ahnte schon, dass er mich nur runterputzen wollte. Tania studierte nämlich Wirtschaft, genauso wie er auch, und wahrscheinlich wollte er mir damit zu verstehen geben, dass ich nicht intelligent genug sei. Und obwohl ich wusste, dass das absoluter Quatsch war und er mich nur ärgern wollte, trugen seine Bemühungen Früchte. Ich fühlte mich wirklich dumm und klein unter ihren stechenden Blicken.
 

Tom war nicht immer so gemein gewesen. Im Gegenteil, er war sogar richtig lieb und aufmerksam, damals, aber irgendwann hatte er sich verändert... wahrscheinlich hatte Tania ihn einer Gehirnwäsche unterzogen. Arrogant war er allerdings auch früher schon gewesen.

Da fand ich es irgendwie attraktiv, heute nur noch ätzend. Jemand, der so viel von sich hielt und im Grunde so wenig davon war, hatte meiner Meinung nach einfach nicht das Recht, so selbstgefällig zu sein.

"Ja", antwortete ich mit fester Stimme und versuchte ihn so entschlossen, wie ich konnte, anzusehen.

Er nickte. "Dacht ich's mir doch."

Was für ein unausstehlicher, arroganter Snob! Ich musste zugeben, er sah zwar ganz gut aus - und ich ärgerte mich ziemlich darüber - mit seinen dunkelbraunen Haaren und die passende Statur hatte er auch... nur die Nase war etwas schief geraten, aber keineswegs hässlich. Seine neue alte Freundin mit der Modelfigur, dem perfekten Make-up und den goldblonden, glänzenden und vor allen Dingen TROCKENEN Haaren hatte denselben arroganten Ausdruck im Gesicht wie mein Ex.

Gleich und gleich gesellte sich ja bekanntlich gerne, dachte ich in einem kurzen Anflug von Neid. Die zwei waren mir mindestens genauso unsympathisch wie ich ihnen.

Musste das überhaupt so kommen? Ich hatte es acht Monate lang geschafft, nicht in die Arme dieses Irren zu rennen, aber heute hatte ich eindeutig Pech. Das mit dem Pech kannte ich ja schon, also warum war ich überhaupt noch überrascht?

Ich seufzte resigniert und schaute mich um. Wenige Meter weiter befand sich eine Bushaltestelle und die Menschenmenge drängelte sich unter das Dach des kleinen Haltestellenhäuschen, aber natürlich passten sie da nicht alle rein.

Wie sehr wünschte ich mir, Sean würde wie aus dem Nichts hier auftauchen, den Arm um mich legen und die beiden mit einem strengen Blick bestrafen, sodass ihnen die Kinnlade zu den Kniekehlen herunterkippen würde. Das wäre zu schön um wahr zu sein... wenn sie mich in der Gesellschaft eines Mannes sehen würden... eines richtigen, ehrlichen, aufrichten Mannes im schwarzen Smoking und... Halt! Meine Erinnerung an Sean vermischte sich mit meiner James Bond-Fantasie und ich rief mich zur Ordnung. Das war nun wirklich nicht die Zeit und der Ort, an SO ETWAS zu denken!
 

Sean kam natürlich nicht. Dafür aber kam jemand, mit dem ich ganz und gar nicht gerechnet hatte.

Ein Regenschirm wurde über meinen Kopf gehalten und eine Stimme, die mir irgendwie bekannt vorkam, meldete sich hinter mir zu Wort. Trotzdem konnte ich sie im ersten Moment nicht sofort einordnen.

"Herrgott, Miss Jones, sind Sie das?"

Ich drehte mich verwunderte um und blickte zu Mr. Dickinson, der Trockenpflaume und Sean's Kollegen, auf, der mich besorgt musterte und dann einen kurzen, prüfenden Blick zu Tom und Tania warf, während die beiden plötzlich wie erstarrt schienen.

Natürlich, Mr. Dickinson hatte seine Polizeiuniform an und trug sogar den Revolver am Gürtel. Wer wäre da nicht beeindruckt gewesen?

Ich war noch nie so froh, ihn zu sehen, auch, wenn ich ihn bis jetzt erst zwei Mal gesehen hatte.

"Mr. Dickinson", japste ich, verwirrt und erfreut gleichzeitig.

"Was machen Sie denn in diesem Regen draußen, Kind?", rügte er mich. "Sie erkälten sich doch, schauen Sie mal, wie nass ihre Haare schon sind!"

Ich lächelte schief. "Ich hatte keinen Regenschirm..."

"Man muss immer einen mit sich tragen, in weiser Voraussicht, sag ich immer", erklärte er mir weise und runzelte die Stirn, als er wieder kurz zu Tom rübersah.

"Wollen Sie nicht mit reinkommen? Vielleicht haben wir ja noch eine heiße Tasse Tee für Sie, oder ein Handtuch..."

Mir blieb fast das Herz stehen. "Da rein?", fragte ich ehrfürchtig.

"Natürlich. Sie waren doch schon mal da." Er schaute mich verständnislos an. "Nun kommen Sie schon, es wird langsam kalt."

"Äh, okay... also dann..." Ich wandte mich an Tom und seine überaus reizende Freundin, die mich mit großen Augen und absolut verwundert anstarrten. "Tschüss."

Etwas befremdet folgte ich Dickinson ins Gebäude, während er immer noch seinen Regenschirm über uns beide hielt. Und langsam wurde mir klar, dass ich mich in ihm total getäuscht hatte. Er war kein langweiliger, alter Mann, sondern ein sehr liebenswerter, fürsorglicher... nun ja, alter Mann.

"Sean wird sich bestimmt freuen, Sie zu sehen", sagte er aufmunternd, als wir den leeren Korridor überquerten. Die Empfangsdame in dem Polizeidress sah mich zwar kurz argwöhnisch an, aber Dickinson nickte ihr nur kurz zu und sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

Sean... ich bekam Herzklopfen und vergaß Tom für einen Moment. Hoffentlich würde er nicht denken, dass ich mich extra vor dem Polizeirevier herumtrieb, um ihn zu sehen! Ich war doch kein Stalker! Plötzlich fühlte ich mich unwohl.

Würde er sich wirklich freuen? Immerhin hatte er nicht angerufen. Vielleicht war das ein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen und ich tauchte plötzlich hier auf! Wie peinlich und äußerst unangenehm, auch für ihn!

"Meinen Sie?", fragte ich zaghaft. "Ich meine, ist das überhaupt erlaubt...? Ich sollte nicht hier sein..."

Dickinson öffnete eine Tür und schob mich, ohne auf meinen Protest zu achten, hinein.

Wie angewurzelt blieb ich in dem Büro stehen, während er an mir vorbeiging, seinen Regenschirm in die Ecke stellte und zur Begrüßung etwas murmelte.

"Da bist du ja", murmelte Sean abwesend und sein Blick war fest auf die Unterlagen vor sich auf dem Schreibtisch geheftet. "Jackson hat mir hier irgendwelche Formulare gefaxt, aber nicht gesagt, was ich mit denen soll." Er klang etwas gereizt, aber auch müde.

"Die sind von Jackson?", hakte Dickinson desinteressiert nach und stellte den büroeigenen Wasserkocher an, um mir einen Tee zu machen. "Schwarz oder Pfefferminze?", wollte er von mir wissen.

"Pfefferminze", sagte Sean prompt. Ich musste unwillkürlich grinsen. Das hätte ich auch gesagt...

Da ich nicht ewig wie angewurzelt da stehen konnte und Dickinson nicht die Absicht hatte, auf mich aufmerksam zu machen, musste ich das wohl selber in die Hand nehmen.

"Jackson schickt die Dokumente immer an unser Büro, obwohl die nach 2.08 müssen. Er kriegt das nicht hin mit den Zahlen." Dickinson ließ einen Teebeutel in eine Tasse fallen. Diese Erklärung war eindeutig an mich gerichtet.

Sean seufzte.

Ich räusperte mich leise.

Sofort blickte er alarmiert auf und starrte mich an, als sei ich eine Erscheinung.

"Emily?", brachte er schließlich verwundert heraus und erhob sich, indem er den Stuhl zurückschob.

"Äh, ja", sagte ich unsicher und druckste mich immer noch in der Türgegend herum, die Hände in meinem Schoß faltend. "Ich war nur, äh, na ja..." Wieso hatte ich das dringende Bedürfnis, mich zu rechtfertigen?

"Ach ja. Ich hab Miss Jones draußen aufgelesen, total durchnässt vom Regen und ohne Schirm." Er nickte Sean bedeutungsvoll zu. "Du weißt ja, was ich immer sage?"

Sean ließ mich nicht aus den Augen, sein Ausdruck war unergründlich. "Immer einen mitnehmen, in weiser Voraussicht", spulte er apathisch murmelnd ab und kam ein paar Schritte auf mich zu.

Dickinson schien zufrieden. "Genau, so ist es. Aber Miss Jones, Sie sollten sich wirklich überlegen, mit wem sie sich anfreunden."

Ich warf ihm einen verwirrten Blick zu, gerade mal so lange, wie ich mich von Sean lösen konnte.

"Das Pärchen, mit dem sie sich unterhalten haben, hat ihnen nicht mal ein bisschen von ihren Schirm angeboten und der war doch groß genug für eine Kleinfamilie, oder?"

Das stimmte. Tom's Schirm war einer von diesen großen Dingern, unter dem locker fünf bis sechs Leute Platz fanden.

"Äh, also, eigentlich waren das nicht meine Freunde." Ich musste schief grinsend angesichts dieser Ironie. Nicht MEHR.

"Dann", verkündete Dickinson und goss das aufgekochte Wasser in die Tassen, "sollten sie sich erst recht nicht mit solchen Leuten abgeben."

Er drückte Sean und mir unsere Tassen in die Hände. "Ich gehe mal nachsehen, ob ich irgendwo ein Handtuch finde."

Er verschwand aus dem Raum. Ob er wirklich auf der Suche nach einem Handtuch war oder nur einen Vorwand gesucht hat, um uns alleine zu lassen, war mir nicht ganz klar. Auf jeden Fall schien er Bescheid zu wissen, sonst hätte er nicht behauptet, Sean würde sich freuen, mich zu sehen. Ob er das auch wirklich tat, war natürlich die große Frage.

Ich schaute ihn vorsichtig an.

"Du bist ja ganz nass", sagte er sanft und hob die Hand, um mir mit dem Handrücken über die nasse Wange zu streichen. Sofort wurde ich rot und das Blut schoss mit in den Kopf. Ein Wunder, dass das ganze Wasser dadurch nicht verdampfte!

"Ich hatte keinen Regenschirm", nuschelte ich verlegen und wiederholte somit, was Mr. Dickinson schon erzählt hatte, schaute auf den Boden, als hätte ich dort etwas interessantes entdeckt. All diese kleinen, liebevollen Gesten war ich einfach nicht gewohnt und sie machte mich unglaublich glücklich, waren mir aber auch unangenehm.

Er schien sich zu entspannen und half mir aus meiner Jacke, die er an einen Garderobenhaken hängte, neben dem auch schon sein eigener Pullover hing.

"Tja", sagte er heiter. "Du weißt ja, was man über die Regenschirme sagt, oder?"

Ich nickte, froh über den Stimmungswechsel. "In weiser Voraussicht!", zitierte ich und er lachte.

"Genau. Jetzt hast du einen kleinen Einblick, was ich mir den ganzen Tag so anhören muss." Er zwinkerte mir zu, als Mr. Dickinson gerade durch die Tür kam. Ich nippte an meinem Tee. Er war zwar ungesüßt, aber trotzdem irgendwie tröstend, so heiß, aromatisch und dampfend, wie er war.

"Tut mir leid, aber anscheinend ist ein Polizeirevier ein handtuchloser Ort." Er zuckte hilflos mit den Schultern und schüttelte in milder Verwunderung den Kopf. "Erstaunlich. Ich konnte nur Papiertücher auftreiben, aber ich befürchte, mit denen wollen Sie sich nicht unbedingt die Haare trocknen?"

"Das geht schon so, danke, Mr. Dickinson", sagte ich hastig, etwas verlegen, weil er sich wegen mir solche Umstände machte. Das war wirklich nicht nötig. Er war sehr nett und ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich mit meiner Einschätzung damals meilenweit daneben gelegen habe.

"Bitte, Greg reicht vollkommen aus. Mr. Dickinson... Da komme ich mir immer so alt vor", jammerte er und schüttelte leidvoll den Kopf.

Sean's und meine Blicke trafen sich und ich hatte Mühe, mir ein schiefes Grinsen zu verkneifen, doch auch er sah mehr als nur belustigt aus. Er nickte mir unmerklich zu, um mir zu bedeuten, dass er wohl eben dasselbe gedacht hatte wie ich.

"In Ordnung...", erklärte ich mich einverstanden, wenn auch eher zögerlich. Ein "Greg" hängte ich jedoch absichtlich nicht dran, denn es wollte mir einfach nicht über die Lippen. Für mich war er immer noch der alte Mr. Dickinson, alias Trockenpflaume, wenn ich mich mittlerweile für diesen Spitznamen auch ein wenig schämte. Er war keineswegs so, wie er auf den ersten Blick gewirkt hatte und ich war mal wieder der Illusion des ersten Eindrucks unterlegen. Schande über mein Haupt!

"Sean, willst du Emily nicht nach Hause fahren? Bei diesem Regen können wir sie unmöglich wieder raus lassen", sagte Greg beiläufig, während er einen Stapel Papier auf seinen Schreibtisch abstellte und das obere Blatt in die Hand nahm, um es genau zu studieren.

Er runzelte die Stirn, griff nach seiner Lesebrille, die daneben lag, und setzte sie sich auf, führte das Blatt näher an sein Gesicht heran, kniff die Augen zusammen und formte lautlose Worten mit seinen Lippen.

Sean sah etwas beunruhigt auf. Ich protestierte.

"Das ist wirklich nicht nötig, danke", wollte ich abwinken. "Sie haben sich schon genug Umstände gemacht..." Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und warf einen unsicheren Blick zu Sean. Er sollte bitte nicht denken, ich sei nur hier, um ihm hinterher zu spionieren wie ein verrückter Stalker oder so was. Ein schrecklicher Gedanke... Ich kam mir mehr als nur fehl am Platze vor, was ich auch sicherlich war: eine harmlose, durchnässte Kindergärtnerin auf dem Polizeirevier in einem Büro von zwei äußerst.... nun ja, einem äußerst gutaussehenden, kompetenten Mann und einem wahrscheinlich genauso kompetenten Mann. Beide Polizisten. Pistolen. Gefahr. Uhh, mir lief eine Gänsehaut über den Rücken und ich bemerkte, dass meine Gedanken wieder mal abschweiften und die Richtung gefiel mir ganz und gar nicht. Was war nur los mit mir in letzter Zeit? Das war wirklich beunruhigend...

Beide Männer ignorierten meinen Protest und nahmen mich gar nicht wahr.

"Was ist mit Jackson?", wollte Sean wissen und kratzte sich ratlos am Hinterkopf, was ich überaus reizend fand und ihn wieder für einen kurzen Augenblick gebannt anstarrte. "Mittagspause ist schon lange vorbei..."

"Hm." Mr. Dickinson brummte leise und legte das Blatt wieder auf den Stapel zurück. "Was für ein Schwachsinn. Ich dachte, wir sind hier bei der Polizei und nicht in der Bürokratiehölle... Jackson", wandte er sich wieder Sean zu, "ist sowieso damit beschäftigt, die falschen Unterlagen an die falschen Büros zu faxen. Aber wenn er nach dir fragen sollte, sag ich ihm, dass wir heute länger bleiben und du uns etwas zum Abendessen besorgst. Aber nimm dein eigenes Auto und nicht eines der Polizeifahrzeuge."

Sean grinste und schnappte sich sofort seine Schlüssel vom Schreibtisch. "Geht klar."

"Aber", platzte es aus mir heraus, die ich reglos ihre Unterhaltung mitverfolgt hatte, "das wäre doch gelogen!"

Beide Männer starrten mich mit einem undefinierbaren Ausdruck im Gesicht an und das Unheimliche daran war, dass ihre Mienen einander bemerkenswert glichen. Ein bisschen sahen sie mich so an, als hätte ich gerade mir nichts, dir nichts plötzlich einen Polka auf's Parkett gelegt.

Sie schwiegen und bewirkten damit, wenn auch unwissentlich, dass ich mir wieder dumm und unzulänglich vorkam. Hielten sie mich jetzt für einen Moralapostel? War ich vielleicht viel zu verklemmt? Ich biss mir wieder auf die bereits mitgenommene Unterlippe. Warum konnte ich mich manchmal einfach nicht beherrschen? Meine Mutter sagte immer: denken, dann reden. Und das sagte sie aus einem ganz bestimmten Grund!

Ich sah ein kurzes Anzeichen eines kleinen Lächelns auf Sean's Lippen, aber Greg hatte wieder das Wort ergriffen. Schweigend wandte er sich von mir ab und sagte zu ihm, und das in ziemlich neutralem Tonfall: "Vergiss die Pizza nicht, Sean."

Dieser nickte grinsend, berührte mich kurz an der Schulter, um mir zu bedeuten, mich in Bewegung zu setzen und hielt mir mit dem Arm über meinem Kopf die Tür auf.

Dickinson, wieder in den Papierkram vertieft, murmelte mir nickend einen Abschiedsgruß zu.
 

Schweigen herrschte zwischen uns, als wir die Treppe hinunterkamen, denn ich versuchte immer noch zu verarbeiten, dass ich die zwei wahrscheinlich gerade dazu "genötigt" hatte, sich tatsächlich etwas kaufen zu müssen und Sean sagte einfach gar nichts.

Ein lautes "Hey" riss mich aus meinen Gedanken und erschrocken starrte ich in die Richtung, aus der die laute Stimme gekommen war.

In der Nähe des Ausgangs lungerte ein junger Kerl herum, ebenfalls in Polizeiuniform, jedoch stand sie ihm nicht halb so gut wie Sean und verlieh ihm auch nicht die Anmut, wie manch anderem. Weil er so schlaksig war, hing sie nur schlaff herunter und sah fast so lächerlich aus wie ein Karnevalskostüm. Sein blondes Haar war glatt zur Seite gekämmt und pappte auf seinem Kopf. Er war mir sofort unsympathisch und zu allem Überfluss starrte er mich an, nur nicht ganz so angewidert, wie ich ihn ansah.

Er befeuchtete sich die Lippen und ließ nicht die Augen von mir, während er seine nächsten Worte sprach.

"Seit wann ist denn privater Damenbesuch erlaubt, Sean, hä? Kann man die sich ausleihen, hä?"

Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen und musste einen leichten Würgereiz unterdrücken. Stirnrunzelnd schaute ich den seltsamen Typen an, nur, um dann einen unsicheren Blick zu Sean zu riskieren. Was sollte das? Ich war nicht freiwillig hier, und schon gar nicht, um mich beschimpfen oder beleidigen zu lassen!

Sean's Gesichtszüge verspannten sich, wenn auch nur ein wenig, und er legte seine rechte Hand auf meine ebenfalls rechte Schulter, doch nicht, um sie dort verweilen zu lassen. Stattdessen verlangsamte er seinen Schritt, drückte mich kurzerhand auf die andere Seite, weiter weg von dem Typen, sodass ich nicht mehr zu Seans Rechten, sondern zu seiner Linken den Gang entlangging, und warf dem Kerl einen frostigen Blick zu.

"Halt den Mund, Carter", wies Sean ihn schroff zurecht. "Hast du nicht zu tun, anstatt hier faul in der Gegend herumzulungern?"

Er hatte es ganz ruhig gesagt, aber die Kälte und Zurückweisung in seinem Tonfall ging durch Mark und Bein und in seinen plötzlich strengen Augen blitzet es gefährlich auf.

Derjenige, der sich Carter nannte, murmelte irgendetwas unverständliches, aber bestimmt keinesfalls freundliches, und verzog sich wieder, indem er durch eine der vielen Türen verschwand.

Ich war ziemlich beeindruckt und verschüchtert gleichzeitig. Bisher hatte Sean sich mir nur als liebenswürdig und ziemlich selbstsicher gezeigt, aber er hatte auch diese andere, gefährliche Seite... Ich war nicht stolz drauf, dass ihn das in meinen Augen noch anziehender werden ließ, aber so was es nun mal. Eine primitive, einfache Reaktion. So vorhersehbar.
 

"Tut mir leid wegen eben", sagte er und fuhr sich durch die Haare, als wäre er erschöpft. Er klang gar nicht mehr so kühl, sondern so wie immer, nur vielleicht etwas resignierter. "Das war Carter. Er ist neu - wurde aus irgendeinem Dorf hierher versetzt, weil er dort nur Mist gebaut hatte. Sie haben sich erhofft, in einem großen Betrieb würde es anders laufen, aber er macht nur Ärger..." Er stockte wie jemand, der sich bewusst wurde, zu viel auszuplaudern und fuhr dann fort: "Das entschuldigt sein Verhalten natürlich nicht... Er ist mir nicht geheuer."

Mir allerdings auch nicht. Ausleihen! Wie der mich angestarrt hat. In etwa so, wie ich ein Steak anschaute, das durchgebraten vor mir auf meinem Teller lag...

"Halb so wild", nuschelte ich. Er konnte ja nichts dafür, dass einer seiner Kollegen ein dämliches Schwein war. "Vielleicht solltest du ihm sagen, dass er was mit seinen Haaren machen sollte?", schlug ich ihm im Scherz vor, um die Atmosphäre ein wenig aufzulockern. Es klappte. Sean lachte los.

"Darüber habe ich tatsächlich schon selbst ein paar Mal nachgedacht." Er warf mir einen beiläufigen, liebevollen Blick zu und mir wurde sofort ganz warm ums Herz. Die Wärme bereitete sich in meinem ganzen Körper aus und ich musste unwillkürlich lächeln, weil er so süß war und so wundervoll. ich konnte mein Glück kaum fassen!

Wir setzten uns in sein Auto, er startete den Motor und mir fiel noch etwas anderes ein.

Sogleich öffnete ich den Mund, doch dann wurde meine Aufmerksamkeit von etwas anderem abgelenkt., Als er den Wagen aus der Ausfahrt manövrierte und langsam auf die Straße fuhr und sich in den Verkehr einfädelte, bemerkte ich zwei mir sehr bekannte Gestalten an der Bushaltestelle stehen und mich mit offenem Mündern anstarren.

Es waren natürlich der großartige Tom und seine wunderbare Freundin Tania, doch während sie sich in strömenden Regen mit zwanzig anderen Menschen unter das kleine Dach des Häuschens quetschen mussten, wurde ich von einem attraktiven Mann in Polizeiuniform nach Hause gefahren.

Wenn das also keine ausgleichendende Gerechtigkeit war, dann wusste ich auch nicht weiter. Ich konnte es mir nicht leisten, die beiden direkt anzugrinsen, auch wenn ich gerne wollte, doch ich konnte mir mein triumphierendes Lächeln auch nicht verkneifen, also tat ich so, als streifte ich die beiden mit einem ausdruckslosen Blick und grinste meine Schuhspitzen erst an, nachdem wir bereits an ihnen vorbeigetuckert waren. Der Verkehr war zu dieser Tageszeit gewohnt dicht und zähflüssig und die Baustelle zwanzig Meter weiter vorne mit der ewig roten Ampel beschleunigte die ganze Sache auch nicht unbedingt.

"Was ist denn so lustig?", wollte Sean nach einem kurzen Seitenblick amüsiert wissen. Offenbar sorgte ich mit meinem plötzlichen Gegrinse sehr für sein Vergnügen. Ich setzte so schnell wie möglich wieder eine gleichmütige Miene auf und versuchte, nicht allzu peinlich berührt zu klingen.

"Gar nichts", winkte ich schnell ab und hoffte, er würde nicht noch darauf herumreiten. Ich hatte wirklich keine Lust, ihm die Geschichte von Tom und mir, oder genauer gesagt, von Tom und Tania, auf die Nase zu binden. Außerdem kannten wir uns ja auch nicht so gut, um schon von Verflossenen zu sprechen. Oder von Verflossenen, die sich als Arschlöcher entpuppt hatten und einen wie Dreck behandelten. Nein, so weit waren wir wirklich nicht.

Zum Glück ließ er es auch dabei bewenden und wechselte stattdessen das Thema.

"Ich hab' nicht angerufen."

Ich runzelte die Stirn. Das hatte ich nun auch schon bemerkt, das konnte er mal glauben, aber ich hörte in seinem Tonfall reine Feststellung, keine Entschuldigung. Vielleicht hat er ja doch gemerkt, dass das mit uns nicht klappen kann. Dass ich nicht gerade die beste Wahl bin... Würde jetzt das Unvermeidliche kommen? Die Erklärung, dass es einfach nicht geht? "Ist mir aufgefallen", erwiderte ich so beiläufig wie es mir möglich war. Er sollte bloß nicht denken, dass ich stundenlang neben dem Telefon saß, mir die Fingernägel abknabberte und in Paranoia versank.

Er schmunzelte angesichts meiner Antwort. "Ich wusste noch nicht, ob ich am Samstag frei habe", erklärte er. "Aber Gregory springt für mich ein."

"Aha", kommentierte ich skeptisch. Sehr interessant. Und was hatte das Ganze mit mir zu tun?

"Tut mir leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast."

"Hab ich nicht!", beteuerte ich schnell - ein wenig zu schnell, wie mir Augenblicke später bewusst wurde. Er lächelte und sagte höflicherweise nichts darauf, doch es war ihm anzusehen, dass er mir kein Wort glaubte.

"Jedenfalls wollte ich dich zum Essen einladen."

Ich starrte ich ihn und sagte nichts darauf, was ihn zu verunsichern schien.

"Samstag Abend. Bei mir zu Hause", fügte er hinzu, nun nicht mehr ganz so selbstsicher, aber mit eindeutig hoffnungsvollen Tonfall. Oh, er war so süß!

Ich war schon ziemlich neugierig, aber noch viel mehr als das war ich total aufgeregt und nervös. Was hatte es zu bedeuten, einen Abend mit ihm zu verbringen? Was er wohl vorhatte? Ich ertappte mich bei dem Gedanken an etwas ganz und gar nicht Jugendfreies und schüttelte schnell den Kopf, als die Hitze wieder in mir hochstieg. Nein, so jemand war ich nicht, mochte er auch noch so gut aussehen und lieb sein und wie muskulös sein nackter Oberkörper auch sein mochte und egal, wie verführerisch seine Haare an der Stirn klebten, die mit kleinen Schweißtröpfchen besprenkelt war...

"Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast." Er runzelte die Stirn und war nun wieder ganz sachlich. Mein sprachloses Zögern hat ihn kurzzeitig verunsichert, konnte er doch nicht wissen, in was für Gefilde meine Fantasie wieder abgeschweift war. Vielleicht, dachte ich, war er es nicht gewöhnt, dass Frauen nicht sofort auf seine Angebote reagierten. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er an jedem Finger zehn haben könnte und gerade deshalb war ich ja so fassungslos. Was wollte er mit mir?

"Warum sollte ich etwas dagegen haben?", wollte ich leicht geistesabwesend wissen, immer noch in Gedanken an den Grund seiner Absichten. Bei ihm zu Hause essen konnte vieles bedeuten. Es konnte ein Essen sein... aber auch mehr. Sean machte mir nicht unbedingt den Eindruck, als sei er nur auf das Eine aus, aber er machte auch nicht den Eindruck, als sei er nicht darauf aus. Ich war etwas verwirrt.

Er lachte ein wenig und drückte auf das Gaspedal, als die Ampel von rot auf grün sprang, an der wir eben gestanden haben und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel, bevor er in eine kleinere Gasse einbog.

"Bei einem fast völlig Fremden zu Hause eingeladen zu sein... Hast du keine Angst, dass ich ein psychopathischer Irrer oder irgendeiner anderen abartigen Perversion unterlegen bin?", fragte er im Scherz.

Daran glaubte ich nun weniger. Immerhin war er Polizist. Na gut, ich wusste, dass das nichts garantierte, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es so war und er machte doch nur Spaß, oder? Trotzdem, nach dem Einbruch und dieser seltsamen Drohung, von der ich nicht wusste, wie ernst ich sie nehmen sollte, waren seine Worte doch ein wenig einschüchternd.

Offenbar hatte ihn mein Schweigen irritiert, denn er sprach plötzlich beruhigend auf mich ein. "Das war nur ein Scherz... ein Dummer, ich geb's zu. Ich wollte dir keine Angst machen." Dann verzog er seinen Mund zu einem gequälten Lächeln. "Da hab ich wohl ein Eigentor geschossen", fügte er dann etwas leiser und absolut ernst hinzu.

Ich schüttelte schnell den Kopf. "Nein, gar nicht. Ich komme gerne am Samstag", sagte ich zu.

Er nickte, nicht sehr überzeugt. "Ich hol dich ab."

Oh Nein. "Das musst du nicht, wirklich", beteuerte ich. Er sollte mich nicht immer herumkutschieren. Ich hatte zwar kein Auto, aber ich war gut zu Fuß und auch mit dem Bus hatte ich auch keinerlei Probleme.

Er schmunzelte. "Ich will es aber. Außerdem wohne ich etwas außerhalb, es ist nicht so einfach, dorthin zu gelangen."

Ich wollte wieder protestieren, doch er schüttelte nur bestimmt den Kopf, als sie die Sache jetzt geklärt. Ich sah ein, dass er sich nicht würde umstimmen lassen und im Grunde war es mir ganz recht.

Für einige Augenblicks kehrte wieder Stille ein. Seine Ansage, er könnte möglicherweise ein Psychopath sein, schwirrte mir immer noch im Kopf umher. Hatte er damit vielleicht andeuten wollen, ich wäre viel zu vertrauensselig meinen Mitmenschen gegenüber? War das vielleicht der Grund, weshalb ich ständig in Schwierigkeiten geriet und weshalb ich nicht vorher gemerkt habe, dass mit Tom etwas nicht stimmte? War ich grenzenlos naiv?

Ich hörte das nicht zum ersten Mal. Jo erklärte mir immer wieder in unregelmäßigen Abständen, etwas aggressiver an die Dinge heranzugehen und nicht alle Menschen sofort ins Herz zu schließen. Aber ich tat es immer als einen Witz ab, als übertriebene, freundschaftliche Besorgnis.

Sean deutete mein Schweigen als Beunruhigung. "Wir können auch auswärts essen gehen, wenn dir das lieber ist", schlug er bestürzt vor und holte mich aus der Grübelei wieder in die Realität zurück. "Du weißt schon, unter Menschen."

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. "Nein, nein, das geht schon in Ordnung. Solange du mich später wohlbehalten wieder zu Hause ablieferst", scherzte ich und er hob süffisant eine Augenbraue.

"Wenn du das denn willst", raunte er mir etwas leiser zu und grinste ein wenig anzüglich.

Ich errötete, obwohl ich mich mit aller Kraft dagegen wehrte, und wich seinen Blicken aus. Sein Lächeln vertiefte sich, als er wieder geradeaus auf die Straße schaute. Und mir fiel bei Gott nichts ein, was ich darauf hätte erwidern können. Hatte ich mich geirrt? Machte er vielleicht doch den Eindruck, dass er auf etwas bestimmtes hinaus wollte?

Mich selbst verstand ich auch nicht mehr. Tag und Nacht träumte ich von ihm, aber wenn er so etwas mal zur Sprache brachte, reagierte ich wie ein kleines Mädchen, indem ich den Rückwärtsgang einlegte.

Oder vielleicht bildete ich mir das alles bloß ein? Vielleicht interpretierte ich etwas Falsches in seine Aussagen hinein, was er gar nicht so meinte. Vielleicht WOLLTE ich es so hören, wie ich es hörte, und nicht, wie er es sagte? Vielleicht war ich paranoid und er hatte mich so verwirrt, dass ich sie nicht mehr alle beisammen hatte?

Ich musste irgendetwas sagen, in dieser peinlichen Stile konnte ich keine Sekunde länger ausharren! Außerdem wollte ich meine eigenen Gedanken nicht mehr hören, die teilweise um meinen Wahnsinn im Anfangsstadium kreisten, teilweise um etwas ganz anderes...

"Das mit dem Essen war nicht so gemeint", entschuldigte ich mich plötzlich, als mir wieder eingefallen ist, was ich ihm hatte sagen wollen, bevor ich Tom und Tania gesehen hatte, und war froh, das Thema auf etwas so Unverfängliches richten zu können. "Ihr könnt natürlich tun und lassen, was ihr wollt, ich hätte mich nicht einmischen sollen."

Sean schien im ersten Augenblick verwirrt, aber er kam doch noch ziemlich schnell auf den Trichter.

"Ach, das", winkte er lachend ab. "Das geht schon in Ordnung. Du hast ja Recht." Er nickte nachdrücklich. "Außerdem ist es immer besser, Beweismittel zu haben, falls Jackson, das ist übrigens unser Vorgesetzter", fügte er schnell erklären hinzu, "vorbeikommt und nach Indizien sucht, dass wir ihn mal wieder aufs Kreuz gelegt haben." Er grinste in sich hinein.

"'Mal wieder'", echote ich ungläubig und sein Grinsen vertiefte sich.

"Kleine Machtspielchen", erklärte er schmunzeln. "Er lässt uns den Papierkram durchackern, obwohl wir nicht dafür zuständig sind, zumindest nicht primär, und... tja." Den Rest des Satzes musste ich mir dann wohl selbst zu Ende denken. Ich vermutete, es hieß in etwa, dass sie sich dafür ein bisschen mehr freie Zeit nahmen, als erlaubt war. Sean hatte also eine kleine Affinität zum Regelbruch, das hatte ich schon bemerkt, als er erwähnt hatte, meine Nummer aus der Akte stibitzt zu haben.

"Und wofür seid ihr primär zuständig?", hakte ich neugierig nach und vergaß den Teil mit den Machtspielchen schon wieder gänzlich. Was Sean auf der Arbeit machte, interessierte mich viel mehr, als die kleinen Scherereien mit dem Vorgesetzten, der, laut Dickinson, sowieso ein wenig schwachsinnig war, zumindest was seine Denkkapazitäten anging.

Er zuckte die Schultern. "Streife. Hauptsächlich in den weniger sicheren Gegenden... und natürlich, das steht ganz oben auf der Liste, die ausgeraubten Wohnungen hübscher Frauen inspizieren." Er lachte und zwinkerte mir kurz zu, bevor er sich wieder der Straße vor ihm zuwendete. "Und nicht nur die", hörte ich ihn leise murmeln und warf ihm einen empörten Blick zu. Damit spielte er eindeutig auf meine Unterwäsche an! Er grinste süffisant vor sich hin und es war klar, dass ich diese Bemerkung ganz und gar nicht überhören sollte, ganz im Gegenteil. Ich beschloss, sie zu übergehen.

"Wie viele hübsche Frauen werden denn so ausgeraubt?", wollte ich stattdessen unschuldig wissen und versuchte, einen neutralen Tonfall einzuhalten. Mir war schon klar, dass er von mir gesprochen hatte, na ja, wenn er auch übertrieb, aber die Mehrzahl in seinem Satz machte mich doch stutzig, wenngleich ich auch wusste, dass das absoluter Schwachsinn war. Aber trotzdem... ein kleines Flämmchen der Eifersucht regte sich in mir.

Konnte doch sein, dachte der kranke Teil meines Gehirn, dass es eine Masche von ihm war. Ich traute ihm nicht so ganz, noch nicht vielleicht, aber ich hatte meine Gründe. Er gab sehr wenig von sich preis und ich war schon einmal enttäuscht worden und würde mich ganz bestimmt nicht noch mal blind in etwas hineinstürzen, so sehr ich ihn auch mochte, ohne mir alle bekannten Details vor Augen zu halten. Zumindest war das mein fester Vorsatz. Jo hatte das mit dem folgenden Satz kommentiert: "Soviel Weitsicht ist dir eigentlich gar nicht zuzutrauen."

Ich wollte es ihr zeigen!

Sean lächelte und warf mir einen Seitenblick zu. "Bis jetzt bist du die Einzige, die ich persönlich kenne", sagte er mit weicher Stimme. "Und das reicht mir eigentlich auch."

Huch! Mein Herz fühlte sich an, wie es sich wahrscheinlich nach dem New York Marathon anfühlen würde und ich dankte Gott im Stillen, dass ich saß, denn meine Knie wurden ganz weich und eine Welle der Zuneigung überrollte mich. Gleichzeitig wurde ich durch meine hohe Herzaktivität mal wieder rot und klammerte mich an den Türgriff, starrte stur aus dem Fenster, nicht wissend, was ich auf so etwas antworten sollte.

Das Einzige, was die Situation davon abhielt, sich in eine Vertrackte zu verwandeln, war die Tatsache, dass wir nur wenige Sekunden später bei mir zu Hause ankamen und er den Wagen zum Stehen brachte. So blieb mir diese peinliche Stille erspart, in der ich nicht wusste, was ich auf seine Schmeicheleien erwidern sollte und er sich nicht fragen musste... was auch immer. Was wusste ich schon, was Männer sich in solch einer Situation fragten?

"So, wir sind da."

"Ja... danke für's Fahren." Ich zwang mich zu einem nervösen Lächeln, das er freundlich erwiderte, und beeilte mich, aus dem Auto zu steigen.

"Gern geschehen, Emily." Die Art, wie er meinen Namen aussprach - jedes Mal auf's Neue, ich konnte gar nicht genug davon bekommen. Bei ihm klang jedes "Emily" wie ein tiefschürfendes Kompliment, das mir unter die Haut ging. Ich liebte den Klang seiner Stimme und ich liebte es, wie er das sagte. Wie er alles sagte, aber vor allem, wie er meinen Namen aussprach.

"Tja, also dann... tut mir leid für die Störung!", platzte es wieder aus mir heraus. "Das war keine Absicht, wirklich!", beteuerte ich.

Er lächelte nachsichtig. "Das war doch eine willkommene Abwechslung, wirklich." Machte er mich gerade nach? "Ich hab mich jedenfalls gefreut. Bis Samstag dann?"

Ach ja, stimmt ja! Übermorgen hatte ich eine Verabredung mit ihm! Wie schön...

"Ja, bis übermorgen", nickte ich, erleichtert, dass er es mir nicht übel nahm, heute einfach so bei ihm aufgetaucht zu sein - oder von Dickinson hingeschleppt worden zu sein, um es zu präzisieren - und schloss die Beifahrertür.

Er hob zum Abschiedsgruß noch kurz die Hand, bevor er das Auto in Bewegung setzte und davonbrauste.

Ich suchte nach meinen Schlüsseln, konnte sie jedoch im ersten Moment nicht finden und war kurz davor, in Panik zu verfallen, als sich meine Hand in den Weiten meiner Tasche doch noch um das vertraute Metal schloss.

Erleichtert stieß ich die Luft aus. Noch mal Glück gehabt!

Moment mal... Glück?

Cooking Disasters

Sean's Zuhause lag, wie er gesagt hatte, außerhalb der Stadt. Er lebte sozusagen auf dem Land, fernab von dem Lärm und der vielbefahrenen Straßen.

Das Haus stand am Waldrand, mitten im Grünen, die nächsten Nachbarn waren über 100 Meter entfernt, wie er mir erzählte.

Es war ein Einfamilienhäuschen, eher alt und klein, umzäunt. Im Zaun war ein kleines Gatter eingebaut, das laut quietschte, als er ausstieß. Der Garten war vorhanden, aber eher mickrig. Die Blumenbeete, die angelegt waren, zeugten davon, dass hier im Sommer die prächtigsten Gewächse in den schillerndsten Farben blühten und ihn zierten.

Gärtnern war nämlich, laut ihm, die Lieblingsbeschäftigung seiner Vermieterin, die im Erdgeschoss desselben Hauses wohnte. Es war eine alte Frau namens Mrs. Daleney und soweit ich wusste, war sie die Großmutter von Evan, seinem besten Freund, und somit auch die Uroma von Holly, seiner Nichte.
 

Als Sean auf Wohnungssuche war, ganz am Anfang seiner Polizeiausbildung, hatte sie ihm angeboten, für eine deutlich kleinere Miete bei ihr einzuziehen, wenn er ihr im Gegenzug ihre Einkäufe besorgte und sich um die Instandhaltung des Hauses kümmerte. Mrs. Delaney war schon über 70 Jahre alt und nicht mehr die Fitteste, jedoch ließ sie sich auch nicht davon abbringen, auf allen Vieren in ihrem Garten herumzukraxeln und in der Erde zu wühlen.

Das alles erzählte er mir, nachdem er mich abgeholt hatte. Wir saßen im Auto und brauchten etwa eine Viertelstunde bis zu ihm. Während all dieser Zeit berichtete er mir, wie es dazu kam, dass er mit der Oma seines Freundes zusammenwohnte, beziehungsweise im selben Haus - und dass er nun, da er sich bereits gut eingelebt hatte, es nicht mehr übers Herz brachte, die alte Frau, die auch ihm immer schon wie eine Art Großmutter vorgekommen war, ihrem Schicksal zu überlassen, was ich sehr anständig von ihm fand.

Ich war ein bisschen nervös, immerhin war es schon etwas Besonderes, dass er mich in seine Welt einweihte. Bis jetzt war er sehr zurückhaltend gewesen, was seine eigene Person anbelangte. Obwohl er immer zuvorkommend und freundlich war, fühlte ich mich dennoch auf Distanz gehalten, aber ich war natürlich auch viel zu feige, um ihn zu fragen, also wartete ich, bis er mir von sich aus etwas über sich erzählte. Bis dahin pickte ich einfach die Bröckchen auf, die er mir, bewusst oder unbewusst, hinwarf und versuchte, mir dadurch ein Bild zu machen.

Aber nicht nur das beunruhigte mich. Auch die Art und Weise, wie er über Mrs. Delaney sprach, verriet mir, dass die beiden sich bestens verstanden und ein besondere Beziehung sie verband, was mich ein wenig flatterig machte, denn was passierte, wenn die alte Frau, die ihm anscheinend so viel bedeutete, dass er sie zu seiner Familie zählte, mich nicht mochte? Würde er ihrem Urteil trauen?

Ich rutschte unruhig auf dem Sitz herum, als er behauptete, wir wären schon fast da und das Auto gemächlich abbremste.
 

Vor dem Haus stand eine alte Holzbank, auf der sich eine ältere Frau mit silbergrauem, feinem, lockigem Haar und ziemlich vielen Fältchen im ganzen Gesicht saß. Sie trug einen langen, braunen Rock und eine Strickjacke, ihre Hände ruhten auf einem Gehstock, den sie vor sich in den Boden gestemmt hatte, die Hände darauf gestützt.

Sie lächelte uns herzlich entgegen und ich lächelte etwas unsicher zurück, hielt mich dennoch dicht hinter Sean. Was, wenn sie mich nicht leiden konnte?

Er schien große Stücke auf sie zu halten und ich war so gesehen eher ein Eindringling...

"Da seid ihr ja, Kinder", sagte Mrs. Delaney erleichtert und erhob sich mühselig.

"Sitzt du wieder auf der Lauer, Abby?", wollte Sean belustigt wissen und nahm ihren Arm, um ihr aufzuhelfen.

"Natürlich. Ich musste doch schließlich wissen, wer diese bezaubernde junge Dame ist, die du hier mitgebracht hast." Sie zwinkerte mir schelmisch zu und um ihre Augen herum wurden noch mehr Lachfältchen sichtbar, was sie sogar noch freundlicher erscheinen ließ. Sie war mir auf Anhieb sympathisch und erinnerte mich an meine eigene Oma, die ich dringend mal wieder besuchen sollte...

Sean lachte. "Das ist Emily", stelle er mich vor. Sie drückte ihm ihren Gehstock in die Hand, kam auf mich zu und nahm meine Hand and in die ihre, legte ihre andere oben drauf.

"Emily, was für ein schöner Name. Es ist so schön, dass er Sie endlich eingeladen hat. Sie müssen wissen, in letzter Zeit hat er nicht besonders viele junge Damen zum Essen zu Besuch."

Sie warf ihm einen besorgten Blick zu, den er gutmütig erwiderte. "Aber dass er für Sie kochen will... ich fürchte, der arme Junge übernimmt sich da ein wenig..."

Sean schmunzelte kopfschüttelnd, während er seine Schlüssel herausholte und die Haustür aufschloss.

Ich war verwirrt. Zu viele Informationen auf einmal! Aber Mrs. Delaney verlor keine Zeit und sprach schon weiter.

"Er ist ja wirklich liebenswert und in so mancherlei Hinsicht sehr begabt, aber das Kochen ist nicht gerade seine Stärke", fuhr sie mitleidig fort. "Sollten Sie also nach dem Essen keine Lebensmittelvergiftung haben oder noch hungrig sein, dürfen Sie gerne zu mir runterkommen. Mein Kühlschrank steht für Sie offen, mein Kind." Sie nickte nachdrücklich, ließ mich los und bedeutete mir, ihr ins Haus zu folgen.

"Äh, dankeschön...", stammelte ich, noch ganz schön benommen von der Flut an Infos, die ich erst noch verdauen musste.

"Jetzt mach ihr doch keine Angst, Abby", ermahnte Sean sie witzelnd und schloss die Tür hinter mir zu, nachdem auch ich eingetreten war. "So schlimm ist es auch nicht."

Er lächelte mir beruhigend zu also Mrs. Delaney nach ihrem Gehstock griff.

"Sie werden ja sehen." Sie nickte mit bedeutungsvoll zu und wackelte langsam aus dem kleinen Flur in ihr Wohnzimmer.

Sean rollte die Augen, aber nicht genervt, eher liebevoll, als sei er das schon gewöhnt.

Ein bisschen verwirrt ob all der Eindrücke, die ich noch verarbeiten musste, folgte ich ihm wortlos die kleine, enge Treppe hinauf.
 

An den Wänden hingen alte Fotografien von Gebäuden und Landschaften, doch sie waren nicht schwarz-weiß. Das hätte auch nicht gepasst. Die teilweise vergilbten Bilder fügten sich viel besser zu dem alten Haus, der knarrenden Treppe und der alten Frau, die Sean's Vermieterin war.

"Eigentlich hat sie Recht", gab Sean grinsend zu und stieß die Tür zu seiner Wohnung auf.

Ich war schon wieder Welten weiter und musste erst mal stutzen, weil ich nicht verstand, was er meinte. "Womit?"

Er trat ein und hielt sie offen, damit sie nicht zufiel, während ich hinter ihm herstakste.

"Mit dem Kochen", erklärte er und wenn er langsam ungeduldig wurde, dass er für mich alles wiederholen musste, dann ließ er es sich kein bisschen anmerken.

Ich wollte protestieren, doch kaum hatte ich den Mund aufgemacht, zwinkerte er mir zu. "Du wirst schon sehen", sagte er bedeutungsvoll und ich war nah dran, ihm zu glauben. Doch was konnte am Kochen so schwierig sein? Jeder konnte es - und ich rede hier nicht von dem wie-im-französischen-fünf-Sterne-Restaurant-Kochen, sondern von dem ganzen normalen Spaghetti Bolognese-Gericht.

Sean half mir ganz gentlemanlike aus meiner Jacke und ich wäre bestimmt geschmeichelt gewesen, wenn ich nicht so damit beschäftigt gewesen wäre, mir jedes Detail seiner Wohnung einzuprägen und in die Hornhaut zu brennen. Es war einfach zu interessant - der Platz, wo dem er lebte, wo er schlief, wo er aß, wo er... Stopp.

"Komm nur rein, setz dich ruhig. Möchtest du etwas trinken?"

Ich schüttelte den Kopf, versuchte, nicht allzu neugierig zu erscheinen, aber diese Wohnung hatte nichts mehr gemein mit dem kleinen, engen Flur, den ich unten gesehen hatte. Ich hatte meine Erwartungen automatisch schon daran angepasst, doch nichts hier ließ darauf schließen, dass das Haus so alt war.

Sean hatte eine offene Küche, was das Wohnzimmer viel größer erscheinen ließ, als es vermutlich mit einer Wand zwischen sich und der Küche gewesen wäre.

Da die Fenster ziemlich klein waren und wahrscheinlich nicht besonders viel Licht in den Raum hineingeraten konnte, waren die Möbel hell gehalten. Ein Fernseher stand in der Nähe des riesigen Bücherregals, ihm gegenüber eine Couch mit einem kleinen Couchtischchen davor. Unter dem Fenster befand sich ein Schreibtisch mit einem aufgeklappten Laptop und einem großen Stapel Papier darauf. Viele Blätter lagen auch unsortiert aufeinander, eins war offensichtlich vom Tisch gerutscht und lag nun auf dem Boden, halb unter dem Stuhl versteckt.

Die Wände waren weiß gestrichen, hin und wieder geschmückt von einem Gemälde oder einer Fotografie, aber besonders viele waren es nicht. Mir gefiel am besten das Bild, das eine Winterlandschaft darstellte: in der Mitte befand sich ein zugefrorener See, weiter hinten einige Häuser und kahle Bäume, auf dem Eis ein paar Menschen, Eisläufer... was mich sofort unangenehm an das missglückte Date erinnerte mit ihm erinnerte.

Das Bild an sich wirkte ein bisschen beunruhigend und bedrohlich, das Eis sah eher aus wie eine Überschwemmung und begrub Steine und Pflanzen unter sich, aber der Himmel, wie im Widerspruch dazu, war strahlend blau mit ein paar bauschigen, weißen Wolken. Es war irgendwie faszinierend. Ich verharrte einen Moment länger vor dem Bild, als ich wahrscheinlich vor jedem anderen Bild gestanden hätte.

"Schön, nicht wahr?", wollte Sean wissen. Er hatte sich in der Zwischenzeit in die Küche verzogen, um mit dem Kochen anzufangen.

Ich erwachte aus meiner Starre und drehte mich zu ihm um, nickte. "Ja, wirklich. Von wem ist es?"

Nicht, dass ich irgendeine Ahnung hätte, aber es interessierte mich dennoch.

"Andreas Schelfhout", sagte er. "Ein niederländischer Künstler aus dem 19. Jahrhundert." Er lächelte und widmete sich wieder seinem Topf, den er unter den Wasserhahn hielt, um ihn aufzufüllen.

Hübsch, dachte ich, und wollte mich gerade umdrehen und mich zu Sean gesellen, als etwas anderes meine Aufmerksamkeit erregte: im Bücherregal stand ein gerahmtes Foto, das schon deutlich älter war, und zwei Jungs im Alter von etwa zwölf, dreizehn Jahren zeigte. Einer von ihnen grinste mit einem unverschämten Lächeln in die Kamera rein, sein schwarzes Haar zu allen Seiten seines Kopfes abstehend, als wäre er gerade erst aus dem Bett gekrochen. Den einen Arm hatte er ausgestreckt und mit der Hand das Victory-Zeichen geformt, den anderen Arm hatte er um seinen Freund gelegt. Dieser hatte dunkelblondes Haar und ein zurückhaltendes Lächeln im Gesicht. Alles in einem war er schmächtiger als der andere Junge und strahlte nicht ganz so viel Leben aus. Aber selbst das verblichene Foto hatte es nicht vermocht, die erstaunlich grünen Augen des blonden Jungen auszulöschen.

"Bist du das?", entfuhr es mir automatisch und ich konnte nicht verhindern, dass ich ein bisschen geschockt, oder vielmehr ungläubig, klang.

Sean warf mir einen Blick zu und ich deutete auf das Foto, schaute ihn an und dann wieder den Jungen im Bild.

Er nickte, stellte die Herdplatte an. Dann bemerkte er meinen irritierten Blick. "Was stimmt denn nicht damit?", wollte er ein wenig besorgt wissen und ließ das Paket Nudeln, das er in seinen Händen hielt und gerade aufreißen wollte, sinken.

Ich schüttelte den Kopf. "Gar nichts. Nur... du siehst so anders aus als jetzt." Wieder sah ich ihn an, dieses Mal fast ungläubig. Er sah so unglaublich gut aus und jedes Mal, wenn ich ihn anschaute, war es, als sähe ich ihn zum allerersten Mal.

Er lachte leise. "Das könnte daran liegen, dass seitdem dreizehn Jahre vergangen sind."

Aber das meinte ich nicht. Der Junge auf dem Foto sah so... harmlos aus. So schüchtern und wehrlos. Der Mann, der da gerade in der Küche stand und mit den Nudeln kämpfte, war alles andere als das. Und natürlich noch viel mehr.

Ich konzentrierte mich auf seinen Freund. Das müsste dann also Evan sein, der Freund - oder Mann? - seiner Schwester und der Vater seiner Nichte. Er war mir auf Anhieb sympathisch, auch wenn das hier wahrscheinlich nur ein Schatten seines jetzigen Selbst war. Vielleicht hatte er sich die Lebensfreunde, die er auf dem Foto ausstrahlte, erhalten. Es wäre schön, wenn es so wäre, ging mir durch den Kopf, obwohl ich diese Person doch gar nicht kannte. Aber dieser Junge mit dem frechen Grinsen hatte schon mein Herz für sich gewonnen.

Ich riss mich endlich von dem Foto los und trottete zu Sean hinüber, bei dem das Wasser gerade überkochte und aus dem Topf quoll. Er sprang erschrocken auf und ließ das offene Nudelpaket auf die Arbeitsfläche fallen, wo sie sich natürlich verteilten, wobei ein paar von ihnen zu nah an den Rand kullerten und auf den Boden fielen.

Leise fluchte er und hob den Topf in die Höhe, stellte ihn auf einer kalten Herdplatte ab und regulierte die Hitze. Ich musste unwillkürlich kichern. Am Herd sah er nicht halbwegs so souverän und selbstsicher aus, wie bei so vielen anderen Dingen und irgendwie machte ihn diese Schwäche noch viel sympathischer.

Er warf mir einen prüfenden Blick zu, doch ich konnte meine Belustigung nicht verstecken und so grinste auch er schief und schüttelte resigniert den Kopf.

"Da siehst du's", beklagte er sich. "Ich bin absolut untalentiert. Da fällt mir ein, ich hab dir noch gar nicht das Schlafzimmer gezeigt. Willst du es sehen?"

Was für ein seltsamer Themenwechsel. Die Bedeutung seiner Worte erreichte mich erst zwei Sekunden später und ich errötete augenblicklich. Um mich - und ihn - davon abzulenken, huschte ich schnell an ihm vorbei und nahm den Topf in die Hände.

"Warte, ich helfe dir", murmelte ich unangenehm berührt, wohl wissend, dass meine absolute Ignoranz das Schlafzimmer betreffend ihn wahrscheinlich belustigte oder sogar frustrierte. Ich stellte den Topf stillschweigend auf die Herdplatte zurück, wo das Wasser sofort wieder zu kochen anfing, schüttete ein bisschen Salz hinein und diesem folgten die Nudeln. Sean anzusehen wagte ich erst, als ich die Nudeln im Wasser versenkt hatte und nichts mehr zu tun war.

Er hatte sich mit dem Rücken an die Arbeitsfläche gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und sah mich mit einem Ausdruck an, der halb belustigt, halb liebevoll war. Sein Blick erwärmte sofort mein Herz und ließ es höher schlagen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann mich jemand zuletzt - oder überhaupt schon einmal - so angesehen hatte.

Wieder fühlte ich seine übermächtige, unwiderstehliche Präsenz in allen meinen Poren und wieder fühlte ich mich so sehr zu ihm hingezogen, aber gleichzeitig so klein und irgendwie ... benebelt?

Gerade, als ich mich verwirrt von ihm abwenden wollte - er hatte eine toxische Wirkung auf mich - griff er nach meiner Hand und zog mich an sich. Ich fand mich an seine Brust gepresst, meine Schläfe an seinem Kinn, meine Wange an seinem Hals, doch noch bevor ich es realisieren und mein Herz einen Schlag aussetzen konnte, wirbelte er mich blitzschnell herum.

Nun war ich rücklings an die Arbeitsfläche gelehnt und er platzierte seine Hände rechts und links von mir auf eben jener, sodass ich nicht mehr entkommen konnte, lehnte sich mit dem Oberkörper über mich und instinktiv lehnte auch ich mich zurück, meine Augen fest auf seine gerichtet. Mein Herz befand sich nun in rasendem Galopp, als seien wir hier bei einem Rennen, bei dem es etwas zu gewinnen galt, doch auf all das konnte ich mich nicht mehr konzentrieren, denn mein Verstand hatte mittlerweile ausgesetzt und in meinem Kopf herrschte weißer Nebel, als er sich weiter runterbeugte und mit seinen Lippen meine Wange streifte, ganz sachte, ganz sanft. Es war eine Berührung zum Dahinschmelzen, wenn ich nicht schon längst wie heißer Wachs in seinen Händen zergehen würde...

Sie berührten schließlich - endlich - auch meine Lippen. Es war kein ausschließlich zurückhaltender Kuss, wie das Mal zuvor. Dieses Mal wurde er etwas fordernder, aber nur ein wenig, und verstärkte den Druck. Seine Hand glitt von der Arbeitsplatte auf meine Hüfte und mir wurde augenblicklich erschreckend schwindelig, als ich bemerkte, dass ich vergessen hatte, zu atmen.

Ich schnappte nach Luft und drückte Sean ein wenig erschrocken, aber behutsam, von mir weg, was er ohne ein Gesicht zu verziehen auch geschehen ließ. Im Gegenteil, er sah sogar sehr zufrieden mit sich selbst aus und ein süffisantes Grinsen umspielte seine Lippen.

Er trat einen Schritt zurück und entließ mich aus diesem nur allzu reizvollem Gefängnis, während mein Herzschlag und meine Atmung, die bis eben noch auf Entzug gewesen war, sich langsam - sehr langsam - wieder zu normalisieren versuchten.

Sean hielt plötzlich eine Tomate in der Hand und legte sie auf ein Schneidebrett, das Messer bereits zwischen den Fingern, und setzte es an. Gleich würde er sich den Zeigefinger abhacken, ging mir durch den Kopf und ich schob ihn schnell zur Seite und nahm den scharfen Gegenstand an mich.

"Ich mach das", erklärte ich ihm geschäftig und begann, die Tomate in Scheiben zu schneiden. Ich war froh, etwas zu tun zu haben, denn so stand ich nicht hilflos in der Küche herum, immer wieder anfällig für irgendwelche Verführungsaktionen, die ihn in unregelmäßigen Abständen zu überkommen schienen. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, aber ein bisschen seltsam fühlte ich mich schon. Er sagte nie etwas und ich wusste auch nicht, was angebracht gewesen wäre. Immerhin kannte ich ihn noch nicht so gut.

Neben dem Brettchen lag ein Salatkopf, an dessen Bearbeitung ich mich nun auch machte. Anscheinend sollte das hier ein Salat werden. Eine meiner leichtesten Übungen.

"Jetzt komm ich mir aber echt unfähig vor", brummte Sean gespielt beleidigt, als er zusah, wie schnell ich den Salat zerhackte, und sein Kommentar brachte mich zum Lachen.

"Du bist absolut katastrophal", bestätigte ich leichthin und lächelte. Wer hätte gedacht, dass er nicht nur ausschließlich großartig sein konnte, sondern auch absolut menschlich? Also ich nicht.

"Ich hab dich gewarnt", grinste er vergnügt und fügte hinzu: "Ich geh lieber mal den Tisch decken, sonst komm ich mir noch allzu überflüssig vor." Mit diesen Worten ging er an mir vorbei, seine Hand glitt ganz leicht, fast, ohne mich zu berühren, über meine Taille, meinen Rücken und hinterließ einen wohligen Schauer. Huch, was für einen Effekt er auf mich hatte... der Wahnsinn!

Obwohl ich noch ein wenig verwirrt war, musste ich doch lachen.

"In der Küche anscheinend schon", bestätigte ich feixend und zerschnibbelte die Salatblätter in schnellem, gekonnten Tempo.

Sean grinste. "Endlich sagt mir mal jemand die Wahrheit", seufzte er theatralisch und tastete nach dem Griff einer Schublade, in der das Besteck lag.

Er fischte zwei Messer und zwei Gabeln heraus und entschwand aus meiner Sichtweite, sodass ich mich nun vollkommen auf den Salat konzentrieren konnte. Als Sean den Hängeschrank ganz in meiner Nähe aufsuchte, um die Teller herauszuholen, schob er mir eine Schüssel für den Salat zu.

Nach einer kleinen Weile, in der keiner von uns etwas sagte und jeder mit seiner eigenen Tätigkeit beschäftigt gewesen war, meldete er sich als Erster zu Wort.

"Tust du mir vielleicht einen Gefallen?", fragte er fast schon kleinlaut und ich musste erst aufblicken, um das freche Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen.

Ich zog argwöhnisch eine Augenbraue hoch. "Was denn?"

Sein Lächeln vertiefte sich. "Könntest du gegenüber Abby vielleicht nicht erwähnen, dass... na ja, du weißt schon." Er machte eine Geste, die seine halbe Küche, mich mit eingeschlossen, beschrieb, und es war offensichtlich, was er meinte: dass ich gekocht hatte, weil er es nicht hingekriegt hat.

Ich musste schmunzeln und wandte mich ab, wieder der Kochstelle zu.

"Vielleicht...", sagte ich so rätselhaft, wie es mir möglich war, und hatte wirklich Mühe, mein Grinsen im Zaum zu halten. Zum Glück stand ich mit dem Rücken zu ihm, denn wenn er das gesehen hätte, würde er es mir sicherlich nicht abkaufen. Natürlich hatte ich nicht vor, mit Mrs. Delaney über seine Kochkünste zu reden... oder vielleicht doch?!

Plötzlich schlossen sich zwei starke Arme von hinten um mich und drückten mich an sich. Vor Schreck ließ ich das Messer fallen, das mit einem Scheppern neben die Schüssel fiel und dort auch liegen blieb. Ich hätte es nur ungern in meinem Fuß gehabt...

Sean legte seine Wange an meine Schläfe und mein Herz begann wieder zu hämmern, als gäbe es keinen Morgen. Wieso tat er das? Ständig brachte er mich aus dem Rhythmus... oder war ich wirklich so anfällig für ihn? Es war eindeutig, dass er seinen Charme nur so versprühte und, was noch eindeutiger war, dass ich diesem sofort erlag.

"Ehrlich", raunte er mir ins Ohr, sein heißer Atem streifte meine Wange und ich schloss die Augen, um mich darauf zu konzentrieren, aufrecht stehen zu bleiben. Meine Knie waren schon verdächtig wackelig... "Ich hab ein schlechtes Gewissen deswegen..."

Schlechtes Gewissen? Was meinte er? Irgendwie schien die Verbindung zwischen meinen Synapsen gekappt worden zu sein, denn ich wusste plötzlich überhaupt nicht mehr, wovon er da redete.

Nur schwach versuchte ich, den Kopf zu schütteln, um ihm zu bedeuten, er bräuchte kein schlechtes Gewissen zu haben - weswegen auch immer.

"Doch", bestand er leise und ich sog begierig seinen Duft ein. Eine Mischung aus Shampoo und Aftershave und da war noch etwas anderes... einfach köstlich! "Ich mach' es wieder gut, versprochen."

Ich hörte ein Schmunzeln in seiner Stimme und blinzelte, als er mich losließ und sich neben mich schob, mit dem Rücken zum Herd, und mir frech zuzwinkerte.

Mit erhitzen Wangen starrte ich zu ihm auf, nicht sicher, was ich auf dieses Versprechen erwidern sollte.

"Nicht nötig", hörte ich mich krächzen. War das wirklich meine Stimme?! Und nun, da er mindestens fünfzehn Zentimeter Abstand zwischen uns gebracht hatte, wusste ich auch, was er wieder gutmachen wollte. "Das macht gar keine Umstände, wirklich..."

Er lächelte zwar höflich, sah aber nicht so aus, als hätte ich ihn überzeugt.

"Lass es mich trotzdem wiedergutmachen. Ich bestehe darauf."

Ich schluckte - bildete ich mir das nur ein oder klang er tatsächlich... anzüglich? Wie er da stand und mich süffisant angrinste - kein Zweifel!

Ich wandte mich ab und griff nach dem nächstbesten Gegenstand, den ich fassen konnte. Es war ein kleiner Pfefferstreuer, was mir sehr zugute kam, der Salat konnte noch ein bisschen Würze gebrauchen.

"Wenn du willst", sagte ich etwas steif, denn zu Schweigen, während er mich immer noch erwartungsvoll ansah, wäre etwas seltsam gewesen – nicht zu erwähnen gar unhöflich - und ich konnte ja nicht IMMER nur ausweichen.

Sean trat einen Schritt näher und noch bevor ich den Salat würzen konnte, nahm er mir sachte den Pfeffersteuer aus der Hand. Halb fragend, aber auch halb empört schaute ich zu ihm auf, doch er lächelte nur milde und schob den kleinen Streuer wieder zurück an seinen Platz.

"Das", sagte er bedeutungsvoll und nickte mit dem Kopf in Richtung des Pfefferstreuers, "ist Zimt."

Ich wurde rot, als ich seinem Blick folgte. Tatsächlich! Es stand auch ganz groß und dick "ZIMT" drauf... ich war ein Idiot!

"Oh", entfuhr es mir und ich wich seinem amüsierten Blick aus, "das..."

Während ich so rumstammelte, fiel Sean mir ins Wort: "Ich weiß ja nicht, wie du es hältst", scherzte er, wahrscheinlich, um die Spannung ein wenig zu lösen, "aber ich bevorzuge Salat, der nicht nach Weihnachtsplätzchen schmeckt."

Er grinste mir fröhlich zu. "Privat kannst du es natürlich halten, wie du willst", versicherte er mir in demselben Tonfall und hob noch im selben Atemzug den Deckel vom Topf, um zu schnuppern.

"Sieht gut aus", kommentierte er, geradewegs so, als verstünde er irgendwas davon, "ich krieg das nie so gut hin."

Ich hatte mich mittlerweile von meinem Malheur erholt, was nicht zuletzt daran lag, dass auch Sean schnell zu anderen Dingen übergegangen war - vielleicht sogar absichtlich, um mich abzulenken - und schob ihn ein wenig zur Seite, damit er ja keinen weiteren Mist mit den Nudeln anstellen konnte.

"Du meinst wohl, gar nicht", neckte ich ihn. "Was gibt's für 'ne Sauce?"

Er öffnete den Kühlschrank und griff zielsicher hinein, beförderte ein kleines Glas ans Tageslicht und hielt es hoch.

"Pesto."

Ich rollte unmerklich die Augen, aber gleichzeitig war mir auch danach, laut loszuprusten.

Aus dem Glas. Das war ja klar.

"Dann mal los. Was steht hinten drauf?"

Er runzelte die Stirn und suchte die Etikette des Glases nach einer Anleitung ab, um es mir dann vorzulesen.

"Soll ich das mal versuchen?", fügte er im Anschluss noch schnell hinzu. "Das hört sich nicht schwierig an."

Ich lächelte ihm aufmunternd zu und nickte. Sollte er sein Glück versuchen...
 

"Das lief doch ganz gut." Enthusiastisch ließ Sean sich am gedeckten Tisch nieder und frohlockte noch immer über seinen "erfolgreichen" Versuch, das Pesto aufzuwärmen.

"Wenn man außer Acht lässt, dass du es in der Pfanne hast anbrennen lassen..." Und auf dem Etikett stand extra noch, nur warm machen und nicht kochen. Aber Sean hat es einfach, ohne umzurühren, stehen lassen und während ich das Wasser der Nudeln in den Ausguss geschüttet habe, hat das Unglück seinen Lauf genommen... Den Pfannenboden würde er nun selber auskratzen dürfen.

Er grinste, ganz und gar nicht betroffen. "Schmeckt doch trotzdem gut", beharrte er heiter, bevor er sich eine Nudel in den Mund schob und genüsslich kaute.

Und das tat es tatsächlich. Wenn vom Pesto auch ein leichter, eigenartig verbrannter Geruch ausging, hatten wir zusammen das Meiste retten können. Sean war in der Küche genauso, wie ich überall außerhalb dieser: ungeschickt und unfähig. Ein interessanter Ausgleich...

"So gut hab ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen...", schwärmte er zwischen zwei Bissen und ich sah verwundert zu, wie er hungrig die Nudeln verschlang und bei jedem Schluck zufriedener wirkte. "Außer natürlich", fügte er der Fairness halber hinzu, "Abby bringt mir was hoch... Das tut sie in letzter Zeit aber immer seltener." Er runzelte die Stirn, ließ sich aber nicht lange von dieser Tatsache aufhalten und spießte eine weitere, grüne Nudel auf seine Gabel auf.

"Was isst du denn sonst so?", wollte ich misstrauisch wissen.

Sean grinste mich ertappt an. "Willst du mal einen Blick in meine Tiefkühltruhe werfen?", schlug er vor und bestätigte meine Vorahnung. Ich schüttelte den Kopf.

"Nein, schon gut..." Nun, wenn er nicht für sich selbst kochen könnte, dann könnte ich doch... Ich versuchte, diesen Gedanken abzuschütteln, denn niemand konnte mir versichern, dass er mich wirklich haben wollte - auf Dauer meine ich. Und da er selbst dieses Thema - Beziehung - nicht anschnitt, war auch ich leise. War ich vielleicht zu kindisch und wir hatten schon längst eine? Oder traf er sich noch mit anderen Frauen? Sprach man das heutzutage überhaupt offen an?

Ich erinnere mich noch an meine Schulzeit. Da waren kleine Zettelchen mit "Willst du mit mir gehen - Ja, Nein, Vielleicht" noch vollkommen okay gewesen und mein erster Freund hatte damals von mir wissen wollen, ob ich seine "feste Freundin" werden wollte.

Hier lief das anscheinend anders ab... irgendwie... erwachsen. Ich kam noch nicht ganz dahinter und sagte mir, ich müsste nur abwarten und irgendwann würde es mir schon klar werden. Ein guter Plan, wenn ich nur nicht so ungeduldig und unsicher sein würde! Der Zweifel brachte mich fast um den Verstand, natürlich nur dann, wenn Sean es nicht gerade tat. Aber von ihm ließ ich mich ja auch unheimlich gerne um den Verstand bringen...

Ich räusperte mich leise, um meine seltsamen Gedanken hinter mir zu lassen und mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Dabei fiel mein Blick auf das Foto, das immer noch im Bücherregal stand, und blieb daran hängen.

"Das neben dir, der andere Junge...", setzte ich an, doch er war meinem Blick gefolgt und antwortete, noch bevor ich meine Frage zu Ende stellen konnte.

"Das ist Evan."

Ich nickte, meine Augen immer noch auf dem Bild. Von hier hinten konnte ich nicht so viel erkennen, aber ich hatte die beiden Jungs noch sehr gut im Gedächtnis.

"Und wie... wie ist er so?", wollte ich zaghaft wissen. Ich wollte nicht, dass es so rüberkam, als interessierte ich mich für Evan - zumindest nicht auf diese Art und Weise, doch er schien eine faszinierende Persönlichkeit zu sein. Wie hatte Sean ihn genannt? "Immer auf der Überholspur"? Genauso sah der Junge auf dem Foto auch aus - als koste er das Leben in vollen Zügen aus und ließ sich von nichts und niemandem aufhalten.

"Ich meine", fügte ich schnell hinzu, um eventuell aufkommende Zweifel von seiner Seite schnell beiseite zu wischen, "er sieht so lebendig aus auf dem Bild und so fröhlich. Ist er noch immer so?"

Erst zu spät bemerkte ich, dass Sean's Miene erstarrt war. Er hatte das Besteck sinken lassen und sah mich mit kritischem Blick an, scheinbar unsicher, wie er darauf reagieren sollte, aber in seinem Ausdruck lag auch so etwas wie... Fassungslosigkeit? Unglaube?

"Evan ist..." Er schluckte und machte mich damit ziemlich nervös. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Hätte ich nicht fragen sollen? Ich wollte ihm ganz sicher nicht das Gefühl vermitteln, ich sei hinter seinem Freund her - oder überhaupt hinter irgendjemandem.

"Er ist tot."

Eine lange Pause trat zwischen uns ein, in der das Blut aus meinem Gesicht wich - das tat es immer mindestens genauso schnell, wie es kam - und das Einzige, woran ich denke konnte, war die Tatsache, dass ich Evan soeben noch als "so lebendig" bezeichnet hatte...

Intimacy

"Evan ist..." Er schluckte und machte mich damit ziemlich nervös. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Hätte ich nicht fragen sollen? Ich wollte ihm ganz sicher nicht das Gefühl vermitteln, ich sei hinter seinem Freund her - oder überhaupt hinter irgendjemandem.

"Er ist tot."

Eine lange Pause trat zwischen uns ein, in der das Blut aus meinem Gesicht wich - das tat es immer mindestens genauso schnell, wie es kam - und das Einzige, woran ich denke konnte, war die Tatsache, dass ich Evan soeben noch als "so lebendig" bezeichnet hatte...
 

Schließlich fand ich doch noch meine Sprache wieder. Ich sah zwar, dass Sean alles andere als glücklich damit war, dieses Thema besprechen zu müssen, aber ich war noch viel zu geschockt, um mir Gedanken über ihn und seinen Gemütszustand zu machen.

"Oh... aber du...", stammelte ich, halb verlegen, halb verstört. Warum hatte er nie etwas gesagt? Er hatte immer so getan, als lebte Evan noch. Kein Wunder, dass ich dem Irrtum unterlegen war!

"Ich meine", versuchte ich es noch mal, nachdem ich mich einigermaßen gesammelt hatte, "wenn du von ihm geredet hast..." Ich brach wieder ab, als ich seinen gequälten Gesichtsausdruck bemerkte.

Er holte einmal tief Luft und rang sich ein halbherziges Lächeln ab.

"Ja, ich weiß...", gestand er entschuldigend, doch mehr sagte er nicht dazu, was mich noch neugieriger machte. Nun, wo ich schon in dieses Fettnäpfchen getreten war, wollte ich auch den Rest wissen!

"Was ist passiert?", fragte ich leise, fast schon ehrfürchtig, in die Stille hinein, die sich ganz kurz zwischen uns gelegt hatte. Ich wusste auch nicht, warum ich plötzlich flüsterte, aber es erschien mir irgendwie angemessen - die Atmosphäre war plötzlich so gespannt und kaum noch zu ertragen. Ich konnte nur hoffen, dass Sean mir diese Frage nicht übel nehmen würde.

Meine Hoffnungen wurden nicht enttäuscht.

Er zuckte die Schultern. "Autounfall. Er ist zu schnell gefahren, ist von der Fahrbahn abgekommen und gegen einen Baum geprallt." Das wiederum erklärte er so sachlich und gleichgültig, als habe er nur über drei Ecken etwas davon gehört und kannte den Verunglückten nicht. Trotzdem jagte es mir einen Schauer über den Rücken. Gerade wollte ich den Mund aufmachen und fragen, wie lange das schon her war, als er mir zuvorkam.

"Das war vor vier Jahren." Er schüttelte den Kopf, so, als ob er alle negativen Gedanken und Gefühle von sich abschütteln wollte, lächelte aber dann bedauernd. "Das Schlimmste daran ist, dass es erst kurz nach Holly’s Geburt passierte und sie so wenig Zeit zusammen hatte. Er hat sie vergöttert, weißt du..."

Oh ja, stimmt ja... da war ja noch etwas mit Tochter und Frau... In meinem Hals bildete sich ein Kloß. Wie furchtbar muss es für Sean's Schwester - mir fiel ein, dass ich ihren Namen ja noch gar nicht kannte - gewesen sein, plötzlich als Witwe und mit einem Säugling alleine dazustehen! Wie traurig und ungerecht die Welt manchmal sein konnte! Ich umklammerte mein Besteck fester, zu essen hatte ich schon lange aufgehört, und lauschte weiter Sean's Worten. Er schien langsam in Fahrt zu kommen und erzählte ganz von sich aus, ohne, dass ich nachfragen musste.

"Aber Clara ist stark... sie hat das gut überstanden. Und Abby... Mrs. Delaney, meine ich", fügte er erklärend an mich hinzu, "ich kann sie nicht einfach hier allein zurücklassen. Evan's Eltern sind kurz darauf umgezogen, weil sie es nicht ertragen konnten, in der Nähe zu leben, wo ihr Sohn verunglückt ist. Wir drei - vier, Holly mit eingerechnet - blieben hier."

Er machte eine kurze Pause und starrte einen Moment lang auf seinen Teller, dann hob er wieder den Blick und sah mich an, versuchte ein aufmunterndes Lächeln, als er meinen entmutigten Gesichtsausdruck sah.

"Mach dir keine Sorge, ihnen geht's gut", versicherte er mir und nahm wieder unsere unterbrochene Tätigkeit auf: essen.

Ich schüttelte stumm den Kopf. "Und was ist mit dir?", flüsterte ich, aus Angst, wieder in meiner normalen Tonlage zu sprechen würde die Schleusen öffnen für das, was sich da mittlerweile zusammengebraut hatte - ja, ich geb's zu, ich bin eine große Heulsuse, aber das wäre ja noch schöner, wenn ich hier nun vor Sean anfangen würde, zu heulen! Aber es war so einfach, sich selbst in diese Situation hineinzuversetzen... einen geliebten Menschen zu verlieren, ob nun Eltern oder Freunde, und dann auch noch auf so eine tragische Art und Weise... Besonders traurig ist es natürlich immer, wenn jemand so jung stirbt. Evan war doch erst 21. So wie ich jetzt... das ganze Leben noch vor sich. Unmöglich, sich vorzustellen, nun schon diese Welt verlassen zu müssen.

Er hatte sicherlich Pläne, Wünsche, Hoffnungen. Also ich habe sie. Doch er konnte sie sich nicht mehr erfüllen...

Es war kein gequältes Lächeln mehr, das Sean mir nun schenkte, sondern ein vollkommen ehrliches und warmes. Er streckte seine Hand über den Tisch aus, doch auf halber Strecke in die Richtung meiner hielt er inne und machte kehrt.

"Mir geht's wunderbar. Vor allem jetzt gerade", fügte er hinzu.

Ich konnte nicht anders und musste einfach mit einem schüchternen Grinsen antworten.

"Versuchst du gerade, das Thema zu wechseln?", wollte ich gespielt anklagend wissen und runzelte die Stirn, gerade so, als könnte ich es kaum fassen.

Er lachte. "Ich weiß nicht, versuchst du's denn gerade?", konterte er und hatte mich natürlich erwischt. Ah, ich war so einfach zu durchschauen...

Doch noch bevor ich darauf eingehen - oder auch nicht eingehen - konnte, wurde er wieder ernst und beantwortete meine Frage nach seinem Gemütszustand.

"Evan ist deutlich über der Höchstgeschwindigkeit gefahren, Emily. Er wusste, dass es nicht erlaubt war und er wusste auch um die möglichen Folgen. Dass die Straße gefährlich, unübesichtlich und kurvenreich war, war schließlich kein Geheimnis. Man schaue sich nur die Kreuze und Blumen am Straßenrand an..."

Ich unterbrach ihn mit weit aufgerissenen Augen. "Die Arlington Road?", flüsterte ich ehrfürchtig, woraufhin er meine Vermutung mit einem Nicken bestätigte.

"Er hat schon immer eine Affinität zu schnellem Fahren gehabt. Oder nennen wir es der Fairness halber Raserei." Sean lachte, aber seine Heiterkeit hielt nicht lange an. "Und dennoch hat er sich selbst in diese Misere hereinmanövriert. Leider kam er da nie wieder raus. Selber Schuld"

Er schüttelte bedauernd den Kopf und zuckte mit den Achseln, während ich ihn sprachlos anstarrte. Selber Schuld? Betrauerte man so heutzutage den Tod seines besten Freundes?!

"Was... was sagst du denn da?!", krächzte ich fassungslos. Sean blickte mich alarmiert an, doch dann schien der Groschen gefallen zu sein und er hob abwehrend die Hände und lachte leise über mein Entsetzen.

"Glaub mir, wenn er hier wäre, würde er mir das augenblicklich genau so unterschreiben."

Das überzeugte mich nicht recht und er sah es an meinem skeptischen Blick.

"Evan konnte sehr wohl bestens zwischen Recht und Unrecht unterscheiden und er wusste immer genau, wann er Mist baute. Er nahm es hinterher auch auf seine eigene Kappe, nur war ihm das dieses Mal leider nicht mehr vergönnt gewesen." Bei er Erinnerung an Evan schlich sich ein wehmütiges, aber doch irgendwie liebevolles Lächeln auf Sean's Gesicht.

"Es war für ihn in Ordnung, das gesagt zu bekommen. Er sah es ganz genauso", fügte er noch erklärend hinzu. "Und ließ sich trotzdem immer wieder hinreißen."

So war das also. So sah also die Beziehung zwischen den beiden aus: vollkommene Ehrlichkeit in allen Lebenslagen und Kritik wurde nicht übelgenommen, weil sie nur aus Sorge stattfand. Und selbst jetzt, nach dem Tod von Evan, war es noch immer genauso: sie waren sich noch immer einig, zumindest irgendwie. Es änderte aber nichts daran, dass Sean ihn vermisste, überhaupt gar nichts. Spätestens jetzt, mit diesem neuen Wissen, wäre ich wirklich in Tränen ausgebrochen, doch zwei Sachen hielten mich davon ab: die Tatsache, dass Sean mir gegenüber saß und die Verwunderung über diese interessante, starke Freundschaft, die noch über den Tod hinauszugehen schien.

In meine Überlegungen versunken, war ich ruhig geworden und hatte lange nichts mehr gesagt. Zu beschäftigt war ich, diese Informationen zu verarbeiten und das neugewonnene Wissen auf meine Freundschaft zu Jo anzuwenden. Es war ein Graus, daran zu denken, dass eine von uns nicht mehr da sein könnte, aber ich war mir nicht sicher, ob ich irgendwann so stark sein könnte wie Sean, der ganz rational die Fehler, die sein bester Freund an jenem Abend begangen hatte, einfach so aufzählen und ihm die Schuld an seinem eigenen Unglück geben konnte.

Ich verstand jetzt auch besser, warum er sich so sehr um seine Schwester und seine Nichte und natürlich um Mrs. Delaney kümmerte. Sie hatten alle zusammen eine schwierige Zeit durchgestanden und obwohl es ihm natürlich auch schlecht gegangen war, hat er sich wundervoll um alle kümmert - und tat es immer noch! Und Mrs. Delaney - wenn ich das richtig verstanden hatte, war Sean noch der Einzige in ihrer Nähe, der sie mit Evan verband. Kein Wunder, dass er es nicht über's Herz brachte, auszuziehen.

Ich seufzte, womit meine Gedanken sich wieder in normale und gewöhnliche Bahnen hinbewegten. Sean, wie wundervoll aufopfernd er war und seinen eigenen Schmerz hinten anstellte...

"Entschuldige, ich wollte dich nicht traurig machen", meldete sich seine sanfte Stimme mitten in meine Gedanken hinein. Ich schaute auf und direkt in das etwas bekümmerte Gesicht von dem Mann, der zwar nicht kochen konnte - obwohl selbst DAS noch eine Untertreibung war -, aber dafür ein großes Herz hatte. So glaubte ich zumindest. Dann setzte er einen heiteren Gesichtsausdruck auf.

"Vergiss das am besten wieder, ja? Und mach dir bitte keine allzu großen Gedanken darüber."

Der hatte gut reden... Wie sollte ich mir keine allzu großen Gedanken machen um etwas, das mit ihm zu tun hatte? Ein Ding der Unmöglichkeit.

Aber ich nickte nur, schließlich wollte ich ihm nicht auch noch Kummer bereiten. Er nahm es dankbar hin, denn anscheinend war auch er froh, dieses Thema endlich fallen zu lassen.

Na gut... ich musste zugeben, über seine toten Freunde zu reden war vielleicht nicht der beste Gesprächsstoff bei einem Date. Aber so hatte ich wieder ein bisschen mehr über Sean erfahren und, anstatt mich abgeschreckt zu fühlen, fühlte ich mich noch viel hingezogener zu ihm...
 

"Komödie oder Horror?"

Sean hielt zwei DVD-Hüllen in die Höhe und blickte mich fragend an. Er hatte mich gefragt, ob ich Lust hatte, mir noch mit ihm einen Film anzusehen und ich hatte keine Einwände gehabt. Doch schon im nächsten Atemzug hat er mir gebeichtet, dass er höchstens sechs DVDs im Haus hatte: zwei Horrorfilme, eine ältere Komödie, eine Dokumentation und zwei Staffeln von irgendeiner bereits abgesetzten Serie, die früher im Fernsehen lief.

Er würde viel lieber ins Kino gehen oder sich im Fernsehen Sport angucken, aber für großartige Ausflüge in die Welt des Films und der DVD, dafür würde entweder die Zeit nicht reichen oder aber, er hatte keine Lust dazu und könnte sich nicht entscheiden, hatte er sich rechtfertigt. Was ich auch noch herausgefunden hatte: er mochte Horrorfilme. Ugh!

Ich brauchte mir die Hüllen gar nicht anzuschauen, um mich festlegen zu können.

"Komödie", entschied ich, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Er runzelte die Stirn, als sei er mit meiner Wahl nicht so richtig einverstanden.

"Der Horrorfilm ist aber auch sehr gut", versuchte er es, hob die Augenbrauen und warf mir ein süffisantes Grinsen zu. Was das schon wieder zu bedeuten hatte... Die Masche mit dem Horror war doch ziemlich alt, oder? Mädchen und Junge gehen in einen Horrorfilm... Mädchen kriegt Angst... Mädchen flüchtet sich in die Arme des Jungen... Junge hat seinen Spaß.

Nun, ich hätte nichts dagegen, mich in Sean's Arme zu flüchten, aber einen Horrorfilm wollte ich dafür doch nicht in Kauf nehmen, das war nun wirklich etwas, wozu mich keine zehn Pferde kriegen würden!

"Nicht mein Fall", erwiderte ich daher knapp und signalisierte ihm somit, dass ich nicht weiter mit mir diskutieren lassen würde. Schließlich hatte er mich vor die Wahl gestellt, also hatte er anscheinend auch nichts gegen die Komödie einzuwenden.

Er grinste. "Angst?"

"Nein!", protestierte ich, doch ein wenig zu heftig, und wurde einen Hauch rot, weil er mit seiner Behauptung direkt ins Schwarze getroffen hatte.

"Na gut, dann nächstes Mal?", lenkte er schmunzelnd ein, mich immer noch nicht aus den Augen lassend. Sie waren mal wieder so grün wie eh und jäh und funkelten vergnügt vor sich hin, während er mich betrachtete. Wie die Welt wohl durch solche erstaunlich grünen, schönen Augen aussehen mochte? Ich verlor mich wieder in Schwärmereien. Sein "nächstes Mal" versetzte mich noch mehr in Euphorie - er wollte also ein "nächstes Mal" haben, und ich, ich wollte es ja sowieso.

Ohne zu überlegen nickte ich, und bemerkte erst im Nachhinein, wozu ich da überhaupt zugesagt hatte!

Sean allerdings schien überaus zufrieden mit sich selbst zu sein, sein Grinsen vertiefte sich und kleine Lachfältchen legten sich um seine Augen. "Ich komm drauf zurück", versicherte mir zwinkernd. Na klasse... da freute ich mich aber!

Während ich noch mit meinem Schicksal haderte, das, Sean’s Hinneigungen zu Horrorfilmen nach beurteilt, zweifelsohne ziemlich bald auf mich zukommen würde, legte er die DVD in den DVD-Player und drückte gekonnte ein paar Tasten auf der Fernbedienung, spulte die Werbung vor und startete den Film, von dem ich leider keine Ahnung hatte, wie er hieß.

Er setzte sich neben mich auf die Couch und legte in selbstverständlicher Art und Weise seinen Arm hinter mir auf die Rückenlehne, ohne mich dabei zu berühren.

Die wenigen Zentimeter, die mich nun von ihm trennten, brachten mich fast aus der Fassung und ich konnte mich kaum auf den Anfang des Films konzentrieren.

Sean nippte an seinem Glas Wasser und stellte es wieder auf dem Couchtisch ab, genau neben meins, den Blick ganz und gar auf den Fernseher gerichtet.

Alkohol hatte es heute Abend nicht gegeben, was ich eher erstaunlich fand: die meisten Kerle versuchten direkt, ihre Dates abzufüllen, um dann leichtes Spiel zu haben. Entweder war das nicht Sean's Absicht, oder aber, er war ein anständiger Typ. Ich entschied mich für Letzteres, auch, weil ich nicht das Gefühl hatte, dass er sehr viel Wert auf Alkohol legte. Zum Glück, ich nämlich auch nicht.

Ich beobachtete ihn heimlich aus den Augenwinkeln und rückte schüchtern, vorsichtig, näher an ihn heran.

Obwohl er so vertieft in den Film schien, registrierte er diese zurückhaltende Bewegung sofort und schenkte mir ein warmes Lächeln. Sein Arm rutschte von der Rückenlehne auf meine Schulter und blieb dort liegen. Ich konnte ein erfreutes, triumphierendes Grinsen nicht unterdrücken.

"Sag mal", richtete er dann das Wort an mich, während ich noch feixte, seinen Blick fest auf den Bildschirm gerichtet, wo die Protagonisten – so nahm ich zumindest an, da ich nicht wirklich konzentriert war – gerade in einem Bett aufwachte und ziemlich verwirrt schien. "Wer wohnt eigentlich in der Wohnung gegenüber deiner?"

Ich erschauderte. "Da spukt es", platzte es aufgeregt aus mir heraus, was ich natürlich sofort bereute.

"Wie bitte?", gluckste er belustigt und seine ganze Aufmerksamkeit galt nun mir alleine. Neugierig sah er mich an, auf eine Antwort wartend.

"Ähm, na ja", druckste ich peinlich berührt herum. Klasse, Emily. Spätestens jetzt hielt er mich auch noch für total bescheuert! "Die Wohnung wird zwar vermietet, aber... es wohnt niemand dort."

Er betrachtete mich aufmerksam, um seine Lippen spielte immer noch die Spur eines Lächelns.

"Und deshalb soll es dort spuken?"

"Die Post verschwindet aus dem Briefkasten", argumentierte ich hastig und als er die Augenbrauen hochzog, fügte ich noch hinzu: "Und er ist nicht beschriftet!" Also wenn ihn das nicht überzeugte...

Sean lachte, wie nicht anders erwartet.

"Oh, ein intelligentes Gespenst, das seine Post liest", spöttelte er liebevoll, in seinen Augen blitzte vergnügt der Schalk auf.

"Sehr witzig", knurrte ich beleidigt und verschränkte die Arme von der Brust. "Ich meinte doch nur, dass das unheimlich ist. Abends brennt nie Licht und ich habe ständig Angst vor dieser Tür", redete ich mich in Rage, in dem schwachen Versuch, seinen Spott, den ich mir zugezogen hatte, abzubremsen und mich zu rechtfertigen

Er lachte leise. Ein angenehmes, dunkles Lachen, das mir eine Gänsehaut verursachte. Doch er sagte nichts mehr dazu, drückte meinen Oberkörper fester an sich und hauchte mir einen sanften Kuss auf's Haar, bevor er sich wieder, leise lächelnd, dem Fernseher zuwandte.

Sämtliche Knochen in meinem Körper schmolzen dahin, ich unterdrückte einen tiefen, sehnsüchtigen Seufzer und freute mich heimlich wie ein Schneekönig über diese süße und zärtliche Geste, die so voller Vertraulichkeit war. Das war natürlich auch eine Möglichkeit, mich zum Schweigen zu bringen...

Auch für ihn schien das Thema erledigt zu sein, doch ich fragte mich, was er jetzt wohl von mir dachte?

Hielt er mich für eine arme, bemitleidenswerte Irre, die an Geister glaubte, oder nur für gewöhnliche Irre mit Halluzinationen und Angst vor einer leerstehenden Wohnung, wie ich es ihm gerade gebeichtet hatte?

Der Fairness halber muss ich sagen, dass es wirklich gruselig war, was da vor sich ging, vor allem, wenn man mit besagter Wohnung Tür an Tür wohnte...

Ich seufzte und gab das Grübeln auf. Die letzte Tage hatte ich vor lauter Sorgen und Nervosität nicht besonders viel Schlaf bekommen, aber hier, bei Sean, in seinen Armen, fühlte ich mich ungeheuer sicher. Langsam überkam mich die Müdigkeit.

Ich gähnte ausgiebig und ließ meinen schweren Kopf erschöpft gegen seine warme Brust sinken. Das dumpfe, regelmäßige Schlagen seines Herzens lullte mich in einen süßen Dämmerzustand.

Ich nahm noch halbwegs bewusst seinen wundervollen Duft wahr und die Geräusche, die aus dem Flimmerkasten nach außen drangen. Nur am Rande bemerkte ich, wie er mit der anderen Hand nach meiner griff, die vorher in meinem Schoß ruhte, und behutsam, beruhigend mit dem Daumen über mein Handfläche strich. Immer wieder und immer wieder und immer wieder, bis er sie umklammerte und festhielt. Zum ersten Mal errötete ich nicht, bescheunigte meine Atmung sich nicht. Stattdessen schlummerte ich selig ein, zufrieden und warm, wie ein schnurrendes Kätzchen. In diesen Armen...
 

"Hey..." Jemand flüsterte leise an meinem Ohr. "Aufwachen..."

Nur wenige Sekunden brauchten diese Worte, diese Stimme, um in mein Bewusstsein zu dringen. Ich öffnete die Augen, ein wenig verwirrt, weil das hier nicht halb so bequem war wie mein Bett, und noch immer total verschlafen. Klar, ich war ja bei Sean...

Das erste, was ich bemerkte, war, dass ich eingeschlafen war. Das zweite: mein Kopf lag auf seiner Schulter und er hatte den Arm um mich gelegt, mit der anderen Hand hielt er noch immer meine fest. Es war schön warm und er roch so unglaublich gut, aber die ganze Situation war mir plötzlich so unangenehm, dass ich das gar nicht richtig genießen konnte.

Stocksteif setzte ich mich augenblicklich auf und versuchte, den Schlaf und die Röte, die sich langsam in mein Gesicht stahl, gleichzeitig abzuschütteln.

"Oh nein! Tut mir leid, ich wollte nicht... ich meine..." Ich wollte nicht, dass er mich für aufdringlich hielt! Ich war nur aus Versehen eingeschlafen, aber die Tatsache, dass ich während eines Films mit ihm überhaupt einschlafen konnte - unmöglich! Peinlich, peinlich... er musste mich doch für einen totalen Trottel halten, der diese Einladung nicht zu schätzen wusste und stattdessen lieber ein Nickerchen hielt... Oh Gott... bei diesem Gedanken schoss mir noch mehr Blut in die Wangen. Ich hatte es mal wieder vermasselt, oh ja!

Aber Sean, immer für eine Überraschung gut, schaute mich nur neugierig an. "Was denn?", wollte er wissen und ich war mir sicher, dass er mich nur ärgern wollte, mich aus der Reserve locken.

Anstatt darauf einzugehen, fiel mein Blick auf die runde Wanduhr, die über dem Fernseher hing, und mir stockte der Atem.

"Wie... wie lange hab ich denn...?", stammelte ich erschrocken, noch immer die Uhr fixierend, als könnte ich den Zeiger durch bloße Gedankenkraft dazu bringen, sich wieder zurückzudrehen und eine angemessenere Position einzunehmen. Es konnte unmöglich sein, dass es schon so spät war! Halb drei nachts...

Er überlegte einen kurzen Augenblick, bevor er antwortete. "Den restlichen Film über, die Nachrichten, eine Wiederholung von Roseanne, die gar nicht so gut war, und die Kinovorschau für nächste Woche."

Dann grinste er, aber ich senkte beschämt den Kopf. Das war ja eine ganze Menge.

"Normalerweise schlafe ich nicht so einfach ein...", sagte ich kleinlaut und es stimmte auch: in letzter Zeit litt ich sowieso unter Schlafmangel, aber auch so brauchte ich eine Ewigkeit, um endlich ins Traumland abzudriften. Dass ich das so einfach an seiner Schulter geschafft hatte, was manchmal nicht mal mein Bett nach ewig langem Hin- und Hergewälze vermochte, war doch recht erstaunlich. Aber trotzdem: warum musste es ausgerechnet hier und jetzt sein, dass der Schlaf mich übermannte?! Es war zum Haare raufen...

Sean allerdings schien es nichts auszumachen, das ich ihn als Kissen benutzt hatte, er nahm es gelassen und machte auch noch Witze darüber.

"Beim Horrorfilm wäre das sicherlich nicht passiert", scherzte er.

Davon war ich überzeugt, zweifellos, doch nach dem Horror hätte ich drei weitere Nächte kein Auge zutun können. Aber das sagte ich nicht laut, würde es seine Theorie von dem schreckhaften Weibchen, das ich ja zweifelsohne war, bestätigen. Er musste auch nicht alles wissen, schon gar nicht über meine Schwächen...

Ich fuhr mir mit der Hand über meine zerzaustesten Haare und gähnte hinter der vorgehaltenen anderen. Der Schlaf steckte mir noch ganz schön in den Knochen...

Sean, der mich beobachtet hatte, schmunzelte still vor sich hin. "Soll ich dich nach Hause fahren?", bot er freundlich an und dieses Angebot konnte ich einfach nicht ablehnen, zumal er sicherlich auch müde war und, wie ich wusste, morgen, oder eher heute, schon wieder früh aus dem Bett musste.

"Ja, bitte. Tut mir leid, dass ich dich so lange wachgehalten hab...", murmelte ich verlegen, während wir beide uns erhoben und in Richtung Wohnungstür gingen, aber er seufzte nur laut und winkte ab.

"Bitte hör doch auf, dich zu entschuldigen", bat er, griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher per Knopfdruck ab. "Es gibt absolut nichts, was dir Leid tun sollte."
 

"Soll ich dich noch zur Tür begleiten?", fragte er mich, als wir endlich in meiner Straße angekommen waren und er den Wagen ein paar Meter weiter neben dem Haus zum Stehen brachte.

Es klang nicht anzüglich, wie sonst immer, eher besorgt und müde. Ich schüttelte den Kopf und verneinte.

"Ich schaff die fünf Meter bis zu meiner Tür, denke ich, aber danke." Dafür, dass er so süß war, schenkte ich ihm ein abgeschlagenes, aber aufrichtiges Lächeln, das ihn beruhigen sollte.

"Ich dachte da eher an deine Nachbarsgeister", lachte er vergnügt und ich warf ihm einen bösen Blick zu. Ich wusste doch, dass er das gegen mich verwenden würde, um mich zu ärgern!

Er verstummte sofort, doch ich sah genau, wie es um seine Mundwinkel herum immer noch zuckte.

"Sicher?", hakte er nach und versuchte, so versöhnlich wie möglich zu klingen, doch noch bevor ich dem sanften Klang seiner Stimme und diesem zärtlichen Tonfall auf den Leim gehen konnte, schüttelte ich den Kopf und rief mir ins Gedächtnis, dass er mich soeben noch veralbert hatte.

"Nicht nötig", erwiderte ich steif, ein bisschen beleidigt. Natürlich konnte ich ihm nicht böse sein und sicherlich war das auch nur seine Art – das Unterwäsche-Malheur war das beste Beispiel dafür -, aber ich wollte ihn wissen lassen, dass ich kein großer Fan davon war, auf den Arm genommen zu werden. Dessen war ich überdrüssig, schon seit Schulzeiten...

Er gluckste leise und lächelte, was mich wieder ein bisschen friedlicher stimmte.

"Bis bald", sagte er und streckte die Hand aus, berührte mein Haar und strich mir zärtlich eine Strähne hinter das Ohr, strich mir mit dem Daumen über meine Wange, ganz langsam, ganz sachte. Und spätestens da hatte er mich natürlich wieder.

Ich musste mich zwingen, kontrollierte einzuatmen. Und wieder aus...

Er küsste mich nicht, aber diese kurze Berührung war so viel besser als alles andere...

"Bis bald", flüsterte ich heiser und stieg, wenn auch nur widerwillig, aus dem Auto. Fast hätte ich wieder den Mund aufgemacht und mich entschuldigt, dass ich ihn so lange beansprucht habe, unabsichtlich, aber das wollte er ja nicht hören. Rechtzeitig fiel es mir wieder ein.

Sofort schlug mir die kalte, feuchte Nachtluft entgegen und vertrieb die Wärme von Sean's Wagen und die seiner Berührungen. Ich zog mir die Jacke enger um die Schultern und verschränkte frierend die Arme vor der Brust, während Sean den Motor aufheulen ließ und sich langsam in Bewegung setzte. Ich stattdessen hechtete zum Hauseingang und winkte ihm von dort aus noch kurz zu, doch ob er mich gesehen hatte oder mir sogar zurückwinkte, konnte ich nicht mehr erkennen.

Erleichtert, den Abend einigermaßen heil hinter mich gebracht zu haben, schloss ich die Tür auf und tastete als aller erstes nach dem Lichtschalter für den Hausflur. Im Dunkeln stand ich nur ungern herum, vor allem, weil ich eine gruselige, leere Wohnung in der Nähe hatte...

Schnell huschte ich zu meiner Wohnungstür und wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, als mein Blick auf die Fußmatte fiel und mir fast das Herz stehen blieb.

Ein weißer Umschlag lag dort und mit riesigen, schwarzen Großbuchstaben war fein säuberlich "E. JONES" draufgeschrieben worden...

In These Arms...

Dienstag Mittag war ich mit meinen Nerven am Ende.

Mit zittrigen Fingern hob ich den Telefonhörer auf und drückte auf die "Anruf annehmen"-Taste, legte den Hörer wieder leise auf den Tisch und schlich mich aus dem Zimmer in die Küche, wo ich mich neuerdings am meisten aufhielt. Ich ertrug das ewige Klingeln nicht mehr und hatte das irrationale Verlangen, so weit wie möglich von ihm entfernt zu sein.

Unruhig machte ich mir einen Tee. Mein Lieblingsgetränk zurzeit, doch nicht mal der schaffte es mittlerweile, mich zu beruhigen.

Seit drei Tagen sah ich mich ständigem Läuten ausgesetzt und wenn ich dranging, war niemand da. Es kam auch kein Tuten oder sonst was aus der Leitung, es war einfach nur, als ob jemand schwieg. Und schwieg und schwieg.

Zuerst war ich etwas irritiert, dann habe ich mich schrecklich über diese dämlichen Streiche geärgert, aber als die Anrufe auch am Abend noch nicht aufgehört hatten, sondern, im Gegenteil, nur noch schlimmer wurden, bekam ich es mit der Angst zu tun.

Konnte es sein, dass das mein unbekannter Drohbriefschreiber war?

Spätestens da hatte ich auch verstanden, was die Nachricht, die zuvor wieder mal auf meiner Fußmatte gelegen hatte, bedeuten sollte. Ich nahm das Blatt Papier noch einmal in die Hand und starrte es an.
 

"Ich habe dich gewarnt!"
 

Und darunter, in denselben, dicken, schwarzen Lettern: meine Telefonnummer.
 

Der Anblick meiner Nummer hatte mir sofort die Luft zum Atmen geraubt und mich in eine Art Schreckstarre versetzt, bis mir einfiel, dass man sie ganz einfach im Telefonbuch nachschlagen konnte... Allerdings wusste dieser Irre auch, wo ich wohnte, was mich fast noch mehr beunruhigte. Meine Adresse war nicht verzeichnet und ich war dort eigentlich auch nur unter "E. Jones" eingetragen...

Ich überlegte eine Weile. Dasselbe stand auch auf meiner Türklingel und meinem Briefkasten. Würde das nicht bedeuten, dass... dieser Verrückte zuerst bei mir zu Hause gewesen war und erst dann meine Nummer herausgefunden hatte? War es derselbe, der bei mir eingebrochen hatte? Aber was wollte er noch von mir? Er hatte schon meine Edelstahltöpfe und meine alte Leselampe, wollte er mir noch meinen Verstand rauben?

Ich hatte wirklich das Gefühl, dass ich langsam den Kopf verlor.

Oder war es doch jemand anderer, der es auch mich abgesehen hatte? Und wie kam derjenige ständig rein, in den Hausflur? Jemand von drinnen musste doch erst den Summer betätigen.

Doch ich glaubte auch nicht, dass es irgendwer von den Nachbarn sein konnte. Erstens kannten die mich alle als "Emily" und nicht an "E. Jones" und zweitens... oder, warum eigentlich nicht? Das mit dem Namen konnte ja auch ein Ablenkungsmanöver sein... Aber wer von meinen allesamt recht netten und anständigen Nachbarn - Ausnahmen bestätigten wie immer die Regeln - würde so einen grausamen Sinn für Humor haben?

Ich bekam Kopfschmerzen vom vielen Nachdenken. Ich würde es ja doch nicht herausfinden und durch die Stockwerke zu laufen und nachzufragen würde sicherlich auch nicht viel bringen.

Aber was sollte ich tun? Sean anzurufen traute ich mich nicht. Er hatte sich damals schon so viele Sorgen gemacht und ich wollte nicht... nun ja, wie eine Schutzbedürftige dastehen, die sich ohne ihn nicht zu helfen wusste. Nein, ihm würde ich auf keinen Fall Bescheid sagen.
 

Zu meinen großen Entsetzen blieb das Telefon auch mitten in der Nacht nicht still. Ein, zwei Mal riss es mich in der Nacht zum Montag gewaltsam aus meinem sowieso schon unruhigen Schlaf und danach wagte ich nicht einmal mehr, die Augen für eine Sekunde zu schließen. Wenn der Unbekannte schon tagsüber hier auftauchte und mich nachts mit Telefonaten belästigte, dann konnte er auch ebenso gut plötzlich vor meiner Tür stehen – mitten in der Nacht.

Ein einziges Mal hob ich tatsächlich genervt den Hörer ab, es war irgendwann nach Mitternacht, und es war der Anruf gewesen, der meine Müdigkeit dazu veranlasst hatte, einer schier grenzenlosen Panik Platz zu machen.

Jemand atmete lautstark in den Hörer.
 

Geschockt ließ ich denselbigen fallen und mein Herz bollerte hart und unaufhörlich gegen meinen Brustkorb. Mit einem Satz war ich wieder beim Telefonhörer und drückte, ohne noch einmal zu horchen, die "Anruf beenden"-Taste.

Seitdem hatte ich keine ruhige Minute mehr. Auch am Montag setzten sich die Telefonate fort, doch ich nahm nicht mehr ab und auch die Nacht zum Dienstag verlief nicht anders. Es klingelte zwar nicht jede fünf Minuten und tagsüber auch öfter als nachts, in der es sich ungefähr auf drei, vier Anrufe summierte, aber es war oft genug, um mich jedes Mal die Kontrolle verlieren zu lassen.
 

Das Klingeln machte mich unheimlich wahnhaft und ich hielt es kaum noch aus. Bei jedem einzelnen Mal durchfuhr mich ein heißer, unangenehmer Blitz, als würde man sich auf's Tiefste erschrecken, und das Gefühl von tausend Nadeln, die in alle Richtungen abgeschossen werden, blieb in meinen Fingerspitzen und meinen Zehen stecken und klang erst dann allmählich ab. Adrenalin.

Nie hätte ich gedacht, was so ein harmloses Telefonklingeln alles auslösen konnte. Angstzustände, Zittern, und ich hatte das Gefühl, als gehörte mein Kopf schon gar nicht mehr zu mir. Oder waren das etwa tatsächlich meine Gedanken, die ich da hatte?
 

Dienstag Mittag, also kurz, bevor ich mich freiwillig einweisen ließ, ertönte schon wieder ein Klingelzeichen.

Wie gewohnt fuhr ich vor Schreck zusammen und brauchte erst mal eine Weile, um zu verstehen, dass es nicht das Telefon war, sondern dieses Mal die Türklingel. Zur Abwechslung.

Mit bebenden Fingern griff ich nach der Gegensprechanlage, was ich sonst eigentlich nie tat, und fragte unsicher, wer da sei. Es war Sean.
 

Als er vor meiner Tür stand, so glanzvoll wie eh und jäh und in seiner Polizeiuniform, die ihm so gut stand, atmete ich erleichtert auf. Es war doch kein armer Irrer, der mich verschleppen und in Stücke zerhacken wollte, nur, um meine Leichenteile im Wald zu verstreuen, wo ahnungslose Familien mit Kindern sie beim Sonntagsspaziergang finden würden... wie gesagt, meine Gedanken fühlten sich fremd und krank an, als wären es nicht mehr meine eigenen.

"Ah, hallo", begrüßte er mich und lächelte. "Du bist ja doch zu Hause." Was um Himmels willen meinte er denn damit?

Bevor ich mir dazu etwas denken konnte, fiel mein Blick automatisch auf seinen Gürtel.

Bei dessen Anblick begann ich, zu hyperventilieren und hatte Mühe, mich unter Kontrolle zu halten.

"Die Waffe kommt mir nicht ins Haus!", wies ich ihn panisch an und deutete anklagend auf den Waffengürtel, in dem, gut sichtbar, seine Pistole steckte.

Er zog verwundert eine Augenbraue hoch und betrachtete mich abschätzig. "Was soll ich denn tun? Sie auf der Fußmatte ablegen, solange ich drin bin?"

"Du könntest mich damit erschießen!", warf ich ihm mit schriller Stimme vor, kein Ohr für die ironische Belustigung in seiner Aussage. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich sie nicht mehr alle hatte. Die Angst hatte meine Denkfähigkeit deutlich gehemmt und ich sah überall nur noch Bedrohungen.

"Warum sollte ich das tun?!", wollte er reichlich verständnislos von mir wissen und schüttelte den Kopf, als ob er sich wunderte, was mit mir los war. "Glaub mir, wenn ich das wollte, würde ich nicht vorher noch mit dir darüber diskutieren."

Das sollte zwar ein Witz sein, aber mir war nicht zum Lachen zu Mute.

"Wie beruhigend", murrte ich missmutig, aber er unterbrach mich.

"Nur weil ich Polizist bin, heißt das nicht, ich kann einfach herumspazieren und Leute abknallen." Dann lächelte er mild. "Und dich schon gar nicht."

Ich sah mich geschlagen. Wer könnte seinem Lächeln schon widerstehen? Er hatte ja Recht. Ich war nur paranoid.

"Okay, okay... komm rein", seufzte ich ergeben und betrachtete das Ding an seinem Gürtel immer noch misstrauisch. Er grinste. Dass ich ihm aufgrund seiner Waffe so viel Respekt entgegenbrachte, schien ihm unheimliches Vergnügen zu bereiten, mir allerdings bereitet das geladene Teil nur Angstgefühle. Als hätte ich von denen nicht schon genug!

Nun hatte ich noch das Problem, dass ich das Ganze irgendwie vor ihm geheim halten musste. Er würde mich bestimmt zwingen, zur Polizei zu gehen, aber aus dem Fernsehen wusste ich, dass auch die mir nicht helfen können würde. Und vielleicht würde das alles nur noch verschlimmern, weil das den eklig atmenden Anrufer nur noch mehr verärgern würde. Außerdem wollte ich so wenig wie möglich mit dem Gesetz in Konflikt kommen und dass dieses mir in Gestalt von Sean immer wieder präsent war, reichte eigentlich auch.

Ich muss zugeben, ich hatte schon immer ein bisschen Ehrfurcht vor Polizisten gehabt und das war auch nicht besser geworden, seitdem ich ihn kannte. Ständig achtete ich darauf, bloß nichts falsch zu machen, auch, wenn er nicht gerade in der Nähe war. Wer wusste es schon? Vielleicht würden seine Kollegen mich bei ihm verpetzen oder sonst was. So unrealistisch das auch sein mochte, mittlerweile glaubte ich, das mir alles passieren konnte. Natürlich alles Unangenehme...
 

Er trat ein und folgte mir in die Wohnung. Ich war heute etwas früher zu Hause, weil ich Julie gebeten hatte, mich für den restlichen Tag zu entlassen. Es ging mir nicht gut, ich war unaufmerksam und nicht bei der Sache, außerdem war mir dauernd übel, wenn ich daran dachte - und meine Gedanken drehten sich praktisch die ganze Zeit um den Telefonterror und was wohl diese seltsame, unbekannte Gestalt von mir wollen könnte.

Ich schätzte, dass Sean gerade Mittagspause hatte, aber was machte er hier?

Die Antwort folgte auf dem Fuße, als ich mich zu ihm umdrehte und ihm etwas zu trinken anbieten wollte, ganz in dem Bemühen, mich so normal wie möglich zu geben. Doch er kam mir zuvor.

"Ich versuche schon seit zwei Tagen, dich zu erreichen", beschwerte er sich und blickte mir aufmerksam in die Augen, als würde er versuchen, mich zu durchschauen. Ob er merkte, dass etwas nicht stimmte? Der Gedanke ließ mein Herz vor Furch schneller schlagen und ich hatte noch mehr Mühe, mich ruhig zu halten. "Aber du gehst einfach nicht ans Telefon."

Noch immer starrte er mich an, seine Blicke so durchdringend und ernst, dass ich unwillkürlich weggucken müsste, aus Angst, er könnte in meinen Augen die Antwort lesen. Oder vielleicht war es mir auch auf die Stirn geschrieben.

"Stimmt was nicht?"

Ich zwang mich zu einem, wenn auch eher aufgesetzten, Lächeln und schüttelte heiter den Kopf. "Nein, was soll denn sein? Alles in Ordnung!"

Er schien argwöhnisch. Dann verzog er den Mundwinkel und kratzte sich etwas ratlos am Hinterkopf. "Hab ich... ich meine... Gehst du mir irgendwie aus dem Weg?"

Ooh, er klang so unsicher, dass ich ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre, mein Gesicht an seine Brust gepresst und ihm alles erzählt hätte! Wie kam er nur auf so eine absurde Idee?

Aber klar - was sollte er sonst denken, wenn ich seine Anrufe ignorierte – wenn auch unwissentlich - und ihm dann beteuerte, dass alles in bester Ordnung sei?

"Aber nein!", versicherte ich ihm hastig, ein wenig erschrocken über seine Annahme. "Ganz und gar nicht!" Mist, ich hatte es nicht geplant, aber selbst in meinen Ohren hörte sich meine Tonlage mehr als nur verzweifelt an!

Sean runzelte die Stirn und war nicht viel klüger als vorher, jedoch war auch ihm das leichte Zittern in meiner Stimme nicht entgangen. "Okay, jetzt mach' ich mir erst recht Sorgen. Emily, was ist denn passiert?"

Warum musste er nur so lieb klingen? Ich würde das nicht lange aushalten. Mein Bedürfnis, jemanden von meiner Misere zu erzählen, nahm Überhand und je länger er mich mit diesem überaus besorgten Blick durchbohrte, desto schneller schmolz mein Widerstand dahin.

Seine nächsten Worte waren der Auslöser.

"Egal, wie schlimm es ist, ich werde solange nachfragen bis du es mir sagst." Das klang äußerst entschlossen und stur und eigentlich war es mir auch schon vorher klar gewesen, dass er nicht aufgeben würde.

Ich ließ meine Schultern hängen und senkte den Blick, wie zum Zeichen, dass er meine Abwehr durchbrochen hatte.

"Es ist eigentlich nichts...", versuchte ich noch ein letztes, verzweifeltes Mal, ganz fernab der Hoffnung, dass er mir das abkaufte. Er ging natürlich nicht einmal darauf ein, sondern schaute mich nur abwartend an.

Ich seufzte. "Also, ich hab schon wieder einen... eine Drohung bekommen, glaube ich...", murmelte ich leise und beobachtete ein bisschen ängstlich seine Reaktion. Er holte tief Luft und es kam mir so vor, als versuchte er, sich ruhig zu halten. Doch seine Augen verengten sich und er presste die Lippen zusammen, schweigend, als ob er wusste, dass da noch mehr war, das ich ihm zu erzählen hatte.

Ein wenig verunsichert davon, wie er auf die weiteren Neuigkeiten reagieren würde, fuhr ich nur zögerlich fort. "Und da sind noch... diese Anrufe..."

"Was für Anrufe?", kam es sofort wie aus der Pistole geschossen. Sein Tonfall war schneidend und todernst.

"Na ja, das Telefon klingelt..." Unnötige Information, Emily! Meistens klingelte das Telefon, wenn ein Anruf ankommt, zumindest im Normalfall! "Und dann schweigt jemand oder..." Ich schluckte. Das war ja das Schlimmste an allem!

"Oder?", drängte Sean äußerst beunruhigt.

"Oder es... es wird laut reingeatmet", schloss ich und merkte, wie sich meine Nackenhärchen aufstellten, als mir ein kalter, unangenehmer Schauer über den Rücken lief. Unwillkürlich schlang ich die Arme um meinen Oberkörper, als ob ich mich wärmen wollte.

In seine Augen trat ein Ausdruck des Entsetzens und einen kurzen Moment lang starrte er mich einfach nur an.

"Seit wann?", wollte er dann schließlich ziemlich emotionslos und geistesabwesend wissen.

"Seit Sonntag...", antwortete ich wahrheitsgemäß. Der Tag nach unserem schönen Treffen bei ihm zu Hause. So konnten angenehme Erinnerungen durch negative verdrängt werden... Irgendwer da oben gönnte mir wohl kein Glück.

"Und die Drohung?" Obwohl er versuchte, sich nicht von seinem Ärger beeinflussen zu lassen und ganz fachmännisch zu klingen, konnte ich es dennoch in seinem Inneren rumoren sehen. Ich wüsste nur gerne, ob er sich über mich ärgerte oder über das, was mir gerade passierte...

"Die hab ich gefunden, äh, Samstag Nacht..." Gleich würde ich mir sicherlich eine Standpauke anhören müssen...

"Samstag Nacht?", hakte er wie erwartet nach und seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als er mich musterte. "Als ich dich abgesetzt habe?!"

Ich nickte. Er klang ziemlich aufgebracht.

"Du hättest sofort anrufen sollen! Damit sollte man nicht spaßen!", schimpfte er, atmete dann noch einmal tief durch, um sich zu beruhigen und fuhr sich zerstreut durch die dunkelblonden Haare. Auf seinem Kopf hinterließ er eine äußerst attraktive Spur der Verwüstung.

Ich fröstelte. Seine Wut machte mir nicht gerade mehr Zuversicht und eigentlich hätte ich mir ein bisschen mehr Verständnis gewünscht, wenigstens mal kurz in den Arm genommen zu werden. Immerhin wurde nicht er so belästigt und ich war sicherlich schlimmer dran.

Ich versuchte, den Kloß in meinem Hals herunter zu schlucken und blinzelte die aufkommenden Tränen erfolgreich weg, doch auf meinen Wangen hatten sich sicherlich schon verräterische Flecken gebildet.

Er blickte mich entgeistert an; ich konnte nicht sagen, was sich in seinem Kopf abspielte.

"Okay...", sagte er dann langsam und beherrscht und trat einen Schritt auf mich zu. "Okay, keine Angst... wir überlegen uns schon was, ja?" Es klang eher so, als wollte er nicht nur mich, sondern auch sich selbst beruhigen. Ich nickte stumm.
 

Wir.
 

Sean umarmte mich und presste mich an seine Brust, bis mein Herzschlag und auch ich mich wieder beruhigt hatten. Eine ganze Zeitlang standen wir so da, still und schweigend, und ich versuchte, meine Fassung wiederzuerlangen, während er nachdenklich aus dem Fenster schaute, ohne mich loszulassen.

Das war so viel besser, als wenn er wütend auf mich war! Es hatte etwas so unfassbar Tröstliches, wenn auch die Umstände etwas unglücklich waren... oder wahrscheinlich gerade deswegen.

Schließlich ließ er doch los und warf einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr am rechten Handgelenk. Ich ahnte mit einem flauen Gefühl im Magen, was jetzt kommen würde. Ich wollte nicht, dass er ging, Wenn er hier war, war alles fast in Ordnung. Oder zumindest fühlte ich mich etwas sicherer in seiner Gegenwart.

"Ich muss wieder zur Arbeit, meine Mittagspause ist bald vorbei", bestätigte er meine Befürchtungen und klang dabei ein bisschen gestresst. Kein Wunder, wahrscheinlich machte das auch ihm zu schaffen.

"Kannst du... Zeigst du mir den Brief?", fragte er ernst. "Ich will ihn mir genauer angucken."

Ich nickte zögerlich und ging herüber zu meinem Schreibtisch. In der untersten Schublade hatte ich ihn versteckt, unter all dem anderen Papierkram, als würde von ihm irgendeine Art böse Aura ausgehen. Aber ich hatte das Bedürfnis gehabt, ihn so weit und tief wie möglich zu vergraben, als würde dieser Umstand etwas daran ändern können, dass die kurze Notiz mir allgegenwärtig im Kopf herumschwirrte.

Als ich dem Umschlag, in dem das ominöse Blatt Papier sich befand, aus der Schublade zog, fiel mein Blick wieder auf die schwarze Schrift mit meinem Namen drauf und ich bekam noch mal eine Gänsehaut. Wer trieb da so grausame Spielchen mit mir? Das war fast nicht auszuhalten...

Schnell reichte ich ihn Sean, denn ich wollte nur so kurz wie möglich Hautkontakt mit dem bösen Brief haben.

Er nahm ihn an sich, holte den Brief aus dem Umschlag heraus und faltete ihn auseinander. Seine Augen huschten in Sekundenschnelle über die zwei kurzen Zeilen und wurden wieder zu zwei Schlitzen. Seine Lippen bildete eine dünne, harte Linie.

Er wandte sich wieder mir zu. "Darf ich ihn mitnehmen?"

Diese Anfrage überraschte mich ein wenig. Er hatte doch nicht vor...? Mit geweiteten Augen sah ich ihn erschrocken an und wollte ihn gerade bitten, das unter uns zu halten, als er den Kopf schüttelte und seufzte.

"Ich zeige ihn niemanden, wenn du nicht willst. Ich möchte ihn mir nur genauer ansehen."

"Ääh...", machte ich unsicher. Sollte ich ihm glauben?

"Ich versprech's dir", versicherte er mir, und das ziemlich glaubwürdig, wie ich fand. Na gut, ich würde ihm vertrauen - müssen.

"Okay...", murmelte ich, wieder etwas entmutigt, als mir einfiel, dass er gleich gehen und mich mit diesem Teufelstelefon zurücklassen würde. Oder doch dem Telefonteufel?

Bedrückt ließ ich meinen Kopf hängen. Ich konnte ihn ja wohl kaum anflehen, zu bleiben. Reiß dich gefälligst zusammen, Emily!, schalt ich mich, doch es wollte nicht so recht gelingen.

Ich blickte auf. Sean stand plötzlich dicht vor mir und lächelte mich an. Zugegeben, es war ein etwas verzagtes Lächeln, aber immerhin.

"Ich komme nach Feierabend noch mal vorbei, dann kannst du mir in Ruhe alles erzählen. Das heißt, wenn du noch nichts anderes vor hast?", fügte er schnell hinzu und ich musste an seinen Spruch beim ersten Mal denken, als er mich um eine Verabredung gebeten hatte. "Dann hätten Sie das ja absagen müssen", hatte er mir mit einem frechen Grinsen gesagt und ich hatte mich fürchterlich geärgert - über ihn und über meine weichen Knie.

Ich schüttelte erleichtert den Kopf. "Nein, hab ich nicht." Der Mann konnte Gedanken lesen! Oder aber, ich hatte ja immer noch die Theorie von der Schrift auf meiner Stirn... war ich so leicht zu durchschauen? Ich befürchtete es.

"Gut, dann bis später und..." Er warf eine unruhigen Blick zu meinem schnurlosen Telefon, das auf meinem Schreibtisch in seiner Halterung stand und - bis jetzt - noch stumm gewesen war. "Geh nicht ans Telefon."

Klasse Ratschlag. Aber ich nickte trotzdem gefügig und es fühlte sich an, als wäre mir ein halber Steinbruch vom Herzen gefallen, als er verkündet hatte, dass er später wiederkommt. In dieser Erleichterung würde ich jedem Vorschlag von ihm zustimmen!

Ziemlich unerwartet beugte er sich noch zu mir herunter und drückte mir einen kleinen Kuss auf die Lippen, und das so schnell, dass ich nicht mal dazu kam, ihn zu erwidern. Und mit einem engelsgleichen, aber doch spitzbübischen Lächeln verschwand er auch schon aus meiner Haustür, nachdem er zum Abschiedsgruß noch kurz die Hand gehoben hatte.
 

Zwei Minuten später klingelte das Telefon und holte mich aus meiner kurzzeitigen Hochstimmung wieder auf den harten Boden der Realität zurück.

Autsch.
 

Sean stand tatsächlich am späten Nachmittag vor meiner Haustür und seiner Arbeitskleidung nach zu urteilen, kam er direkt vom Revier zu mir, ohne einen Zwischenstopp bei sich zu Hause eingelegt zu haben. Diesmal ließ ich ihn sofort herein, obwohl mir die dämliche Pistole immer noch Sorgen bereitete.

Ich hatte ganz einfach Angst vor Waffen und auch, wenn Sean mir nichts Böses wollte... dieses Ding konnte ja auch einfach so losgehen. Oder?

Nachdem ich ihm versichert hatte, dass alles in Ordnung und nichts Weltbewegendes während seiner Abwesenheit vorgefallen war, bot ich ihm etwas zu essen an. Es stellte sich heraus, dass er ganz ausgehungert war, weil er in der Mittagspause - meinetwegen! - nichts gegessen hatte.

Dass ich daran schuld war, sagte er natürlich, so nett, wie er nun mal war, nicht, aber ich wusste das auch so.

Während dem Essen erwähnte er mit keinem einzigen Wort unser Gespräch vom Mittag, doch als er fertig war mit der Hühnchen-Reispfanne, setzte er einen ernsten Gesichtsausdruck auf.
 

Im Wohnzimmer bat er mich, ihm alles genauestens zu erzählen, was ich auch tat. Auf seine Frage hin, warum ich ihm nicht Bescheid gegeben hatte, erzählte ich ihm nur die halbe Wahrheit.

Er sollte sich keine Sorgen machen. Den Teil mit der kleinen Schutzbedürftigen, für die er mich womöglich halten könnte, behielt ich lieber für mich.

Meine geäußerte Befürchtung, ihm Kopfzerbrechen zu bereiten, wischte er mit einer einzigen Handbewegung und einem ungläubigen Gesichtsausdruck einfach beiseite.

"Das sollte deine geringste Sorge sein", garantierte er mir. "Das ist doch keine Kleinigkeit, die du einfach so für dich behalten kannst."

Auch, wenn er immer noch etwas verständnislos war, war er zum Glück nicht mehr so verärgert wie zuvor. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht gemerkt hatte, dass ich kurz vor einem Tränenausbruch gestanden habe... Glücklicherweise hatte er den ja noch verhindern können. Ob das Absicht war?

"Ich wollte dich nicht... belasten." Auch nur die halbe Wahrheit. Ich wand mich unter meinen eigenen Worten. Wie konnte ich es genau so ausdrücken, dass er es verstand, ohne gleichzeitig zu verstehen, dass ich ein bemitleidenswerter und hoffnungsloser Fall war. Ich wollte nicht die Prinzessin auf der Erbse sein, die nichts alleine hinkriegte und einen Mann brauchte, um auf sie aufpassen.

Dass ich mich tatsächlich nach einem Mann sehnte, der stark und cool war... der Sean war, meine ich, wagte ich nicht mal mir selbst einzugestehen.

Sean lachte freudlos, als hätte ich einen überaus schlechten Witz gemacht.

"Du belastest mich doch nicht, red dir das ja nicht ein. Wenn das das nächste Mal passiert, oder irgendwas passiert, will ich das sofort wissen."

Das wollte er auch letztes Mal und ich habe mein Versprechen auch da schon nicht gehalten... aber irgendwas war diesmal anders und ich glaubte ihm, dass es ihm nichts ausmachen würde, wenn ich ihm das "nächste Mal" Bescheid gab. Ich hoffte nur, es würde gar nicht erst zu einem "nächsten Mal" kommen...

"Warum?", platzte es aus mir heraus und ich wunderte mich selbst, woher diese Frage so plötzlich kam.

Er blickte mich einen Moment lang unergründlich an und lächelte kurz. Wirklich nur ganz kurz, aber hinreißend.

"Na, weil du mir wichtig bist und ich mir auch Sorgen um dich mache. Weißt du das denn nicht?"

Ich verstummte augenblicklich, während ich innerlich nur so zerfloss, und sagte gar nichts mehr. Er gab mir wirklich den Rest und überdies gab er mir ein paar wirklich sehr gute Gründe, um ihn nur noch mehr zu mögen...
 

Während er mit vor der Brust verschränkten Armen an meinem Schreibtisch lehnte und alles, was ich sagte, nachdenkdicklich, nickend oder stirnrunzelnd aufnahm, saß ich auf der Kante meines Bettes, die Hände gegen eben jene gestemmt und erzählte oder beantwortete seine Fragen. Ich kam mir vor wie bei einem Verhör, nur dass Sean viel netter war und auch besorgte Fragen über meinen Gemütszustand stellte.

"Hast du denn wenigstens mit deinen Eltern darüber geredet? Oder mit deiner Vermieterin?", wollte er fachmännisch wissen. "Vielleicht weiß sie ja, wer hier herumgeistert. Wenn du schon keine professionelle Hilfe in Anspruch nehmen willst..."

Ich hatte mich geweigert, zur Polizei zu gehen und dort alles zu erklären.

Irrte ich mich, oder klang er tatsächlich etwas beleidigt?

Ich schüttelte unwillig den Kopf. Auf diese Diskussion hätte ich auch gut verzichten können, denn ich hatte nicht das Gefühl, dass er mich verstand.

"Nein, sie... sie würden sich nur unnötige Sorgen machen und das sollen sie nicht." Immerhin hatten sie schon genug eigene Probleme, da konnte ich nicht auch noch ankommen mit irgendwelchen Lappalien, wie Telefonanrufen. Vielleicht war das auch nur ein Missverständnis...

Sean runzelte die Stirn, er sah ein wenig verärgert aus.

"Vielleicht solltest du anfangen, dir mal Sorgen um dich selbst zu machen und nicht immer nur um andere", beharrte er entschieden und schaute mir fest in die Augen, doch ich wich seinem Blick nur aus. Ich wusste ja, dass er Recht hatte, aber warum sollte ich andere mit meinen Problemen behängen? Es reichte schon, dass ich ihn da mit hineingezogen hatte und er sich nun auch noch den Kopf über meine Situation zerbrach.

"Vielleicht...", gab ich zu und betrachtete meine Fußspitzen. "Man kann halt nicht aus seiner Haut..."

Es entstand eine kurze Pause, in der wir beide schwiegen. Ich seufzte und bewegte meine Zehen, um mich von meinen trübsinnigen Gedanken abzulenken. Sean stieß sich von meinem Schreibtisch ab und kam auf mich zu.

"Möchtest du das denn?" Seine Stimme klang nun wieder ganz warm und sanft. Er setzte sich neben mich auf das Bett und ich konnte spüren, dass er mich aufmerksam betrachtete.

"Manchmal...", gestand ich leise. Nicht, dass ich mich nicht selbst hätte leiden können, aber ab und zu... vor allen in Momenten wie diesen, oder auch, wenn ich gegen das Geländer in der Eishalle schlitterte, Tom auf der Straße traf und mich nicht zu wehren wusste oder viel zu schüchtern war, um auf Sean's Komplimente etwas zu erwidern oder wenn mir im Supermarkt die Tüte mit den Tomaten riss und sie in alle Richtungen davon kullerten, dann wäre ich nur allzu gern anders. Besser, intelligenter, schlagfertiger, größer, geschickter, furcheinflößender... einfach anders.

"Manchmal wäre es schön...", fuhr ich fort, ohne von ihm gefragt worden zu sein, "nicht mehr so sein zu müssen." So absolut empfindlich und anfällig und voller Bedenken, so unsicher, fügte ich in Gedanken hinzu, denn einen Seelenstriptease wollte ich nun auch nicht vor ihm hinlegen.
 

Sean schwieg eine Zeitlang, dachte über meine Worte nach und ich tat es ihm gleich. Die ganze Situation mit den Briefen und den Telefonaten überforderte mich ein wenig und nahm mir jegliche Zuversicht, aber jetzt, wo Sean hier war, war ich nicht mehr ausnahmslos panisch.

Vielmehr wurde ich von einer massiven Welle der Resignation erfasst. Ich war zwar ruhig, fühlte mich aber müde und abgeschlagen.

Obwohl ich mich vor ihm immer noch weigerte, das als eine wirklich ernste Sache anzuerkennen, vielleicht auch, damit er sich selbst nicht so aufregte, war mir klar, dass es da jemand auf mich abgesehen hatte. Ich wusste nur nicht, ob dieser jemand gefährlich war oder mich nur ärgern, einschüchtern wollte... Aber es funktionierte. Ich hatte mittlerweile wirklich Angst, was ja auch kein Wunder war, wenn mitten in der Nacht das Telefon plötzlich klingelte und niemand etwas sagte.

Irgendwas hatte ich wohl falsch gemacht, etwas, das den Anrufer verärgert haben musste und nun hatte ich die Konsequenzen zu tragen. Wenn ich nur wüsste, was.

Ich hatte, um es mal milde auszudrücken, überhaupt nicht die geringste Ahnung.
 

Da ich gar nicht mehr ans Telefon ging, verpasste ich wohl auch echte Anrufe. Meine Mutter hatte mich gestern nach einigen Stunden des Probierens ganz verzweifelt auf dem Handy angerufen - was sie sonst NIE machte - und mich zusammengestaucht, was denn mit meinem Telefon nicht stimmte. Die Wahrheit hatte ich ihr natürlich nicht gesagt, sondern mich nur mit irgendwelchen Störungen und Defekten in der Leitung herausgeredet.

"Ruf bei deinem Anbieter an", hatte sie mir dann befohlen, überaus verärgert über mein inkompetentes Telefon. "Das kann doch nicht wahr sein, dass du Geld zahlst und deine Leistungen dafür nicht bekommst!"

Ja, meine Mutter war in dieser Hinsicht sehr rigoros... Unnötig zu erwähnen, dass sie mit ihrer Telefongesellschaft schon seit Jahren im Clinch lag.

Kleinlaut habe ich ihr zugestimmt und das Gespräch so schnell wie möglich beendet, bevor sie noch merken konnte, dass mit mir etwas nicht stimmte.

Das einzige, was mich davon abhielt, das Telefon auszustöpseln, war die irrationale Angst, der irre, schweigende, atmende Anrufer könnte dadurch auf die Idee kommen, bei mir zu Hause vorbeizuschauen, wenn er keine andere Möglichkeit mehr sah, mich zu erreichen...

Ganz offensichtlich wusste er ja, wo ich wohnte. Ein schrecklicher Gedanke, den ich immer wieder verdrängte, sobald er an die Oberfläche geschwemmt wurde - was leider ziemlich oft geschah.
 

"Wenn ich auch etwas dazu sagen dürfte", meldete sich Sean in meine Überlegungen hinein zu Wort und knüpfte wieder an unser Gespräch an, legte den Arm um meine Schultern und drückte mich an sich. Ich spürte seine Lippen mein Ohr streifen. Es kitzelte ein bisschen, als er leise zu sprechen begann. "Ich würde dich gar nicht erst anders haben wollen."

Ich lächelte schwach. Der Mann war ein Traum, wirklich. Ich war hin und weg und ich wusste nicht, wem ich dafür danken sollte, dass ich all diese kostbare, wertvolle Zeit mit ihm verbringen durfte und hoffentlich noch in Zukunft verbringen würde.

Ich schwieg und lehnte meinen Kopf an seine Brust, während er mich fest in seinem Arm hielt.

"Du bist doch sicher müde, oder?", fragte er nach einer Weile und erst da bemerkte ich, dass ich die Augen geschlossen hatte. "Konntest du nachts überhaupt schlafen?"

"Nicht so gut", antwortete ich und verschwieg gleich die Tatsache, dass ich die letzte Nacht weniger als nur "nicht so gut" geschlafen hatte. Nämlich fast gar nicht.

Ich fiel vor Müdigkeit beinahe um, und vielleicht war das auch einer der Gründe für meine Überreaktionen und seltsamen Gedankengänge...
 

Ich erschrak zunächst ein wenig, als Sean mich plötzlich mit nach hinten zog und wir in die Kissen am Kopfende des Bettes plumpsten. Er lachte leise und drückte mich an sich.

Ich drehte mich auf die Seite, zu ihm hin - er tat dasselbe - und lächelte, als ich in seine schönen, grünen Augen blickte, die mich liebevoll und auch besorgt musterten.

Er hauchte mir einen Kuss auf die Stirn und verweilte mit seinen Lippen an genau derselben Stelle für eine sehr lange Zeit.

Ich schloss genießerisch die Augen und fühlte mich zum ersten Mal seit Tagen wieder einigermaßen beruhigt und wieder bei Verstand.

Eine letzte Sache noch, die ich wissen musste, bevor das Unvermeidliche eintreten würde...

"Ist deine Waffe gesichert?", nuschelte ich mit geschlossenen Augen in das Kissen hinein.

"Welche?", fragte er belustigt und ich konnte das Grinsen in seinem Gesicht schier hören. Aber ich war zu müde für seine kleinen Scherze und machte mir gar nicht erst die Mühe, zu antworten.

"Natürlich ist sie das", antwortete er schließlich sanft und strich mir mit seiner freien Hand, mit der er mich nicht festhielt, sachte über die Haare, bis er schließlich auch diese dazu nutzte, mich beschützend zu umklammern. Ich schlief ein.

Protection

Von einem seltsamen Geräusch wachte ich auf. Zuerst wusste ich gar nicht, wo ich mich befand und warum ich noch immer meine Kleidung vom Vortag anhatte, aber als mir bewusst wurde, dass Sean nicht mehr neben mir lag, war ich hellwach.

Im nächsten Moment riss ich auch schon die Augen auf, als ein dumpfes Schlagen gegen die Fensterscheibe ertönte.

Es war noch dunkel draußen, meine Funkuhr zeigte in roten, großen Ziffern gerade mal kurz nach zwei Uhr nachts an.

Ich setzte mich ruckartig auf, noch immer etwas verwirrt von dem Geräusch. Hatte ich mir das nur eingebildet und war es etwas gewesen, das ich mir in einer Traumphase erträumt hatte?

Ich lauschte angestrengt, doch es herrschte überall Stille.

Gerade, als ich wieder anfing, mich zu entspannen, hämmerte es von außen wieder gegen das Fenster.

Ich setzte mich ruckartig auf, presste mich rücklings gegen die Rückenlehne des Bettes und wagte es kaum, zu atmen, die Finger krampfhaft an die Decke geklammert.

Vor lauter Angst kniff ich die Augen zusammen und versuchte, wieder klar zu denken.

Wer auch immer da draußen stand und mir jetzt so eine Heidenangst einjagte, ich konnte ihn nicht sehen, denn Sean hatte die Rollladen, die von Innen angebracht waren, heruntergelassen. Ich war aber auch wie gelähmt und konnte mich kaum rühren. Das Letzte, das ich jetzt tun wollte, war, das Rollo hochzuziehen und dem Kranken ins Gesicht zu blicken. Womöglich hatte er eine Waffe dabei?!

Irgendwann, nach schier endlos langer Zeit, hörte das Hämmern auf und ich wartete mit klopfendem Herzen auf das, was als nächstes folgen würde. Irgendwo im hintersten Winkel meines Gehirns formte sich inmitten der lähmenden Furcht ein dringlicher Gedanke: Hol Hilfe!

Wie von der Tarantel gestochen sprang ich aus dem Bett und suchte mit den Augen das dunkle Zimmer nach dem Telefon ab.

Mein Blick fiel auf einen weißen Zettel, direkt daneben. Ich griff danach und erkannte, dass Sean mir eine Notiz dagelassen hatte. Kurz überflog ich den Inhalt, bis ich an seiner Telefonnummer hängen blieb, die er mir freundlicherweise aufgeschrieben hatte.

Wie ein Ertrinkender, der nach einem Rettungsring greift, schnappte ich mir das Telefon, wählte mit zitternden Fingern die Nummer und verwählte mich vor lauter Nervosität ganze zwei Mal. Nachdem ich endlich die richtigen Ziffern eingetippt hatte, schon fast mit den Nerven am Ende, drückte ich auf den grünen Knopf, um zu wählen, doch...
 

Oh Schock! Die Leitung war tot!
 

Vollkommen außer mir wählte ich gleich noch einmal und fixierte die Nummer, die er mir in seiner leicht unordentlichen Handschrift aufgeschrieben hatte. Ich schniefte auf, als die Leitung noch immer tot war.

In diesem Moment wurde irgendetwas an mein Fenster geworfen, aber es klopfte zumindest niemand mehr dagegen.

Hinter dem Tisch sank ich kraftlos auf die Knie, kurz vor einem Nervenzusammenbruch, in der einen Hand das leblose Telefon, in der anderen Sean's Zettel.

Ich starrte auf seine Schrift, die vor meinen Augen langsam verschwamm, als ob sie mir irgendeine Antwort auf das Desaster geben könnte, das sich hier gerade abspielte.

Und da sah ich sie, die Antwort: einige Zeilen unter der Telefonnummer stand ein einziger Satz, ein PS, das meine bereits verlorene Hoffnung wieder ins Unermessliche steigern ließ.

Er hatte geschrieben, dass er mein Telefon ausgestöpselt hatte, damit ich in Ruhe schlafen konnte!

Augenblicklich krabbelte ich auf allen Vieren die zwei Meter zur Telefondose und sah es tatsächlich: das Kabel steckte wirklich nicht mehr drin!

Mit einem lauten "Platsch" flog wieder etwas gegen die Scheibe. Ich zuckte zusammen und schloss schnell das Telefon wieder in die Dose an, um einen neuen Versuch zu starten.

Was zum Teufel war das gewesen? Eier? Tomaten?

Das Tuten in der Leitung schien mir wie eine Erlösung, doch dann hämmerte es wieder wie wild ans Fenster. Ich presste mich mit dem Rücken gegen die Wand und zog die Knie dicht an meinen Körper, versuchte, mich so klein und unsichtbar wie möglich zu machen. Das Telefon drückte ich so hart an mein Ohr, dass es beinahe schmerzte.

Sean ging sofort ran und er klang, als sei er noch wach gewesen.

"Hallo?"

Es war so gut, seine Stimme zu hören!

"S... Sean...", krächzte ich und meine Stimme versagte mir den Dienst, doch er war schon in Alarmbereitschaft.

"Emily? Bist du das?!"

"Ja, ich..." Ich schluchzte unwillkürlich auf. Meine Stimme war immer noch schrill und unnormal hoch. Komm, reiß dich zusammen, Emily! "Hier... ich meine... ist jemand am... am Fenster..."

Es klopfte wieder und irgendetwas quietschte auf. Mir entwich ein verängstigtes, leises Wimmern.

Ich war mir nicht sicher, ob er das auch hören konnte.

"Ich bin gleich da! Mach niemandem die Tür auf!" Er reagierte schnell und legte auf, noch bevor ich irgendetwas sagen konnte.

Ich dagegen presste den Hörer noch immer gegen mein Ohr und lauschte angestrengt dem Besetztzeichen, das nun Sean's Stimme ersetzte.
 

Nur zehn Minuten später - er musste gerast sein - klingelte es an meiner Haustür. Ich hatte bis dato immer noch unverändert an der selben Stelle gehockt und auf ein weiteres Fiasko gewartet, doch es schien alles ruhig geworden zu sein, auch, wenn ich dieser Stille nicht traute.

Sean's Klingeln holte mich aus meinem Apathiezustand heraus. Als ich zögerlich die Gegensprechanlage in die Hand nahm, ertönte auch bereits seine energische Stimme heraus: "Ich bin’s."

Kurz darauf stand er schon im Zimmer und drückte mich fest an sich, um mich zu beruhigen.

Wir standen noch immer im Dunkeln, aber ich versuchte, mich wieder zu fassen, auch, wenn ich noch immer am ganzen Leib zitterte.

Er führte mich in die Küche, während er mich noch immer im Arm hielt, und streichelte beruhigend über meinen Rücken. Dort angekommen machte er das Licht an und drückte mich auf einen Stuhl, sodass ich mich hinsetzen musste.

"Soll ich dir einen Tee machen?", fragte er besorgt und musterte mich, die ich emotionslos den Kopf schüttelte.

Sean löste meine Finger behutsam von seinem Hemd und ich bemerkte erst da, dass ich mich noch immer an ihm festgehalten hatte.

Er drehte mir trotzdem den Rücken zu und durchsuchte meine wenigen Schränke nach Tassen und Tee, setzte dann Wasser auf und widmete sich dann erst mir.

"Da... war jemand am Fenster." Ich löste mich plötzlich aus meiner Starre und sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an.

Er setzte sich augenblicklich in Bewegung. "Ich sehe nach."

Aber ich hielt ihn wieder fest, die Panik ergriff mich. "Nein!", protestierte ich hysterisch. "Vielleicht ist er noch da, vielleicht... hat er eine Waffe?!"

Sean hielt kurz inne. Ich vermutete, dass es nicht die Angst war, die ihn dazu bewog, doch nicht nachzuschauen. Vielmehr das aufgelöste Frauchen auf dem Küchenstuhl, das, so leid es mir auch tut, meine Wenigkeit war.

"Wir schauen nach, wenn es hell wird", sagte er sanft und tätschelte meine Hand. "Das Fenster ist doch noch heil, oder? Erzähl mir, was passiert ist."

Mit Mühe und Not und einer Menge Gestotter berichtete ich ihm von dem Horror heute Nacht. Er ließ sich nicht davon abbringen, dass ich es der Polizei melden müsste und ich hatte mittlerweile auch nichts dagegen. Aber für den Augenblick wollte ich keinen sehen, außer ihm, und schon gar nicht die ganze Geschichte noch einmal durchkauen.

"Ich mach das schon", versicherte er mir. "Morgen." In diesem Moment kochte das Wasser auf und der Kocher stellte sich mit einem leisen Klick selbst aus.

In aller Ruhe goss er mir eine Tasse Tee ein und stellte sie vor mich hin, setzte sich mir gegenüber und musterte mich geduldig, mit einem unergründlichen Ausdruck im Gesicht.

Ich umklammerte die heiße Tasse mit beiden Händen und wärmte meine eiskalten Finger daran. Keine Ahnung, wo das ganze Blut vor Schreck hingepumpt wurde, aber meine Hände waren es ganz offensichtlich nicht.

Der Dampf stieg hoch und ich atmete den Pfefferminzduft ein, beruhigte mich ein wenig. Vielleicht, weil Sean hier war. Nein, ganz bestimmt sogar.
 

Ich betrachtete ihn zum ersten Mal in dieser Nacht genauer. Seine Haare waren noch feucht. Er hatte sich bestimmt zu Hause geduscht - und er trug frische Kleidung. Ein bordeauxfarbener Pullover, der ihm ausgezeichnet stand, darunter ein Hemd und eine Jeans.

Aufrecht saß er da, die Augen nicht von mir abwendend, geradezu... erhaben!

In seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus einem nachsichtigen Lächeln und echter Besorgnis, als er mich dabei beobachtete, wie ich langsam den Tee trank und ihn dabei unverwandt anstarrte.

Seine Augen schienen müde, aber er sah frisch rasiert aus - und roch auch so - und sein Haar wirkte aufgrund der Nässe ganz dunkel.

Oh Gott, und diese Gottgestalt saß mitten in der Nacht bei mir in der Küche und sah mir beim Teetrinken zu!

Hinzu kam, dass er total perfekt aussah - und ich: zerknitterte Kleidung von gestern, übermüdet, verschreckt und das Nest auf meinem Kopf will ich lieber gar nichts erst erwähnen. Das Leben war so unfair!

Aber dann wiederum nicht, denn er war schließlich hier, bei mir, obwohl er überall anders hätte sein können.

Ich meine, was machten attraktive Männer um zwei Uhr nachts, wenn sie nicht gerade bei sich zu Hause im Bett lagen? Eben!

Unwillkürlich lächelte ich ihn verlegen an, als mir eben das bewusst wurde. Er schien überrascht, lächelte aber warm zurück.

"Geht's dir etwas besser?", fragte er sofort hoffnungsvoll und ich nickte. Wem würde es da nicht besser gehen?

Ich nippte an meinem Tee und trank die letzten Tropfen auch noch auf. Die heiße Flüssigkeit bahnte sich ihren Weg durch meine Speiseröhre herunter und erwärmte für einen kurzen Moment meinen Körper spürbar von Innen.

Sean gähnte herzhaft hinter hervorgehaltener Hand und mir fiel wieder ein, dass er diese Nacht noch gar nicht geschlafen hatte.

Schuldbewusst blickte ich ihn an.

"Wenn du willst", begann ich zögernd, "kannst du dich gerne etwas... na ja, hinlegen."

Mir war schon klar, dass ich nur ein Bett im Zimmer hatte... weder Sofa noch sonst was.

Und ihm war das zweifelsohne auch klar. Um diese Peinlichkeit zu überspielen, redete ich schnell weiter. "Immerhin bist du meinetwegen immer noch wach und du musst ja arbeiten und so..."

Bei der ganzen sinnlosen Plapperei wurde ich wieder rot. Das Blut hatte seinen Weg anscheinend doch noch zurückgefunden. Oh welch Freude...

Ich sah schnell weg, konnte meinen Blick jedoch nicht lange genug von ihm abwenden. Er war wie das Licht, das die Motte anzog. Unnötig zu erwähnen, wer ich in diesem Gleichnis war...

Sean nickte nur dankbar und verkniff sich jeden weiteren Spruch. Vielleicht, weil die Lage gerade ein bisschen ernst war...

"Das wäre schön...", sagte er erschöpft. "Du solltest dich aber auch noch mal hinlegen."

Ich schüttelte vehement den Kopf und lächelte gequält. "Keine gute Idee..." Als ob ich jetzt noch ein Auge zutun könnte! Ich wollte nicht wieder alleine aufwachen und weiterhin von einem Irren terrorisiert werden.

Sean nickte ernst, streckte seine Hand aus und griff nach meiner, fuhr mit dem Daumen gedankenverloren über meinen Handrücken. Ein angenehmes Kribbeln breitete sich auf meiner Haut aus.

"Das wird schon wieder", versicherte er mir, aber ich hatte Schwierigkeiten, ihm zu glauben, also schwieg ich. Sicher, er meinte es nur gut, aber es konnte noch tausendmal schlimmer werden, bevor es sich endlich aufklärte - wenn überhaupt! Die Tatsache, dass Sean hier war, machte das Problem zwar etwas erträglicher, löste es aber nicht.
 

Wir standen beide unschlüssig vor meinem Bett.

"Soll ich äh... die Bettwäsche wechseln...?", fragte ich peinlich berührt. Immerhin schlief ich jede Nacht in diesem Bett und es wäre verständlich, wenn er lieber frische haben wollte... obwohl das auch wenig schmeichelhaft gewesen wäre.

Andererseits kam es mir so... intim... vor, wenn er in meiner Bettwäsche schlafen würde. Ich hatte sie zwar vor einigen Tagen noch gewechselt, aber dennoch...

Sean lachte schallend. "Mach dich nicht lächerlich", grinste er schließlich und entledigte sich sogleich seines Pullovers. Oh Gott! Wollte er sich ausziehen?

"Ist dir kalt?", wollte er in meine Gedanken hinein wissen, als er sah, dass ich wieder die Arme vor der Brust verschränkt hatte. War mir tatsächlich, aber wenn er so weiter machte, sicherlich nicht mehr lange!

Noch bevor ich antworten konnte, zog er mir mit einem süffisanten Lächeln seinen Pullover über den Kopf. Automatisch schlüpfte ich mit den Armen in die Ärmel. Er war mir zwar viel zu groß, aber er roch wunderbar nach ihm und war noch immer kuschelig warm. Ich atmete tief ein und der Duft stieg mir fast zu Kopf, sodass ich fast gar nicht mehr klar denken konnte.

Wie konnte ein einzelner Mensch nur so gut riechen? Bei niemandem zuvor hat mich das so... ja, angemacht, anders kann man es gar nicht sagen, wie bei Sean. Sähe er nicht so müde aus und wäre ich nicht ständig irgendwie befangen in seiner Gegenwart, aus Angst, etwas Dummes zu machen, hätte ich mich sofort auf ihn gestürzt, um ihm um den Hals zu fallen und... noch mehr zu tun.

Vollkommen trunken vor Glück lächelte ich selig und ehe ich mich versah, zog er mich sachte an der Hand mit sich, als er sich auf die Bettkante setzte und sich schließlich ganz auf das Bett legte.

Er rutschte ein wenig zur Seite und klopfte grinsend auf den freien Platz neben sich. Ich hatte mich wohl geirrt, er wollte sich lediglich seines Pullovers entledigen.

"Mach ruhig den Fernseher an, wenn du möchtest. Mich stört das nicht", bot er an, als ich zögernd meine Beine aufs Bett schwang, mich neben ihn bequemte und ein Kissen hinter meinen Rücken stopfte, um in halbwegs aufrechter Position sitzen zu können.

Er gähnte, schloss die Augen und tastete nach meiner Hand, die auf der Bettdecke lag. "Ich brauche nur ein paar Minuten...", murmelte er schlaftrunken und war sofort innerhalb weniger Sekunden weg. Der Druck auf meiner Hand ließ nach, doch ich ließ sie trotzdem unter der seinen liegen.

Eine Weile lang lauschte ich seinen regelmäßigen, beruhigenden Atemzügen. Er musste sehr müde gewesen sein, wenn er es so schnell hinkriegte, auszusetzen.
 

Ich versuchte mich mit der Frage zu beschäftigen, wie es nun weitergehen sollte, anstatt mich darauf zu konzentrieren, dass ich ab morgen früh wieder allein in dieser Wohnung sein würde, den Launen meines begeisterten "Fans" machtlos ausgesetzt.

Da ich auf keinen grünen Zweig kam und meine Gedanken mich aber noch mehr deprimierten, als dass sie mir halfen, einen Lösungsansatz zu finden, ergriff ich die Fernbedienung, die auf meinem Nachtschränkchen lag und schaltete den Fernseher an, stellte ihn so leise, dass ich gerade noch etwas verstehen konnte.

Ohne nachzudenken drehte ich meine Hand mit der Handfläche nach oben und verschränkte meine Finger mit Sean's.

Er schlief noch immer seelenruhig und regte sich kein bisschen. Beneidenswert.

Die Bilder flimmerten schnell über den Bildschirm, aber ich achtete nicht auf sie. Sie dienten mir höchstens dazu, mich von anderen Bildern in meinem Kopf abzulenken. Weniger bunten und fröhlichen Bildern.

Ich versuchte mich damit zu trösten, dass ich am nächsten Morgen nach einer Lösung suchen würde.

Momentan war es Nacht, ich wurde bedroht und konnte nicht klar denken. Keine gute Ausgangssituation.
 

Die ersten Sonnenstrahlen weckten mich und erschöpft öffnete ich meine Augen, die Lider fühlten sich dabei so schwer an wie Blei.

Ich war wohl mitten in der Nacht eingeschlafen. Der Fernseher lief noch leise und ich lag auf den Bauch gedreht, unter meinem Ohr hörte ich etwas pochen und es war erstaunlich warm...

Abrupt hob ich den Kopf. Ich lag auf Sean's Brust, er hatte den Arm um mich gelegt und schlief ebenfalls noch tief und fest.

Penibel darauf bedacht, ihn nicht aufzuwecken, als ich behutsam unter seinem Arm hindurchschlüpfte, setzte ich mich etwas verwirrt auf.

Ich musste mich dringend duschen und diese zerknitterten Klamotten loswerden, am besten, noch bevor er wach wurde. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es fünf Minuten nach sieben Uhr war.

In zwei Stunden musste ich zur Arbeit, er bereits in einer.

So leise wie möglich schlich ich mich an den Schrank und klaubte ein paar Klamotten zusammen, mit denen ich mich dann ins Badezimmer verzog.

Ich musste erst einmal aufwachen. Vorher wollte ich mich nicht mit all den Dingen beschäftigen, mit denen ich mich heute würde befassen müssen.

Jetzt, bei Tageslicht betrachtet, war es mir fast schon ein wenig peinlich, Sean mitten in der Nacht angerufen zu haben. Ich war echt erbärmlich. Dabei wollte ich doch alles andere als erbärmlich sein! Ich wollte unglaublich toll, selbstständig und... furchtlos sein!

Das konnte ich jetzt wohl vergessen.

Während ich das angenehm warme Wasser über meinen Kopf laufen ließ, ließ ich alles noch mal Revue passieren und schämte mich dabei in Grund und Boden.

Er war süß, klar, kein Zweifel, aber... ich war so... argh! Unfassbar dämlich!

Was er jetzt wohl von mir dachte? Herrgott... ich hatte wirklich den Verstand verloren, oder? Ich hätte es doch auch einfach ausharren können, ohne ihn zu belästigen. Aber irgendwie war mein Hirn wie leergefegt gewesen.

So war das halt mit der Angst. Ich seufzte und rechtfertigte mich vor mir selbst damit, unzurechnungsfähig gewesen zu sein. Ja, genau. Das müsste vorerst als Erklärung reichen...
 

Als ich aus dem Bad kam, vollkommen angezogen, aber die Haare noch nass, war Sean anscheinend gerade erst aufgewacht. Erschöpft fuhr er sich durch seinen Schopf und kratzte sich am Hinterkopf, wo seine dunkelblonden Haare entzückend abstanden. Er sah irgendwie zerknautscht aus, einfach zum Drücken!

Als er mich sah, grinste er schief und stand auf.

Ich glaube, er wollte etwas sagen, aber ich kam ihm zuvor. "Du hast ja einen wirklich tiefen Schlaf", stellte ich munter fest. Teilweise auch, um ihm zu zeigen, dass ich letzte Nacht zwar etwas durch den Wind gewesen war, das aber durchaus nicht zu meiner Normalverfassung gehörte.

Sein Grinsen vertiefte sich.

"Ich kann immer und überall", erwiderte er grinsend, ein bisschen heiser. Ach du liebe Güte...! Das wollte ich gar nicht wissen... Irritiert, und absolut ahnungslos, was ich auf dieses Geständnis antworten sollte, starrte ich ihn an. Immer diese Witze, aber... was für welche! Total anzüglich...

"Ich brauch dringend eine Zahnbürste", erklärte er mir dann, wieder ganz sachlich, als sei nichts gewesen.

"Ähh..." Ich fühlte mich ein wenig überrumpelt, war aber froh, die Thematik zu wechseln. "Ich glaub, ich hab noch eine neue oben im Spiegelschrank." Die hatte ich zwar letztens für mich gekauft, aber was soll's...

Er nickte und verschwand, gerade, als mir siedend heiß einfiel, dass ich dort auch meine anderen Utensilien gelagert hatte. ARGH! Peinlich!

Ich würde einfach so tun, als wäre nichts gewesen...
 

Wie sich herausstellte, verfolgte er dieselbe Strategie, als er zurückkam. Oder, vielleicht machte es ihm auch einfach nichts aus, einen genauen Einblick in das detailreiche Hygieneleben einer Frau zu werfen... Nein - ich glaube, es war doch die Strategie!

Einen Moment lang starrten wir uns unschlüssig an. Ich wusste nicht, was er dachte, aber ich dachte an den Inhalt meines Badezimmerschrankes. Und dann sagte ich mir, dass es mittlerweile auch egal wäre! Zuerst meine Unterwäscheschublade, dann meine Hygieneartikel... somit hatte er schon fast alles von mir gesehen, was in irgendeiner Art und Weise intim war. Fehlte nur noch, dass ich... egal! Konzentration, bitte!

"Das Fenster!", fiel ihm wieder ein und er wandte sich von mir ab, zum Fenster hin, das immer noch von den Jalousien verdeckt wurde. "Ich schau mir das mal an und danach fahren wir zur Polizei. Ich muss sowieso zur Arbeit", fügte er schmunzelnd hinzu, trat an näher und zog an der Schnur des Rollos, das daraufhin auch sofort nach oben schnellte.

Was ich dann sah, traute ich meinen Augen nicht. Ich hatte mit Eiern gerechnet, oder Tomaten, aber das entzog sich meiner Vorstellungskraft: die ganze Scheibe - absolut schlammverkrustet!

Jemand hatte Schlamm an mein Fenster geworfen und es danach auch noch an einigen Stellen verschmiert. Bis ganz nach oben war derjenige allerdings nicht gekommen, meine Decke und die Fenster waren zu hoch, und ohne Stuhl oder Leiter kam man nicht heran. So schien das Sonnenlicht durch die paar freigelassenen Lücken, doch ansonsten bedeckte eine dünne, trockene Matschschicht das Glas.

Sean runzelte die Stirn und ließ die Schultern hängen, als er das Desaster betrachtete.

Ich stand einfach nur wie erstarrt daneben und konnte es nicht fassen.

Welcher Irre machte so etwas? Welcher kranke Mensch tauchte nachts an einem Fenster auf, um dagegen zu hämmern und es mit Schlamm - oder sonst was - zu bewerfen?

Würde das jetzt jede Nacht so weitergehen? Ich konnte es einfach nicht fassen - und ich fragte mich, wozu ein Mensch, der solche kranken Ideen hatte, noch in der Lage sein würde? War das erst der Anfang von diesem Terror?

Langsam begriff ich, dass dieser Verrückte es wirklich ernst meinte - Drohbriefe auf die Fußmatte legen und Telefonterror betreiben, das konnte jeder. Das war wie Klingelmännchen spielen, das konnte sogar ich, auch, wenn ich das nie tun würde. Aber nachts jemandem eine Heidenangst einzujagen, da gehörte ein bisschen mehr zu als jugendlicher Leichtsinn. Wenn Steine in dem Matsch drin gewesen wären, hätte derjenige eventuell die Scheibe zerschlagen.

Ein Zittern lief durch meinen ganzen Körper, als mir das alles nach und nach bewusst wurde. Es war, als wäre im ersten Moment etwas abgeschaltet worden, die Fähigkeit nämlich, schnell zu reagieren, und nun kam es langsam alles wieder, noch tausendmal stärker.

Angst, Panik, Hilflosigkeit. Und ich stand noch immer hier, bewegungslos, und machte rein gar nichts!
 

Ein plötzlicher Ruck ging durch mich. "Ich muss hier weg!"

Sean betrachtete schweigend, wie ich hektisch meinen verstaubten Koffer aus der Ecke zwischen dem Schrank und der Wand hervorzerrte, ihn auf dem Boden platzierte und den Deckel aufklappte.

"Wo willst du denn hin?", wollte er ruhig wissen, seine Augen nicht mehr auf das verschmierte Fenster, sondern ganz auf mich gerichtet.

"Zu Joanna natürlich." Eilig durchquerte ich das Zimmer und riss abwesend die Schranktür auf, griff nach den erstbesten Kleidungsstücken, die mir unter die Finger kamen.

"Und wo wohnt Joanna?" Irgendwie hatte ich das Gefühl, er nahm mich nicht richtig ernst, oder wie sonst sollte ich diesen lockeren Tonfall deuten?

Ich schwieg trotzig, als ich mich wieder zurück zu meinem Koffer begab und vor ihm in die Hocke ging.

"Also?", ermunterte er mich, ging um mich herum und setzte sich auf die Bettkante.

"In Südafrika momentan", brummte ich schließlich kleinlaut und mied seinen belustigten Blick. Er hatte zumindest den Anstand, nicht laut loszulachen.

Mein Mund war mal wieder schneller als mein Verstand gewesen. Zu verlockend war aber die Vorstellung, einfach zu verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen oder sich elterlichen Verhören aussetzen zu müssen. Sich endlich wieder sicher zu fühlen.

"Du willst also nach Südafrika", fasste er unnötigerweise noch mal amüsiert zusammen.

Niedergeschlagen ließ ich die Schultern sinken und schmiss die Klamotten mutlos in den Koffer, weil ich keine Kraft mehr hatte, sie zurück in den Schrank zu stopfen. Aus der Hocke sank ich auf die Knie und fühlte, wie die Ohnmacht und Hilflosigkeit wieder langsam über mich kamen. Konnte ich denn gar nichts tun?

"Na, na", lächelte Sean. "Ich hab eine bessere Idee. Eine, bei deren Ausführung du nicht direkt den Kontinent verlassen musst."

Ich schaute ihn zweifelnd an.

"Ich ziehe einfach bei dir ein", schlug er munter vor, doch als er meinen wenig überzeugten Blick sah, fügte er hinzu: "Oder du zu mir. Meine Wohnung ist sowieso größer."

Ich runzelte die Stirn. Hatte er jetzt auch schon den Verstand verloren?

"Sehr witzig", erwiderte ich trocken und rollte die Augen, aber er schüttelte ungeduldig den Kopf.

"Das meine ich ernst. Mir wäre verdammt unwohl dabei, dich hier allein zu wissen. Vor allem nachts! Vor allem nach der heutigen Nacht!"

Da sagte er mal was... mir war auch sehr unwohl dabei. Nein – schon allein der Gedanke daran lähmte mich vor Angst!

Vielleicht war das Ganze eine Überlegung wert...

"Du kannst deine Sachen mitnehmen und wir können immer herkommen, wenn du was brauchst", versuchte er mich zu überzeugen. "Es ist ja nicht so weit und falls du dich dabei unwohl fühlst, dann..." Er suchte nach den richtigen Worten. "Es ist nur so lange, bis sich das Ganze aufgeklärt hat. Aber ich lass dich hier sicherlich nicht allein zurück."

Das war wirklich süß... er machte sich tatsächlich Sorgen und er dachte, ich würde mich in seiner Gegenwart, in seiner Wohnung, nicht wohl fühlen!

"Ich würde dir nur auf die Nerven gehen", startete ich einen ziemlich unüberzeugenden Versuch, aber er winkte nur ab.

"Unsinn. Ich werde DIR auf die Nerven gehen." Sean grinste und ich musste unwillkürlich schmunzeln. Als ob!

"Darfst du das denn?", wollte ich schließlich zweifelnd wissen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass seine Vorgesetzten es billigen würden, wenn er der Sache auf eigene Faust nachging. Ein Opfer bei sich einziehen zu lassen, um es zu beschützen - das ging doch zu weit. Oder?

Er schien sich nicht daran zu stören. "Eigentlich nicht“, grinste er. "Aber sie können mir ja nicht verbieten, mit meiner Freundin zusammenzuziehen, oder?"

Freundin? Ich schluckte aufgeregt und sah ihn aus großen Augen an, mein Herz klopfte lautstark.

"Wir können ja so tun als ob."

Oh. Ich versuchte, mir meine übergroße Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, und während er mild lächelte, wandte ich mich von ihm ab, wieder niedergeschlagen, aber nun aus anderen Gründen.

"Ach so...", murmelte ich und strich mit der Hand fahrig über das gefaltete T-Shirt ganz oben im Koffer.

Wir taten also nur so als ob. Was war ich denn dann? Was war er? Was waren wir? Waren wir überhaupt "wir" oder waren wir gar nichts? Das warf mich jetzt ganz schön aus der Bahn...

"Was sagst du?", hakte er nach, als ich noch immer nicht in Begeisterungsstürme ausbrach.

"Von mir aus..." Alles war besser, als die momentane Lage, und ich war schon resigniert genug. Doch fiel mir noch etwas ein.

"Ich will dich aber nicht auch noch in Gefahr bringen!", rief ich aufgebracht und sah ihn ängstlich an.

Er lächelte nur, griff nach meinem Handgelenk und zog mich zu sich auf's Bett, was ich natürlich bereitwillig mit mir geschehen ließ.

"Da mach dir mal keine Sorgen." Mit der einen Hand zog er mich noch näher zu sich heran und legte mir schließlich den anderen Arm um die Schultern, drückte mich an sich.

Wirklich, ich wurde nicht schlau aus ihm. Absolut nicht. In Momenten wie diesen dachte ich, dass es vielleicht doch ein wir gab... geben könnte?

Ich atmete wieder diesen charakteristischen Duft ein; er hatte etwas Männliches, aber auch Beruhigendes an sich, schloss die Augen, konzentrierte mich darauf, zu atmen, während es in meiner Brust hämmerte und diese fast zu zerplatzen drohte.

"Weißt du was?", raunte er mir zu und ich fühlte seinen heißen Atem an meinem Ohr, während er mich vorsichtig nach hinten in die Kissen drückte und sich seitlich über mich beugte.

Ich blickte in seine dunklen, grünen Augen, die mich geheimnisvoll anfunkelten, und war nicht fähig zu einer Antwort. Alles in mir flatterte aufgeregt und mein Mund war staubtrocken. Mit größter Anstrengung drehte ich den Kopf schwach hin und her, um ein "nein" zu signalisieren.

Er lächelte belustigt und beugte sich wieder ganz nah zu mir herunter, seine Lippen streiften meine Wange, mein Kopf war voller Nebel und das Atmen hatte ich schon längst wieder aufgegeben.

"Du bist mir rettungslos verfallen", flüsterte er, seine Lippen strichen langsam über mein Gesicht, bis sie auf die meinen trafen.

Für einen Moment die Ewigkeit... bis mir die Realität da draußen wieder bewusst wurde.

Ich drückte ihn energisch von mir weg.

"Ich kann nicht atmen!", keuchte ich außer Puste und blickte ihn anklagend an. Das war nicht der richtige Zeitpunkt!

Er grinste nur selbstgefällig. "Das spricht doch nur für mich."

Das war ja klar. Ich verdrehte die Augen und schubste ihn von mir runter, bevor er wieder anfangen konnte, mich schwach zu machen.

"Lass uns gehen", seufzte ich, nach einem Blick auf die Uhr. "Es wird sonst spät."

Little Catastrophe

"So." Mr. Dickinson - ich brachte es noch immer nicht über die Lippen, ihn mit seinem Vornamen, Gregory, anzusprechen, aber andererseits waren wir auch geschäftlich hier und nicht privat - schob einen hohen Papierstapel beiseite und rückte mit dem Zeigefinger seine Brille zurecht, die ihm ein wenig von der Nase gerutscht war. Dann musterte er mich wieder prüfend.

Wir waren auf dem Polizeirevier; Sean hatte mich hergefahren und würde mich gleich in den Kindergarten bringen, zumindest hatte er das versprochen. Vorher aber hatte er darauf bestanden, dass ich die Geschehnisse bei mir zu Hause der Polizei meldete.

Und da saß ich nun.

Ohne große Komplikationen hatte er mich in sein und Dickinson's Büro geschleust, damit ich nicht zufällig von irgendeinem anderen Kollegen "verhört" wurde. Eigentlich war das fast schon Vetternwirtschaft, was er hier betrieb, aber wer konnte sich schon beschweren, einen eigenen, privaten Polizisten für sich zu haben, der sich um alle Angelegenheiten ganz wie von selbst kümmerte? Also mir sollte das nur recht sein. Es bedeutete weniger Stress und Ärger.

Nachdem Sean Gregory das ganze Desaster mit all seinen Ausmaßen kurz skizziert hatte, war dieser dazu übergegangen, mich selbst auszufragen.

"Wie lang, sagen Sie, bekommen Sie schon diese Drohbriefe?", wollte er von mir wissen und ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her.

"Seit etwa... zwei Wochen...", murmelte ich kleinlaut und warf einen unsicheren Blick zu Sean, der mit verschränkten Armen vor der Brust gegen seinen Schreibtisch lehnte und uns geduldig zuhörte. Als er bemerkte, dass ich ihn zuspruchsuchend anschaute, nickte er nur ernst.

Mr. Dickinson warf zuerst ihm, dann mir einen äußerst unzufriedenen, verärgerten Blick zu, sagte aber nichts weiter. Vielleicht kam er auch noch nicht dazu, etwas zu sagen, weil ich mal wieder den Mund aufmachte. Er sollte nicht böse auf Sean sein, denn er hatte sich nur meinem Willen gebeugt.

"Das ist nicht seine Schuld, Mr. Dickinson. Ich wollte... nicht zur Polizei, weil..." Ich brach ab. Es musste ja nicht jeder wissen, dass ich die Männer in Blau für nicht ganz so machtvoll hielt, wie sie sich wahrscheinlich selber.

"Weil, Miss Jones?", hakte Gregory interessiert nach.

Ich biss mir auf die Unterlippe. "Sie können ja sowieso nichts tun!", platzte es unglücklich aus mir heraus.

Mr. Dickinson blickte mich einen sich ewig hinziehenden Moment lang mit einem undefinierbaren Ausdruck an; ich meinte, von seitens Sean ein unterdrücktes Lachen zu hören, aber ich drehte mich nicht um.

Nach einem schier endlos scheinenden Augenblick sprach Mr. Dickinson wieder.

"Wir helfen, so gut wir können, Miss Jones."

Was hatte ich gesagt? Das war nur die Bestätigung für meine Annahme.

Er klang tatsächlich ein wenig eingeschnappt, irgendwie steif.

"Ich meine, Sie... niemand hat Hinweise und eigentlich ist es unmöglich, diesen... diese Person ausfindig zu machen. Niemand wird sich die Mühe machen, weil... das einfach zu unwichtig ist...", schloss ich, meine Stimme wurde von Wort zu Wort leiser.

Immerhin war das hier kein Mordfall – zum Glück! Es wurden keine Suchtruppen losgeschickt. Keine Fingerabdrücke genommen.

Zaghaft wagte ich es, einen Blick auf Mr. Dickinson zu werden. Ich wollte ihn auf keine Fall angreifen oder seine Arbeit schlecht machen, aber ich war mir sicher, auch er konnte das nicht bestreiten.

Wieder Stille.

"Und könnte es nicht doch ein dummer Jungenstreich sein?", hakte er schließlich nach. Ich wusste es doch!

Hilflos zuckte ich mit den Schultern. Wenn es so war, dann war es ein ziemlich grausamer Streich.

"Das glaube ich ehrlich gesagt nicht", warf Sean ernst ein. "Derjenige, der das macht, gibt sich richtig Mühe... die Adresse und die Telefonnummer rausfinden und alles. Das sind gezielte Angriffe, ich verstehe nur noch nicht, weshalb und wohin das führen soll."

Gregory nickte abwesend und kratzte sich an der Stirn, seufzte dann.

"Haben Sie einen Verdacht, wer Ihnen vielleicht nicht so gut gesonnen sein könnte, Miss Jones?", fragte er wieder geduldig und äußerst gelangweilt. Aha, die Trockenpflaume in ihm war also wieder erwacht!

Ich schüttelte den Kopf. Mir fiel niemand ein, der mich so hassen könnte. Warum auch? Ich hatte niemandem etwas Böses getan und hatte das auch in nächster Zeit nicht vor.

"Was ist mit diesem... diesem jungen Mann, mit dem sie sich letztens unterhalten haben?" Er dachte angestrengt nach. "Der sah nicht besonders wohlwollend aus... hatten Sie nicht gesagt, er wäre nicht ihr Freund?"

Oh Mann, wieso musste er das SO ausdrücken? Natürlich war Tom alles andere als "mein Freund".

"Ja... ich meine, nein... ist er nicht..." Ich schluckte. Bitte, bitte, nicht in Sean's Gegenwart!

"In welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm, Miss Jones?"

ARGH!

Ich versteifte mich auf meinem ziemlich unbequemen Stuhl und hielt mich unwillkürlich an der Stuhlkante fest. Dass hier mein ganzes Privatleben der Vergangenheit ans Tageslicht gezerrt werden sollte, damit hatte ich nicht gerechnet!

Ich zwang mich, nicht in Sean's Richtung zu sehen, als ich antwortete.

"Er ist... mein Ex... Freund...", würgte ich schuldbewusst hervor und sah aus den Augenwinkeln, wie Sean sich augenblicklich aufrechter hinstellte, spürte seinen neugierigen Blick auf mir ruhen.

"Oh." Gregory war sich wohl gewahr, dass er eben in ein Minenfeld getreten war und wir uns nicht mehr gerade auf sicherem Gebiet befanden, aber er fuhr ganz fachmännisch fort. "Haben Sie einen Grund zur Annahme, dass er Ihnen irgendetwas Böses wollen könnte? Aus Rache vielleicht? Das ist ein allseits bekanntes Motiv. Das üblichste, um es so zu sagen. Oder Eifersucht?" Er warf einen kurzen Blick zu Sean.

"Nein, nein...", winkte ich zaghaft ab. "Das glaube ich nicht... " Eigentlich müsste ich doch diejenige sein, die sich an ihm rächen wollen könnte. Und Eifersucht? Nun. Er hatte Tania, wieso sollte ER eifersüchtig sein, nachdem er mich betrogen und dann acht Monate lang wie die Pest gemieden hatte? Eher unwahrscheinlich.

"Sind Sie SICHER?" Dickinson beugte sich über den Tisch und beäugte mich eindringlich.

Eingeschüchtert nickte ich. "Ja, ich... ich meine, Tom hat überhaupt keinen Grund und..." Ich musste kichern, aber eher aus Nervosität, weil ich vorher noch nie ausprobiert hatte, das laut auszusprechen. "Er ist schrecklich feige."

Niemals würde er das, was er hatte, gefährden, indem er so einen Mist anstellte. Er hatte viel zu viel Angst vor Autoritäten und war wohl deshalb so ein penibler, penetranter, ignoranter Typ. Ugh, wie konnte ich so einen überhaupt nur gemocht haben?

Angewidert in meine Gedanken versunken über meine Dummheit und Tom's zahlreiche Makel fiel mir noch etwas ein und ich überlegte nicht lange, bevor ich es in Worte fasste: "Außerdem... Tom hat sich nie besonders viel aus mir gemacht, deshalb... glaube ich nicht, dass er so eine Show abziehen würde..."

Weil ich so was, in seinen Augen, gar nicht Wert wäre.

Dickinson öffnete den Mund, aber Sean hatte sich bereits vom Tisch abgestoßen, stand nun neben mir und kam ihm zuvor. "Das reicht erst mal, Greg. Wir haben genug Informationen", sagte er sanft und es kam mir vor, als redete er eher mit mir, als mit Trockenpflaume.

Dieser nickte bestätigend.

"Ich bringe Emily jetzt zur Arbeit und bin in zehn Minuten wieder da." Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. "Soll ich dir Kaffee mitbringen?"

"Das wäre gut. Der Kaffee, den du uns kochst, ist schließlich ungenießbar und die Kaffeemaschine gibt auch bald den Geist auf." Gregory grinste erschöpft. Es schien, als hätte auch er keine besonders ruhige Nacht gehabt.

Sean nickte abwesend, anscheinend mit den Gedanken ganz woanders, und geleitete mich nach draußen, zu seinem Auto. Den ganzen Weg runter sagte er nichts und ich fragte mich, womit er sich wohl beschäftigte. Vielleicht damit, was ich über Tom erzählt habe? Wir hatten bis jetzt über nichts besonders Privates gesprochen und eigentlich wollte ich über seine bestimmt zahlreichen Ex-Freundinnen auch nichts wissen... Aber vielleicht beschäftigte er sich auch mit ganz anderen Sachen. Wo er den Kaffee kaufen wollte, beispielsweise. Starbucks? McDonalds? Das kleine Café in der Nähe meiner Arbeit?
 

"Sag mal", durchbrach ich nachdenklich die Stille und hatte wieder seine volle Aufmerksamkeit. Auffordernd schaute er mich an.

"Ist deine Abteilung überhaupt für so was zuständig? Könnt ihr meine Aussage einfach so aufnehmen?"

Sean grinste. "Wir können alles. Wir sind wie Superman", neckte er mich, als er aus dem Auto stieg und ich es ihm gleich tat. Wir waren mittlerweile beim Kindergarten angekommen, die Fahrt hatte nur wenige Minuten gedauert.

"Superman kann aber fliegen", protestierte ich störrisch. Das war gerade ganz sicherlich nicht Superman, der da eben seinen Höhenflug hatte! Ich konnte nicht leugnen, dass Sean manchmal wirklich etwas zu überzeugt von sich selbst war. Leicht arrogant. Aber das war ja wiederum auch etwas, das mich unglaublich anzog. Ich war irgendwie... bescheuert!

Er lächelte süffisant und hob die Augenbrauen, als er mir einen Seitenblick zuwarf. "Dafür kennt Superman nicht deine Dessoussammlung, Röntgenblick hin oder her..."

Das musste ja jetzt kommen. Warum, zur Hölle, hatte sich gerade DAS so in sein Gedächtnis eingebrannt? Es war wahrscheinlich nie wieder auszulöschen.

"Hmpf. Superman wäre viel zu anständig, um da überhaupt hinzugucken", erwiderte ich verdrießlich und drehte mich demonstrativ von ihm weg.

Er war vollkommen immun gegen meine Defensive und den Versuch, ihn mit Ignoranz zu strafen, und plapperte unbeeindruckt weiter, während er um den Wagen zu mir herumging.

"Das denkst auch nur du. Soll ich dir noch etwas verraten, was an mir außerdem noch besser ist als an Superman?"

Alles, aber das sagte ich nicht. Neugierig drehte ich mich zu ihm um, unfähig, ihn allzu lange nicht zu beachten. "Da bin ich aber gespannt", sagte ich mit einer Mischung aus Neugierde und Skepsis.

Er lächelte und beugte sich zu mir herab. "Mich gibt es wirklich." Und dann nahm er mein Gesicht in beide Hände und küsste mich, küsste mich, küsste mich... Nahm mir den Atem.

Bis er wieder aufhörte.

"Emily?"

Erschrocken riss ich die Augen wieder auf. Warum klang er plötzlich so ernst?!

"Ja...?", antwortete ich zaghaft.

"Ich muss dir noch etwas sagen...", druckste er herum und sah plötzlich etwas schuldbewusst drein. Oh je. Was kam jetzt?

"Es ist so, ich hab... ich habe einen Hund."

Einen... was? "Hund?", echote ich stumpf. Wo?!

"Ich hab keinen Hund gesehen", erklärte ich ihm etwas vorwurfsvoll. Einen imaginären Hund? Was meinte er mit "Hund"?

Er lächelte mild. "Ich wusste nicht, ob du Hunde magst und ich wollte nicht, dass er unnötig stört, deshalb hab ich ihn für den einen Abend an den weltbesten Hundesitter gegeben. Holly war ganz schön aus dem Häuschen, sie liebt Sam."

Sam. Der Hund. Der Hund Sam. Holly liebte Sam.

Ich hatte Angst vor Hunden. Also, vor Sam.

"Ein großer... Hund?", wollte ich verunsichert wissen. Die Großen waren immer am furchteinflößendsten.

Sean überlegte eine Weile, was ich wohl für "groß" befinden würde und nickte anschließend. Ich schluckte.

"Er beißt nicht, er ist ganz lieb, ich versprech's dir", versicherte er mir. Na, das konnte ER sagen, aber ob der Hund derselben Meinung war?

Ich wollte ihm jetzt auch nicht unbedingt auf die Nase binden, dass ich keine Hunde mochte und seiner wahrscheinlich auch keine Ausnahme sein würde. Vielleicht würde er das ja sogar persönlich nehmen?

"Na gut", ergriff er wieder die Initiative, als ich noch immer schwieg und überlegte, wie ich auf die Information "Hund" reagieren sollte, mit meinem Schicksal hadernd. "Ich hole dich ab... wann? Um vier?"

Ich nickte.

"Also um vier und dann reden wir weiter, in Ordnung?"

"Ja, gut", erklärte ich mich einverstanden. Ich musste den Tag ohne Hund, den ich jetzt noch vor mir hatte, gehörig genießen, bevor ich ein großes Tier mit großen Reißzähnen an meinem Arm oder meiner Wade hängen haben würde.

Sean beugte sich zu mir herunter und küsste mich beiläufig auf die Wange. "Bis nachher."

"Tschüss", murmelte ich und sah ihm nach, als er in den Wagen stieg. Dann gab ich mir einen Ruck, drehte mich um und lief zielstrebig die paar Meter bis zur Eingangstür des Kindergartens.
 

Eve war bereits da und erwartete mich mit einem dreckigen Grinsen im Gesicht. Eigentlich nichts Neues.

"Uh lala, Emily, was seh ich denn da? Hast du also doch den tollen Polizisten an Land gezogen, was? Wurde ja auch Zeit!"

Ich hängte meine Jacke an den Haken und warf ihr einen bösen Blick zu, aber sie dachte nicht daran, endlich zu verstummen.

"Und dann dieser Kuss... da wurde ja sogar mir ganz heiß. Ehrlich, hast DU ein Glück." Dann seufzte sie. Ich wusste, was jetzt kommen würde. "Ich wünschte, Paul würde mich auch ab und zu so küssen. Oder zumindest so ansehen."

Was?

"Wie ansehen?", fragte ich auf dem Schlauch stehend.

Sie rollte genervt die Augen. "Na so. Wie dieser Typ dich anschaut."

"Wie denn?" Sean sah mich irgendwie besonders an? Habe ich nie mitbekommen!

"Maaan, Emily, stell dich gefälligst nicht so doof, das kauft dir doch keiner ab. Komm, wir müssen Brötchen schmieren."

Sprach's und verschwand. Und ließ mich mit einem Fragezeichen über den Kopf hängend alleine zurück.

Da ich aber nun mal schon als "doof" bezeichnet wurde, traute ich mich nicht, das Thema noch mal anzusprechen. Bis jetzt galt ich nur als "gespielt doof", aber wenn ich ihr den Ball noch einmal zuspielte, würde sie mich als "wirklich doof" abstempeln. Nun, vielleicht hatte sie ja Recht, aber sie sollte es trotzdem nicht wissen!

Verwirrt folgte ich ihr in die Küche und begab mich daran, das Frühstück für die Kleinen zuzubereiten. Die ersten Kinder spielten schon im Spielzimmer, aber es waren erst zwei oder drei, sodass sie nicht sonderlich laut waren. Eve verwickelte mich in ein unverfängliches Gespräch über ihren Yoga-Kurs, den sie letzte Woche angefangen hatte und beschwerte sich, dass außer dem schwulen Kursleiter sonst nur noch Frauen anwesend waren. Na, was für eine Überraschung!
 

Nur wenige Stunden später saß ich beschämt auf der niedrigen Bank in der Vorhalle des Kindergartens und starrte betrübt den Boden an. Das war wohl nichts gewesen mit "den letzten Tag ohne Hundebisse genießen".

Ben saß neben mir, und obwohl er noch lange nicht so missmutig wirkte, wie ich, gab er sich dennoch alle Mühe.

Aus der Küche hörte ich ein lautes Seufzen - Martha - und Eve's Geplapper, die heute etwas länger geblieben war. Meinetwegen.

In gedämpften Tonfall sagte unsere Pseudoköchin etwas zu meiner Freundin und ich wusste genau, dass es um mich ging.

In diesem Moment ging die Tür auf und jemand trat herein. Ben blickte auf, aber ich machte mir die Mühe erst gar nicht. Ich wusste es sowieso. Er war pünktlich, wie es sich gehörte.

Neben mir rutschte Ben aufgeregt auf der Bank herum, als er erkannte, um wen es sich handelte.

Ich versuchte, im Erdboden zu versinken...

"Hallo!", begrüßte mein kleiner Freund meinen großen Freund erwartungsvoll, als dieser näher kam und ihm höchstwahrscheinlich ein Lächeln schenkte.

"Hey, Ben. Alles klar bei dir?" Es sollte mich wohl wundern, dass Sean sich noch an Ben's Namen erinnern konnte, aber das tat es nicht. Er war immer äußerst aufmerksam, was man von mir nicht gerade behaupten konnte...

"Klaaar", zog Ben grinsend in die Länge, bewegte sich aber nicht einen Zentimeter von meiner Seite. Der Engel!

Doch dann konnte er nicht mehr abwarten und streckte seine Hand begeistert in die Höhe.

"Guck mal da! Emily hat auch so was!" Er sprang auf, lief um mich herum und packte meine rechte Hand, um sie in Sean's Richtung auszustrecken.

Dieser schnappte erschrocken nach Luft und war mit einem Satz bei uns, wusste jedoch nicht, wem er sich zuerst widmen sollte: meiner oder Ben's bandagierten Hand.

"Was ist passiert?", drängte er und suchte meinen Blick. Nur widerwillig schaute ich ihn an und sah direkt in ein besorgtes Augenpaar, das auf mich gerichtet war.

Das alles sollte er wegen mir nicht durchmachen... Ich brachte jedem, der mit mir zu tun hatte, nur Ärger ein. Er sollte glücklich sein und leben und sich keine Sorgen zu machen brauchen. Und schon gar nicht rund um die Uhr. Um mich.

"Nur ein kleiner Unfall", murmelte ich betrübt und zuckte mit den Schultern, um die Situation abzuschwächen. "Kein Grund zur Besorgnis."

"Kein Grund zur Besorgnis" implizierte ein halbes Blutbad, eine Küche voller Porzellansplitter, ein paar traumatisierte Kinder und eine wildgewordenen Julie, die mich über drei rote Ampeln in ihrer Klapperkiste von Auto ins Krankenhaus gefahren hatte. Aber das musste Sean ja nicht wissen...

"Das war VOLL COOOOL!", begeisterte Ben sich stattdessen und tänzelte um mich herum. Seine Augen leuchteten, während er nur darauf wartete, Sean seine eigene Version der Geschichte zu erzählen. "Emily ist bestimmt mit huuundert Tellern durch die Gegend geflogen und dann war alles voller Blut!"

Jungs... sie waren also schon von Geburt an so... Ich würde fünfzig Pfund darauf verwetten, dass Ben ein begeisterter Kriegs- und Splatterfilm-Liebhaber wird, spätestens, wenn er das Teenageralter erreicht.

Sean war nicht so begeistert von dieser Geschichte und starrte mich ungläubig an, unfähig, etwas zu sagen. Dann wandte er sich noch einmal an Ben, wahrscheinlich, weil ihm die Worte fehlten.

"Und was ist mit dir?" Er deutete mit einem Kopfnicken auf Ben's ebenfalls bandagierte Hand.

"Das ist nur aus Solidarität", knurrte ich, plötzlich ein wenig verärgert.

Ich wusste, dass ich wütend auf mich selbst war, weil ich so... unfähig war. Aber ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Und Sean und Ben waren die einzigen beiden in unmittelbarer Nähe.

"Ach so." Sean schien beruhigt und atmete erleichtert aus. Dann warf er mir einen prüfenden Blick zu.

"Alles in Ordnung? Tut's sehr weh?"

Was dachte er denn? Dass es ein angenehmes Kitzeln war?

"Gar nichts ist in Ordnung", erwiderte ich in Weltuntergangsstimmung. In meinem Leben war gar nichts in Ordnung! Ich wurde ausgeraubt, terrorisiert, von zu Hause vertrieben und als Krönung landete ich in einem Haufen zerbrochener Teller, nur, weil irgendjemand seinen Ball in der Küche hatte liegen lassen. Irgendwann hatte auch ich die Schnauze voll. Meine Kraftreserven würden nicht für immer reichen!

Sean ging vor mir in die Hocke, wie damals in der Eishalle, und nahm zärtlich meine Hand in seine, um sie sich anzusehen.

"Du warst beim Arzt?" Es war eher eine Feststellung, als eine Frage, doch ich nickte trotzdem.

"Krankenhaus", korrigierte ich knapp, immer noch düster.

"Wie schlimm?", erkundigte er sich fachmännisch, doch im selben Moment streichelte er sachte über den Verband an meinem Handrücken. Meine Wut verrauchte, hinterließ eine Spur der Resignation, die wie eine große Welle über mich schwappte und mich zu Boden drückte.

"Ein tiefer Schnitt", kam Ben mir mit wichtigtuerischer Miene zuvor, da ihm in den letzten zehn Sekunden keiner mehr Beachtung geschenkt hatte. "Aber es musste nichts genäht werden."

Das waren exakt Julie’s Worte, als sie Eve und Martha Bericht erstattet hat, nachdem wir wieder zurückgekehrt waren.

Ben grinste triumphierend. "Meine Mama sagt, ich soll später mal Arzt werden!", verkündete er dann stolz.

Sean konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, und auch um meine Mundwinkel herum zuckte es müde. Ben war wirklich zu süß!

"Das ist ein sehr ehrenwerter Beruf. Aber dafür musst du hart arbeiten und in der Schule immer aufpassen. Denkst du, das kriegst du hin?" Sean blickte Ben mit hochgehobenen Augenbrauen an, als zweifelte er daran.

Dieser nickte sofort eifrig, anscheinend in seinem männlichen Ego verletzt. "Klar kann ich das!"

"Ich verlass mich auf dich." Sean zwinkerte ihm zu, lehnte sich dann etwas von mir weg, zu Ben rüber, und flüsterte so, dass ich es gerade noch hören konnte: "Dann musst du unsere Emily verarzten, wenn sie sich wieder einmal wehtut."

Beide "Männer" grinsten mich spitzbübisch an, wobei eine Menge Begeisterung in Ben's Lächeln mitschwang. "Das mach ich, Emily", versicherte er mir äußerst glaubwürdig. "Dann werde ich dein Lieblingsarzt, oder?" Fast schon flehend sah er mich aus seinen großen Augen an.

Ich lächelte. "Sicher. Ich gehe nie wieder zu einem anderen. Und nun geh spielen, ja?"

Er schien zufrieden mit sich selbst, nickte und verschwand schnell im Spielraum, wo die anderen von Julie unterhalten wurden, um meinen vermeintlichen Amoklauf zu vergessen.

Ich blickte in Sean's Gesicht, das wieder ernst geworden war. Auch ich ließ den Kopf hängen. Ich wusste nicht mehr weiter.

Ob er womöglich daran dachte, mich loszuwerden? Und gleichzeitig den ganzen neu hinzugekommenen Stress loszuwerden? Ich würde mich jedenfalls nicht haben wollen mit allem, was dazugehörte...

"Wollen wir?", fragte er und versuchte dabei, so aufmunternd wie möglich zu klingen. Wahrscheinlich, weil ich wie ein Häufchen Elend aussah und mich auch so fühlte.

Ich nickte und stand auf. Ich war schon vollkommen angezogen, in Jacke und Schuhen, und wir konnten sofort los.

"Also... willst du erst mal ein paar Sachen packen?", fragte er zögerlich, wahrscheinlich verunsichert von meiner schlechten Laune und der Tatsache, dass ich bis jetzt keine drei Sätze mit ihm gesprochen hatte.

"Vielleicht... " Ich schluckte. "Vielleicht ist das doch keine gute Idee?“ Fragend schaute ich ihn an.

"Warum?", wollte er prompt wissen. "Du wirst mich ganz bestimmt nicht nerven, das hab ich doch schon gesagt. Ich verspreche auch, nicht zu kochen. " Feierlich legte er seine rechte Hand auf’s Herz und grinste.

Aber ich lächelte nur müde. "Ich bin eine Katastrophe", gestand ich niedergeschlagen. "Ich würde wahrscheinlich dein Haus in Brand oder unter Wasser setzen oder sonst was."

Daran wollte ich wirklich nicht schuld sein...

"Du bist doch keine Katastrophe", widersprach er sanft und hielt kurz inne, um sich seine nächsten Worte sorgfältig zu überlegen, aber dann grinste er wieder über’s ganze Gesicht. "Selbst bei meinen Kochkünsten hab ich es bisher nicht geschafft, das Haus abzubrennen, und das will schon was heißen, wie du sicherlich weißt, deshalb glaube ich nicht, dass du eine ernsthafte Gefahr darstellst."

Er legte mir spontan einen Arm um die Taille und zog mich beim Gehen näher an sich heran. Vor Überraschung, weil ich das nicht erwartet hatte, kam ich ein wenig ins Straucheln.

"Außerdem bin ich gut versichert", murmelte er noch still schmunzelnd, während er mir einen schnellen Kuss auf die Schläfe hauchte.

"Überzeugt... ", nuschelte ich lächelnd, wieder vollkommen berauscht von seinem Charme. Ich musste mir dringend ein paar Taktiken zulegen, mich nicht so schnell um den Finger wickeln zu lassen!

Später...

Emotions

Still stand ich da und wagte es kaum, mich zu bewegen, während ich von einem großen, zotteligen Hund beschnuppert wurde. Er hatte milchschokoladenfarbenes Fell und wedelte unablässig mit dem Schwanz.

Gleich würde er zubeißen!

Sean hängte in der Zwischenzeit unsere Jacken auf und entledigte sich seiner Schuhe, warf mir dann einen vergnügten Blick zu, die ich zu einer Salzsäule erstarrt war.

"Du kannst dich ruhig bewegen, ich schätze mal, er weiß bereits, dass du keine Statue bist."

Sprach's und ergriff mein Handgelenk, um mich sachte mit sich in die Küche zu ziehen.

Den Hund, der treuherzig und gemächlich hinter uns hertrottete, beachtete er gar nicht.

Als dieser mein Knie mit seinem wedelndem Schwanz streifte und wieder um meine Beine herumschlich, zuckte ich erschrocken zusammen, und Sean, der gerade eine Flache Wasser aus dem Kühlschrank holte, blickte auf.

"Meinst du, es geht, oder soll ich ihn runter zu Abby bringen?", wollte er besorgt wissen.

Schnell schüttelte ich den Kopf. Wenn der Hund, das Riesentier, wegen mir von zu Hause verstoßen werden würde, würde er mich nur noch mehr hassen!

In meiner momentanen Lage konnte ich mir das echt nicht leisten.

"Geht schon", versicherte ich ihm nicht besonders überzeugt und warf dem Zottelmonster einen skeptischen Blick zu. "Was ist das für einer?" Ich konnte nicht so richtig eine Rasse ausmachen.

"Eine Promenademischung. Ich will gar nicht wissen, was da alles drinsteckt." Er lachte. "Bestimmt ist vom Pudel bis zum Schäferhund alles dabei", zwinkerte er mir zu, wandte sich wieder ab und holte ein Glas aus seinem Schrank. "Ich hab ihn aus dem Tierheim geholt", fügte er noch erklärend hinzu und goss das Mineralwasser aus der Flasche in das leere Glas.

Die Töle platzierte sich gemütlich vor meinen Füßen und legte ihren Kopf auf die riesigen Vorderpfoten, lugte mit großen, kastanienbraunen Augen zu mir auf.

Ich erwiderte den Blick einige Sekunden lang fasziniert und ging zaghaft in die Hocke. Das sah mir ja gar nicht ähnlich!

"Er beißt doch wirklich nicht, oder?", wollte ich vorsichtig von Sean wissen, ohne den Blick von Sam abzuwenden. Unverwandt starrte er mich an, als könnte er alles verstehen, was ich sagte.

"Keine Angst", beschien Sean mir lachend. "Er ist ein ganz Lieber."

Sam schien tatsächlich ganz ruhig zu sein und da ich mir ganz offensichtlich einen Mann mit ihm teilen musste, ganz zu schweigen von der Wohnung, sollte ich mich besser mit ihm anfreunden.

Der Hund fixierte mich noch immer stumm.

Vorsichtig streckte ich die Hand aus, um ihm kurz über den Kopf zu streicheln, immer darauf vorbereitet, im Notfall sofort aufzuspringen und zu flüchten.

Unter meiner Hand fühlte sich sein Kopf samtweich an. Sofort fing Sam an, mit dem Schwanz zu wedeln, der über den Boden hin und her wischte.

Sean lachte und ich warf ihm einen fragenden Blick zu. Was war so lustig?

"Er hat dich ja recht schnell ins Herz geschlossen", erklärte er mir. "Das wundert mich gar nicht."

Obwohl es unsinnig war, sich darüber zu freuen, in einem Hund einen neuen Freund gefunden zu haben, tat es ich es trotzdem. Wenn er mich mochte, würde er mich vielleicht nicht beißen...

Versonnen streichelte ich weiter den weichen Kopf und wurde sogar so mutig, ihn an den Ohren zu kraulen, dass ich, ganz versunken in meine Gedanken, gar nicht bemerkte, wie der Hund langsam eindöste.

Plötzlich hockte Sean neben mir und schob meine gesunde Hand, die ich für die Streicheleinheiten benutzte, sachte beiseite.

"Das reicht für ihn", sagte er mit einem verschmitzten Lächeln. "Heb dir noch ein paar Zärtlichkeiten für jemanden auf, der sie zu schätzen weiß und dabei nicht sofort einschläft."

Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. War ich doch diejenige, die in letzter Zeit ständig einschlief!

Sean half mir hoch, ohne meine Hand loszulassen, und drückte mir anschließend das Wasserglas in die Hand, lächelte. "Hast du nicht vorhin gesagt, du hättest Durst?"

Tatsächlich, im Auto hatte ich irgendwas davon gemurmelt, vergessen zu haben, zu Hause zu trinken. Es war irgendwie seltsam gewesen, in meiner Wohnung zu sein. Nach dem anstrengenden Tag, der schon ewig zu dauernd schien, und vor allem der letzten Horrornacht, kam sie mir so fremd und bedrohlich vor, dass ich mich gar nicht lange dort hatte aufhalten wollen. Also habe ich das Allernötigste eingepackt. Zur Not hatte ich ja Sean’s Versprechen, mich bei Bedarf wieder hinzufahren.

Ich schenkte ihm ein dankbaren Lächeln, dass ich beim besten Willen nicht zurückhalten konnte. Verdammt, er war so aufmerksam! Wo gab’s denn so was?!

Überhaupt, ich könnte ihn die ganze Zeit lang nur anlächeln. Und angrinsen. Und umarmen und... aber das war wiederum was anderes! Selbstvergessen nippte in an meinem Wasser und grinste dabei in das Glas rein, bis mir bewusst wurde, dass Sean mich musterte. Sofort ging ich dazu über, mit vollkommen ernster Miene das Wasser zu trinken. Das Wasser zu trinken bedeutete auch, der möglicherweise aufkommenden Frage, was ich so lustig fände, für etwas länger auszuweichen.

Doch sie kam nicht. Stattdessen nickte er in Richtung meiner bandagierten Hand.

"Tut's eigentlich sehr weh?"

"Kaum", log ich und lächelte tapfer, obwohl es verdammt weh tat. Aber er sollte sich nicht sorgen.

"Ich hab Schmerzmittel, wenn’s zu schlimm wird", warnte er mich vor. "Du musst einfach nur Bescheid sagen. Tust du das?" Auffordernd blickte er mich an, also ich nickte, in Gedanken mit der Frage beschäftigt, wie ich mit diesen höllischen Schmerzen die Nacht überleben sollte.

Sean nickte ebenfalls und fügte hinzu: "Oder ich kümmer mich selbst darum." Er nahm meine verletzte Hand, führte sie an seine Lippen und hauchte in die verbundene Handinnenfläche einen sanften Kuss auf.

Mein Herz klopfte schneller, wie immer, wenn er etwas besonders Süßes machte oder sagte.

Überfordert von all den aufwallenden Gefühlen für ihn, schaute ich ihn sehnsüchtig an und schwieg, während es in meiner Brust still vor sich hinbollerte.

"Besser?", wollte er grienend wissen, ohne meine Hand loszulassen.

Ich zwang mich, mich zusammenzureißen und lächelte.

"Sehr viel besser", bestätigte ich ihm, das Herz voller Liebe. Er grinste triumphierend und bei seinem Anblick konnte auch ich mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen.
 

Nach einem kurzen Essen, bestehend aus den Resten aus Sean's Kühlschrank, der wirklich eher leer als irgendetwas anderes war, saß ich auf seiner Couch im Wohnzimmer und schaute mir ein Quiz im Abendprogramm an. Da es mitten in der Woche war, lief nichts Interessantes im Fernsehen und irgendwie musste ich mir ja die Zeit totschlagen, während Sean arbeitete.

Er hatte sich mit einer Entschuldigung an seinen Schreibtisch verzogen, um noch ein bisschen Papierkram zu erledigen, was mir auch überhaupt nichts ausmachte. Den hatte er, laut eigenen Angaben, mitgenommen, weil er etwas früher gegangen war. Das hatte mich etwas stutzig gemacht. Es konnte doch nicht sein, dass er kommen und gehen durfte, wie es ihm gerade passte?

Als ich nachfragte, bestätigte er meine Vermutungen, indem er erst ein wenig herumdruckste und mir schließlich doch noch eingestand, dass er sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen verdrückt hatte, natürlich mit Gregory als Mitwisser und -täter. Ich wollte gar nicht wissen, was er für eine Ausrede benutzt hatte und er band es mir auch nicht auf die Nase.

"Du hättest auch später kommen können", erklärte ich ihm mit schlechtem Gewissen, in dem Bewusstsein, dass er sich wieder mal nur wegen mir Ärger einhandelte, oder es beziehungsweise darauf anlegte. Aber er hatte abgewunken und meine Sorgen einfach so abgetan.

Trotzdem wurde ich den nagenden Gedanken nicht los, dass ich eine ziemliche Last war. Es ließ sich nichts anmerken und würde es natürlich niemals sagen, aber niemand konnte mir erzählen, dass es vollkommen an einem vorbeiging, plötzlich mit einer fremden Person zusammenzuwohnen! Wenn es auch nur für ein paar Tage war.

Wir hatten zwar nicht ausgemacht, wie lange das hier dauern sollte, aber ich wollte auf keinen Fall allzu lange bleiben. Ich konnte nur hoffen, dass der verrückte Irre, der mich so leidenschaftlich belagerte, es endlich aufgeben und sich ein anderes, weniger bedrohliches Hobby suchen würde.
 

Ich seufzte laut, so vertieft in meine Gedanken, dass ich Sean ganz vergessen hatte.

Prompt drehte sich dieser fragend zu mir um. "Die Hand?", wollte er sofort wissen.

Ich schüttelte hastig den Kopf und lächelte nervös. "Nein, nein, ich hab nur nachgedacht..."

Er nickte grüblerisch und sein Blick fiel auf Sam, der zu meinen Füßen lag und vor sich hindöste, wobei er seinen Kopf und eine Pfote auf meinem rechten Fuß platziert hatte. Dieser war jetzt wunderbar warm, wobei sich der linke im Vergleich eher eisgekühlt anfühlte.

Der Hund hatte zu meinem großen Erstaunen sogar Manieren. Er sprang nicht auf die Polstermöbel und hielt sich auch von den anderen Einrichtungsgegenständen fern. Nur beim Essen stand er schwanzwedelnd neben mir und hatte mich aus großen, sehnsüchtigen Augen angestarrt, dass ich wirklich Mitleid bekam und kurz davor war, mein Abendessen mit ihm zu teilen. Was nicht sonderlich appetitlich gewesen wäre...

Anscheinend wusste er, dass bei Sean nichts zu holen war, also konzentrierte er sich auf den Neuankömmling, nämlich mich. Und wenn er so weitermachte, hatte er bei mir ziemlich gute Chancen, irgendetwas zu ergattern... Mit dem Hundeblick erinnerte er mich an Ben, wenn er etwas wollte, und dass er ständig um mich herumscharwenzelte, genauso.

Im Laufe des Tages hatte ich mich sogar an die Anwesenheit des großen Mr. Zottel, wie ich ihn in Gedanken nannte, gewöhnt. Als er allerdings angefangen hatte, meine Hand abzuschlecken, als ich für einen kurzen Augenblick nicht aufgepasst hatte, war ich weniger davon begeistert gewesen. Aber dann sagte ich mir, dass es eben das ist, was Hunde manchmal machten. Trotz meines Mantras kam ich nicht umhin, mir einzugestehen, dass ich nicht so auf feuchte Hundeküsse stand...

Sean grinste mich an. "Wenn ich euch zwei so sehe, werde ich ja fast eifersüchtig auf den Guten."

Ich lächelte schüchtern, weil seine Worte sehr schmeichelhaft waren, und er stand auf, schob den Stuhl unter den Tisch und schlenderte zu uns herüber, setzte sich allerdings nicht, sondern warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr.

"Es ist schon spät... Wenn du müde bist, zeige ich dir, wo du schlafen kannst." Fragend blickte er mich an und ich nickte zögernd. Die Schlafensfrage hatte ich bis dato bewusst verdängt und auch Sean hatte sie nicht angesprochen.
 

Langsam stand ich auf und versuchte, Sam nicht aufzuwecken, was mir auch ziemlich gut gelangt. Ich entzog ihm sachte meinen Fuß und folgte Sean schweigend durch das Wohnzimmer hindurch zurück zum Hausflur. Dort öffnete er eine Tür, die voraussichtlich zum Schlafzimmer führte, und ließ mich zuerst eintreten, folgte mir dann auf dem Fuße hinein.

Während ich wie angewurzelt stehen blieb, schlüpfte er an mir vorbei und stellte meine notdürftig gepackte Tasche von Zuhause, die er glücklicherweise gleich aus dem Wohnzimmer mitgenommen hatte, auf dem Boden ab.

Der Raum war nicht groß, aber sehr gemütlich. Er wirkte nicht überfüllt mit Krimskrams, aber auch nicht so leer, und war in warmen, hellen Erdtönen gehalten. Es hingen auch hier gerahmte Bilder an den Wänden, allerdings waren es nur zwei. Auf einem erkannte ich den Eiffelturm, der von einem geöffneten, alten Gittertor aus fotografiert wurde. Ein hübsches Motiv.

Irgendwo in meinem Hinterstübchen registrierte ich, dass es hier weder Fotos von seinem besten Freund, noch von seiner Nichte gab. Überhaupt war dieser Raum vollkommen frei von jeglichen privaten Fotografien.

Der Schrank auf der anderen Seite des Raumes war aus hübschem, braunem Holz und ziemlich groß. Zumindest nahm er fast eine ganze Wand für sich alleine ein. Links und rechts davon standen zwei schmale Bücherregale aus demselben Holz.

Dann fiel mein Blick auf den Teppich.

Er war beige und er sah so weich und flauschig aus!

"Wow!", entfuhr es mir entzückt und ich starrte fasziniert auf den Boden, trat dann einen Schritt vor und versank prompt mit beiden Füßen darin. "Darauf kann man ja fast schlafen!"

Sean nickte. "Und nicht nur das", fügte er frech grinsend hinzu und hob süffisant die Augenbrauen.

Das durfte doch nicht wahr sein! Fielen ihm diese anzüglichen Bemerkungen eigentlich immer spontan ein oder hatte er einfach so viele davon im Repertoire, für jede sich bietende Gelegenheit?

Ich konnte das jedenfalls nicht länger ignorieren und da Sean eigentlich ganz harmlos war - zumindest würde er sicherlich nichts tun, was nicht auch in meinem Sinne wäre - warf ich meine Bedenken einfach über Bord. Wenigstens für dieses eine Mal. Ich fühlte mich gerade unheimlich kühn! Außerdem wollte ich auch wirklich wissen, was er mir damit sagen wollte. Mit wie vielen Frauen hatte er auf diesem Teppich schon "nicht nur geschlafen"?

"Ach ja?", hakte ich so unbeeindruckt wie möglich nach und warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. "Schon mal ausprobiert?"

Im nächsten Moment fiel meine kühle, sehr kurzfristige Fassade auch schon wieder von mir ab. Was redete ich denn da? Was, wenn er "ja" sagte?

Mit einer Mischung aus Anerkennung und Schulbewusstsein grinste er mich an. "Ehrlich gesagt, nein."

Puh. Das war irgendwie beruhigend. Noch einmal würde ich mein "Glück" allerdings nicht herausfordern. Bei diesem Thema saß er sowieso am längeren Hebel, denn in seiner Gegenwart war ich irgendwie linkisch und gehemmt und absolut nicht in der Lage, mich wie ein rationaler, erwachsener Mensch zu verhalten. Eine Schande!

"Ich hab auch noch nie drauf geschlafen", fügte er hinzu und lächelte mild, ließ die unausgesprochene Thematik glücklicherweise unter den Tisch fallen. "Aber ich würde es dir auch nicht empfehlen, wenn du es darauf anlegst - das Bett ist doch sicherlich viel bequemer, meinst du nicht?"

Ich nahm besagtes in Augenschein. Es war ein Doppelbett aus Holz mit braunem Gestell und einer Rückenlehne, über der ein Regalbrett hing. Darauf befanden sich ein paar Bücher, eine leere Vase und ein paar CDs. Die Bettwäsche war in passenden Farben gehalten und hatte braun-weiß-beige, dicke Querstreifen. Sie sah sehr modern aus.

Links und rechts davon standen dazu passende Beistelltische, auf einem davon stand eine kleine Lampe, daneben lag ein Buch und ein Funkwecker.

Ich mochte mein Bett mit dem alten Metallgestell in schwarz und den Schnörkeleien und Verzierungen trotzdem lieber. Es war so... nostalgisch und wirkte so alt. Ich fand es toll!

Aber ich fragte mich, warum Sean ein Doppelbett hatte? Hatte er soviel Damenbesuch, dass er das nötig hatte? Die Frage ließ mich nicht los, aber ich traute mich auch nicht, ihn darauf anzusprechen. Eigentlich ging mich das auch gar nichts an...

"Tja, also...", begann er zögerlich. "Wäre es dir lieber, wenn ich auf der Couch schlafe?"

"Was?", fragte ich irritiert, weil mir im ersten Moment nicht klar wurde, worüber er sprach. Doch dann fiel der Groschen. "Oh!"

Erwartungsvoll sah er mich an.

"Oh... nein, ich meine... Ich kann auch auf der Couch schlafen, wenn du willst. Ich will dir ja nicht das Bett wegnehmen...", plapperte ich eilig. War er nur höflich oder wollte er nicht mit mir in einem Bett schlafen? Oder wollte er, wusste aber nicht, ob ich es wollte? Wollte ich?

Was wären die Konsequenzen? Ich war noch nicht bereit für jedwede Konsequenzen! Wenn ich mit dem "Ja" zum Bett gleichzeitig auch etwas anderes bejahte, dann...

Plötzlich bekam ich ein wenig Angst und wurde nervös. Bis jetzt hatte es nie zur Debatte gestanden, mit ihm zu schlafen, nicht, das ich es mir nicht schon mal vorgestellt hätte, aber... es schien so weit entfernt. Alles nur Fantasie! Aber nun wurde es ernst und obwohl ich oft daran dachte - na gut, eigentlich ständig - bekam ich Panik. Immerhin war mein letzter Freund acht Monate her und – oh Gott! – er hatte mich betrogen! Dabei fiel mir ein, dass wir noch gar nicht darüber gesprochen hatten – über uns, oder eben nicht uns... aber ich traute mich nicht zu fragen, wollte nicht kindisch erscheinen, wollte auch gegebenenfalls die schreckliche Wahrheit gar nicht wissen. Es konnte doch nicht sein, dass sich so ein attraktiver Mann mit so jemanden wie mir zufrieden gab. Ich meine, NUR mit mir. Mit dem netten Mädchen von nebenan, das Angst vor Spinnen und Hunden hat, in jede sich bietende Pfütze tritt und eigentlich überhaupt nichts besonderes ist...

"Hast du gehört?", drang Sean's Stimme an mein Ohr.

"Was?" Erschrocken starrte ich ihn an.

Er runzelte die Stirn. "Ich sagte, dass du mir mein Bett überhaupt nicht wegnimmst und die Couch ist viel zu unbequem für dich."

"Ach was...", erwiderte ich fahrig, seine Worte flogen ins rechte Ohr rein und zum linken wieder raus. Ich war noch immer ganz beschäftigt mit meinem Gefühlsdilemma. Was wollte ich eigentlich? Ich wusste es selbst nicht!

"Worüber denkst du eigentlich so angestrengt nach?"

Iiiieks! Erwischt. Auf frischer Tat ertappt wurde ich sofort rot bis zu den Haarspitzen und mied tunlichst seinen Blick.

"Über gar nichts", nuschelte ich beschämt. Keine zehn Pferde würden mich dazu bewegen, ihm die Wahrheit zu sagen!

"Okay", sagte er entschieden, nachdem er mich eingehend gemustert hatte. "Ich schlaf auf der Couch."

Toll, Emily, gut gemacht. Du hast ihn um seinen Schlafplatz gebracht! Und dabei war ER es, der morgen früh zur Abriet musste und nicht ich!

"Nein! Ich schlafe auf der Couch!"

Sean seufzte müde und warf mir einen langen, geduldigen Blick zu.

"Emily... müssen wir das wirklich machen?"

"Was?", fragte ich verängstigt, weil er sich plötzlich so ernst und genervt anhörte.

"Na, dieses... Spielchen spielen", erwiderte er erschöpft. "Sagen wir einfach, wir schlafen beide im Bett - groß genug ist es ja - und ich verspreche, dich nicht anzufassen."

Mein Kopf leuchtete auf wie ein Leuchtturm bei Nacht. Entsetzt starrte ich ihn an.

Er lächelte sachte. "Dein panischer Gesichtsausdruck war ziemlich deutlich", erklärte er ruhig.

Oh je. Mir stand aber auch alles auf die Stirn geschrieben!

Das war alles ziemlich peinlich und ich schlug beschämt die Augen nieder, fixierte den flauschigen Teppich. Sehr faszinierender Anblick!

Sean ging in einen leichten, freundlichen Plauderton über, wahrscheinlich, um mich wieder ein wenig zu entspannen.

"Ich muss morgen leider etwas länger auf der Arbeit bleiben", erzählte er. "Deshalb werd ich gleich ins Bett gehen. Du kannst natürlich noch fernsehen oder etwas lesen, was immer du willst."

"Nein", qieckste ich, noch immer rot. "Ich bin auch müde..."

Das war ich wirklich. Die letzte Nacht war nicht besonders lang gewesen. Auch für ihn nicht.

"Das glaub ich", seufzte er. "Hoffentlich wirst du ein bisschen ruhiger schlafen können."

Bekümmert sah er mich an.

Die ganze Nacht in seiner Nähe! Ich würde vor lauter Aufregung kein Auge zutun können!

"Ja...", sagte ich zögernd. "Hoffentlich..."

"Zumindest kann hier nichts passieren. Wir haben ja Sam, der aufpasst, und Abby kann manchmal auch ganz schön furchteinflößend werden, wenn sie den Gehstock schwingt."

Er lachte und zwinkerte mir schelmisch zu. "Und zur Not bin ich ja noch da."

Das war für mich doch sowieso die Hauptsache. Ich nickte beruhigt.

"Na siehst du, kein Grund zur Sorge." Lächelnd zerwuschelte er meine Haare und verließ das Schlafzimmer.

Betroffen sah ich ihm hinterher. Hieß etwa, dass er mich nicht anfassen würde, auch, dass er mich GAR NICHT mehr anfassen würde? Nicht mal ein kleines Kuss? Eine kleine Umarmung? Jemandem die Haare verwuscheln war nicht unbedingt... eine sehr intime Geste. Das selbe hatte ich doch eben noch bei seinem Hund gemacht...

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch sah ich mich nach meiner Tasche um, die Sean hier reingetragen hatte. Er hatte sie an das Fußende des Bettes gestellt.

Ich kniete mich davor hin und durchsuchte sie nach meinem Schlafanzug, den ich leider nicht finden konnte. Ich konnte mich aber auch nicht daran erinnern, ihn eingepackt zu haben... Zahnbürste, Unterwäsche, ein paar Klamotten... aber kein Schlafanzug!

Argh! Das konnte doch nicht wahr sein?! Was sollte ich jetzt machen? Wie konnte mir so ein Fehler unterlaufen? Wieso denn immer mir?!
 

Ein wenig verwirrt betrat ich die Küche.

"Sean?"

Er hatte sich bereits umgezogen und füllte gerade Sam's Napf auf. Herrgott! Er schlief in einer dunkelgrauen Jogginghose und mit nacktem Oberkörper! Gleich würde ich anfangen, zu hyperventielieren oder gleich in Ohnmacht fallen!

Er drehte sich zu mir um und blickte mich fragend an, doch mein Kopf war wie leergefegt, seitdem ich ihn so erblickt hatte. Hätte nie gedacht, dass nackte Männerhaut mich jemals so fesseln könnte, aber man wurde ja immer wieder eines Besseren belehrt!

Reiß dich ja zusammen, Emily! Was wollte ich doch gleich sagen...? Ach ja! Der vergessene Schlafanzug!

"Äh..." Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte, war außerdem noch irritiert von dem göttlichen Anblick seiner eindrucksvollen, schönen Muskeln, die sich da abzeichneten auf der leicht gebräunten Haut - KONZENTRATION!! -, und stotterte ein wenig herum. "Ich habe, äh... kannst du mich... noch mal nach Hause fahren?"

Das war so unverschämt von mir, was ich da verlangte! Aber ich konnte doch nicht in Unterwäsche schlafen!

Sean runzelte überrascht die Stirn. "Hast du etwas Wichtiges vergessen?", schloss er messerscharf.

Ich nickte. "Meinen Schlafanzug", gab ich peinlich berührt zu. Eben noch diese Unterhaltung und nun das... Mir blieb aber auch gar nichts erspart...

"Das ist alles?", wollte er fast schon vergnügt wissen. "Nimm dir einfach etwas von mir. Im Schrank hängen eine Menge Sachen."

Prüfend blickte ich ihn an. Meinte er das tatsächlich ernst?

"Irgendetwas?", hakte ich ungläubig nach.

"Irgendetwas", bestätigte er leichthin. "Allerdings würde ich an deiner Stelle keinen Anzug nehmen. Ich glaub, die sind etwas unbequem." Er grinste.

Verwirrt lächelte ich und drehte mich um, um wieder ins Schlafzimmer zurückzukehren. Ich durfte also Sean's Sachen anziehen! Irgendwas! So stellte ich mit den Himmel vor!

Doch dann stand ich wieder unschlüssig vor dem Kleiderschrank und bekam Skrupel. Sollte ich da wirklich reingucken? War es nicht unhöflich, in fremden Kleiderschränken zu wühlen? Da drin war alles bestimmt frisch gewaschen... ich wollte nichts schmutzig machen...

Ein wenig hilflos schaute ich mich im Zimmer um - zu Sean wollte ich nicht noch einmal rennen -, und mein Blick fiel auf einen Stuhl, der an der Wand stand. Über der Stuhllehne hing ein bereits getragenes Hemd. Ich glaubte, es war das von gestern.

Vorsichtig näherte ich mich und nahm behutsam das Hemd in die Hände. Eine Weile lang betrachtete ich es und konnte nicht umhin, meine Nase in den Stoff zu pressen und den wunderbaren Duft einzuatmen. Ich kam mir zwar vor, wie ein Perverser, der an Sachen schnüffelte, aber konnte auch nicht anders! Das hier war höhere Macht... Magnetismus! Zwang!

Ohne großartig zu überlegen, schlüpfte ich in das weiße Hemd und drehte mich zum Spiegel um, der an der Außenseite einer der Schranktüren angebracht war.

Es war mir natürlich viel zu groß und viel zu weit, aber es bedeckte alles, was meiner Meinung nach bedeckt werden musste. Na gut, es war nicht ganz so lang, wie ein Nonnengewand, aber ich hatte auch nicht vor, mich allzu lange Zeit so vor Sean zu präsentieren. Gleich würde ich ins Bett schlüpfen und das war’s!

Ich knöpfte das Hemd langsam zu und ließ den oberen Knopf offen.
 

Es klopfte und Sean trat herein. Abrupt blieb er in der Tür stehen und betrachtete mich schweigend, mit einem amüsierten Gesichtsausdruck, von oben bis unten. Unter seinem Blick errötete ich ein wenig und lächelte verlegen. Soviel zu "nicht präsentieren".

"Warum..." Er unterbrach sich selbst. "Du hättest doch auch etwas Sauberes nehmen können. Im Kleiderschrank hängen viele frische Sachen."

Als ob das hier schmutzig wäre!

"Aber... das riecht so gut", murmelte ich leise, wieder errötend. Die allgegenwärtige Anwesenheit Sean's verwirrte und verunsicherte mich noch mehr, als wenn ich ihn nur ab und zu sah. Ich dachte zwar, das ließe sich nicht mehr steigern, aber nun wurde ich doch eines Besseren belehrt.

Ich wusste auch nicht, was das war – dass ich ständig nur dummes Zeug quasselte und meinen Mund nicht halten konnte, vor allem bei so peinlichen Sachen!

Sean trat schweigend an mich heran und berührte mit seinen Fingern den Hemdkragen. Er nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und fuhr ganz langsam daran entlang, bis seine Hand in meinem Nacken ankam.

Seinen anderen Arm legte er mir sanft um die Taille und zog mich dicht an sich, sodass ich die Wärme seiner Haut durch den dünnen Stoff spüren konnte, seine Hand in meinem Nacken fuhr mir sinnlich in die Haare, als er mich wundervoll sanft küsste.

Als mir die Knie weich wurden, hielt er mich unerschütterlich fest und vergrub sein Gesicht in meinem Haar, seine Wange an meiner Schläfe.

"Du durftest auch sehr gut, Emily", flüsterte er heiser und jagte mir damit einen angenehmen Schauer über den Rücken. Das tat so gut, dass es schon beinahe weh tat! Ich wusste gar nicht mehr, wie mir geschah. So verloren - so verliebt - hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Total verloren in ihn. Irgendwie versunken in den tiefsten Tiefen des Ozeans. Mein Herz war plötzlich doppelt so groß, mit all den Gefühlen angefüllt, die ich schon so lange nicht mehr empfunden hatte, und auch mit solchen, die ich noch gar nicht kannte.

Ich schlang meine Arme um seinen Oberkörper und hielt ihn fest umklammert.

Nach einer Weile – viel zu schnell –, löste er sich langsam von mir und schenkte mir sein warmes, wundervolles Lächeln. "Wollen wir?" Er deutete auf das Bett.

Ich nickte. Vor Sean hatte ich nichts zu befürchten. Ich war mir sicher, er würde sein Versprechen halten.

Schnell schlüpfte ich unter die Bettdecke und er löschte noch das Licht, lag dann auch schon neben mir. Blind blinzelte ich in die Dunkelheit hinein. Meine Augen musste sich erst noch daran gewöhnen.

"Gute Nacht", sagte er mir einem Lächeln in der Stimme und suchte unter der Bettdecke nach meiner Hand, drückte sie.

"Gute Nacht", seufzte ich.

Das war zu schön, um wahr zu sein.

Misconstructions

Mit zwei vollen Einkaufstüten beladen und die Hundeleine in der Hand erklomm ich endlich die Treppe und betrat Sean's Wohnung.

Sam hatte ich mitgenommen, denn ich hatte Angst gehabt, dass er mich anfällt, wenn ich ohne Sean zurückkomme, weil er mich nicht mehr erkennt oder ähnliches. Und Mrs. Delaney wollte ich nicht fragen, hatte ich sie heute doch schon genug belästigt, um mich über die nächstgelegene Bushaltestelle zu informieren.

Nachdem Sean zur Arbeit gegangen war - ich hatte noch geschlafen -, warf ich einen Blick in seinen Kühlschrank. Es herrschte gähnende Leere und ich beschloss, etwas dagegen zu tun. Das war das Mindeste, was ich machen konnte, wenn ich mich schon - gezwungenermaßen - in seinem Haus breit machte. Die Wohnungsschlüssel hatte er mir dagelassen und ebenfalls eine Notiz, in der stand, ich könnte Sam ruhig zu Abby bringen, wenn ich Probleme mit ihm haben sollte. Da ich nicht noch mehr Leuten auf den Geist gehen wollte, behielt ich ihn lieber bei mir, obwohl der Anblick des hünenhaften Hundes mir beim Aufwachen einen ganz schönen Schrecken eingejagt hatte. Immerhin war ich ja nun mit ihm allein im Haus und wer wusste schon, ob die Manieren des Guten ebenso imposant waren, wenn sein Herrschen außer Haus war.

Aber Sam hatte all meine Bedenken zerstreut, indem er sich gemütlich vor dem Bett eingerollt hatte und ein kurzes Schläfchen hielt, ohne mich auch nur einmal zu beachten.
 

Ächzend platzierte ich die Tüten in der Küche auf dem Boden und fing an, auszupacken, während Sam, der Zottelige, sich auf der Stelle zu seinem Napf begab. Da klingelte das Telefon.

Es klingelte zum ersten Mal, seit ich hier war, und ich erschrak, da ich die Vorgänge in meiner Wohnung fast schon verdrängt hatte. Nur mit Mühe konnte ich mich wieder zusammenreißen, indem ich mir immer wieder sagte, dass, wer auch immer gerade Sean anrief, bestimmt nicht derjenige war, der es auf mich abgesehen hatte. Sam jedenfalls rührte sich nicht und schlabberte weiterhin sein Wasser.

Unschlüssig, ob ich drangehen sollte oder nicht, und noch immer mit der aufsteigenden Panik kämpfend, stand ich in der Küche, in der einen Hand eine Packung Milch, in der anderen ein Netz mit Tomaten. Schon nach kurzer Zeit piepte es und der Anrufbeantworter ging dran. Ich lauschte dem Text der vorprogrammierte Frauenstimme. Sean hatte keine persönliche Nachricht draufgespielt.

Nach dem "Sprechen Sie nach dem Signalton"-Satz piepste es wieder und eine weibliche Stimme meldete sich und erkundigte sich nach Sean's Verbleib. Beruhigt, dass es niemand war, der mir drohte, ließ ich die Milch und die Tomaten sinken und atmete erst mal tief durch. Sam warf mir einen trägen Blick zu.

"Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen. Ich vermiss dich so", säuselte die Frau am Telefon plötzlich in einem verführerischen Tonfall und ich blickte alarmiert auf. "Lass uns bald mal wieder was trinken gehen. Einen Kaffee..." Sie machte eine Kunstpause und seufzte leise in den Hörer. "Und so."

Ich schluckte. Das klang aber gar nicht nach seiner Schwester. Wusste ich doch, dass er diese fast jedes Wochenende besuchte. Und was meinte sie mit "und so"?

Ich warf Sam einen ratlosen Blick zu, als könnte er all meine ungestellten Fragen beantworten, doch er war damit beschäftigt, sich seine Nase an der Kühlschranktür platt zu drücken und sich dabei so wenig wie möglich zu bewegen. Verunsichert ging ich wieder dazu über, die Sachen aus den Tüten in die dafür vorgesehenen Schränke zu verfrachten.

Dafür gab es sicher eine plausible Erklärung, sagte ich mir. Vor allem für das "bald mal wieder" und das "ich vermisse dich so". Besonders der letzte Teil wollte mir nicht mehr aus dem Kopf, doch ich weigerte mich, all die Vermutungen anzustellen, die ich wahrscheinlich anstellen würde, wenn ich es zulassen würde.

Dennoch, mit einem äußerst mulmigen Gefühl füllte ich Sam's Futternapf auf, als es an der Tür klopfte. Verwundert öffnete ich diese. Es konnte, meiner Meinung nach, eigentlich nur Abby sein, und ich hatte mit meiner Vermutung sogar Recht. Die alte Frau stand in der Tür und lächelte mich gutmütig an.

"Hallo", begrüßte ich sie, meine Bedenken wegen Sean in den Hintergrund schiebend, und sie nickte mir langsam zu.

"Ich wollte mir gerade einen Tee machen und dachte, vielleicht wollen Sie mir ein bisschen Gesellschaft leisten?", bot sie an. "Ich hab auch Kuchen und Kaffee. Natürlich nur, wenn sie nicht zu beschäftigt sind."

Ich lächelte. "Nein, ein Tee wäre toll", erwiderte ich dankbar und erleichtert. Sie schien nichts dagegen zu haben, dass Sean mich hier einquartiert hatte, und warum sollte ich nicht auch ein wenig Zeit mit ihr verbringen? Sie war da unten allein, ich war hier oben allein - na gut, mit Sam, aber diese Schlafmütze zählte nicht.

"Dann kommen Sie, Emily, es steht schon alles bereit." Sie winkte mich hinter sich her, als sie sich umdrehte und gemächlich und vorsichtig die Treppen runterstieg. "Den Hund können sie da lassen."

Ich warf Sam einen prüfenden Blick zu. "Also...", begann ich, unsicher, ob ich mich nicht vielleicht zum Trottel machte, mit ihm zu sprechen. "Ich bin bald wieder da, also... benimm dich und mach nichts kaputt." Einige Sekunden verstrichen, als wir uns schweigend in die Augen blickten. Dann seufzte ich und beeilte mich, hinter Mrs. Delaney herzukommen.
 

Mrs. Delaney's Wohnung war genauso, wie ich sie mir vorgestellt hatte: antike Möbelstücke aus dunklem Holz und das ganze Zimmer insgesamt vollgestopft mit Sachen, die alte Leute nun mal so besaßen: Fotos, Sammelpuppen in prächtigen Kleidern, altes Geschirr, Bücher, Zeitschriften und noch mehr Fotos.

Mrs. Delaney zeigte auf einen altmodischen, geblümten Ohrenbackensessel, in dem ich Platz nehmen konnte, was ich auch sogleich tat. Sie hatte zwei solcher Sessel, die beide identisch aussahen, doch passten sie so ganz und gar nicht zu dem Bezug des ebenfalls alten Sofas, zu dem sie in rechtem Winkel aufgestellt waren. Zwischen diesen dreien befand sich ein kleiner Couchtisch, auf dem eine Lesebrille, eine Vase mit Blumen und einige aufgeschlagen Zeitschriften lagen.

Vorsichtig schaute ich mich um. Auch die Vorhänge waren mit Blümchen versehen und zeugten deutlich von bereits vergangenen Jahren und auch der Fernseher sah so aus, als stammte er noch aus dem Jahrzehnt vor meiner Geburt. Kurz gesagt: es sah genauso aus wie auch bei meiner Großmutter. Die ich, ich notierte es mir im Hinterkopf, eigentlich bald mal wieder besuchen könnte.

Die alte Dame servierte Kuchen, Kekse und Tee und setzte sich mir gegenüber in den zweiten Sessel, musterte mich dann zufrieden, als ich mir etwas in meine Tasse goss und lächelte.

"Sean hat mir erzählt, was bei Ihnen zu Hause vorgeht", begann sie dann besorgt und runzelte die Stirn, ohne mich aus den Augen zu lassen. "Das ist wirklich furchtbar. Wir sind beide froh, dass sie jetzt hier einigermaßen in Sicherheit sind."

Ich war im ersten Moment ein wenig verwirrt. Hatte ich doch nicht damit gerechnet, dass auch sie Bescheid wusste. Aber klar - wie sollte er ihr sonst erklären, dass für die nächste Zeit ein junges Mädchen bei ihnen im Haus wohnen würde?

Ich nickte. "Das ist wirklich nett von Ihnen beiden... ich möchte trotzdem keine Umstände machen, also wenn i-"

"Ach, so ein Unsinn!", fiel sie mir energisch ins Wort und bedachte mich mit einem empörten Blick. "Sie machen doch keine Umstände!"

Ich senkte den Kopf. "Na ja, jedenfalls...", nuschelte ich undeutlich, ein bisschen verlegen, "ist das trotzdem sehr nett von Ihnen... und Sean."

Mrs. Delaney nippte an ihrem Tee und nickte nachdenklich. "Ja, Sean ist wirklich ein lieber Junge... und sogar schon immer gewesen." Sie lächelte erinnerungsselig und ich blickte neugierig auf. Bis jetzt wusste ich noch nicht viel, aber plötzlich wurde mir klar, dass das meine Chance war, etwas mehr zu erfahren. Immerhin kannte Mrs. Delaney ihn schon ihr ganzes Leben lang!

"Ach ja?", hakte ich interessiert nach und schaute sie erwartungsvoll an. Sie sollte mehr erzählen. Ich wollte alles über ihn wissen! Einfach alles!

Mrs. Delaney lachte. "Ja, das ist manchmal schwer zu glauben, bei den ganzen Mädchen, die ihm hinterher rennen, aber das war nicht immer so gewesen. Wissen Sie..." Sie lehnte sich etwas vor und sah mich mit geheimnisfunkelnden Augen an. "Als Kind war er sehr schüchtern und zurückhaltend, können Sie sich das vorstellen?"

Da hatte ich sie nun endlich da, wo ich sie haben wollte: sie plauderte aus dem Nähkästchen. Aber das Einzige, was ich aufzunehmen schien, war die Tatsache, dass ihm viele Frauen hinterher rannten! Ich schluckte meinen kurzzeitigen Kloß im Hals weg. Das hatte noch lange nichts zu bedeuten! Kein Grund zur Sorge.

Ich schüttelte den Kopf und hoffte, sie würde weitererzählen. Und das tat sie auch, denn sie lehnte sich wieder gemütlich in ihrem Sessel zurück und nahm wieder einen Schluck. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort.

"Ich nehme an, Sie kennen die Geschichte von meinem Evan?" Fragend schaute sie mich an und ich nickte vorsichtig, weil ich nicht wusste, ob ich sie kennen "durfte". Aber Mrs. Delaney schien nichts dagegen zu haben und redete weiter. "Nun, Evan war ein kleiner Raufbold, der immer in Schwierigkeiten geriet, Sean dagegen war ein ruhiger, besonnener Junge. Trotzdem waren die zwei die besten Freunde und animierten sich oft gegenseitig. Während Evan schon immer bei dem anderen Geschlecht sehr beliebt war - und das, das muss ich zu meiner Schande leider gestehen, auch oft ausgenutzt hat -, hat niemand so recht Interesse an Sean bekundet. Er war einer dieser schlaksigen, hageren Jungs, dazu ist er nur unter Frauen aufgewachsen - sein Vater war kaum zu Hause, hat nur gearbeitet. Mit einer Mutter und zwei Schwestern war es klar, wer im Haus das Sagen hatte." Sie schmunzelte. "Bei so viel Östrogen und so wenig männlichen Bezugspersonen ist es sicherlich schwierig für einen Jungen, sich zurechtzufinden. Wie gesagt, er war zurückhaltend, ruhig und hat nie besonders viel Wirbel erzeugt, um aufzufallen, außerdem kannte er sich wohl besser mit Frauendingen aus, als es gut gewesen wäre. Das war vielleicht, was letztendlich den Unterschied machte.“

Ich lauschte gespannt Mrs. Delaney's Erzählungen. Doch was sie sagte, passte irgendwie gar nicht zu dem selbstbewussten Mann, wie ich ihn kennengelernt hatte.

"Was ist passiert?", schlussfolgerte ich. Irgendwas muss in der Zwischenzeit geschehen sein, dass er sich letztendlich doch so entwickelt hat.

Mrs. Delaney zuckte gleichmütig mit den Schultern. "Alle Kinder werden erwachsen. Mit der Zeit wurde er älter, sein Körper passte sich an seine Gliedmaßen an, alles fügte sich an seinen rechtmäßigen Platz und harmonierte und die Mädchen, die ihn früher ignoriert haben, fingen plötzlich an, Interesse zu bekunden. Natürlich, er wurde langsam zum Mann. Sein Wissen half ihm und imponierte den Mädchen ungemein. Zwei Schwestern hinterlassen eben ihre Spuren." Sie lächelte. "Man wächst mit seinen Aufgaben. Langsam hat er diesen ruhigen, schüchternen Charakterzug abgelegt und... ich muss sagen, wahrscheinlich ist ihm das ziemlich zu Kopf gestiegen."

Was erklären würde, warum er so selbstsicher war. Aber andererseits, Sean war ganz klar ein äußerst attraktiver Mann und wer das nicht sah, war schlichtweg blind. Kein Wunder, dass er da Angebote bis zum Umfallen bekam. Ich fühlte mich ein bisschen unbehaglich, als mir das alles durch den Kopf ging, bestätigte es doch mal wieder, dass er alle haben konnte, doch ich wusste immer noch nicht, warum ICH hier war, warum er MICH wollte. Falls er mich überhaupt wollte...

"Trotzdem, er ist immer noch ein lieber Junge", sagte sie liebevoll. "Und ich bin froh, dass er endlich nach all den Fraueneskapaden in letzter Zeit mal jemanden mit nach Hause bringt und mir vorstellt."

Ich schluckte. "Was meinen Sie damit...?"

"Oh, ich habe mir so gewünscht, dass die Mädchen nicht morgens in aller Herrgottsfrühe schon wieder das Haus verlassen, sondern auch mal bleiben. Wissen Sie, wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht, dass das auf Dauer glücklich macht." Sie schüttelte wehmütig den Kopf, während mir tausend Gedanken durch den Kopf jagten und ein jeder fühlte sich an wie ein heißer Nadelstich.

So, wie sich das anhörte, hatte Sean ja dauernd was mit Frauen am Laufen. Mit verschiedenen Frauen wohlgemerkt. Mit verschiedenen Frauen, die noch vor Tagesanbruch das Haus verließen und nicht mehr wiederkamen!

Eine Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus und ich begann, zu frösteln, griff sehnsuchtsvoll nach meiner heißen Tasse Tee, in der Hoffnung, dieser würde mich von Innen etwas wärmen. Außerdem bekam ich so wertvolle Sekunden, in denen ich mich sammeln konnte und nicht mit Mrs. Delaney reden musste. Ich war viel zu geschockt, um irgendetwas Sinnvolles darauf zu erwidern.

Die Gute plauderte auch schon weiter, gar nicht in dem Bewusstsein, ein paar interessante Informationen weggegeben zu haben.

"Ich bin ja eher eine Verfechtern der altmodischen Art. Sie wissen ja vielleicht, wie es früher war. Man traf jemanden, verliebte sich unsterblich, heiratete... na gut, einige verliebten sich auch hinterher, aber man hatte immer jemanden, der zu einem gehörte und einen wertschätzte und man selbst gehörte auch zu jemandem. Das ist wirklich sehr wertvoll, doch leider scheint es heutzutage immer mehr verloren zu gehen."

Ich konnte genau nachfühlen, was sie damit sagen wollte. Ich wollte auch nur allzu gerne jemanden treffen, mich unsterblich verlieben und dann mein ganzes restliches Leben zu dieser Person gehören. Allerdings war das wohl eher ein Wunschtraum, denn, wie ich soeben merkte, entfernte ich mich immer und immer mehr von diesem Ziel. Und das ganz ohne eigenes Zutun!

Ich sank tiefer in den weichen Sessel und starrte resigniert die Tasse in meinen Händen an, ohne sie wirklich zu sehen. Fixierte eher einen unsichtbaren Punkt, während die Bilder in meinen Kopf sich schier überschlugen.

Sean hatte One-Night-Stands. Ständig. Immer wieder. Er schlief mit fremden Frauen. Mit vielen fremden Frauen. Hier, in diesem Haus. Vielleicht oben, in seinem Bett. Wo ich die letzte Nacht auch geschlafen hatte. War das seine Masche? Sie zu sich einzuladen, ganz verständnisvoll zu tun und dann, wenn er hatte, was er wollte, sie wieder wegzuschicken?

Würde er mich auch wegschicken? Hatte er nebenbei noch ein paar andere Eisen im Feuer?

Mir fiel der Anruf von vorhin ein. Diese Frau mit dem verführerischen Gesäusel, die ihn vermisste und ihn bald mal weidersehene wollte! Jetzt wurde mir so einiges klar, was sie damit gemeint hatte!

Das Bild von Tom und Tania schob sich in mein Bewusstsein. Wie ich nach Hause gekommen war und die beiden zusammen im Bett erwischt habe. In dem Bett, in dem ich jede Nacht schlief! Wie erschrocken sie mich angestarrt hatten, nur, um dann ihre Masken fallen zu lassen und so zu tun, als wäre nichts dabei, als hätte ich es nicht anders verdient. Als wäre das mein eigener Verdienst.

"Stell dich nicht so an, Em." Und dieser kalte Blick...

Mir wurde schrecklich übel und ich stellte vorsichtig, wie gelähmt, die Tasse wieder auf dem Tisch ab. Ich hörte schon lange nicht mehr, was Mrs. Delaney sagte, das Einzige, was da war, war dieser heiße Schmerz, der wieder aufwallte. Nur war es nicht der Schmerz um meine einstige Beziehung zu Tom, es war der Schmerz, wieder nichts wert zu sein. Wieder einmal nur das dumme Mädchen zu sein, das sich zu tief in etwas hineinstürzte, das letztendlich gar nicht so war...

"Emily, alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sind ja ganz blass?" Mrs. Delaney's Stimme drang zu mir durch und lichtete ein wenig den Nebel, in dem ich mich befand.

Ich blickte auf und merkte, dass meine Hände ein wenig zitterten. Schnell ließ ich sie in meinen Schoß sinken und nickte verwirrt.

"Alles okay", murmelte ich wie gelähmt und wich ihrem besorgten Blick aus.

"Sie sehen aber gar nicht so aus. Möchten Sie vielleicht hochgehen und sich kurz hinlegen? Das wäre wohl das Beste..." Mich immer noch beunruhigt musternd, stand sie auf und ich tat es ihr gleich. Das war eine gute Idee, konnte ich es doch nicht ertragen, hier noch lange zu sitzen und mir noch mehr Geschichten anzuhören.

Klar, Sean war ein Frauenheld... ein Herzensbrecher. Und früher oder später würde auch mein Herz dran glauben müssen. Wieso nur, fragte ich mich, tat es so weh? Ich hatte fest vorgehabt, mich nicht mit Haut und Haaren zu verlieben, zumindest nicht, solange ich nicht konkrete Antworten auf meine Fragen hatte... solange ich nicht in Sicherheit war. Aber nun, wo ich mit blutendem Herzen in der verkitschten Wohnung dieser alten Frau stand, wurde es mir glasklar: ich war schon längst da. Ich war so was von verliebt. Verliebter ging gar nicht mehr! Ich war total... verknallt! So richtig verloren. Und verloren - das war ich nun wirklich!

"Ja... das mach ich...", hörte ich mich von irgendwoher ganz weit weg sagen und Mrs. Delaney nickte, begleitete mich noch bis zur Tür.

"Ruhen Sie sich ein wenig aus und dann geht's Ihnen hoffentlich bald besser. Herrgott, das sind sicherlich noch Nachwirkungen von Ihren schlimmen Erlebnissen! So was geht nicht so einfach an einem vorbei", mutmaßte sie und ich konnte an ihrem entschiedenen Tonfall genau erkennen, dass sie tatsächlich an das glaubte, was sie sagte. Es wäre am einfachsten, mitzuspielen, also nickte ich.

"Ja, bestimmt", bestätigte ich und stieg gemächlich die Treppe zu Sean's Wohnung hinauf. Die Wohnung, in der er mit seinen ganzen Verehrinnen rummachte. Die Wohnung, in der ich leider für die nächsten paar Tage gefangen blieb.
 

Wie betäubt machte ich mich daran, das Essen zuzubereiten und legte mir einen Schlachtplan zurecht. Würde ich ihn bitten, mich nach Hause zu bringen, würde er merken, dass etwas nicht stimmte und mich wahrscheinlich nach dem Grund fragen. Da ich mit ihm auf keinen Fall über dieses Thema reden wollte, fiel diese Option also schon mal raus. Außerdem hatte ich momentan noch zu viel Angst, um in meine Wohnung zu fahren. Sean mochte ja ein Herzensbrecher sein, aber immerhin war ich hier einigermaßen in Sicherheit. Zumindest sicher vor meinem idiotischen Stalker.

Mein Plan sah folgendermaßen aus: mir nichts anmerken zu lassen und mich emotional so weit wie möglich von ihm und seinen kleinen Aufmerksamkeiten zu distanzieren. Jetzt war mir auch klar, woher er seine ganzen Verführungskünste hatte. Übung machte halt den Meister. Und ich hatte mich ja schon zu oft und zu gerne um den Finger wickeln lassen. Eine Schande! Ich war wirklich erbärmlich, kein bisschen Selbstdisziplin, kein bisschen Herausforderung für einen Mann. Kein Wunder, dass sie mich alle nicht wollten...

Es war klar, dass ich hier, in dieser Umgebung, früher oder später, etwas über ihn erfahre hätte, was mir nicht gefiel. Immerhin war ich ja jetzt voll und ganz in seiner Welt. Aber warum denn ausgerechnet sowas?

Deprimiert bereitete ich das Essen zu und gab mir nicht mal besonders viel Mühe dabei. Sam lag ebenfalls schweigend, dösend, zu meinen Füßen und war kein großer Trost.

Wie sollte es nur weitergehen?

Ich war extrem verunsichert, was das mit Sean anging. Er war so nett und lieb, aber andererseits... ich wusste es doch schon immer, dass das nicht sein konnte. Dass ich nicht so ein Glück haben konnte, jemanden zu treffen, der ernsthaft an mir interessiert war. An mir alleine, für eine längere Zeit hinweg. Der Anruf war Beweis genug! Er hatte noch was mit anderen Frauen und er würde diese Frau bestimmt zurückrufen und sich mit ihr verabreden... Sie hatte eine verführerische Stimme und schien recht aufgeschlossen und offen zu sein, ganz anders als ich. Vielleicht irrte ich mich ja auch, aber ich für meinen Teil würde nie einen Mann anrufen, ihm zusäuseln, dass ich ihn vermisste und um ein Treffen bitten. Dazu war ich viel zu feige. Aber die, die es taten, mussten doch echt was auf dem Kerbholz haben, oder?

Ich bewunderte sie ein wenig, obwohl ich sie gar nicht kannte und nicht einmal wusste, wer sie überhaupt war. Sicherlich wäre meine Bewunderung auch größer, wenn da nicht dieses brennende Gefühl wäre, was mit allem anderen im Widerspruch stand. Es loderte in mir und ließ mir gar keinen klaren Kopf, pflanzte mir Bilder und Gedanken ein, die ich nicht haben wollte und von denen ich, je mehr Zeit verstrich, umso überzeugter wurde.

Eigersucht. Pure Eifersucht. Auf die Frau da am Telefon und auf alle anderen Frauen, die Mrs. Delaney heute möglicherweise gemeint haben könnte. Sie waren nicht mehr gesichtslose Fremde für mich, wie im ersten Moment, nein, sie waren wunderschöne, schlanke, große, langbeinige Schönheiten mit großen, dunklen, ausdrucksvollen Augen, seidig glatten Haaren und einem enorm selbstsicheren Auftreten.

Das war ganz sicherlich nicht meine Welt... was machte ich hier? Panik ergriff mich und ich wollte nur noch weg! Stattdessen ließ ich mich auf die Knie sinken und fing an, wie in Trance, über Sam's Fell zu streicheln. Immer und immer wieder. Er öffnete schläfrig die Augen, erblickte mich, und schloss sie wieder. Sen Schwanz wedelte unablässig über den Boden hin und her.

Es hatte tatsächlich eine halbwegs beruhigende Wirkung auf mich. Dieser große, liebe Hund, der nur tierische Instinkte kannte und nichts von der Menschenwelt wusste. Nichts von Gefühlen wie Liebe und Eifersucht und Schmerz. Ich wünschte, ich wäre genauso ruhig und gelassen wie er. Ich wünschte, ich wüsste auch nichts von all diesen Dingen. Das wäre so schön!

In diesem Moment, als ich mir das Leben als großer, brauner Hund vorstellte, ging die Tür auf und Sean trat herein.

Sein Blick fiel direkt auf mich, wie ich bei Sam auf dem Küchenboden hockte und ihn verzweifelt und geschockt anstarrte. Er lächelte mir zu.

Mein Gott, er sah noch genauso gut aus, wie eh und jäh! Draußen musste es regnen, denn auf seinen dunkelblonden Haaren perlten ein paar Wassertropfen. Er hängte seine Jacke an den Garderobenhaken, entledigte sich seiner Schuhe und kam auf mich zu.

Automatisch erhob ich mich, auch, wenn ich eigentlich nicht die Kraft dazu hatte.

"Hallo Schönheit", sagte er sanft und stand plötzlich direkt vor mir, um mir einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Welch Ironie des Schicksals... Sagte er das zu jeder?

Ich drehte mich instinktiv weg und er erwischte nur meine Wange.

Stirnrunzelnd schaute er mich an.

"Ich hab was gekocht", sagte ich steif und wich seinem Blick aus, deutete dann mit einer fahrigen Geste zum Herd.

Er nickte, sagte aber weiter nichts zu meinem seltsamen Verhalten und gab sich ganz freundlich. "Soll ich den Tisch decken?"

Ich schüttelte den Kopf und sah ihn noch immer nicht an, ging sogar ein paar Schritte von ihm weg. "Nein, ich.... ich hab keinen Hunger. Iss du alleine."

Wenn ich jetzt was essen würde, wer wüsste, ob ich es im Magen behalten könnte? Mir war immer noch sehr schlecht von all der Informationsflut, die da auf mich hereingestürzt war!

Sean indessen wurde immer verwirrter.

"Du hast... eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter", informierte ich ihn zögernd. Ich wollte vermeiden, dass er nachhakte, was mit mir passiert war, denn anscheinend machte ich meine Sache, mir nichts anmerken zu lassen, gar nicht mal so gut! Das mit dem Telefon war eine gute Ablenkung.

"Ach ja?", wollte er wissen und trottete gemächlich zum Telefon, ohne viel Lust. "Was wichtiges?"

Ich zuckte mit den Schultern. Das konnte schließlich nur er beantworten.

Er drückte auf eine Taste und das Band spielte die Nachricht sofort ab.

Sean stand seitlich zu mir und ich beachtete heimlich genauestens seine Reaktion. Als die Stimme der Frau ertönte, zog er die Augenbrauen zusammen und verharrte in dieser Position, bis die Nachricht zu Ende war. Dann, ganz langsam, hob er den Arm und kratzte sich etwas ratlos am Hinterkopf.

"Oh je", sagte er schließlich und das war der einzige Kommentar, den er dazu abgab.

Oh je, etwa wie "Oh je, jetzt rufen mich die Weiber auch noch zu Hause an und belästigen mich" oder etwa wie "Oh je, Frau Nr. 1 weiß jetzt von Frau Nr. 2" und so weiter?

Das war genau das, wovor ich mich gefürchtet hatte. Warum erklärte er es nicht? Warum sagte er nicht: das ist eine alte Bekannte von mir, die mir noch Geld schuldet und es mir wahrscheinlich zurückgeben will, oder etwas in der Art? Warum ließ er mich hier mit einem unheilvollen "Oh je" stehen, das meine Bedenken nur noch mehr schürte? Das war so... unfair!

Verärgert und niedergeschlagen gleichzeitig wandte ich mich ab, machte einen großen Bogen um ihn und trat in den Wohnzimmerbereicht, weil er dort nicht anwesend war, sondern mittlerweile wieder in der Küche.

Er öffnete den Kühlschrank und linste hinein. Dann schloss er ihn wieder und sah mich erstaunt an. "Du warst einkaufen?", fragte er fast ungläubig.

Ich nickte schweigend. Das sah man doch.

Er lächelte wieder dieses hinreißende Lächeln und zu meiner Verärgerung setzte mein Herz ein paar Schläge aus und wurde gleichzeitig so schwer wie Blei. Wieso tat er das nur mit mir?

"Das wäre doch nicht nötig gewesen. Das ganze Zeug muss schwer gewesen sein... Hättest du gesagt, was du brauchst, wäre ich mit dem Auto einkaufen gefahren."

Oh nein, wieso musste er nur so toll sein?!

"Ging schon", erwiderte ich sehr einsilbig mit einem großen Kloß im Hals. Mehr konnte ich momentan wirklich nicht rausbringen.

Sean spürte sehr wohl, dass etwas im Busch war und musterte mich prüfend. "Alles okay mit dir? Ist irgendwas vorgefallen?" Dann hielt er erschrocken inne. "Hast du wieder eine Drohung bekommen oder so was ähnliches?"

Er schaute mich so besorgt an, dass ich gar nicht anders konnte, als ihn zu beruhigen. Meine Wut auf ihn verblasste ein wenig. Wie konnte ich denn wütend auf ihn sein, wenn er sich solche ehrlichen Sorgen um mich machte? Trotzdem war ich noch immer am Boden zerstört.

"Nein, nein... da war nichts", versicherte ich ihm halbherzig und schaute weg. "Ich bin nur erledigt und... ich glaub, ich leg mich hin..."

Ohne seine Antwort anzuwarten, verschwand ich im Schlafzimmer und verkroch mich unter der Decke. Ich schloss die Augen, in der Hoffnung, dadurch diesem Alptraum zu entgehen.
 

Ich hörte, wie die Tür aufgemacht wurde, nur wenige Sekunden, nachdem ich mich hingelegt hatte. Sean hockte plötzlich vor mir und ich blickte in ein wunderschönes Paar grüner Augen, die mich ziemlich beunruhigt musterten.

Langsam hob er die Hand und legte sie behutsam auf meine Stirn. Ich erstarrte und wagte es kaum, mich zu bewegen, geschweige denn, zu atmen. Diese Berührung...

"Du wirst doch nicht etwa krank werden, oder?", wollte er besorgt wissen. "Also Fieber hast du nicht." Wieder musterte er mich prüfend, als könnte er so auf die Antwort kommen.

"Ich bin nur müde", wich ich leise aus und versank mit der Wange noch tiefer im Kissen. Ich ahnte schon, dass er mir nicht so recht glaubte, aber das war mir egal.

Sean schwieg eine Weile, dann erhob er sich, war aber immer noch zu mir runtergebeugt. Er streifte mit den Lippen sachte meine Stirn und drückte einen zarten Kuss darauf. Da stand er nun, ganz nah neben mir, und mit einem unfassbar sanften Ausdruck im Gesicht, wie er mich so ansah. Eine schmerzliche Sehnsucht packte mich. Am liebsten wäre ich jetzt in seinen Arme versunken, aber das Wissen um ihn und seine Fraueneskapaden hielt mich davon ab. Die Mischung aus meinem Zweifel und diesem Verlangen brachten mich fast zur Verzweiflung, mein Herz quoll über und ich schloss wieder die Augen, um ihn nicht ansehen zu müssen.

Ich hörte, wie er sich entfernte und dann löschte er das Licht und ich befand mich plötzlich im Dunkeln. Im Dunkeln mit meinen Gefühlen und seinen Absichten.

Ich versuchte, noch mal rational an die Sache ranzugehen, doch es wollte mir nicht so recht gelingen.

Ja, ich wusste, dass Sean ein sehr gutaussehender Mann war. Er war selbstsicher und freundlich, und deshalb mochte ich ihn ja auch, warum sollten ihn andere denn nicht auch mögen?

Es machte mir nichts aus, dass auch andere Frauen ihn begehrten, es war nur... begehrte er sie auch? Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ich, so langweilig und gewöhnlich, wie ich nun mal war, genug war. Für ihn und seine Außergewöhnlichkeit. Dass er nicht mehr wollte. Dass er sich nicht mehr holen könnte, denn Angebote waren ja anscheinend genug da. Man denke nur an die Frau am Telefon... Ich verstand schon: mein Problem bestand ausschließlich aus meinen Selbstzweifeln, aber dass Sean nicht mit mir redete und mir nicht all die Sachen sagte, die ich wirklich hören wollte, das trug gewaltig dazu bei. Ich sollte vorsichtiger sein, besser aufpassen. Eine zweite Tom-Situation, das wollte ich nicht. Ich wollte nicht die ewige Zweite sein, die einfach so sitzen gelassen wird, weil etwas Besseres daherkommt. Ich wollte mir nicht ein Bett mit einer anderen teilen müssen... Erst jetzt merkte ich, welche Nachwirkungen dieses böse Spiel auf mich gehabt hatte. All die Zeit über hatte ich nicht mehr dran gedacht, aber jetzt, wo es ernst wurde, merkte ich, wie geschädigt ich wirklich war. Ich war hin und her gerissen zwischen dem Vertrauen, das ich Sean wirklich nur allzu gern schenken würde, und meinen Zweifeln, die ich einfach nicht loswerden konnte, weil ich es besser wusste. Wusste, was passieren konnte, weil es schon einmal geschehen war. Mir fiel ein Zitat ein, das wunderbar auf diese Situation passte: gebranntes Kind scheut das Feuer.

Außerdem, nur ganz am Rande meines Bewusstseins, nagte noch etwas anderes an mir. Es war lächerlich, angesichts dieser Situation, so was überhaupt auch nur zu denken, aber da war es nun mal, und knabberte an meinem Ego.

Wie viele Frauen hatte Sean wohl schon gehabt? Im Vergleich dazu kam ich mir mit meinen zwei festen Freunden echt wie ein Versager vor. Einen, Robbie, hatte ich in der Schule. Er war sehr nett, aber nicht besonders auffällig und auch eher schüchtern. Was dazu führte, dass es nicht so richtig laufen wollte zwischen uns... Tom lernte ich erst nach der Schule kennen und der Rest der Geschichte... ist ja schon bekannt. Das war’s. Finito. Nichts weiter, niemand mehr, der sich da irgendwie, auch nur für eine Nacht, in mein Leben gestohlen haben könnte.

Ich wurde rot, auch, wenn ich allein im Dunkeln lag, und vergrub beschämt mein Gesicht im Kissen. Das durfte Sean niemals erfahren! Denn dann würde er mich wirklich für die absolute Niete halten. Ich konnte es ohnehin nicht mit ihm aufnehmen, aber das musste er ja nicht wissen.

Wenn ich ehrlich war, hatte ich jetzt noch mehr Ehrfurcht vor ihm. Wie sollte ich mich bloß ihm gegenüber verhalten? Ich kam mir vor wie ein blutiger Anfänger und das Schlimmste war: ich hatte noch immer keine Definition für das hier. Was wir hatten. Oder nicht hatten.

Es war kindisch, aber ich fühlte mich, als ob ich das brauchte. Ich wollte einfach Gewissheit. Wollte das Gegenteil von diesem elenden Gefühl, das ich heute den ganzen Tag gehabt hatte und mit dem ich wohl auch schlafen gehen musste. Ich wollte Antworten und ich wollte, dass er dasselbe empfand, wie ich. Was, zugegebenermaßen, wahrscheinlich zu viel verlangt war...

Breaking Through The Walls

Betrübt starrte ich aus dem Fenster in den Hinterhof hinaus. Direkt vor dem Haus wuchs ein großer Kirschbaum und draußen regnete es unaufhörlich, wie schon den ganzen Tag über.

Ich hatte mich mal wieder vor Sean ins Schlafzimmer geflüchtet. Er war viel früher von der Arbeit zurückgekommen, als ich erwartet hatte. Als ich nachgefragt hatte, erklärte er, dass er heute Nacht noch einmal raus musste, Streife fahren. Nur ein paar Stunden, aber anscheinend war das Gang und Gebe. Jedenfalls war es schwierig, ihm auf so engem Raum aus dem Weg zu gehen. Da er aber sowieso gerade seinen polizeilichen Papierkram erledigte, den sie ihm immer mitgaben, war es ein Leichtes gewesen, sich davonzustehlen. Zur Not konnte ich ja immer noch behaupten, dass ich ihn nicht stören wollte. Wollte ich ja auch nicht, nur eben aus anderen Gründen.

Mittlerweile hatte ich mich wieder ein wenig beruhigt, doch meine Ängste saßen noch immer tief drin und ließen mich nicht in Ruhe. Ich zermarterte mir rund um die Uhr das Hirn nach einer logischen Antwort, wog Dinge ab und versuchte, etwas rationaler an die Sache heranzugehen.

Im ersten Moment war ich geschockt gewesen, aber jetzt erschien mir einiges klarer.

Ja, ich hatte überreagiert, wenn auch nur in Gedanken. Ja, er war attraktiv und hinreißend, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er ein unanständiger, ungehobelter Klotz ohne Moral war. Und ja! Ja, ja, ja, ich war ein elender Feigling, dass ich ihn nicht einfach darauf ansprechen konnte! Aber jedes Mal, jedes verdammte Mal, wenn ich glaubte, ich hätte genügend Mut gesammelt, um es zu tun, lächelte er mich so knieerweichend an und sagte irgendetwas Süßes, und mein Mut verpuffte, löste sich in Luft auf und alles, was ich wollte, war, in diesem süßen Gefühl von flauschig weichen, rosa Wolken zu versinken... Sean war wie eine Droge, ganz eindeutig.

Ich seufzte und lehnte die Stirn an die kühle Scheibe, doch auch diese vermochte es nicht, meinen Kopf abzukühlen, der mittlerweile schon heiß gelaufen war vom vielen Nachdenken. Klar, ich musste mit ihm reden... Reden. Wie sollte ich das bloß anstellen, ohne mich zum Trottel zu machen?

Ich konnte nur hoffen, dass er die Wahrheit sagte. Und dass die Wahrheit das war, was ich hören wollte...
 

Als hätte er meine Gedanken gelesen, klopfte es plötzlich von Außen an die Zimmertür, die ich nur angelehnt hatte, nicht geschlossen. Ich drehte mich nicht sofort um, aber als ich es tat, stand Sean bereits im Zimmer und blickte mich bekümmert an. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ich machte ihm Sorgen. Mal wieder! Dabei war es doch das, was ich um jeden Preis vermeiden wollte. Aber andererseits - er machte mir ja auch welche. Halbherzig versuchte ich, ein Lächeln auf meinem Gesicht zustande zu bringen, doch ich fürchtete, es wurde eher eine furcheinflößende Grimasse draus.

"Emily", begann er und trat näher. "Bilde ich mir das vielleicht nur ein oder... gehst du mir seit gestern aus dem Weg?" Seine Augen fixierten mich erbarmungslos und er musterte mich eindringlich.

Oh Gott... ich wusste ja, dass ich mit ihm früher oder später reden musste, aber doch nicht jetzt sofort! Ich war noch immer feige und bin in den letzten Minuten ganz sicherlich nicht um einen Deut mutiger geworden!

"Ich weiß nicht...", murmelte ich und rang mir ein dünnes, unsicheres Lächeln ab. Ich konnte ihn nicht anlügen. Das hätte er mir auf der Stelle angesehen.

Er runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen. Verstand nicht.

"Was ist denn passiert?", wollte er dann wissen. "Hab ich... etwas Falsches gesagt oder... möchtest du nach Hause?" Für einen ganz kurzen Augenblick sah er ein wenig verloren und ratlos aus und der kleine Junge auf dem Foto, von dem Abby erzählt hatte, kam wieder durch.

Schnell schüttelte ich den Kopf. Wenn er so war, konnte ich ihm einfach nicht böse sein. "Nein, es ist nur... also..." Ich schluckte und starrte den Boden an. Man, dieser tolle Teppich faszinierte mich noch immer!

"Ja?", half er nach.

"Ja, nun... gestern hat Mrs. Delaney mich zum Tee eingeladen und da hat sie... na ja... Sachen erzählt." Ich wagte es noch immer nicht, ihn anzusehen.

Sean schwieg und trat dann näher zu mir heran. "Setz dich, Emily."

Das war eine klare Aufforderung, auch, wenn er sich bemühte, es nicht allzu gebieterisch zu sagen.

Still kam ich seiner Bitte nach und setzte mich im Schneidersitz auf das Bett, meine Schlafhälfte. Er ließ sich auf der Bettkante nieder und sah mich dann ernst an. Zu ernst, für meinen Geschmack.

"Erzähl weiter", bat er dann, ohne auch nur den Anflug eines Lächelns. "Was für Sachen?"

Jetzt musste ich das auch noch laut aussprechen... das konnte ich nicht. Ich konnte nie und nimmer so offen zugeben, dass ich so schrecklich verunsichert und so eifersüchtig war...

"Ach... nichts Besonderes eigentlich...", winkte ich ziemlich unüberzeugend ab. "Es ist nur so, dass... ich bin mir nicht ganz sicher..."

"Weswegen?", griff er meine Zweifel sofort auf und suchte aufmerksam meinen Blick. Als ich nicht antwortete und ihn auch nicht anschaute, schüttelte er langsam den Kopf. "Komm schon, Emily. Rede mit mir... Ich kann schließlich keine Gedanken lesen, also musst du mir schon sagen, was dich bedrückt."

Ich musste zugeben, da hatte er Recht... Trotzdem war das nicht so einfach...

"Ich werde auch nicht lachen, falls es das ist, wovor du dich fürchtest", witzelte er und warf mir ein beruhigendes Lächeln zu, das mich leider noch viel mehr aus der Ruhe brachte, als ich ohnehin schon war.

Ich räusperte mich einmal, um Zeit zu gewinnen. Besser, ich brachte das hier schnell hinter mich.

"Ich werde nur nicht so recht schlau aus dir", sprudelte es aus mir heraus. "Manchmal. Okay... eigentlich ganz oft. Die meiste Zeit über..." Oh je, ich redete mich wieder in Schwierigkeiten hinein. Das tat ich oft, wenn ich nervös war. Verunsichert knetete ich meine Hände in meinem Schoß.

"Warum?", fragte er ganz ruhig.

"Na ja, du bist..." Ich hielt inne und entschied, dass es jetzt sowieso egal war. "Ich meine, ich weiß nicht, was... was das ist zwischen uns." Das Blut schoss mir in den Kopf. Herrgott, wieso musste ich nur so peinlich sein?! "Ich meine... du bist immer so nett und lieb und einfach toll und..." Okay, reiß dich zusammen und schalt 'nen Gang zurück. Das hier sollte keine Liebeserklärung werden, schon vergessen?! "Und ich... weiß es trotzdem nicht, also, ich bin mir nicht sicher, weil... du nichts sagst...deswegen", schloss ich ziemlich lahm und leise und bereitete mich auf die sprichwörtliche Guillotine vor, warf ihm einen zaghaften Blick zu, um zu sehen, wie sehr aufgebracht er war.

Doch Sean schien eher verwirrt als aufgebracht. Irritiert blinzelte er mich an und runzelte dann die Stirn, als könnte er mir nicht ganz folgen. "Im normalen Sprachgebrauch nennt man das, glaube ich, eine 'Beziehung'", erwiderte er langsam, seine Mundwinkel zuckten vorwitzig und mein Herz schlug Kapriolen.

Auch, wenn ich mich zwang, meine Hoffnungen nicht direkt in die Höhe schießen zu lassen, klang ich über alle Maßen aufgeregt, als ich fragte: "Eine Richtige?!"

Er schmunzelte. "Was gibt es denn sonst noch?"

"Es gibt... verschiedenen Arten von Beziehungen", wich ich ihm ein wenig aus, weil ich das Kind nicht beim Namen nennen wollte.

Sean reagierte eher verständnislos, als wüsste er nicht, wovon ich redete. "Zum Beispiel?"

Ich druckste ein wenig herum. "Na ja, offene Beziehungen zum Beispiel... und so weiter..."

Über alle Maßen verblüfft starrte er mich an und zu meinem großen Erstaunen brach er anschließend in schallendes Gelächter aus. "Du denkst, ich würde andere Frauen treffen? Denkst du das tatsächlich?"

Klasse, jetzt lachte er mich auch noch aus. Aber ich war viel zu erleichtert, als dass ich mich deswegen in irgendeiner Art gekränkt fühlte. Trotzdem war mir das ein wenig peinlich. Jetzt hieß es, Schadensbegrenzung zu betreiben.

"Ich weiß nicht... Sie wären bestimmt nicht abgeneigt...", warf ich schüchtern ein, als wäre das auch nur ansatzweise ein gültiges Argument.

Sean schüttelte energisch den Kopf. "Aber ich! Ich wäre abgeneigt", erklärte er mir ziemlich eindringlich und sah mich ernst an. Gefesselt von seinem Blick und den grünen Augen nickte ich automatisch und besann mich wieder eines Besseren. Warum war ich hier eigentlich die Doofe, die sich Sorgen machte, dass er noch anderweitig beschäftigt war?

"Dasselbe könnte du doch auch von mir annehmen", ging ich trotzig in die Defensive. Warum war er sich meiner denn bitteschön so sicher?

"Dass du dich mit anderen triffst?", hakte er noch einmal belustigt nach.

"Ja."

Er grinste, seine grünen Augen funkelten vergnügt. "Auf keinen Fall."

"Warum denn nicht?", wollte ich leicht schnippisch wissen. Dachte er etwa, ich könnte keinen haben? Ich wusste, das war unsinnig, aber war ich hier tatsächlich der einzige Idiot? Ich wollte nicht der einzige Volltrottel sein, der in Selbstzweifeln verging und Angst hatte, ihn zu verlieren!

Er lächelte leise. "Weil du viel zu ehrlich bist und das schlechte Gewissen würde man dir an der Nasenspitze ansehen." Er tippte zärtlich mit dem Zeigefinger auf eben jene und legte den Kopf schief, um mich mit seinem allwissenden Grinsen anzusehen. Mir wurde ganz warm ums Herz, wenn er mich so anschaute, und ich fühlte, wie meine Wangen sich ebenfalls erwärmten.

Er hatte ja Recht. Ich könnte ihn niemals anlügen.

"Und dir?", wollte ich leise wissen.

Sean schmunzelte. "Mir würdest du das nicht ansehen. Aber du hast mein Wort."

Eine kurze Stille legte sich zwischen uns und ich merkte, dass ich ihm glaubte. Alles glaubte. Dass ich dumm gewesen war und überreagiert habe. Dass meine Fantasie mir einen Streich gespielt hatte. Und wenn schon... jetzt war ich viel klüger. Jetzt hatte ich Gewissheit. Mochten da noch so viele andere Frauen gewesen sein, jetzt war ich da, und ich hatte sein Wort. Seine Reaktion hatte mir nur noch mehr verdeutlicht, dass ich absolut falsch gelegen hatte.

"Ich wusste es", plauderte er leichthin und lachte leise. "Als ich gesagt habe, wir könnten ja so tun, als wärst du meine Freundin, hätte dein enttäuschter Gesichtsausdruck mir eigentlich alles sagen müssen... Aber ich hätte nicht gedacht, dass du das tatsächlich so ernst nimmst.“

Ich hörte gar nicht richtig hin, sondern konnte meine Augen nicht von ihm wenden, während sich in meinem Inneren ganz leise, ganz langsam ein Sturm zusammenbraute. Ich rückte näher an ihn heran, streckte meine Hände nach ihm aus und hockte nun plötzlich auf den Knien neben ihm. Ganz behutsam, um nichts falsch zu machen, nichts zu überstürzen, legte ich meine Hände auf seine Brust. Meine Gefühlen drohten mich von Innen zwar zu überrollen, aber von Außen schien ich ganz gelassen.

Ganz vorsichtig legte ich meine Lippen auf seine und küsste ihn. Zuerst sehr zurückhaltend, ganz sachte, und er drängte nicht, dann immer inniger. Ich schlang meine Arme um seinen Nacken und drückte mich an ihn, langsam sprudelten all die angestauten Emotionen über und erst jetzt bemerkte ich, dass dieses Gespräch eine befreiende Wirkung auf mich gehabt hatte. Jetzt konnte ich ihn küssen, ohne Angst haben zu müssen. Ihn berühren, ohne Zweifel zu haben. Jetzt konnte ich...

Ich dachte den Gedanken nicht zuende, denn er ließ mich los und blickte mich vergnügt an. Ich lächelte verlegen. Es war einfach über mich gekommen und ich hatte nichts dagegen tun können.

Sean grinste, er sah ziemlich zufrieden aus. "Wow", sagte er anerkennend und hob süffisant die Augenbrauen. "Das war interessant."

Noch bevor ich etwas darauf erwidern oder rot werden konnte, beugte er sich wieder vor, umschlang mich und küsste mich. Nicht ganz so stürmisch wie ich eben, aber nicht weniger schön.
 

Erschöpft und atemlos lagen wir im Bett. Die Erinnerung daran, wie wir noch vor wenigen Minuten wie frisch verknallte, hungrige Teenager wild rumgeknutscht hatten, trieb mir wieder das Blut ins Gesicht, aber ich versuchte, nicht daran zu denken. Nicht, an eine Wiederholung zu denken...

Sean legte den Arm um mich und ich den Kopf in die kleine Kuhle zwischen seiner Brust und seiner Schulter. Er war so warm und duftete so gut...

"Also, jetzt bin ich aber neugierig", gluckte er belustigt. Es war das erste, was er seit unserer Knutscherei wieder sagte. "Was für Sachen hat Abby dir denn erzählt, dass du so eine Angst bekommen hast?"

Ich machte mich ganz klein. Irgendwie war das Ganze im Nachhinein ja schon beschämend...

"Nur über deine... Freundinnen... und so...", stammelte ich und schloss die Augen.

"Und so?", hakte er gelassen nach. Das schien ihn gar nicht aufzuregen, was ich als gutes Zeichen wertete.

"Na, du weißt schon...", wich ich aus und kuschelte mich mit der Wange noch tiefer in seinen Pullover, seufzte träge auf.

"Nein. Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst", neckte er mich schmunzelnd. Dieser Bastard! Das machte er mit Absicht! Er wollte, dass ich es laut aussprach. Und er wusste genau, dass ich das nicht wollte!

"Deine Frauengeschichten. Viele Frauengeschichten." Mein Tonfall hörte sich schärfer an, als ich eigentlich beabsichtigt hatte. Ich wollte jetzt nicht darüber reden. Nicht darüber nachdenken. Ich war immer noch eifersüchtig!

Mit den Fingern des Armes, den er um mich geschlungen hatte, streichelte er behutsam meinen Oberarm, fuhr rauf und runter. Es kitzelte ein wenig, aber vielmehr als das war es wirklich schön.

"Ich bin 25 und kein Mönch", erklärte er mit sanfter Stimme, leise. "Und so viele waren es gar nicht. Abby neigt zum Übertreiben..."

"Mhhm", machte ich nichtssagend.

Er sah sich anscheinend dadurch gezwungen, sich zu rechtfertigen. "Zu meiner Verteidigung: ich hatte auch schon echte Beziehungen. Langanhaltende Beziehungen. So ist es ja nicht."

Jetzt sah ich doch auf und blinzelte die träge Müdigkeit weg, die mich immer in seinen Armen beschlich. "Was ist passiert?", flüsterte ich ehrfürchtig, nicht sicher, ob ich das wirklich hören wollte.

Er zuckte mit den Schultern und fuhr fort, meinen Arm mit seinen Fingern zu liebkosen. "Gar nichts. Die Richtige war nicht dabei, das ist alles." So einfach war das.

"Hast du das erst... hinterher erkannt?", hakte ich nach.

Er blieb für wenige Sekunden still, überlegte und schüttelte anschließend den Kopf. "Nein... eigentlich habe ich das ziemlich schnell gemerkt. Schon am Anfang."

Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Was meinte er denn damit?

"Warum bist du denn dann mit ihnen zusammengeblieben?", fragte ich, ganz schön verstört. Aus Spaß an der Freude? Um sie zu quälen? Vielleicht waren sie ja wirklich in ihn verliebt gewesen und er hatte sie nur hingehalten!

Er grinste verschmitzt und drückte mich kurz an sich. "Na, ich musste doch schon mal üben, um die Richtige beeindrucken zu können, sollte sie mir über den Weg laufen."

Was wieder neue Fragen aufwarf... ich wusste, dass er eigentlich nur scherzte und das wahrscheinlich nicht der wahre Grund war. Niemand ging in eine Beziehung mit dem Ziel, zu "üben". Aber was sollte diese Anspielung... wollte er damit etwa sagen, dass ich...?

Ich ließ meinen Kopf wieder auf seine Brust sinken, schwieg, versuchte, die Verwirrung zu lichten. Es freute mich, dass er so ehrlich zu mir war, obwohl er nur so ungern über sich selbst sprach, aber gleichzeitig warf er immer wieder neue Rätsel in den Raum. Ich entschloss mich, mich nicht länger damit aufzuhalten und er ließ mir auch gar keine Zeit, denn schon stellte er die Frage, der ich lieber für die nächsten 60 Jahre nur allzu gern aus dem Weg gegangen wäre:

"Was ist mir dir? Erzähl mir von Tom."

Dass er sich überhaupt noch an den Namen erinnern konnte... soweit ich wusste, hatte ich ihn nur einmal erwähnt, wenn auch eher gezwungenermaßen, gegen über Mr. Dickinson.

"Oh nein", stöhnte ich auf und bewegte langsam den Kopf hin und her, um ihm meinen Unwillen zu zeigen.

"Das ist nur fair", forderte er lächelnd. "Außerdem interessiert es mich, warum du im Büro behauptet hast, du wärst es ihm nicht wert, dich zu verfolgen."

Ich schwieg. Wunder Punkt!

"Komm schon, Emily, Liebes." Er drückte seine Lippen an meine Haare. "Was hat er getan?"

Angesichts seiner Sanftheit bekam ich einen Kloß im Hals, den ich versuchte, wegzuschlucken. Ich sollte lieber den Mund aufmachen und reden, denn noch ein liebes Wort von Sean und ich würde sicherlich nicht mehr an mich halten können...

Ich seufzte ergeben. Er hatte gewonnen.

"Es war nichts", log ich, nur um im nächsten Atemzug das Gegenteil zu beweisen. "Er hat mich betrogen, ich hab sie erwischt und das ist das Ende der Geschichte."

Sean sagte gar nichts. Ich wartete gespannt auf einen Kommentar.

"Das war eine interessante Geschichte", begann er langsam. "Und vollkommen frei von persönlichen Gefühlen." Dann lächelte er. "Und was ist zwischen den Zeilen passiert?"

Ich presste die Zähne aufeinander. "Zwischen den Zeilen... hat er ganz selbstgerecht getan, als wär das sein gutes Recht gewesen, als... als wäre ich..." Ich hielt inne und schwieg, aber Sean verstand.

"Schuld?", fragte er ruhig.

Ich nickte. Und noch mehr als das...

Wieder wurde es still zwischen uns, aber es wahr keine unangenehme Stille. Ganz im Gegenteil, irgendwie tröstend.

"Jetzt versteh ich auch, warum du so vorsichtig bist", stellte er fest. Er klang jetzt wieder ganz ernst und nüchtern, wie vorhin bei dem klärenden Gespräch. "Aber Emily, du musst mir schon vertrauen. Und mit mir reden."

Mir fiel wieder seine Bemerkung ein, dass er nicht Gedanken lesen könnte. Und das konnte ich ja auch nicht. Vorsichtig nickte ich. Ich wusste nicht, ob ich wirklich bei jedem kleinsten Anfall, denn ich hatte, zu ihm rennen konnte. Würde. Aber er hatte Recht. Ich musste ihm schon glauben. Einfach glauben, dass er keine schlechten Absichten hatte. Er war ja kein schlechter Kerl, ganz im Gegenteil, er hatte schon oft genug bewiesen, dass er ein toller Kerl war. Ein absolut toller, hinreißender, heißer... hoppla!

"Musst du nicht bald los?", murmelte ich in seinen Pulli hinein, um mich abzulenken, weil mir ganz warm wurde. Draußen war es schon dunkel und es regnete noch immer.

"Noch nicht." Seine Stimme klang genauso träge und schläfrig wie meine. "Lass uns noch ein bisschen hier liegen bleiben, bevor ich in die Kälte da draußen muss..."

Dagegen hatte ich nichts einzuwenden.
 

Sean war zu spät dran. Ich wusste es doch, dass er es verschlafen würde. Nicht, dass er geschlafen hatte, aber es war einfach zu gemütlich und wahrscheinlich war er nur zu faul gewesen, um aufzustehen, bis ich ihn endlich aus dem Bett geschmissen hatte, nach einem eher ernüchternden Blick auf die Uhr.

Während er sich für die Arbeit fertig machte, schlich ich mich ins Bad und zog schon mal mein Ersatz-Nachthemd an. Hemd im wahrsten Sinne des Wortes!

Ich wollte mich jetzt nur noch weiter ins Bett kuscheln und vielleicht ein Buch lesen. Der Abend mit Sean war so schön gewesen, dass ich heute gar nichts mehr groß anfangen wollte. Kein lauter Fernseher, keine anderen Gerüche als der von Sean's Shampoo auf seinem Kissen, keine ablenkenden Gedanken als der an ihn.

Geistesabwesend schlenderte ich zurück ins Schlafzimmer und wollte eben wieder ins Bett schlüpfen und die Beine über die Bettkante schwingen, als Sean ohne zu Klopfen ins Zimmer trat. Ich erschrak ein wenig und fühlte wieder mein Blut brodeln, hatte er mich doch eben in eine sehr freizügigen Position erwischt!

Gerade wollte ich nach der Bettdecke greifen und sie über meine nackten Beine ziehen, als er auch schon neben mir auf der Bettkante saß, mit dem Oberkörper zu mir gedreht, und sich mit der rechten Hand auf meiner anderen Seite abstützte.

Er lächelte verschmitzt.

Mit den Fingerspitzen der linken Hand strich er sachte über meine Oberschenkel und schaute mich so intensiv mit seinen grünen Augen an, dass ich gar nicht mehr wegsehen konnte.

Gefangen durch seine Berührungen saß ich still und bewegungslos im Bett und registrierte nur noch die brennenden Stellen, an denen er eben noch mit den Fingern entlanggefahren war. Meine Kehle war innerhalb weniger Sekunden wie ausgetrocknet. Ich schluckte mühsam.

Ohne den Blickkontakt abzubrechen, rutschte er näher und strich mir nun mit dem Daumen über die Wange, bevor er dieselbe Hand in meinen Nacken wandern ließ, meinen Hinterkopf umfasste und meinen Kopf leicht nach vorne drückte, wo unsere Lippen plötzlich kollidierten und ein Feuerwerk an sämtlichen Nervenenden meines Körpers entfachten.

Huch, mir war unendlich heiß...

Seine Zunge liebkoste meine Lippen und arbeitete sich langsam vor, sein Griff in meinem Nacken wurde fester und ich umklammerte unwillkürlich das Bettlaken unter meinen Händen.

Mein Puls hatte schon längst alle Grenzen des Gesunden überschritten und nicht mal vier Tassen des allerschwärzesten Kaffees hätten das jetzt noch überbieten können.

Er löste sich von mir und ich ließ nur widerwillig von ihm ab. Seine Lippen fuhren an der Seite meines Halses entlang und ich ließ ihn gewähren, kaum in der Lage, mich zu rühren.

"Atmen", raunte er mir aus weiter Ferne zu, während er meinen Hals und meine Schulter mit federleichten Küssen bedeckte, doch ich konnte überhaupt nicht mehr klar denken und das Worte "atmen" machte plötzlich gar keinen Sinn mehr.

Er drückte mich sanft in die Kissen zurück und lehnte sich über mich, sah mich mit seinem glühenden, leicht amüsierten Blick an. Mein Atem ging nur noch stoßweise und die Hitze war mir wortwörtlich zu Kopf gestiegen.

Er hob die Hand und strich mit eine Strähne aus dem Gesicht. Ohne den Blick von mir abzuwenden, umfuhr er mit den Fingern die Konturen der beiden Erhebungen unter meinem - seinem - Hemd und ich sah mich dazu gezwungen, die Augen zu schließen und auf meine Unterlippe zu beißen.

Er beugte den Kopf weiter runter und küsste meine Brüste durch den dünnen Stoff hindurch, doch sofort ließ er davon ab, als ein leichtes Zittern durch meinen Körper ging.

Mit seinem Mund fuhr er wieder langsam meinen Hals nach oben entlang und landete dort, wo er angefangen hatte. Automatisch legte ich ihm meine Hände auf die Brust. Nicht, um ihn wegzuschieben, sondern vielmehr, um mich an ihm festzuhalten, doch er nahm sie in die seinen, platzierte sie links und rechts über meinem Kopf und verschränkte unsere Finger ineinander, drückte meine Hände in das Kissen hinein.

Und dann küsste er mich. Lange und ausdauernd und so leidenschaftlich, wie ich vorher noch nie geküsst worden war.

Viel zu schnell und viel zu abrupt hörte er auf und ich war noch ganz benommen und überwältigt, als er einen Blick auf seine Armbanduhr warf und ganz sachlich sagte: "Jetzt muss ich aber los, bin spät dran."

Er stand auf und fischte sich seinen Pulli, der über einem Stuhl hing.

Meine Sinne waren noch immer nicht ganz beisammen, als ich mich aufsetzte und ihn verständnislos anstarrte.

Er grinste mir frech zu und zwinkerte. "Bis später."

Mit diesen Worten verschwand dieser unglaublich hinreißende Dreckskerl aus der Tür und ich ließ mich vollkommen frustriert in die Kissen zurückfallen.

Oh ja. Er wusste wirklich, was er tat, daran hegte ich gar keinen Zweifel.

One-Day Luck

Zuerst flocht ich die seltsamen Geräusche mit in meinen wirren Traum ein, an den ich mich schon wenige Sekunden nach dem Aufwachen nicht mehr erinnern konnte, aber erst, als ich wacher wurde, merkte ich, das irgendetwas daran nicht stimmte. Es hörte sich an, als ob... als ob etwas gegen die Fensterscheibe klatschte. Immer und immer wieder!

Noch bevor ich richtig wach war, war ich in Panik! Es passierte schon wieder! Schon wieder warf jemand etwas gegen das Fenster!

Genau in diesem Moment hörte ich, wie leise knarrend die Tür zum Schlafzimmer aufging und ein kleiner Lichtstrahl ins Zimmer fiel. Mir fiel ein halber Steinbruch vom Herzen, als ich Sean's Umrisse erkannte. Er war also wieder zurück!

Er machte das Licht an und ich kniff die Augen zusammen, blinzelte. Langsam kehrte auch mein vollständiges Bewusstsein zu mir zurück und ich begriff, dass ich mich dieses Mal geirrt hatte...

"Emily." Sean klang verwundert. "Warum bist du wach?" Er blickte direkt in meine noch immer vor Schreck geweiteten Augen und runzelte die Stirn. "Hattest du einen Alptraum?"

Ich schüttelte nur den Kopf und kratzte mich verwirrt an der Stirn, schaute dann zum Fenster rüber, gegen das noch immer in unregelmäßigen Abständen die Zweige des Kirschbaums schlugen. Draußen musste es wohl ganz schön stürmen und im Halbschlaf hatte ich so einiges verwechselt.

"Der Baum... und das Fenster. Ich dachte nur...", versuchte ich zu erklären und deutete mit einer hilflosen Geste Richtung Fenster.

"Ja, draußen ist es wirklich ungemütlich", bestätigte Sean müde und zog sich seinen Pullover über den Kopf. "Aber keine Sorge, hier kann nichts geschehen." Er warf mir ein erschöpftes Lächeln zu und verschwand aus dem Zimmer, um ins Bad zu gehen.

Schon kurz darauf kam er wieder zurück. Ich hatte mich wieder eingerollt, war viel zu müde, und dämmerte schon wieder langsam vor mich hin. Er löschte das Licht und legte sich neben mich, zog mich näher zu sich heran. Ich spürte seinen nackten, warmen Oberkörper durch mein Schlafshirt an meinem Rücken, sein Arm lag locker um meine Taille.

Plötzlich spürte ich seinen warmen, kitzelnden Atem an meinem Ohr.

"Wir könnten auch genau da weitermachen, wo wir aufgehört haben, bevor ich gegangen bin... erinnerst du dich?", fragte er grinsend, süffisant.

Ich gähnte. Das dachte er sich so! Ich war viel zu müde für diese Spielchen. Die konnte er ja die restlichen 16 Stunden am Tag mit mir spielen, aber nicht während meiner acht Stunden verdientem Schlaf, noch dazu, wo er mich so hatte hängen lassen, dieser Schuft! Langsam tastete ich mit der Hand nach der Decke, die kurz unter seine Hand auf meinem Körper aufhörte und zog sie mir demonstrativ hoch bis zum Kinn, ohne weiter auf ihn zu reagieren.

Er lachte leise. "Verstehe."
 

Ich öffnete den Briefkasten und die ganze Post purzelte mir schon entgegen. Ein Briefumschlag segelte auf den Steinboden und Sean hob ihn auf, während ich die anderen Briefe in meinen Händen sortierte und den Kasten wieder zuklappte und abschloss.

"Ganz schön viel Post. Meinst du, dein Geisternachbar schiebt dir heimlich seine Rechnungen zu?", grinste er.

Ich warf ihm einen bösen Blick zu. "Haha, sehr witzig", sagte ich trocken und ging voraus zu meiner Wohnungstür, um auch diese zu öffnen. Ich hatte genau darauf geachtet, ob nicht irgendein ominöser Briefumschlag im Briefkasten lag und auch auf der Fußmatte ließ sich nichts vorfinden. Das war gut. Mal sehen, ob meine Wohnung noch lebte.

Langsam schloss ich auf und steckte vorsichtig den Kopf herein. Alles sah noch genauso aus wie vor ein paar Tagen, als ich sie verlassen hatte. Erleichtert atmete ich auf und schlüpfte durch die Tür. Sean schlenderte ganz lässig hinter mir herein.

Es war Samstag Morgen und er hatte mir angeboten, mich nach Hause zu fahren, damit ich ein paar Sachen mitnehmen konnte. Kleidung und anderes, was ich sonst noch brauchte. Meinen zaghaften Vorschlag, mich doch einfach ganz da zu lassen, wollte er gar nicht hören.

Ich deponierte die Post auf dem Schreibtisch und machte mich geschäftig daran, mein Zimmer nach Zeug abzusuchen, das ich bei Sean möglicherweise gebrauchen könnte. Zum Beispiel musste ich ein neues Buch mitnehmen, das Alte hatte ich schon ausgelesen. Hatte ja auch genügend Zeit, jetzt, wo ich von der Arbeit "suspendiert" war und während dem ganzen anstrengenden und ehrlich gesagt etwas peinlichen "Sean-aus-dem-Weg-Gehen".

Gerade stand ich grübelnd vor meinem Bücherregal, als das vertraute Klingeln ertönte, das mir in letzter Zeit so eine Angst eingejagt hatte. Das Telefon!

Ich erstarrte und wand mich hilflos an Sean. Unsere Blicke begegneten sich und er hob fragend die Augenbrauen.

"Soll ich rangehen?", bot er an. Ich nickte zögernd und trat ganz dicht an ihn heran, um möglicherweise mitzuhören.

Er hob den Hörer an sein Ohr. "Hallo?"

Schweigen. Niemand antwortete. Doch dann, ganz plötzlich, quakte es vorwurfsvoll aus der Muschel heraus, aber ich konnte nicht verstehen, was die aufgebrachte Frauenstimme sagte.

"Einen Moment", gebot Sean der keifenden Frau am Telefon gelassen und hielt mir den Telefonhörer hin, grinste. "Für dich."

Zaghaft ergriff ich ihn und hielt ihn mir ans Ohr. "Ja?"

"Wer war das?!"

Sofort entspannte ich mich wieder und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

"Jo", stellte ich aufatmend fest. Es war meine beste Freundin und ich war unendlich froh, ihre Stimme zu hören.

"Ja, Jo", herrschte sie mich scharf an. "Dieselbe Jo, die schon seit Tagen versucht, dich zu erreichen, du Tröte!" Obwohl sie so aufgebracht war, konnte ich mir mein verräterisches Lächeln, das sie zum Glück nicht sehen konnte, nicht aus dem Gesicht wischen. "Wo hast du gesteckt? Und wer ist dieser Kerl? Ist ER das?" Sie ließ mir gar keine Zeit, etwas zu sagen. "Er hat 'ne schöne Stimme."

Ich war ganz erschlagen von ihrem Redefluss und ihren ganzen Fragen. "Ja...", murmelte ich noch etwas irritiert, nicht so recht wissend, worauf ich zuerst eingehen sollte.

Sean entfernte sich aus Höflichkeit etwas weiter weg, aber ich konnte an seinem Blick erkennen, dass er trotzdem neugierig war. Er stellte sich ans Fenster und schaute hinaus, hörte aber dennoch jedes Wort, das ich sagen würde.

Indessen ließ Jo wieder einen Schwall Fragen los. "Und, wie ist er so? Ist er nett? Sieht er genauso gut aus, wie seine Stimme sich anhört? Warst du etwa die ganze Zeit bei ihm?"

Ich warf einen nervösen Blick zu Sean. "Ähm... Jo... ich kann grad nicht so gut reden", murmelte ich verhalten.

Sofort wandte sich Sean zu mir und grinste süffisant. "Oh, wenn es um mich geht, lass dich von meiner Anwesenheit nicht stören. Mir macht das gar nichts aus."

Sehr großzügig. So ein arroganter...

"Es geht gar nicht um dich", stutzte ich ihn zurecht und rümpfte die Nase. "Wir haben auch noch andere Gesprächsthemen, Mister, auch wenn das schwer zu glauben ist." Eine glatte Lüge, aber sein Ego war meiner Meinung nach schon groß genug. Das musste nicht auch noch verhätschelt werden.

Er glaubte mir nicht, das konnte ich glasklar an seinem durchtriebenen Lächeln erkennen, aber er sagte nichts weiter und ließ mich weiter telefonieren.

Wie sich schnell herausstellte, hatte Joanna mir lediglich mitteilen wollen, dass sie früher als erwartet zurückkommen würde. Schon in wenigen Wochen! Ich freute mich wahnsinnig, als sie das erzählte, und wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen, aber sie war ja gerade Tausende von Meilen von mir entfernt, also musste ich mir das für später aufheben. Oder ich würde mit Sean vorlieb nehmen müssen, immerhin war er gerade verfügbar und bestimmt nicht die schlechteste Wahl auf Erden...

Jo nannte mir noch den genauen Termin. Die Flugtickets waren schon gebucht und bezahlt und sie warnte mich noch vor, dass sie nicht mehr anrufen würde, weil ihr langsam das Geld ausging. Wie ich glaubte, auch der eigentliche Grund für die verfrühte Rückkehr.

Ziemlich gelöst und gut gelaunt verabschiedete ich mich von ihr und berichtete Sean von der tollen Neuigkeit. Obwohl es ihm sicherlich mehr oder weniger egal war, lächelte er höflich und freute sich für mich mit.

Danach packte ich schnell meine Sachen und wir fuhren zurück. Die Dinge entwickelten sich immer besser und meine Laune war fast auf dem Höhepunkt, wäre da nicht dieses beklemmende Gefühl irgendwo im Hintergrund, das mir sagte, mich nicht zu sehr zu freuen, dieser Leichtigkeit nicht zu trauen, weil es noch immer ein Bekloppter auf mich abgesehen hatte. Wir würden sehen, was die nächsten Tage noch mit sich bringen würden...
 

Nachdem es gestern so schrecklich viel geregnet hatte, war heute ein erstaunlich sonniger Tag. Es passte irgendwie zu meiner guten Laune. Ich war absolut glücklich, denn ich hatte Sean und er war so toll und eh und jäh, und bald würde ich auch noch Joanna haben. Was wollte ich denn mehr?

Ich klickte auf "Abmelden" bei meinem Email-Account und wollte gerade aufstehen, als mir etwas anderes einfiel. Ich wollte doch schon seit einer Ewigkeit mal bei Ebay wegen ein paar günstigen Spielzeugen für den Kindergarten suchen. Unser Budget war zurzeit etwas knapp bemessen...

Welcher Teufel mich ritt, wusste ich nicht, denn als die Seite geladen war, tippte ich, wie von selbst, "Edelstahltöpfe" in die Suchzeile und drückte neugierig auf die Entertaste.

Immerhin fehlten mir ja sämtliche Töpfe zu Hause und ich musste mir früher oder später neue zulegen. Da ich momentan bei Sean war, fiel das nicht so sehr ins Gewicht, aber in meiner verlassenen Wohnung befanden sich gerade mal zwei Pfannen und ein sehr kleiner Kochtopf.

Sofort spuckte mir die Seite ein paar wenige Ergebnisse aus und ich überflog die Resultate. Eins davon war gekennzeichnet mit "52 Gastronomie-Geschirrteile". So viele brauchte ich nun auch wieder nicht...

Ich schaute weiter. Das zweite Ergebnis umfasste einen Topf und eine Pfanne. Auch nichts für mich.

Erst das dritte Resultat erweckte meine Neugier. Ich klickte auf das Bild des Topfsets und las mir die Beschreibung durch, wobei mir fast die Luft wegblieb! Ich führte mir das Bild noch einmal zu Gemüte und starrte es sekundenlang unbeweglich an.

Das waren sie! Das waren meine Töpfe!

"D... das... sind ja meine!", stammelte ich verblüfft und aufgebracht. Sean, der auf der Couch saß und in die Zeitung versunken war, blickte auf.

"Was sagst du?"

Ich drehte mich zu ihm um und starrte ihn aus großen Augen an, zeigte auf den Bildschirm. "Meine Töpfe! Die gestohlen wurden! Da sind sie, ich habe sie gefunden!" Zappelnd rutschte ich auf dem Stuhl hin und her und winkte ihn aufgeregt zu mir heran, während er die Zeitung weglegte, aufstand, zu mir herumkam und sich hinter mich stellte. Er beugte sich vor und betrachtete schweigend die Internetseite, die auf dem Bildschirm prangte.

"Emily", sagte er langsam, ganz so, als spräche er zu einem Kind oder einer Geistesgestörten. "Es gibt sicher Hunderte von diesen Edelstahltöpfen und dass das ausgerechnet die sind, die dir gestohlen wurden, ist eher... na ja, unrealistisch."

"Aber sie sind es!", beharrte ich empört. Ich würde jawohl noch mein Eigentum erkennen können! "Schau doch, hier..." Ich scrollte runter und tippte mit dem Finger auf den Monitor, auf die Beschreibung. "Hier steht, dass zwei Deckel fehlen! Und weißt du, warum?!"

Er schüttelte den Kopf.

"Weil einer mir runtergefallen und zerbrochen ist und den anderen haben sie nicht mitgenommen! HA!", rief ich triumphierend.

Sean runzelte die Stirn und starrte schweigend weiterhin auf den Bildschirm.

"Glaubst du wirklich...", begann er und ich konnte die Unsicherheit in seiner Stimme hören, "dass jemand so dumm ist und die Hehlerware so öffentlich verkauft?"

Ich zuckte mit den Schultern. "Ist doch egal. Das hier sind aber meine Töpfe!", verlangte ich. "Schau doch." Ich tippte wieder auf den Monitor. "Die Postleitzahl!"

Es war die Postleitzahl unserer Stadt.

Sean sog hörbar die Luft ein. "Tatsächlich...", murmelte er ungläubig. "Ich muss sofort ins Revier und das melden. Auch die anderen Waren müssen überprüft und mit dem Gestohlenen abgestimmt werden und..." Er war schon auf dem Weg zur Tür, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb und sich zu mir umdrehte. "Oder... ich kann auch anrufen", meinte er dann entschuldigend und ein wenig kleinlaut an meine Adresse. Das klang ja fast so, als wollte er mich nicht allein lassen.

Ich lächelte ihm beruhigend zu. "Geh nur. Ich komm schon zurecht."

Er schüttelte entschieden den Kopf. "Ich wollte heute sowieso noch die Wäsche waschen."

Was für eine lausige Ausrede aus der Mund eines Mannes. Allerdings hatte ich auch noch Schmutzwäsche und er hatte mir versprochen, dass ich seine Waschmaschine benutzen könnte. So brauchte ich mich nicht auf Klamotten zu beschränken, solange ich bei ihm war.

"Ich auch", seufzte ich. Und dann sagte ich etwas, was ich im nächsten Augenblick schon wieder bereute: "Ich hab nicht so viel, also können wir..." Dann hielt ich inne, schluckte, als mir die eigentliche Bedeutung klar wurde, und errötete bis in die Haarspitzen.

Er starrte mich genauso überrascht an und zu meinem großen Erstaunen kratzte er sich unangenehm berührt am Oberarm, lächelte sogar ein wenig verlegen, unsicher.

"Oh, vergiss es. Das war eine dumme Idee, ich weiß auch nicht...", stammelte ich, als er mich unterbrach: "Nein, nein... ist schon gut, ich... mir hat bis jetzt nur noch niemand angeboten, meine Wäsche zu waschen. Zusammen mit seiner", fügte er schmunzelnd hinzu.

Ich senkte meinen Blick und meine Augen flatterten unruhig hin und her. "Tja, also..." Stotternd suchte ich nach etwas, was ich fixieren konnte. "Dann wasch du zuerst deine und danach kann ich... meine..." Ich wurde zum Ende hin immer leiser und meine Stimme versagte endgültig, noch ehe ich zuende sprechen konnte. Ich fühlte mich echt wie ein Idiot. Wie konnte ich ihm so was nur aufdrängen! Ich hatte mal wieder nicht nachgedacht...

"Ich dachte, du hast nicht so viel?", hakte er nach, ganz unschuldig. Ich nickte. "Tja, ich hab auch nicht allzu viel... also... lohnt es sich ja praktisch nicht, die Maschine zweimal anzuwerfen, oder?"

Erstaunt blickte ich auf, schaute ihn an und er zwinkerte mir schelmisch zu. Dann nahm er seine Jacke vom Haken, denn er stand immer noch in der Nähe der Tür und sah mich bittend an. "Darf ich?"

"Ja, na klar, geh nur", japste ich aufgeregt. Hatte er mir gerade zugestanden, unsere Wäsche zusammen waschen zu dürfen?? Das war ja so aufregend! Ich hatte noch nie zusammen mit einem Mann die Wäsche gewaschen... Ich stellte mir vor, wie seine Kleidung und die meine in der Wäschetrommel durcheinandergewirbelt wurden und gezwungenermaßen waren da auch Unterwäscheteile dabei... zumindest in meiner Fantasie. Schon allein bei dem Gedanken wurde ich rot, konnte mir aber auch ein Grinsen nicht verkneifen.

Sean runzelte belustigt die Stirn. "Ich beeil mich und... lass die Wäsche am besten liegen, bis ich wieder da bin, denn sonst komm ich mir vor wie ein Sklaventreiber. Ich mach das dann schon, ja?"

Ich bejahte zwar, wusste aber gleichzeitig, dass ich sicherlich nicht auf ihn warten würde. Erstens wollte ich schon alles gemacht haben, bevor er wiederkam und zweitens, und ganz wichtig, war bei meiner Wäsche ganz eindeutig auch meine Unterwäsche dabei und na ja, das machte ich dann doch lieber selber, fernab von seinen Blicken...

Mir kam es gar nicht in den Kopf, dass er womöglich dieselben Bedenken haben könnte, nur eben wegen seiner Unterwäsche.
 

Ich wurde fast ein bisschen rot und stopfte unsere Wäsche blitzschnell in die Wäschetrommel, ohne richtig hinzusehen. Das war wirklich eine peinliche Angelegenheit und ich konnte nur hoffen, dass Sean mir deswegen nicht allzu böse sein würde.

Als ich fertig war mit dem Beladen der Waschmaschine, schlich ich mich schuldbewusst in die Küche, um meinen Kopf in den Kühlschrank zu stecken. Wie lange würde Sean wohl wegbleiben? Lange würde es sicherlich nicht mehr dauern, immerhin war er schon fast eine Stunde weg... In meine Überlegungen hinein klopfte es an der Tür, begleitet von einem flötenden "Emily, ich bin's", das eindeutig zu Mrs. Delaney gehörte.

"Herein!", rief ich und die Tür öffnete sich zaghaft, woraufhin sie hereintrat. Ich lächelte ihr aufmunternd zu. Heute war ein echt schöner Tag!

"Oh, Emily, Kindchen, ich hab hier etwas für Sie." Sie kam gemächlich zu mir herüber und schwenkte einen Briefumschlag in der Hand. "Vorhin hielt ein rotes Auto und das hier lag eben vor der Tür..."

Ich schaute zur ihr herüber und schloss mit einem flauen Gefühl die Kühlschranktür wieder zu. Jemand legte einen Briefumschlag vor die Tür. Das kannte ich schon... Jemand legte bei Sean einen Briefumschlag für mich vor die Tür, obwohl doch niemand wusste, dass ich hier war! Das kannte ich noch nicht, aber mir blieb auch gar nichts erspart.

Beunruhigt streckte ich die Hand nach dem weißen Umschlag, auf dem in dicken, bereits bekannten Buchstaben mein Name verzeichnet war, aus und nahm ihn an mich. Meine Hände zitterten und mein Herz klopfte unnatürlich schnell vor Angst, aber während Mrs. Delaney noch hier war, musste ich mich zusammenreißen.

Ich zwang mich zu einem halbherzigen "Danke" und wischte mir mit meinem Ärmel über die Stirn.

"Dann lass ich Sie mal Ihren Brief lesen", verabschiedete sich Mrs. Delaney mit einem sorgenvollen Stirnrunzeln und verschwand wieder durch die Tür, während ich abwesend nickte und mich nicht so recht traute, den Umschlag aufzureißen.
 

Nach einigem Hin und Her – ich war doch zu feige und mir schwante Unheilvolles – entschied ich mich dazu, auf Sean zu warten. Ich musste mich wirklich überwinden und über meinen Schatten springen, um nicht auch diesen Brief vor ihm geheim zu halten, damit er sich nicht noch mehr sorgte – und außerdem war es gerade so schön zwischen uns, diese erneute Drohung würde den wundervollen Tag eindeutig kaputtmachen -, aber ich hatte es ihm versprochen und ich wusste auch, dass ich ihm mehr Vertrauen schenken sollte. Es fiel mir zwar schwer, denn jedes Mal, wenn ich ihn ansah, wurden mir die Unterschiede zwischen ihm und mir bewusst, doch trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen -, war es wirklich nötig, dass ich mich nicht mehr so in mein Schneckenhäuschen zurückzog.
 

Nicht lange dauerte es, bis er zurückkam. Sofort erblickte er den Umschlag in meiner Hand, mit meinem Namen drauf, und schüttelte nur stumm, fassungslos den Kopf, als ich ihm einen unsicheren Blick zuwarf.

Langsam und erstaunlich ruhig, was eindeutig seine Anwesenheit hervorrief, riss ich den Brief auf und holte das weiße Blatt heraus, auf dem nur ein einziger Satz geschrieben stand. Ein Satz, dem ein übergroßes Ausrufezeichen folgte.

Der Inhalt war nicht überraschend und dann wiederum doch. Es schockte mich jedes Mal auf's Neue.

"Halt dich ein für alle Mal von ihm fern, sonst wirst du es bereuen!"
 

_____
 

Link zu den ELT Short- & Lovestories: in der Kurzbeschreibung. ^^

Salvation

Sean nahm mir nachdenklich das Blatt aus der Hand, während ich kraftlos neben ihm stand und er es immer noch anstarrte.

"Wen?" Das war das Einzige, was ich herausbringen konnte, mein Hirn war wie leergefegt.

Sean biss die Zähne zusammen und blickte urplötzlich ziemlich grimmig drein. "Mich", erwiderte er ruhig, obwohl ich merkte, dass er sich zu dieser Ruhe erst zwingen musste. "Mich."

Ich erwachte aus meiner Starre. "Was?" Mit schreckgeweiteten Augen sah ich ihn an. Er sah wütend aus, hielt sich aber sichtlich zurück.

"Das darf doch nicht wahr sein...", knurrte er erbost und es war an keinen bestimmten adressiert, eher sprach er zu sich selber. "Das hätte ich doch gleich wissen müssen.“

"Was?", echote ich und merkte gar nicht, dass ich mich wiederholte. Ich legte ihm eine Hand auf den Arm und schaute flehend zu ihm auf. "Was?"

Er schüttelte aufgebracht den Kopf. "Rotes Auto, sagtest du? Das war von Anfang an klar... Komm, Emily. Wir bereiten dem Spuk jetzt ein für allemal ein Ende." Er griff nach meinem Handgelenk und zog mich mit sich, nahm unsere beiden Jacken vom Haken. Verwirrt folgte ich ihm die Treppe runter und zu seinem Auto.
 

Auf der Fahrt war Sean sehr schweigsam und aufgebracht. Er sprach kaum ein Wort mit mir. Irgendwas stimmte nicht und wohin fuhren wir überhaupt? Eingeschüchtert versank ich in meinem Sitz und schaute aus dem Fenster. Es war bereits dunkel und wir entfernten uns immer mehr von meinem Zuhause, seinem Zuhause... die Lichter der wenigen Häuser, die uns begegneten, rauschten an uns vorbei, während Sean den Wagen geschickt über den Asphalt lenkte.

Die Fahrt nach Nirgendwo dauerte nicht lange, denn schon bald fuhren wir in ein kleines Dörfchen hinein und er schaltete den Motor vor einem kleinen Haus im Grünen ab.

Dann stieg er aus und stieß energisch die Tür des Autos wieder zu. Er war ganz eindeutig sauer. Aber so richtig. War das das Haus desjenigen, der mich belästigte? Ich saß wie festgefroren auf meinem Platz und fixierte erschrocken die beleuchtete Eingangstür. Es war hübsch hier, gepflegt, soweit ich im Halbdunkel erkennen konnte.

Sean blieb vor der Kühlerhaube stehen und unsere Blicke trafen sich durch die Windschutzscheibe hindurch. Er bedeutete mir mit einem Nicken, auszusteigen und ihm zu folgen.

Schweigend kam ich seiner Aufforderung nach und trottete hinter ihm her zur Tür, wo er auch schon wütend auf die Klingel drückte.

"Sean, was... wo sind wir?", flüsterte ich ängstlich und drängte mich dicht hinter ihn. Mir war kalt und ich wusste nicht, was mich erwartete oder wo wir waren.

"Keine Sorge", erwiderte er düster, die Augen ganz auf die Tür gerichtet. "Gleich wirst du..."

Er wurde unterbrochen, als eben jene aufsprang.

Eine hübsche, junge Frau stand vor uns. Sie war groß, fast so groß wie Sean selber, schlank, hatte hohe Wangenknochen und feine, blonde Haare, die sich wellten. Als sie Sean sah, blickte sie ihn mit großen, unschuldigen Augen überrascht an.

Oh nein... ich fühlte mich plötzlich irgendwie fehl am Platz und wie der letzte Dorftrottel. Ich ahnte schon, wo wir waren, bei wem... Am liebsten wäre ich in dem großen, schwarzen Loch verschwunden, das sich nie auftat, wenn man es gerade brauchte.

"Sean, was für eine Überraschung!", flötete sie mit verführerischer Stimme. Aha. Das war also die Frau, die ihm auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte. Den Tonfall erkannte ich sofort!

"Sarah", stellte er kühl fest und musterte sie. Sie lächelte.

Was sie etwa diejenige, die...?

Ich schluckte. Ich hatte mir eher einen bulligen Kerl vorgestellt. Einen ungehobelten Klotz ohne Manieren, der Spaß daran hatte, andere in Furcht und Schrecken zu versetzen! Aber doch keine blonde Schönheit...

Sean lächelte nicht. Sie ließ sich nicht davon abschrecken und fasste mich ins Auge, die ich sie verblüfft anstarrte. Als mir das bewusst wurde, wandte ich mich schnell ab und biss mir auf die Unterlippe. Wie unhöflich von mir!

DAS war also die Sorte Frau, mit denen er normalerweise ausging. Da konnte ich ja echt einpacken...

"Wen hast du denn da mitgebracht?", säuselte sie lieblich.

"Das ist Emily", erwiderte er, ohne sie aus den Augen zu lassen. "Aber ich glaube, das weißt du schon." Herrje, da bekam ja sogar ich Angst, so kalt, wie er mit ihr umging. Er war wirklich wütend!

Sie blinzelte verwirrt, lächelte aber stets weiter. "Was meinst du?"

Sean seufzte genervt auf. "Hör auf damit, Sarah. Du weißt genau, was ich meine. Macht es dir Spaß, unschuldigen Menschen das Leben schwer zu machen? Oder willst du weiterhin so tun, als ob du die Unschuld in Person wärst? Wir beide wissen ganz genau, dass du das nicht bist."

Frostig schaute er sie an. Da lag kein einziges, vorwitziges grünes Funkeln in seinen Augen, die zu Eis gefroren schienen.

Für einen kurzen Moment starrten sich die beiden unerbittlich an und dann fiel ihre Maske. Sie ließ hilflos die Arme sinken. Er hatte gewonnen. "Ich wollte ihr nur ein bisschen Angst machen", rechtfertigte sie sich trotzig und reckte das Kinn vor.

Ich schnappte nach Luft. Es stimmte also! Diese wunderschöne Blondine hatte es auf mich abgesehen gehabt! Fassungslos starrte nun auch ich sie an und es war mir egal, ob es unhöflich war oder nicht. Was hatte ich ihr getan?

Sean holte tief Luft. Es machte den Eindruck, als müsste er sich stark zurückhalten.

"Ist dir klar, dass die Polizei an dem Fall dran ist?", brachte er gepresst hervor. "Wenn ich das nicht rausgefunden hätte, hätten sie dich früher oder später erwischt!"

Sie riss die Augen auf. "Du wirst mich doch nicht verraten?!"

Sean musterte sie schweigend, seine Hand zur Faust geballt. "Die Entscheidung liegt nicht bei mir", sagte er schließlich kalt und schaute mich vielsagend an. "Sie entscheidet das."

Oh nein, bitte nicht... Ich tastete hinter seinem Rücken nach seinem Jackensaum und umklammerte diesen, schluckte ein paar Klöße im Hals herunter. Es funktionierte nicht.

"Das... das ist schon okay...", stammelte ich vorsichtig und streifte seine erschrockene Ex-Freundin - Sarah - mit einem kurzen Blick, bevor ich in Sean's Gesicht blickte. Er wirkte so ernst und wütend, das auch ich mich ein wenig eingeschüchtert fühlte. Aber er war wegen mir hier, also hatte ich nichts zu befürchten, oder?

Sein Ausdruck wurde etwas weicher, als ich ihn anschaute, und auch sein Tonfall. "Du weißt, dass du keine Rücksicht zu nehmen brauchst", erklärte er mir leise. "Ich würde das verstehen und es ist immerhin dein gutes Recht." Aufmunternd nickte er mir zu, aber ich schüttelte den Kopf, etwas entschlossener als eben noch.

"Nein, das... will ich nicht...", murmelte ich leise. Ich wäre nur froh, wenn das Ganze jetzt endlich ein Ende haben würde. Dieser ganze Zirkus mit der Polizei und seiner Ex-Freundin und so weiter... nein, das musste ich nicht haben. Vor allem die letzte Komponente war mir nicht geheuer.

Sean nickte und wandte sich wieder an Sarah, die, bleich, aber erleichtert, noch immer in der Tür stand. "Glück gehabt", sagte er grimmig. "Wenn es nach mir gegangen wäre..."

Er ließ seine Warnung unausgesprochen in der Luft hängen und gab ihr mit seinen Eisaugen zu verstehen, was er damit hatte sagen wollen. Doch lange konnte er diese Ruhe nicht bewahren. In seinem Inneren brodelte es gewaltig. Ich fragte mich, ob ich die einzige war, die das spürte.

"Was hast du dir dabei bloß gedacht?!", fing er dann missbilligend an und schaute Sarah anklagend an. Sie ließ ihn nicht weitersprechen. Offenbar hatte auch sie etwas loszuwerden.

"Was hast DU dir dabei bloß gedacht?!", meckerte sie ihn an und warf mir einen verächtlichen Blick zu, sodass ich sofort erstarrte. Jetzt, wo sie wusste, dass ihr keine Gefahr drohte, schien sie anscheinend aufzutauen. "DAS kann doch nicht dein Ernst sein?" Mit einer abfälligen Geste schwenke sie in meine Richtung.

Mir wurde ein bisschen übel. Sean machte empört den Mund auf, aber sie fuhr schon fort und steigerte sich immer mehr in ihre Wut hinein.

"Mit so einer gibst du dich ab, obwohl du mehr haben könntest! Ich verstehe dich in letzter Zeit einfach nicht! Es ist doch offensichtlich, dass sie dich nicht so gut kennt, wie ich!"

"Sarah!", warnte er sie scharf, aber sie wollte nicht hören.

"Du weißt genauso gut wie ich, dass sie nicht gut genug für dich ist!"

Mir wurde schwindelig.

"Zumindest ist sie ehrlich und nicht kriminell veranlagt!", unterbrach Sean sie nun wütend und funkelte sie zornig an.

Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Ich stolperte unwillkürlich erschrocken zurück und irgendetwas in mir zerbrach. Was Sarah daraufhin sagte, hörte ich gar nicht mehr.

Zumindest. Ich war nur ein "Zumindest". Ich war nur ein "zumindest ehrlich" und nichts weiter!

Ich war "das Mindeste". Das "Wenigste", das "Geringste". Erfüllte nur die Mindestanforderungen.

Irgendeine Sicherung brannte langsam durch. Wie konnte er so etwas sagen?

Vielleicht hatte sie ja doch Recht? Vielleicht war er zu gut für mich, zu gutaussehend, zu lieb, zu sexy. Vielleicht war ich in allen diesen Dingen nicht gut genug? Vielleicht war ich nicht genug?

Ich merkte, dass sie sich nicht mehr stritten und dass ich Sean die ganze Zeit angestiert hatte.

Seine Exfreundin warf mir wieder einen ihrer giftigen Blicke zu. "Kann ich mal unter vier Augen mit dir reden?", wollte sie genervt wissen.

Er nickte langsam, drehte sich dann zu mir herum. Geschockt starrte ich ihn immer noch an und er rang sich ein dünnes Lächeln ab. "Ich bin gleich wieder da. Geh doch schon mal ins Auto, ja? Da ist es wenigstens warm."

"Ach, wie süß", höhnte Sarah und ich senkte den Blick und schlich leise zum schwarzen Rover, der in der Einfahrt stand, während Sean ihr wieder ein drohendes "Sarah!" zuwarf und beide im Haus verschwanden.

Da war ich also. Das war wohl genau der Ort, wo ich hingehörte. Spät abends im Dunkeln allein in einem Vorgarten, während der Mann, in den ich wohl unsterblich verliebt war, und eine wunderschöne, blonde Frau zusammen im heimeligen Häuschen saßen.

Für einen kurzen Augenblick kam mir die Idee, einfach abzuhauen und ihn hier stehen zu lassen, aber ich verwarf den Gedanken sofort wieder. Er würde mich sowieso einholen, immerhin gab es hier weit und breit nur eine Straße. Außerdem kannte ich mich nicht aus, würde mich - bei meinem Glück - bestimmt verirren, wenn ich nicht dem offensichtlichen Weg folgte - und eigentlich auch, wenn ich ihm folgte.

Also setzte ich mich wie in Trance ziemlich deprimiert ins Auto und wartete. Es dauerte nicht lange, bis Sean herauskam. Wirklich nicht lange, nur zwei, drei Minuten, aber das war mir egal. Mir war zum Heulen zumute und ich wollte nur nach Hause.

Ausgelaugt stieg er ins Auto und ließ die Türe laut hinter sich zuknallen, startete dann den Motor, ohne auch nur etwas zu mir zu sagen.

Hatte sie ihm die Augen geöffnet? Würde er mich jetzt zum Teufel schicken? Obwohl das auch egal war... ich wollte nicht mit jemandem zusammen sein, für den ich nur ein "Zumindest" war. Innerlich zu verbluten konnte sich auch nicht schlimmer anfühlen...
 

Auch ich hüllte mich in Stillschweigen. Was sollte ich auch sagen? Stattdessen hing ich lieber meinen trüben Gedanken nach und starrte aus dem Beifahrerfenster, während wir denselben Weg wieder zurückfuhren.

"Es tu-"

"Fährst du mich bitte nach Hause?" Ich wollte ihn nicht unterbrechen, aber wir hatten beide zur selben Zeit angefangen, zu sprechen. Ich hatte mich getraut, die eisige Stille zu durchbrechen. Ich konnte jetzt nicht zu ihm und seiner Wohnung, die mir in den letzten Tagen so ans Herz gewachsen war. Ich konnte einfach nicht...

Er reagierte eher verständnislos. "Wir sind doch auf dem Weg nach Hause?"

Autsch. Ein weiterer, heißer Nadelstich mitten ins Herz.

"Ich meine zu mir nach Hause." Es erstaunte mich selbst, wie gefasst und ruhig ich klang. Kein Stottern, kein Herumdrucksen. Vielleicht hörte ich mich ein bisschen bitter an, aber das war mir auch egal. Ich umklammerte die Schlüssel in meinen Händen, die ich immer mit mir in der Jackentasche herum trug. Nur für den Fall der Fälle. Dass ein Fall wie dieser hier eintreten würde, damit hätte ich allerdings nicht gerechnet.

Zum ersten Mal hatte ich keine Angst mehr vor meiner Wohnung. Ich war ja jetzt sicher. Hoffentlich.

Sean warf mir einen kurzen, ratlosen Seitenblick zu, das konnte ich aus den Augenwinkeln erkennen, doch ich mied ihn und schaute weiterhin aus dem Fenster.

"Alles in Ordnung mit dir?", wollte er besorgt wissen.

"Ja." Ich war sicher, dass meine Einsilbigkeit ihm nicht entgangen war, aber er kommentierte es nicht weiter. War ihm denn nicht klar, was er eben gesagt hatte? Oder war es ihm egal? War es überhaupt kein Geheimnis, dass er so über mich dachte?

Als er in meine Straße fuhr, schnallte ich mich ab. Er hielt.

"Soll ich noch mit reinkommen?", fragte er erwartungsvoll, aber ich schmetterte ihn entschieden ab.

"Nein, danke."

Er runzelte besorgt die Stirn und seufzte dann erschöpft auf. "Emily, was ist de-"

"Gute Nacht." Ich schloss die Autotür und beeilte mich schnell zu der Eingangstür, bevor er noch auf die Idee kam, mir zu folgen. Ich wollte jetzt echt nicht mit ihm reden.

Im Rücken spürte ich seinen Blick, während das Auto noch etwas länger als nötig stehen blieb. Erst, nachdem ich schon im Haus war, hörte ich, wie er Gas gab und davonfuhr.

Ich atmete auf. Er war weg.

Dann kamen mir die Tränen. Er war weg!

Ich zog die Jacke aus, den Pulli, die Schuhe, ließ alles im Flur liegen und schmiss mich auf mein Bett. Es war kalt. Die Wohnung war kalt. Ich war seit Tagen nicht für längere Zeit hier gewesen, hatte weder Zeit gehabt, um zu lüften, zu heizen. Und sie war leer. Und ich allein.

Ich zog die Decke über den Kopf und schniefte ein bisschen rum, mich in meinem Selbstmitleid suhlend. Wie konnte es heute morgen nur so schön gewesen sein und jetzt so schrecklich? So vorbei? Es waren nur wenige Stunden verstrichen, aber es fühlte sich an, als wären es Jahre. Jahre, die alles zerstört hatten. So fühlte sich wohl Liebeskummer an. Richtiger, echter Kummer. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich mich nach Tom so gefühlt hatte. Klar, es hatte wehgetan, aber jetzt... zerriss es mich förmlich. Es brachte mich dazu, zu hoffen, nichts mehr fühlen zu müssen.

Ich hatte mir damals vorgenommen, mich nie wieder zu verlieben. Und nun war es doch passiert. Einfach so, aus dem Nichts, hatte es mich erwischt. Er hatte mich erwischt. Mit seinem Charme, seiner unverschämten, anzüglichen Art, seiner Sanftheit und... ach... Sean einfach! Es war schlimmer als je zuvor und es hatte ein schlimmeres Ende gefunden als je zuvor.

Dasselbe Ende. Du bist schuld. Du bist nichts wert. Nicht gut genug.

Eine Träne kullerte in das Kissen, in das ich mein Gesicht gepresst hatte, und versank im Stoff.

Aber vielleicht war es besser so, sagte ich mir. Ich wollte bestimmt kein "Zumindest" sein. Ich wollte "Alles" sein! Für irgendjemanden, was sicherlich nie eintreten würde... am liebsten aber für ihn, der für mich auch "alles" geworden war, aber das ging ja nicht...
 

Ich wusste nicht mehr, wie lange ich da unter der Decke gelegen hatte und ob ich nicht vielleicht sogar in meinem Elend eingedöst war, aber plötzlich klopfte es an der Tür. Ich riss die Augen auf, erinnerte mich aber daran, dass meine Verfolgerin ihr neues Hobby ja nun gezwungenermaßen hatte aufgeben müssen und ich nichts mehr zu befürchten hatte. Also ignorierte ich das Klopfen. Es kam von innerhalb des Hauses, also war es nur irgendein Nachbar, der mal wieder was wollte. Keine Lust...

Es klopfte ein zweites Mal, diesmal drängender, und ich beachtete es wieder nicht. Doch dann hörte ich etwas, was mich inne halten ließ und meinen Puls beschleunigte.

"Emily..." Das war Sean's Stimme, eindeutig! Er stand vor meiner Tür und wollte hinein! "Mach doch bitte auf. Bitte."

Verschreckt rollte ich mich unter der Decke zusammen und tat so, als wäre ich nicht da, obwohl ich genau wusste, dass er wusste, dass ich doch zu Hause war. Außerdem lag ich hier herum wie ein nasser Sandsack, total verheult und deprimiert. Er sollte weggehen!

"Also gut", seufzte es vor der Tür. "Ich komm jetzt rein."

Was-? Ich riss die Augen auf, als ich das Geräusch eines Schlüssels im Schloss hörte.

Iiieeeks! Der Ersatzschlüssel, den ich bei ihm deponiert hatte! Ich Hornochse! Wieso hatte ich das getan? Wie konnte ich den vergessen?!

Dann wurde es ganz still. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen, ganz nach dem Motto: wen ich nicht sehe, der sieht mich auch nicht.

Aber es funktionierte nicht. Ich hörte, wie er schweigend näher trat und sich dann auf die Bettkante setzte. Die Matratze sank unter seinem Gewicht ein wenig ein. Oh nein, wie viele Alpträume müsste ich heute denn noch durchleben?!

"Emily?" fragte er mir samtweicher Stimme.

Jetzt konnte ich wohl nicht weiterhin so tun, als sei ich nicht anwesend...

"Hmm?", brummte ich unter der Decke hervor, wütend über meine Heulerei und auf ihn, dass er sich unerlaubt Zutritt zu meiner Wohnung verschafft hatte. Ob er wusste, dass das verboten war? So ein Unsinn, natürlich wusste er das!

"Komm da raus", bat er und als von mir, die ich störrisch schwieg, noch immer keine Reaktion kam, versuchte er sachte, die Decke von meinem Kopf zu ziehen, doch ich hielt sie mit aller Kraft fest, bis er aufgab. Zweifelsohne hätte er keine Probleme damit gehabt, sie sich im Nullkommanix zu ergattern, doch wenigstens ließ er mir noch meinen letzten Stolz - wenn man das auch kaum Stolz nennen konnte. So, wie ich mich vor ihm versteckte, wirkte ich doch ziemlich erbärmlich.

"Geh weg."

Er seufzte und ignorierte das. "Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit redest, weißt du noch?" Irrte ich mich, oder klang er tatsächlich leicht verzweifelt?

"Wenn es darum geht, was Sarah gesagt hat... das war sehr gemein, aber das ist doch alles nicht wahr... Und das weißt du auch", fuhr er sanft fort, mit beruhigender Stimme, und hoffte wahrscheinlich, dass er damit ins Schwarze treffen würde. Na ja, fast. Es ging mir viel mehr um das, was er gesagt hatte...

"Zumindest", schnappte ich aufgebracht hervor und schlug die Decke weg, unter der es ziemlich heiß und stickig geworden war, "bin ICH ehrlich, nicht wahr?"

Ich funkelte ihn wütend und verletzt an, während er schwieg und mich etwas verblüfft anschaute. In seinem Kopf sah ich es gewaltig rattern. "Das ist alles, was ich bin?", setzte ich nach und klang leider schon weniger empört, nur noch sehr gekränkt und jämmerlich.

Dann wurde mir die Decke plötzlich ruckartig ganz entzogen und ich begegnete seinem glühenden, strengen Blick. Mir fiel auf, dass ich ihn, so ernst, noch attraktiver fand, als wenn er dauernd vergnügt grinste. Verdammt, sogar in so einer Situation konnte ich nicht anders, als an ihn zu denken!

"Emily", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, packte mich an den Schultern und beförderte mich mit Leichtigkeit in eine Sitzposition. Er rutschte hinter mich und schlag die Arme von hinten um mich, drückte mich ganz fest an sich.

"Lass los! " Ich versuchte, mich herauszuwinden, aber er hielt mich fest umklammert. Ich spürte seinen Herzschlag an meinem Rücken.

"Das war idiotisch von mir", gab er zu, flüsternd, leise, mit dem Mund an meiner Halsbeuge entlangfahrend. Mein Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich, ganz zu meinem Ärger.

"Natürlich bist du noch viel mehr." Er atmete hörbar aus und wieder ein und verursachte mir eine Gänsehaut im Nacken, die sich langsam über meinen ganzen Rücken erstreckte.

"W... warum ich?", stammelte ich meine letzte Frage, die ich unbedingt beantwortet haben musste. Warum ich? Warum nicht jemand, der aufregender, hübscher, besonders war?

Er schmunzelte. "Ich weiß es nicht. Weil du anders bist. So sensibel und zurückhaltend. Eine Abwechslung zu den ganzen männermordenden Frauen, die einem sonst so unterkommen." Er gluckste. "Eine davon hast du heute ja kennen gelernt. Leider... Ich hätte dir das gerne erspart. Aber du solltest wirklich lernen, dich gegen andere zu wehren, Liebes."

Ich senkte beschämt den Kopf und er zog ihn unter sein Kinn, seine Arme noch immer um mich geschlungen.

"Du bist hinreißend. Und wunderschön. Ich liebe alles an dir. Du raubst mir den Verstand, weißt du das denn nicht?", flüsterte er weiterhin beruhigend.

Nach einem kleinen Herzstillstand überkam mich ein warmes Gefühl und es fühlte sich an, als ob mein ganzes Inneres dahinschmolz. Das war das Schönste, was jemals ein Mann zu mir gesagt hatte! Ach, was... das überhaupt je einer zu mir gesagt hatte! Ich entspannte mich ein wenig und lehnte mich an ihn.

Sein heißer Atem, sein warmer Körper... Sein heißer Körper, sein warmer Atem. Alles vermischte sich miteinander. Er küsste die empfindliche Stelle hinter meinem Ohrläppchen und ich fiel...

"Ich lass dich nie wieder los", raunte er heiser.

Das war es, was ich hören wollte. Ein "Ich liebe dich", das nicht zuerst aus meinem Mund stammte. Erst jetzt begriff ich das. Das war mir vorher nie bewusst gewesen.

Ruhig befreite ich mich aus seiner Umklammerung und drehte mich langsam zu ihm, schlag die Arme um seinen Hals und küsste ihn. Er legte die Hände auf meine Hüften...

Und dann gestattete ich ihm, mich nie wieder loszulassen.

Die Nacht war ruhig und still und kaum einer von uns sprach ein Wort. Nur war er derjenige, der mir den Verstand raubte...

Fortune

Zufrieden streckte ich meine Beine auf der Decke aus und lehnte mich zurück, stützte mich hinten mit den Armen auf.

Es war ein warmer Sommertag, die Sonne brannte heiß vom strahlend blauen, wolkenfreien Himmel hinab. Kein einziges Lüftchen wehte und ich saß auf unserer Picknickdecke und ließ mich von den warmen Strahlen verwöhnen. Sean lag direkt neben mir auf dem Rücken, die Knie angewinkelt, die Augen geschlossen, einen Arm über seine Stirn gelegt, der andere ruhte auf seinem Bauch. Doch während ich in der Sonne saß, hatte er es sich im Schatten einer großen Eiche bequem gemacht. Vielleicht döste er ein wenig, vielleicht auch nicht, ich wusste es nicht.

Liebevoll betrachtete ich ihn. Er hatte bis in die Morgenstunden arbeiten müssen und war trotzdem mit mir picknicken gegangen, wie er versprochen hatte, obwohl ich ihm mehrmals versichert hatte, dass er das nicht musste und wir es verschieben könnten. Er hatte allerdings nichts davon wissen wollen und mich stattdessen mit der Eisdiele in der Nähe des Stadtparks gelockt, die wohl, seiner Meinung nach, das beste Eis des Landes hatte. Kekseis. Karamelleis. Ich konnte einfach nicht widerstehen...

Friedlich lag er da und das regelmäßige Heben und Senken seiner Brust war die einzige Bewegung, die er machte. Seine dunkelblonden Haare waren nun etwas heller, sonnengebleicht, hinreißend. Der Sommer war dieses Jahr warm und sonnig, wie schon lange nicht mehr. Ein perfekter Sommer, aber jeder Sommer wäre perfekt, wenn ich ihn mit Sean verbringen dürfte.

Eine Woge der Zärtlichkeit wallte in mir auf und ich wollte ihn so gern berühren, mit den Fingern durch seine weichen Haare fahren, meine Lippen auf seine pressen, seine raue Wange an meiner spüren... Er sah so verführerisch aus, wenn er diesen leichten Bartschatten hatte, weil er nicht dazu gekommen war, sich morgens zu rasieren und nur todmüde ins Bett gefallen war... Na ja, nicht GANZ so todmüde...

Ich lächelte errötend und wandte mich von seinem fesselnden Anblick ab. Das war der Moment, in dem mir auffiel, dass etwas nicht stimmte.

Erschrocken fasste ich mir an die Nase und betrachtete dann einen Moment lang schweigend meine Finger. Meine roten, blutigen Finger!

Oh nein... ich hatte Nasenbluten! Das konnte doch nicht wahr sein!

Schnell setzte ich mich in Bewegung und durchsuchte hektisch meine Tasche nach einem Päckchen Taschentücher, wurde aber nicht fündig.

"Seeaan", jammerte ich verzweifelt, immer noch kramend. Nichts!

"Hm?", brummte er erledigt, ohne sich auch nur einen Millimeter von der Stelle zu rühren.

Ich ließ von meiner erfolglosen Suche ab und zupfte mit meinen verschmierten Fingern an seiner Jeans, presste meine andere Hand auf mein Gesicht, während ich die Augen zusammenkniff, als könnte ich dadurch verhindern, dass mir das Blut weiterhin aus der Nase quoll.

Uaah... das war ganz sicherlich die Sonne. Schon als Kind hatte ich im Sommer Nasenbluten bekommen, wenn mein Kopf ein wenig überhitzt war, wieso hatte ich denn bloß nicht aufgepasst und war mit anderen Dingen beschäftigt gewesen?

"Sean!"

Er öffnete ein Auge und blinzelte in die Sonne, die direkt über ihm zu stehen schien. Dann richtete er sich halb auf und schaute mich an. Für einen kurzen Moment war da keine Regung in seinem schläfrigen Gesicht, dann allerdings riss er erschrocken die Augen auf und kniete auch schon besorgt neben mir.

"Was hast du gemacht?", wollte er fast vorwurfsvoll wissen und legte die Hand auf meinen heißen Kopf, langte mit der anderen in die Tasche und beförderte sofort en Päckchen Taschentücher ans Licht. War ja klar!

Eiligst friemelte er eins heraus und drückte es mir in die Hand, damit ich es mir gegen die Nase pressen konnte.

"Die Sonne", jammerte ich verzweifelt. Ich gefiel mir gar nicht in der Rolle der nasenblutenden, überhitzten Frau, die nicht mal ein paar Sonnenstrahlen vertragen konnte. Aber das war typisch...

Ohne große Reden zog er mich in den Baumschatten, wo es nicht so heiß auf mich herunterstrahlte, und drückte entschieden meinen Kopf nach unten.

"Au!", beschwerte ich mich. Er musste doch nicht gleich so grob werden!

Er lachte. "Entschuldige." Doch es klang nicht, als ob es ihm wirklich leid täte, und ich fand das gar nicht lustig! "Lass den Kopf unten", ermahnte er mich dann und nahm die Hand gar nicht erst weg, als ob er mir das nicht zutraute.

Ich seufzte resigniert. Wieso musste so was immer mir passieren? Es war ein so schöner Tag gewesen!

"Wollen wir nach Hause?", fragte er sanft. "Du bist schon ganz aufgeheizt." Wieder lachte er. Ja, die ganze Situation war wirklich lustig, haha.

Ich starrte grimmig die Picknickdecke an, weil ich nichts anderes im Blickfeld hatte und meinen Kopf nicht heben konnte.

"Nein, ich wollte noch das Eis", quengelte ich trotzig.

"So kannst du unmöglich Eis essen gehen", schmunzelte er und tätschelte ein paar Mal meinen Kopf. "Ein anderes Mal, okay?"

"Aber ich hab mich so drauf gefreut!"

Er seufzte. "Wir haben auch Eis zu Hause."

"Aber du hast gesagt, dass das das beste Eis in der Stadt ist und du hast es versprochen... jetzt sind wir extra hier und... ich wollte doch das Kekseis", schmollte ich. Hätte er mir das doch bloß nicht in den schillerndsten Farben und Geschmäckern beschrieben... Mir war das Wasser im Mund zusammengelaufen und das tat es noch immer.

"Im ganzen Land", korrigierte er mich vergnügt. "Und es tut mir leid. Ich mach es wieder gut, ja?"

"Wie denn?", fragte ich misstrauisch. Nichts konnte ein verschmähtes Kekseis wieder gutmachen, wusste er das denn nicht?

Er beugte den Kopf zu mir herunter und berührte meine Schläfe, die er mit seinem warmen Atem streifte. "Das zeig ich dir, wenn wir zu Hause sind", flüsterte er mir verschmitzt zu und berührte mit den Finger seiner freien Hand die Haut an meinem Nacken, sodass sie zu prickeln anfing.

"Oh", war meine geistreiche Entgegnung darauf. Er schaffte es immer noch, mit sämtlichen Wind aus den Segeln zu nehmen und meinen Kopf leerzufegen. Ich liebte das so an ihm!

Er lächelte leise. "Na siehst du. Komm, lass uns aufstehen. Kopf runter!" Wieder drückte er mit der Hand dagegen, als ich mich erheben wollte und zufällig den Blick hob. Er machte mich noch ganz wahnsinnig!

Vorsichtig und ohne viel zu sehen stand ich auf und achtete darauf, auch immer schön nach unten zu blicken, als ich plötzlich hochgewirbelt wurde und schon im nächsten Moment auf Sean's Armen lag. Er hatte mich hochgehoben, ganz einfach so!

Ich schnappte erschrocken nach Luft. "Lass das", protestierte ich peinlich berührt und zappelte ein wenig herum, doch er wollte nicht auf mich hören und lachte nur.

"Halt still, Emily, sonst lass ich dich noch fallen. Halt den Kopf unten", ermahnte er mich noch einmal nach einem kurzen Blick auf mich, die ich ihn empört anstarrte und dazu den Kopf hatte heben müssen.

Ich tat, wie mir geheißen und presste das Taschentuch fester auf meine Nase.

"Lass los, die Leute gucken schon...", flehte ich verzweifelt unter dem Stück Papier hervor und drehte mich weg, um die herumstehenden und -liegenden Menschen, die uns anstarrten, nicht sehen zu müssen. Das war so peinlich... Und irgendwie echt süß.

"Ach, Liebes, die sind doch nur neidisch, weil ich so eine Schönheit wie dich auf Händen tragen darf und sie nicht", schmeichelte er neckend und ich vergrub lachend mein Gesicht an seinem Pullover.

"Du Spinner."

Ich hätte schwören können, dass er grinste.



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Von:  Hupfdohle
2015-03-11T19:47:36+00:00 11.03.2015 20:47
Vorweg: jedes deiner Kapitel hat einen Kommntar verdient!

Ich musste ständig an so vielen Stellen schmunzeln, aber diese wurden ständig von neuen Anekdoten übertüncht (:

Ich hab nur winzig kleine Rechtschreibfehler entdeckt, wie immer ein flüssiger Text, sehr gute, detaillierte Charakterbeschreibungen!

Und was den Inhalt angeht, habe ich mich wie so oft in der Protagonistin wiedergefunden.
Ich bin unglaublich tollpatschig und mir fallen auch erst immer die bösen Gegenbemerkungen ein, wenn die Gelegenheit vorbei ist :D

Ich hatte ja von Anfang an Tom im Verdacht ^^
Kurz vorm Ende musste ich dann doch ein Tränchen verdrücken, denn Seans Kommentar, dass Emily zumindest ehrlich und nicht kriminell sei, hatte echt gesessen.. :/

Alles in allem hat mich deine Story gefesselt, berührt und entzückt! Ein Buch von dir würde ich auch glatt kaufen, dein Stil erinnert mich sehr an Kerstin Gier! ;)

Liebe Grüße, Hupfdohle


Von:  basta
2011-05-18T23:01:53+00:00 19.05.2011 01:01
Oh Gott, oh Gott, oh Gott..
du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich gerade ausgerastet bin, als ich zufällig auf die Geschichte hier gestoßen bin..
Ich war immer so traurig, weil ich sie bei FF.de nicht mehr gefunden habe, vermute mal du hast deinen Account dort nicht mehr?, und jetzt bin ich zufällig über irgendwelche Ecken auf deinem Profil gelandet und hab mir die Titel deiner FFs durchgelesen, ich dachte mich tritt ein Pferd.

Ich LIEBE "Every Little Thing". Die Geschichte ist so süß und so wunderbar erzählt, ich würd sie am allerliebsten als Buch gedruckt haben, damit ich alles mögliche markieren kann :D

Wunderwunderschön!
Von: abgemeldet
2010-08-24T14:58:55+00:00 24.08.2010 16:58
superschöne geschichte!!
wobei ich sagen muss, dass ich zwischendurch ziemlich angst hatte, wegen diesem stalker!!
ich hab schon die ganze zeit gerätselt, und die ex-freundinnen von sean hab ich ausgeschlossen. hätte nie gedacht, dass ex-freundinnen son telefonterror durchziehn...und sogar mitten in der nacht nicht damit aufhören...
echt gruselig solche leute :)
so das wars auch schon von mir ^^ du kannst gerne noch viele andere geschichten aufschreiben ^^ ich werde sie lesen :)
LG
Von:  stefanie22
2009-12-25T04:48:08+00:00 25.12.2009 05:48
habe gerade deine geschichte gelesen und fand sie sehr sehr schon

lg stefanie22
Von:  Peacer
2009-08-29T14:40:02+00:00 29.08.2009 16:40
Wunderschöne Story, zum Dahinschmelzen... Kritik hab' ich gar keine, und für ein ausführliches Lob fehlen mir gerade die Worte. Ich will mehr! xD
Nein, ehrlich, eine wunderschöne Romanze. Meiner Meinung nach hat sie auch das gewisse Etwas, um gedruckt zu werden *Wink mit Zaunpfahl*. Nein, ehrlich, so geitig ich normalerweise bin, ich würde es sofort kaufen. =)
Jetzt schau' ich mir noch die anderen Stories an...
Ah, da fällt mir doch noch etwas ein: Was ist eigentlich mit dem Dieb passiert? Wurde der über Ebay erwischt?^^
Lg,
Kim
Von:  Peacer
2009-07-16T13:52:30+00:00 16.07.2009 15:52
Genial^^
Genauso hatte ich mir ihr Date vorgestellt *g*
Sean scheint wirklich ein Gott in Menschenform zu sein *sabber*
Wieder einmal muss ich deine gelungene Ausdrucksweise loben. Ich liebe es, wie du es schaffst, mit Bildern und Beispielen genau die richtige Stimmung und Information rüberzubringen. Beispiel: Wundschutzpflaster und ich, wir hatten eine Art symbiotische Beziehung zueinander. Einfach nur genial^^
Von:  Peacer
2009-07-16T13:04:26+00:00 16.07.2009 15:04
Die Story ist so faszinierend, dass ich einfach nicht umhin kam, dir mein Lob jetzt schon in einem Kommi auszudrücken, obwohl ich damit meist erst bis zum Ende einer Story warte *schreibfaul ist*
Ich mag die Protagonisten, sie ist so schön tollpatischig, dass sie mir sofort symphatisch war. Und dann Mr. Blake (Ja! Ich hab' mir den namen gemerkt! xD)... bei deiner Beschreibung läuft mir das Wasser im Mund zu sammen. da versteht man ihre Reaktion sofort viel besser. Das Kapi hat mir im Übrigen sehr gut gefallen. Mr. Trockenpflaume (schööner Name) ist wohl das Musterbeispiel eines langweiligen Polizisten...
Dann die lebhafte Fantasie mit der Pistole... Cool^^
Und zu guter letzt das mit der Unterwäsche... Genial! xD
Dein Schreibstil ist ansonsten benfalls tadellos, schön fließend, so dass es einem unmöglich scheint, jemals wieder mit dem Lesen aufzuhören.
Auch die Zusammenfassung ist dir gelungen, denn die hat es geschafft, mein Interesse zu wecken, obwohl ich Originale normalerweise wie die Pest meide... Du überzeugst mich gerade davon, dass man hier trotzdem gute, eigene Serien finden kann. Danke! =)
Von:  Baka_Monkey
2009-07-15T08:57:20+00:00 15.07.2009 10:57
Soo. endlich komme ich dazu auch hier n Kommi zu machen x3
Die Story ist wirklich, wirklich Traumhaft *_____*
Aber durch so einen tollen Schreibstil war ja auch nichts anderes zu erwarten *hehe* :D
Hoffe dein hobby bleibt auch weiterhin das Schreiben x3
Lg bella_chan
Von:  Trudy
2009-02-05T15:43:26+00:00 05.02.2009 16:43
tolle story!
die hauptpersonen sind echt klasse. und wie witzig du das alles schreibst ^^ ich war nur am lachen und hab glatt alle 57 seiten an zwei tagen durchgelesen

und wer hat eigentlich die edelstahltöpfe geklaut? das würd mich echt interessieren XD

mfg Trudy
Von:  ElarionEulenschwinge
2008-12-11T22:47:10+00:00 11.12.2008 23:47
An der Stelle der Hauptperson hätte ich ja nix mit Sean angefangen. Klar, in der ersten Verliebheit findet man die Arroganz noch toll, aber danach...
Naja, will mich mal nicht beschweren, ansonsten fand ich die Story toll - sehr sympathische Hauptperson. Schade, dass ihr Ex nicht mehr aufgetaucht ist, der hätte ruhig noch aufs Dach bekommen können.

Hab ich es überlesen, oder wurde nicht geklärt, wer in die Wohnung eingebrochen ist und die Kochtöpfe gestohlen hat?


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