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Die Chroniken von Khad-Arza - Die Herrscher der Geisterwinde

von

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Sohn der Blitzspeere

Die Reise nach Minh-În war lang und nass, weil es immer noch regnete. Als Puran den Bergvorsprung erreichte, auf dem Meorans Haus stand, wurde er von Saidah überschwänglich und etwas leidenschaftlicher als ihm geheuer war begrüßt. Die junge Frau warf sich in seine Arme und drückte ihren zierlichen Körper an seinen, das Gesicht in seiner Schulter vergrabend. Für ihre dreizehn Jahre war sie ziemlich groß gewachsen.

„Du bist da, endlich!“, keuchte sie, als er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte nach dem Ansturm, „Oh Himmel, Puran, das ist alles so furchtbar. D-dass Kitas einfach so, und die arme Sora…“

„Dann sind dein Vater und sein Soldat also schon angekommen.“, seufzte der Mann beruhigt und schob die Tochter seines Lehrmeisters von sich, um sie zu mustern. Er sah sie nicht oft; und wenn er sie sah, galten seine ersten Worte zu ihr normalerweise der Tatsache, dass sie ihrer Mutter mit jedem Tag ähnlicher wurde. Tatsächlich sah sie jetzt schon wie eine noch sehr junge und zierlichere Ruja aus. Saidah war bildschön… Puran hoffte für seinen aufmüpfigen Sohn, dass er das zu schätzen wissen würde, wenn er alt genug sein würde, um Saidah zu heiraten. Karana und Saidah waren sich seit Sukutais Bestattung nicht mehr begegnet, aber Meorans Tochter fragte jedes Mal nach ihrem Verlobten, wenn Puran sie und ihren Vater besuchen kam.

„Geht es Karana gut?“, kam dann, und „Wird er auch ein hübscher Mann?“ Aber für sowas war jetzt keine Zeit.

Die junge Frau nickte ermüdet und strich sich ein paar wirre schwarze Locken hinter die Ohren.

„Ja, sie sind gestern Nacht angekommen. Vater geht es nicht gut… ich mache mir fürchterliche Sorgen. Ich bin so froh, dass du hier bist, jetzt bin ich nicht mehr mit Tanuq alleine für alles zuständig… ich komme mir so hoffnungslos verloren vor!“

„Was ist mit Meoran?“, fragte der Herr der Geister alarmiert, als sie rasch das Haus betraten, und er legte seinen klitschnassen Umhang ab und zog schnell die Schuhe aus, um nicht das ganze Regenwasser im Haus zu verteilen.

„Wir hatten zuerst Angst, dass es noch ein Schlaganfall wäre, als er hier ankam, ist er quasi umgefallen und ist seitdem völlig neben sich… ich glaube aber jetzt, dass es doch kein Anfall war, vermutlich ist es das Zusammenspiel seines anfälligen Herzens und der psychischen Zustände wegen dieser Sache…“ Puran erbleichte und starrte die Frau an, die sich sichtlich bemühte, so locker darüber zu sprechen, wie es ging, vielleicht, um sich selbst zu beruhigen.

„Wie bitte?! Um Himmels Willen, das hat noch gefehlt…“ Saidah fuhr zusammen, als er an ihr vorbei die Treppe hinauf zum Schlafzimmer hechtete, wohin sie ihm eilig folgte. Meoran saß zwar aufrecht im Bett, aber er sah wirklich fürchterlich aus, wie ein eingefallener alter Mann, der dabei war, seine letzten Atemzüge zu tun. Atmen tat er allerdings relativ besonnen, obwohl er etwas keuchte und sich, wie schon in Vialla immer, wieder und wieder nervös mit zittrigen Händen durch die braunen Haare fuhr, deren Farbe an vereinzelten Stellen bereits zu verblassen begann. Der Meister zwang sich zu seinem leichten Lächeln, als Puran und Saidah herein kamen.
 

„Du bist da, so ein Glück, Puran. Vergib mir, wenn ich dir einen Schrecken eingejagt habe, es ist halb so wild.“

„Himmel…“, stöhnte der Jüngere und ließ sich ans Fußende des Bettes sinken, „Du siehst scheiße aus!“

„Ja, ich weiß… es wird schon. Saidah hat mir Misteltee gekocht gegen den Bluthochdruck. Ich hatte plötzlich das Gefühl, mein Herz würde so sehr rasen, dass es mir davonläuft, und für einen Moment war mein Gleichgewicht dann weg… aber ich glaube, es wird schon wieder. Ich… ich bin immer noch fassungslos über das, was geschehen ist. Weiß Leyya, dass du hier bist?“

„Ja, ich habe Sagal zurück nach Lorana geschickt, er sollte ihr das sagen…“ Der Lehrer fuhr sich abermals durch die Haare, während seine Tochter artig die leere Teetasse wegbrachte und mit den Worten „Ich bringe dir noch einen, sicher ist sicher.“, den Raum verließ. Meoran sah seinen Schüler kurz an.

„Warst du bei Emo?“

„Ja, aber ich bin ehrlich gesagt nicht sicher, ob er es wirklich war. Vielleicht war es Scharan selbst, oder Handlanger, die von ihm aus kamen. Als wir zu Emos Wohnung kamen, war er, na ja…“ Puran räusperte sich gekünstelt, „Sagen wir, gerade mit einer Hure zugange, und angeblich war die schon den gesamten Tag mit ihm da in der Wohnung. Er ist ein guter Schauspieler, das wissen wir, es kann sein, dass er nur Scheiße erzählt… der Punkt ist, wir können es nicht beweisen. Wir können ihn nicht einfach ohne Beweise wieder aus dem rat treten. So gern ich das würde.“ Meoran brummte.

„Dein Vater konnte das auch, gab es jemals wirklich handfeste Beweise für seine Beteiligung an Rujas Tod?“ Der Senator zog bekümmert die Schultern zusammen bei der Erwähnung seiner ersten Flamme, die schon so lange tot war.

„Na ja, aber die Geister haben uns damals unterstützt. Momentan tun sie das nicht… sie haben mir keine Antworten gegeben.“ Die beiden Männer schwiegen sehr lange, bis Saidah mit dem Tablett zurückkam und ihrem Vater Tee brachte; für Puran hatte sie extra Kaffee gemacht, und der Mann bedankte sich verlegen bei ihr für die Mühe. „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen, meine Liebe, mach dir keinen Kopf. Wirklich, vielen Dank, Saidah.“ Sie lächelte ihn nur zärtlich an und setzte sich dann zu ihrem Vater ans Bett.

„Das Ende der Welt, Puran… macht uns alle nervös. Vermutlich sogar die Geister. Herr Sagal hat schon recht, wenn er sagt, sie wären sadistische Meuchler. Ich frage mich, wenn ich einmal sterbe und ein Teil der Geisterwelt werden sollte, ob mir dann auch so langweilig sein wird.“

„Jetzt lebst du bitte erst mal noch etwas.“, bemerkte Saidah streng und hinderte ihren Vater daran, sich abermals durch die Haare zu fahren. „Du machst mich verrückt mit dem Gefummel, leg dich doch einfach hin und ruh dich aus.“ Meoran lachte leise, aber der Herr der Geister am Fußende spürte, dass es kein wirkliches Lachen aus tiefstem Herzen war. Er war selbst beunruhigt und der Tod von Senol und seiner Frau saß ihm noch immer im Genick, genau wie Puran auch.

„Wo ist Sora überhaupt?“, fiel ihm dann ein; die kleine Tochter von Senol Kita hatte er über die Sorge um seinen Meister ganz vergessen. Saidah erhob sich.

„Am besten, wir lassen Vater schlafen und sehen nach ihr.“, meinte sie, „Brauchst du noch irgendwas, Vater?“

„Ach Quatsch.“, machte der Ältere mit einer abwinkenden Handbewegung, „Mir geht es gut, Saidah. Sorgt euch nicht… seht lieber zu, dass Tanuq die Kleine endlich wach bekommt… sie muss noch vor Sonnenuntergang hier verschwinden, je eher, desto besser. Hier kann sie nicht bleiben.“
 

Da war etwas dran, sagte der Herr der Geister sich, als er mit Saidah das Zimmer verließ und sie einen Raum weiter das Kindermädchen Tanuq vorfanden. Der Mann, einige Jahre jünger als Puran, saß neben dem Schlaflager des Zimmers, das offenbar Saidahs Zimmer war. Auf dem Lager lag die kleine Sora, unverletzt, aber vermutlich schlafend. Sie hatte neue Kleider bekommen, vermutlich alte von Saidah, die ihr längst nicht mehr passten und die so doch noch Verwendung fanden.

„Sie schläft immer noch?“, fragte die Hausherrin jetzt an Tanuq gewandt, und der Mann nickte.

„Offenbar. Guten Morgen Senator Lyra, Herr, ich hatte noch gar nicht die Gelegenheit, Euch anständig zu begrüßen.“ Er erhob sich und verneigte sich, worauf Puran seufzte.

„Setz dich, bitte, du machst mich wahnsinnig mit deiner unterwürfigen Ader. – Ist sie seit sie Vialla verlassen hat kein Mal aufgewacht?“

„Doch, natürlich, aber immer nur kurz, der Schock sitzt zu tief, fürchte ich.“, war die Antwort der Frau, „Sie hat gesehen, dass das Haus brannte, sie weiß mit großer Sicherheit, dass ihre Eltern tot sind, aber mehr auch nicht. Es ist ein zufälliges Glück, dass sie außer Haus war, als das Feuer ausbrach. Ob Emo, oder Scharan, oder wer immer dafür verantwortlich ist, das wohl weiß?“

„Ich habe Emo zumindest nicht gesagt, dass sie lebt. Er glaubt, sie sei tot. Was Scharan anbelangt, keine Ahnung, was der denkt… habt ihr schon eine Idee, wohin ihr sie schaffen wollt?“ Die Schwarzhaarige seufzte und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Ja, wir – das heißt, Vater hatte die Idee. Wir warten eigentlich nur auf die Sicherheitstruppe, die irgendwann im Lauf des Tages herkommen soll. Der Mann, der Sora gemeinsam mit Vati aus Vialla hergebracht hat, wurde gleich gestern Nacht losgeschickt zum Stellvertreter der Kriegertruppe.“ Der Senator sah auf das kleine Mädchen, das schlief und versuchte, der alptraumhaften Realität zu entfliehen, in der seine Eltern tot waren.

„Und was macht die Kriegertruppe dann mit ihr?“ Statt einer Antwort kam zunächst ein Befehl an Tanuq.

„Gehst du bitte und machst etwas Frühstück für uns? Und halte Ausschau, ob die Männer kommen.“ Tanuq nickte eifrig und tat, wie ihm geheißen, die Tür hinter sich schließend. Sobald er außer Hörweite sein musste, sprach Saidah mit Blick auf Puran weiter. „Wir lassen sie nach Fann bringen. Weiter weg kann sie nicht und Fann ist ein Ort, an dem Scharan sie niemals freiwillig suchen würde, wenn er erfahren sollte, dass sie lebt. Niemand würde sie dort freiwillig suchen.“

„In der Tat!“, keuchte der Herr der Geister, „Ich meine, ausgerechnet Fann?! Das Land der Barbaren und Wilden, denen man noch mehr Skrupellosigkeit nachsagt als Emo und Scharan zusammen?! Na, ob sie da besser aufgehoben ist…“

„Die Geister haben Vati diese Idee gebracht.“, behauptete die junge Frau ernst, „Sie werden uns unterstützen. Vertrau mir. Du darfst keiner Seele davon erzählen, es ist wichtig, wenn nur so wenige wie möglich wissen, wohin Sora kommt. Eigentlich wissen es nur Vati, die Krieger und ich. Und wir wissen nicht mal genau, wohin, nur, dass es nach Fann gehen wird. Ich habe kein schlechtes Gefühl dabei, deswegen bin ich auch nicht beunruhigt. – Versprich es mir. Niemand darf es erfahren, nicht einmal Leyya. Niemand.“ Der Mann sah sie lange an. In ihren Zügen stand keinerlei Zweifel an dem, was sie vorhatte, obwohl ihm der Gedanke doch etwas sauer aufstieß, die arme Sora, jetzt als Waise, ausgerechnet nach Fann zu bringen. Er nickte aber zustimmend; was blieb ihnen anderes übrig? Und wenn Saidah recht hatte und es Sora dort im Südosten gut ergehen konnte, war sie tatsächlich nirgends sicherer. Selbst Henac Emo fürchtete Fann, vor allem den östlichen Teil des Landes, der an sich nicht richtig zum Zentralreich gehörte. Alles, was Puran über Ostfann wusste, waren Vorurteile und Schauermärchen; er war selbst nie dort gewesen und hatte auch zeitlebens nicht vor, dort jemals hinzugehen. Davon abgesehen, dass es gruselig war, bestand Fann größten Teils aus Wüste, und allein der Gedanke an die Hitze, die dort herrschen musste, trieb dem Mann den Schweiß ins Gesicht.

„Ich verspreche dir, ich sage niemandem ein Wort. Was ist mit Tare, Neron und Saja?“

„Sie werden natürlich von Kitas Tod erfahren, aber vielleicht erwähnen wir Sora besser nicht. Es kommt glaubwürdiger, wenn Emo nicht der einzige Depp ist, der sie tot glaubt, außerdem traue ich Neron Shai durchaus zu, sowas aus Versehen auszuplaudern.“ Das war wohl wahr; dem musste man nur ein Glas Wein zuviel geben, dann plapperte der fröhlich den größten Schund daher.

„Dann werden sie auch nichts erfahren, ja. Himmel, dass du da persönlich jetzt mit drin hängst, besorgt mich, Saidah. Du bist noch so jung und zettelst jetzt schon zusammen mit uns Verschwörungen an… wie furchtbar.“ Sie seufzte leise und senkte den Kopf.

„Mach dir keinen Kopf, ich komme klar, Puran.“

„Ich weiß, du bist schließlich die Tochter deines Vaters. Trotzdem wünschte ich, du hättest einfach… ein Kind sein können.“ Sie zeigte ein flüchtiges Lächeln.

„Ich bin jetzt eine Frau, falls es dir entgangen ist, Puran.“ Dabei sah sie ihn nicht an und er räusperte sich.

„Deine Worte gehen mir in eine unangenehme Richtung. Du sollst nicht mir schöne Augen machen, sondern Karana, wenn er einmal alt genug ist.“

„Das weiß ich und das ist auch richtig so, keine Angst. Ich wollte nicht wie eine Hure rüberkommen. Aber ich fürchte…“ Jetzt sah sie doch wieder auf und er blinzelte, als er ihren nostalgischen Blick bemerkte, der in weite Ferne schweifte, „So etwas wie eine Kindheit war mir nie zugedacht. Das wusste ich schon, als ich noch klein war.“
 

Als Tanuq zurückkehrte und berichtete, dass die Truppe gekommen wäre, rappelte Meoran sich wieder auf, obwohl seine Tochter versuchte, ihn am Aufstehen zu hindern.

„Hol die Kleine, rasch.“, sagte er, „Auf dich hören die Männer nicht, Saidah, das kann nur ich übernehmen. Mir geht es gut, Himmel noch mal.“ Er verdrehte wohlwollend die Augen, oder zumindest eines, und Puran seufzte, als er gemeinsam mit ihm herab ging, um die Männer draußen zu begrüßen. Sein Meister war immer noch etwas wackelig auf den Beinen, kam aber offenbar zurecht.

Die Truppe bestand aus einem Dutzend Männern, die alle ordentlich in Uniform vor dem Haus versammelt waren; unter ihnen war auch der Mann, der in Vialla gewesen war. Hinter ihnen standen ein Mann und eine Frau in lumpigen Kleidern, die aussahen, als hätten sie kaum mehr bei sich als das, was sie trugen; die Frau trug nur ein Stoffbündel in der Hand. Beide waren in Ketten gelegt worden und erbleichten sichtlich bei Meorans Anblick.

„In den Staub mit euch, ihr Ratten!“, zischte einer der Soldaten und stieß die beiden mit dem stumpfen Ende seiner Lanze um, sodass sie zu Boden fielen, während die übrigen Krieger artig salutierten.

„Herr, willkommen zurück.“, sagten sie im Chor. Meoran schnappte eine Weile nach Luft; anscheinend war ihm der Gang die Treppe hinab doch etwas auf die Lunge geschlagen.

„Stellt euch bequem hin, und hebt die armen Schlucker wieder auf, mit gebrochenen Beinen kann ich sie nicht brauchen. Männer, bevor wir fortfahren, der Mann zu meiner Linken ist Puran Lyra, ich habe von ihm erzählt.“ Die Krieger nickten und salutierten auch vor Puran.

„Mögen die Geister Euch Ehre und Stolz geben.“, begrüßten sie ihn förmlich und Puran hüstelte. Die Leute in Janami brachten ihrem Militär komische Floskeln bei. Einige der Männer waren Schamanen, andere waren Nichtmagier. In Janami gab es bekanntlich genau wie in Kisara sehr viele Magier in allen Schichten.

Einer der Männer, der einen blauen Umhang trug und offenbar der Befehlshaber in Meorans Abwesenheit gewesen war, trat vor, machte eine hektische Verneigung und stand dann stramm, als er berichtete.

„Truppenführer, wir haben den Auftrag, den Ihr uns gegeben habt, ordnungsgemäß ausgeführt. Wie Ihr verlangt habt, haben wir die nächstbesten Flüchtlinge geschnappt und lebend hierher gebracht. Bei allem Respekt, es war zwar nicht abgemacht, aber wir haben ihnen auf dem Weg die Augen verbunden, damit sie nicht zurück finden, das wäre übel, Herr.“

„Gute Arbeit.“ Puran war verblüfft, wie knapp und in was für einem harschen Befehlston Meoran sprechen konnte; er war offenbar wirklich der geborene Heerführer. Der Braunhaarige verschränkte die Arme hinter dem Rücken und trat um die Truppe herum zu den beiden Flüchtlingen, die er dann musterte. „Woher kommt ihr?“ Der Mann sprach kein Wort und seine Frau senkte panisch erbleichend den Blick, dabei versuchte sie verzweifelt, ihre Hände aus den Ketten zu quetschen. Als immer noch keine Antwort kam, stieß der Soldat von zuvor die beiden wieder mit der Lanze an.

„Sitzt ihr auf euren Ohren? Der Truppenführer hat euch eine Frage gestellt, ihr Hurensöhne!“ Der Mann zischte nur und Meoran hob abwehrend eine Hand.

„Nicht, lass gut sein. – Hör mir zu, Mann. Weißt du, vor wem du stehst?“ Der Flüchtling bebte noch kurz und schien abzuwägen, wie seine Chancen zum Überleben standen, wenn er weiter schwieg. Er sprach dann doch noch.

„Ihr seid der, den sie Aasgeier nennen, weil er mit den Todesvögeln sprechen kann.“ Der Geisterjäger nickte.

„So in etwa. Aasgeier also? Das ist aber kein sehr angenehmer Spitzname. Wer sagt, ich würde so heißen?“

„Der Weise Mann in unserem Dorf hat gesagt, in den Bergen lebt der Aasgeier und niemand kommt lebend fort aus Fann, wenn er versucht, über die Berge zu gehen!“, rief die Frau hysterisch, weil ihr Mann schwieg. Sie sprach nur gebrochen die Hochsprache, aber die anderen verstanden sie.

„Der Weise Mann? Aha, und woher hat der das? Bekanntlich kehrt tatsächlich keiner lebend zurück, der mir über den Weg läuft und versucht, in das Land meines Herrn einzudringen. Folglich kann es ja schlecht einer berichten.“

„Die Geister haben es ihm gesagt, hat er gesagt.“, sagte der Mann jetzt etwas ehrfürchtiger, „Wir haben gedacht, wir versuchen unser Glück trotzdem. Dass niemand wiederkommt, kann auch heißen, dass sie in Janami geblieben sind.“

„Gut beobachtet, leider falsch gehofft. Die Knochen deiner Vorgänger hier liegen zerschmettert in den Bergen verteilt. Ich würde den Fürsten von Minh-În nicht für euch verraten, glaubt mir.“ Meoran machte eine Kunstpause. „Zumindest nicht, solange es nicht einen persönlichen Wert für mich hat. Ihr habt den einmaligen Glückstag erwischt mit eurer Flucht.“ Der Flüchtling zögerte kurz.

„Dann heißt das, wir werden nicht sterben?“

„Du bist von der klugen Sorte, wie ich sehe.“, bemerkte Meoran sarkastisch grinsend, bevor er keuchend die Luft einzog. „Du hast sicher studiert.“

„Ja, Meereskunde.“

„Was denn?“, fragte der Geisterjäger ungeduldig, „Meereskunde studiert in einem Land, in dem es nur Wüste gibt? Das ist verblüffend. Wie auch immer, ja, du hast es erfasst, ihr seid nicht hier, um zu sterben. Allerdings hat euer Weiterleben eine Bedingung.“ Wie gerufen kam jetzt Saidah aus der Haustür, bei sich hatte sie die kleine Sora, die jetzt wach war und verstört schweigend in die Runde starrte. Puran fragte sich, ob sie immer noch unter Schock stand oder ob Saidah ihr irgendetwas gegeben hatte, weil die Kleine doch sehr lethargisch und benommen wirkte… es war ein Jammer, daran zu denken, dass ihre Eltern für immer verloren waren. Das arme Kind…

„E-eine Bedingung?“, fragte die Frau aus Fann in ihrer gebrochenen Hochsprache verunsichert.

„Ganz genau. Und ihr werdet auch nicht nach Janami gelangen, in sofern betrüge ich den Fürsten von Minh-În ja auch nur halb, wenn ich euch am Leben lasse.“ Die beiden aus Fann brauchten etwas, um das zu verstehen, dann sprach der Mann.

„W-wie… wie, wohin sollen wir dann?“

„Nach Ostfann. Und ihr werdet dieses kleine Mädchen mitnehmen und in einen Ort bringen, an dem sie sicher ist. Ich werde euch einen Späher mitgeben, der mir genau sagt, was ihr tut… wird dem Mädchen nur ein Haar gekrümmt, sorge ich dafür, dass ihr den Tag verfluchen werdet, an dem ihr geboren worden seid. Und ihr werdet mich auf Knien anbetteln, eurem erbärmlichen Leben ein Ende zu machen.“ Die beiden aus Fann starrten ihn an.

„W-was, Ostfann?!“, japste der Meereskundler erschrocken und sah nach Osten, „Das können wir nicht, Herr! Im Osten gibt es bösartige Leute, im Osten hausen Dämonen!“

„Habe ich was verpasst oder wurdest du gerade befördert und bist jetzt in der Position, um mir Befehle zu erteilen?!“, fuhr der Truppenführer ihn an und Puran im Hintergrund hustete erschrocken über den plötzlichen Zorn in Meorans Stimme. Er erlebte seinen sonst so friedfertigen Lehrer gerade von einer Seite, die er noch nicht kannte; einer Seite, die ihn etwas erschreckte und ihn gleichzeitig enorm beeindruckte.

„Ich meine.“, räumte der Kerl aus Fann ein, dem wohl bewusst wurde, dass er sich auf dünnem Eis bewegte – wenn er Eis überhaupt kannte, wenn er in Fann gelebt hatte. „Das Mädchen, das Euch so teuer ist, wird dort nicht sicher sein!“

„Doch, das wird sie, und ihr zwei ebenso. Dafür garantiere ich euch mit meinem Wort. Ihr bekommt von mir die nötigen Reisemittel, Proviant und Geld. Die Männer meiner Truppe werden euch zur Grenze bringen, ab da seid ihr auf euch gestellt. Wenn ihr euch entscheidet, mein Angebot auszuschlagen… werdet ihr allerdings sterben, und meine Laune wird schlecht sein, das heißt, ich kann nicht dafür garantieren, dass es schmerzlos wird.“ Der Meereskundler zog skeptisch die Brauen hoch, doch seine Frau keuchte und nickte sofort.

„Ja, einverstanden! Wir nehmen das Mädchen und den Proviant und das Geld und gehen nach Ostfann. Auf Euer Wort, Herr!“ Der Mann wandte sich ihr zu und zischte irgendetwas auf Fannisch, was niemand der anderen verstand. Meoran seufzte und fasste nach seiner Brust, weil er sein Herz wieder rasen spüren konnte. Die Aufregung war ungesund… es war wichtig, dass er das hier schnell beendete, ohne die beiden armen Wichte merken zu lassen, wie angeschlagen er war. Eine echte Bedrohung war er an sich nicht für die zwei… sie sollten es nur nicht merken.

Er langte nach Saidah und zog Sora mit sanfter Gewalt zu sich herüber, die nur apathisch schaute.

„Das ist Sora, sie ist sieben Jahre alt. Ihr werdet in Ostfann für sie eine neue Heimat finden und niemandem sagen, woher ihr sie habt. Sagt, ihr hättet sie unterwegs gefunden.“ Er wandte sich an die Krieger. „Löst die Ketten. Und einer von euch holt den Proviant aus der Küche, jetzt sofort.“ Die Männer folgten den Befehlen umgehend und sobald die Ketten gelöst waren, rieben die Flüchtlinge sich verwirrt die Hände. Die Frau nahm Sora unter ihre Fittiche und versuchte, mit ihr zu sprechen, aber die kleine Tochter von Senol Kita sprach kein Wort. Der Mann, der Meereskunde studiert hatte, sah Meoran stirnrunzelnd an.

„Wieso denkt Ihr, dass Ihr uns vertrauen könnt? Wir könnten mit den Gütern abhauen und das Mädchen töten und braten.“

„Könntet ihr, ja.“ Der Ältere lächelte scheinheilig. „Aber ich würde herausfinden, wenn ihr das tätet, und glaubt mir, nicht einmal die Dämonen von Ostfann würden dann gerne in eurer Haut stecken.“ Der Mann sagte darauf nichts mehr und schien das zu durchdenken. „Also macht eure Sache gut. Ich habe einen Traum gehabt und in dem Traum gab es keine Dämonen. Ihr werdet es nicht bereuen. Verliert niemals ein Wort über das, was hier lief. Niemals. Oder ihr werdet zeitlebens nicht mehr glücklich werden, das schwöre ich.“ Darauf verneigte der Mann aus Fann sich kurz. Inzwischen kamen die Soldaten zurück und brachten den Proviant in einer Trage aus Knochen. Der Truppenführer trat zurück, als die Gruppe mit den Flüchtlingen und der apathischen Sora sich auf den Weg nach Südosten machte.

„Leb wohl, Sora Kita.“, sagte er dabei dumpf, das Mädchen ansehend, das ihm den Rücken kehrte, „Ich wünschte, du kämest auf legalere Weise in Sicherheit… und ich könnte wirklich dafür garantieren, dass es Sicherheit sein wird, die ihr findet.“ Mehr sagte er nicht und Puran sah der Gruppe noch lange nach, die in der Dunkelheit verschwand, während sein Lehrer sich schon etwas mühsam mit Hilfe seiner Tochter zurück ins Haus schleppte.
 

Die Nacht war angenehm kühl, die heraufzog, nachdem Sora mit den Flüchtlingen aus Fann verschwunden war. Die Stimmung am Abendbrotstisch war schweigsam, als sie zusammen mit Tanuq etwas Suppe aßen. Puran fragte sich, ob es gut war, Senols einzige Tochter leichtfertig an irgendwelche Fremden abzugeben… ob es ihr in Fann wohl gut gehen würde? Er hoffte es inständig. Was ihm aber, das musste er sich eingestehen, fast noch mehr durch den Kopf ging, war nicht die Frage nach Soras Wohlbefinden.

„Ich muss gestehen, ich bin… etwas ernüchtert, Meister.“, murmelte er nach dem Essen, als Tanuq gerade die Teller in die Küche brachte, wobei Saidah ihm zur Hand ging. Meoran atmete etwas heftiger als nötig ein und aus und fuhr sich ermattet mit den Händen über das bleiche Gesicht. Er sah immer noch furchtbar aus… aber seinen Scharfsinn hatte er offenbar nicht eingebüßt, denn er wusste genau, was sein Schüler meinte.

„Ich hab dich vorhin zu Tode erschreckt mit meiner sadistischen Ader, was?“

„In der Tat, und das ist, gelinde ausgedrückt, untertrieben…“

„Vergib mir, Puran. Lass mich versuchen, dich etwas zu beruhigen… ich rede mit diesen Leuten so, weil ich so reden muss. Denkst du, sie würden mich respektieren und mir nicht auf der Nase herumtanzen, wenn ich lieb Bitte sage? So läuft das im Militär nicht, Puran… und du wirst lachen, es fällt mir sehr viel leichter, so zu tun, als wäre ich ein Monster, als mich diplomatisch auszudrücken.“ Der Senator schauderte kurz.

„Das… war mir nicht bewusst. Ich… muss diese unbekannte Seite erst mal verdauen, fürchte ich.“

„Tut mir leid. Ich bin ein alter Mann, Puran, ich habe einfach zu viel erlebt, um noch viel um den heißen Brei herumreden zu wollen.“ Er lächelte entschuldigend und sein Gegenüber sah zum Fenster.

„Ist es wahr? Hast du wirklich die Flüchtlinge an den Bergen zerschmettern lassen?“ Zu seiner Überraschung musste Meoran lachen.

„Quatsch. Töten müssen wir sie, das stimmt leider, aber wir gehen da etwas diskreter vor als sie grölend gegen die Wände zu hauen. Ich bitte dich, Puran, wir sind doch keine Barbaren, und der Herr von Minh-În, unter dessen Befehl ich arbeite, würde auch nicht gutheißen, in seinem Volk als Schlächter berühmt zu sein.“ Meoran erntete ein dumpfes Nicken und wusste, dass sein Freund darüber erleichtert war. „Sorge dich nicht, mein Freund. Die Nummer da draußen war nur Mittel zum Zweck. Sollen sie mich fürchten, die Flüchtlinge, schließlich soll ich sie ja aus dem Land halten und nicht einladen zu Tee und Kuchen.“ Tee war ein gutes Stichwort und er schenkte dem Jüngeren ein mattes Grinsen. „Apropos Tee, du solltest so bald wie möglich aufbrechen und zu deiner Frau zurückkehren. Ich wette, sie vermisst dich fürchterlich, und bevor der Tee kalt wird…“ Puran hustete gekünstelt.

„Danke, das erinnert mich daran, warum ich immer nur Kaffee trinke zum Kuchen. Dieses Wort ist dank meiner Großmutter absolut zweckentfremdet.“

„In der Tat. Frag mich mal, ich habe sie immerhin in flagranti auf dem Kanapee erwischt…“
 

In einem hatte Meoran recht gehabt: Leyya hatte ihren Gatten wirklich furchtbar vermisst, und als er nach vielen Tagen der Abwesenheit endlich wieder nach Lorana kam, warf sie sich ihm noch viel stürmischer und ungezügelter an den Hals als es Saidah vor einigen Tagen getan hatte. In Lorana hatte der Regen aufgehört und der Himmel war mit dem letzten Sommerlicht wieder aufgeklart; die Farben des grüngelben Himmels kündigten bereits den Herbst an.

„Um Himmels Willen, Puran!“, keuchte die Frau, als sie an seinem Hals hing, „I-ich habe von Sagal gehört, was mit Kitas-…“ Er unterbrach sie ungalant, indem er sie leicht von sich schob, stattdessen ihr Kinn anhob und sie verlangend auf die Lippen küsste. Sie stutzte zunächst überrascht, gab sich ihm dann aber ohne weiteres Zögern hin, indem sie die Arme um seinen Nacken schlang und den tiefen Kuss erwiderte. „Liebling…“, stammelte die Heilerin dann etwas überrumpelt und sah ihn verblüfft an, als sie sich voneinander lösten.

„Vergib mir, ich konnte nicht länger warten. Ich war eben noch in Aleu, um den Rest dort zu klären, und ich war auf dem Weg hierher so aufgekratzt, verdammt…“ Er räusperte sich, weil ihm klar wurde, dass sie immer noch auf der Straße vor der Haustür standen und jeder ihn hören konnte. Als Leyya vor ihm leicht kicherte und sich reckte, um sanft seine Wange zu küssen, musste er flüchtig grinsen. „Und da bekam ich Angst, der Tee würde kalt werden…“

Da hatte Meoran sich geirrt; Leyya wusste zwar nicht, wovon er sprach, aber der Tee war definitiv nicht kalt geworden. Da am Vormittag alle Kinder in der Schule waren, machte Puran sich nicht die Mühe, seine Frau ins Schlafzimmer zu bugsieren. Und obwohl sie zuerst schüchtern spielte, war sie durchaus angetan, als er nicht länger ein Hehl aus seinem Verlangen nach ihr machte und sie einfach auf dem Flur nahm. Sie machten es, als hätten sie es seit Jahren nicht getan, und es tat unglaublich gut, den aufgebauten Druck endlich loszuwerden. Und es war nicht nur der körperliche Druck, der ihn verrückt machte, als er seine hübsche, zierliche Frau gegen die Wand pinnte und immer wieder zustieß, bis sie in ihrer Ekstase aufstöhnte, sich dabei an seinen Hals klammernd. Als er endlich den ersehnten Höhepunkt erreichte und sich in ihr ergoss, war es, als wäre er mit dem Samen auch alle Sorgen und Probleme der vergangenen Tage losgeworden. Erleichtert drückte er Leyya noch einen Augenblick gegen die Wand des Flurs, ehe sie ihre um seinen Rumpf geschlungenen Beine löste und er sich zurückziehen konnte, worauf sie beide verschwitzt und befriedigt auf die unterste Treppenstufe sanken. Leyya rückte ihr provisorisch hochgeschobenes Kleid zurecht, ehe sie sich räusperte und sich kichernd an Purans Schulter lehnte, der neben ihr saß.

„Du Schwerenöter…“, seufzte sie lächelnd, „Wie ein Verdurstender in der Wüste, Puran, wirklich.“

„Ach, du stehst da doch drauf.“, behauptete er und lehnte den Kopf in den Nacken, „Verdammt… jetzt muss ich wieder mit der Realität klar kommen, in der nur Mist passiert, den ich nicht kontrollieren kann.“

„Ich verstehe, was du meinst.“, sagte sie dumpf, hob ihre Unterwäsche vom Boden auf und zog sie wieder an. „Himmel, hoffentlich ist Neisa nicht aufgewacht.“ Puran starrte sie an.

Was? Neisa ist hier?! Um Himmels Willen, i-ich dachte, die Kinder seien in der Schule!“

„Neisa ist etwas erkältet, ich habe sie deswegen heute lieber daheim behalten. Sie schläft oben.“

„Das hättest du mir sagen können, bevor ich dich nach Strich und Faden an der Wand durchnehme!“, keuchte er errötend und sah die Treppe hinauf; auch, wenn seine Tochter nicht zum ersten Mal etwas von ihrem Liebesspiel mitbekäme, war es ihm doch unangenehm, daran zu denken, was er bei den armen Kindern für bleibende Schäden hinterlassen könnte. Die Kinder hatten es in den vergangenen Jahren alle schon öfter geschafft, mitten in der Nacht aus diversen Gründen genau zur falschen Zeit ins Schlafzimmer ihrer Eltern zu platzen. Es war ihnen vermutlich keine Neuigkeit, dass ihre Eltern nackt im Bett lagen und Erwachsenensachen machten, aber das war kein Grund, es offen für alle hörbar zu treiben ohne Rücksicht auf Verluste…

„Mach dir keine Sorgen, sie schläft sicher.“, sagte seine Frau, jetzt wieder angezogen, wenn auch etwas unordentlich, ehe sie sich von der Treppenstufe erhob und seufzte. „Möchtest du einen Kaffee, Liebling?“

„Ja, bitte… auf den Schreck.“
 

Sie saßen schließlich hinter dem Haus, weil Puran drinnen der Kinder zuliebe nicht rauchen wollte, und er hatte neben dem Bedürfnis an Kaffee jetzt wirklich eine Kippe nötig, während er seiner Frau knapp berichtete, was er erlebt hatte. Er erzählte nicht, wohin Sora gekommen war, stattdessen legte er es so aus, dass er nicht wusste, wohin Meoran sie gebracht hatte, nur, dass sie in Sicherheit war. Dann würde Leyya ihn wenigstens nicht dauernd schmollend fragen, warum er es ihr nicht sagte… er wusste, wie stur sie da war. Wobei es die gerechte Rache dafür gewesen wäre, dass sie ihm auch nicht das Geheimnis von Niarihs Vater verriet, was sie definitiv wusste, da war er sicher. Es war nicht so, dass es ihn etwas anging, wer der Vater von Chitras Tochter war, aber es wurmte ihn irgendwie trotzdem, dass er es nicht wusste.

„Als Herr Sagal von Kitas Tod erzählte neulich, dachte ich, mich trifft der Schlag.“, gestand Leyya unglücklich, als er seinen Bericht beendet hatte und nervös an seiner Zigarette zog. „Das ist so furchtbar, sie waren noch so jung und hatten doch gar nichts getan! Die Kinder hat das auch ziemlich mitgenommen. Neisa hat es noch nicht ganz kapiert, sie ist ja erst sechs, aber Karana und Simu waren ziemlich in sich gekehrt. Ich glaube, vor allem Karana hat euch Geisterjäger immer für unsterblich und unkaputtbar gehalten, oder so… es muss ihn ziemlich verwirren, dass selbst Geisterjäger sterben können.“ Puran seufzte leise.

„Ja… diese Erfahrung müssen wir alle einmal machen, während wir aufwachsen. Als mein Großvater starb, war ich noch so klein, dass ich es nicht richtig begriffen habe, aber als meine Großmutter gestorben ist, habe ich angefangen zu kapieren, dass alle einmal sterben, auch meine Eltern, Alona, alle, die mir lieb und teuer waren… das ist alles nicht einfach.“ Er machte eine Pause, drückte dann den Stummel der Kippe auf den Steinen hinter dem Haus aus und räusperte sich. „Apropos Karana… hat er Unfug angestellt, während ich weg war? Wir sind ja kurz bevor ich aufbrach ziemlich aneinander geraten wegen seiner… unangenehmen Ader.“ Leyya wusste genau, wovon er sprach. Niemand von ihnen sprach wirklich aus, dass sie noch immer fürchteten, Karana hätte nicht zufällig die Eckzähne seines Urgroßvaters. Dem Jungen hatte auch niemand gesagt, von wem er die hatte.

„Nein, er war… artig. Davon abgesehen, dass er zu Tobsuchtsanfällen neigt, weil er die Grundzauber noch nicht beherrscht. Tilan und Azan haben versucht, mit ihm zu üben, offenbar recht erfolglos… das macht ihn tierisch fertig.“

„Wie seltsam, dabei ist er doch schon bald neun.“, sagte der Vater und runzelte die Stirn, „In seinem Alter konnte ich die Zauber jedenfalls einwandfrei – allerdings nach ziemlich mühsamem Training.“

„Erzähle ihm das ja nicht, sonst fühlt er sich nur noch schlimmer.“, meinte Leyya besorgt, „Er versucht doch, mit Haut und Haaren wie du zu sein…“

„Davon ist er aber ein gutes Stück entfernt.“, brummte Puran, stand auf und nahm die leere Kaffeetasse mit, „Dann sollte er zuerst einmal lernen, mit seiner Arroganz umzugehen! Oh, ich freue mich, wenn er bei Meoran in die Lehre geht, da wird er aber sein blaues Wunder erleben, wenn er bis dahin immer noch so ein verzogener Prinz ist. Vielleicht tut es ihm ganz gut, dass die Geister beschließen, ihm die Grundzauber noch zu verwehren.“ Er schritt durch die Hintertür in die Stube und Leyya keuchte, ehe sie ihm folgte.

„W-wie kannst du so etwas sagen?! Er ist dein eigener Sohn, solltest du nicht mit Leib und Seele hinter ihm stehen, statt ihn so zu verurteilen?“

„Das tue ich, solange er nicht – vermutlich ohne es zu merken – zu einem Kelar im Taschenformat mutiert. Verdammt, ich habe jedes Mal tödliche Panik, wenn ich nur daran denke, was geschehen könnte… wenn Karanas Geist tatsächlich mit dem meines Großvaters verbunden ist…“ Er war jetzt ruhiger geworden und seine Frau senkte bedrückt den Kopf.

„Ich weiß… ich verstehe doch, was du fühlst, Puran… aber-…“ Wieder barscher fiel er ihr ins Wort:

„Nein, das weißt du nicht. Du hast keinen Schimmer, wie sich das anfühlt! Also maße dir nicht an, zu behaupten, du wüsstest es besser. Ich bin todmüde, ich hau mich aufs Ohr. Weck mich, wenn die Mittagshitze vorüber ist.“ Mehr sagte er nicht, stellte die Tasse mit unnötiger Heftigkeit auf den Küchentisch und stampfte die Treppe hinauf, seine Frau verletzt im Flur stehen lassend.
 

„Vaira!“ Nichts geschah und Karana fluchte ungehalten, ehe er sich wütend die braunen Haare raufte, die im Übrigen wie die seines Vaters in alle Richtungen abstanden, wenn er sie nicht mit sehr viel Mühe und einer Tonne Haarwachs platt machte; aber im Gegensatz zu seinem Vater hatte der Junge wenig bis kein Interesse an seinen Haaren. Viel mehr interessierten ihn die Grundzauber, die er allem Anschein nach noch immer nicht konnte. „Ich verfluche es! Ich verabscheue diese Scheiße!“, keifte der kleine Junge wutentbrannt, sammelte einen Stein vom Weg auf und schmetterte ihn in hohem Bogen so weit er konnte davon. Dabei stieß er noch einen cholerischen Schrei aus, und seine beiden Weggefährten fuhren kurz zusammen.

„Mann, beruhig dich mal…“, seufzte Simu, „Wir beide können auch nicht zaubern.“

„Ihr seid ja auch keine Schamanen!“, keifte Karana und wirbelte herum, um seinem Bruder und seinem besten Freund Tayson einen zornigen Blick zu schenken. Er zischte ergrimmt, bückte sich und hob einen weiteren Kiesel, den er weit von sich schleuderte. „Ich hasse es! Ich bin verdammt noch mal der Sohn des Herrn der Geister, ich sollte das können!“

„Du bist sein Sohn, ja, aber nicht der Herr der Geister selbst.“, räumte Simu ein, aber irgendwie war er froh, dass Karana ihn nicht gehört zu haben schien, denn im Moment fürchtete der Blonde, sein Bruder würde ihm die Kehle aufreißen, wenn er etwas falsches sagte. Taysons Beitrag war simpler, aber effektiver.

„Reg dich ab und denk an Loron, das erheitert ungemein.“ Dabei kicherte der Schwarzhaarige doof und Karana blieb kurz stehen, damit die anderen zu ihm aufschlossen, bevor er auch grinste.

„Ja, hast recht, seine Fratze war wirklich herrlich, als ich vorhin in der Pause einem seiner Dienerklöße die Fresse poliert habe…“ Er gackerte amüsiert, als er noch einen Kiesel aufhob und ihn gegen einen nahen Baum schmetterte, der den Weg säumte. „Ungefähr… so! Haha, das macht Spaß, Steine zu werfen und dabei zu denken, es wäre Loron, den man bewirft.“ Er lachte über die Kerbe, die er dem unschuldigen Baum verpasst hatte, und Tayson gackerte auch los. Simu entschuldigte sich stumm bei Mutter Erde für den Firlefanz, den sein Bruder und sein Freund offenbar komisch fanden, ohne dabei die Lebensgeister der Natur zu berücksichtigen.

„Hey, ich habe noch den gammligen Apfel in meiner Tasche, den meine Mutter mir mitgegeben hat, den kannst du auch werfen!“, gluckste Tayson gerade, und Simu verdrehte die Augen.

„Lasst das lieber, Leute-…“ Er brauchte nichts mehr zu sagen, Karana hatte schon Taysons etwas überreifen Apfel gegriffen und ihn mit Leidenschaft gegen den Baum geschleudert. Das Obst zersprang und die Stücke ergossen sich über den Weg, worauf die beiden Jungen schallend zu lachen anfingen. „Ihr seid echt behindert.“, seufzte der Blonde und Karana packte ihn am Arm, ehe er ihn diabolisch angrinste und seine spitzen Eckzähne fletschte.

„Hey, solange wir unsere zerstörerischen Triebe nur an Bäumen auslassen und nicht an anderen, so wie Loron es macht…“

„Am besten lasst ihr es ganz.“, entgegnete der Jüngere und entzog sich Karanas Griff mit einem ebenfalls diabolischen Grinsen, „Wir sind nämlich spät dran, und Mutti wird sicher nicht erfreut sein, wenn wir zu spät heim kommen. Ich weiß ja nicht, was deine Mutter in Gemi sagt, Tayson…“ Der Schwarzhaarige sprang darauf zur Seite und japste.

„Oh nein, ach, verdammt! Meine Mutter, die habe ich ganz vergessen, die schlägt mich blau, wenn ich zu spät komme!“ Simu feixte und fragte sich, ob dem Trottel das nicht mal gut täte, ebenso wie Karana, der immer noch gackernd Apfelstücke aufsammelte und abermals gegen den Baum warf. Manchmal fragte der Blonde sich, wieso er sich mit den beiden abgab… aber Karana war sein Bruder. Er hing einfach zu sehr an ihm, als dass er sich lange von ihm hätte trennen können. Und dem Schamanen ging es genauso. Und in einem hatte sein Bruder recht… abgesehen von Loron und seinen Schlägerdrillingen schikanierten sie wirklich keine anderen Kinder. Zumindest war es bisher so gewesen und Simu hoffte, dass es so bliebe.
 

Als die heim kamen und Karana erfuhr, dass sein Vater wieder da war, war er sofort Feuer und Flamme. Puran, inzwischen wieder wach, unterdrückte erfolgreich seinen Zorn von zuvor auf die Umstände von Karanas gruseligen Eckzähnen, als er seine kleinen Söhne liebevoll umarmte. Karana freute sich dermaßen, ihn zu sehen… wie konnte er ihm da böse sein? Er konnte nichts für das, was er war. Wie hatte Alona es doch gesagt? Es lag mit an ihm als Vater, dafür zu sorgen, dass der Junge auf dem richtigen Weg blieb.

Er fürchtete sich so sehr davor, in diesem Punkt zu versagen… abermals die Kontrolle zu verlieren, wie es doch gerade erst in einem anderen Punkt geschehen war.

„Jetzt bleibst du aber hier, oder?“, wollte Karana wissen, der immer noch an seinem Hals hing, während Simu ihn schon losgelassen hatte und artig daneben stand.

„Na ja, zumindest werde ich nicht weit weg müssen in der nächsten Zeit. Ich muss morgen nach Hikara und-…“

„Neiiin!“, entrüstete Karana sich und rüttelte des Vaters Arm, „Du darfst nicht, du musst bei uns bleiben!“ Puran sah ihn verblüfft an, als der Junge errötete und kleinlaut nuschelte: „Ich hab dich vermisst…“ Puran seufzte und nutzte die Chance, dass sein Sohn ihn endlich losgelassen hatte, um sich zu erheben.

„Na, wenn das so ist.“, machte er wohlwollend, „Vielleicht habe ich Glück und bin bis Nachmittags fertig, dann komme ich euch aus der Schule abholen.“

„Oh, ja, das ist toll!“, gab der Spross sich zufrieden und grinste wieder, „Dann warten wir auf dem Hof auf dich. Und was ist mit Neisa? Ist sie wieder gesund?“

„Mutti hat gesagt, sie wird morgen noch sicherheitshalber daheim bleiben.“, sagte Puran, indem er auf Leyya blickte, die gerade aus der Küche kam. „Hast du die etwa auch vermisst?“ Nicht, dass er es nicht gutheißen würde, wenn die Kinder sich mochten, aber dass Karana besonderes Interesse an Neisa zeigte, war er nicht gewohnt. Karana grinste wiederum und verdrehte die grünen Augen.

„Na ja… das nicht, aber man hat so wenig zu tun, wenn man sie nicht vor Loron beschützen muss.“
 

Der Sommer wollte sich offenbar noch nicht aus dem Land zurückziehen; am nächsten Tag herrschte wieder strahlender Sonnenschein, als Karana gemeinsam mit Simu und Tayson zur Schule nach Mitonha ging. Morgens war es noch angenehm kühl, aber der Junge spürte schon auf dem Hinweg, dass der Tag heiß werden würde, obwohl der Mond der Irrlichter beinahe vorbei war. Vom vergangenen Regen war nichts mehr zu spüren und die Luft war staubtrocken, als die Jungen die Schule erreichten.

„Himmel, nein!“, jammerte Tayson, der in seiner Tasche herumwühlte, während die drei gemeinsam mit den anderen Schülern darauf warteten, dass das Gebäude aufgeschlossen wurde. Es war schon sinnvoll, die Kinder nicht vor dem Unterricht in die Schule zu lassen, hatte Simu mal bemerkt, denn ohne Aufsicht war es einfach viel zu gefährlich. Das ganze Gebäude könnte demoliert werden… jetzt drehte er sich gemeinsam mit Karana zu dem schwarzhaarigen Jungen aus Gemi um.

„Was ist?“, fragte er verblüfft, und sein Kumpel zog einen gelb-bräunlichen Apfel aus seiner Tasche und verzog das Gesicht.

„Verdammt! Meine Mutter gibt mir immer dieses Fallobst von unserem Nachbarn mit in die Schule! Das Zeug ist doch völlig faul, sowas soll ich essen?“ Karana lachte seinen Freund aus.

„Ihr müsst eben zu uns ziehen, bei uns im Dorf gibt es erstens bessere Äpfel und zweitens auch noch anderes!“, erklärte er. Simu schnaufte.

„Dass wir immer besseres Essen für die Pause mit haben liegt nicht am Dorf, sondern daran, dass Vati Politiker ist und mehr Geld bekommt…“

„Ihr seid so ungerecht – gebt ihr mir was ab?“, jammerte Tayson und hielt mit spitzen Fingern seinen fauligen Apfel von sich weg, „Ich hasse diese ekligen Dinger, verdammt!“ Simu verdrehte über Taysons nicht wirklich vorhandene Probleme die Augen. Der Kerl kannte eigentlich nur zwei Probleme: entweder hatte er Hunger oder ihm war langweilig. Er war echt ein Primitivling, aber er war eigentlich ein netter Kerl.

Karana schnappte Taysons Apfel und holte weit aus.

„Warte, warte, wetten, dass ich das Tor zur Straße treffe?!“ Simu schnappte noch nach Luft über den Blödsinn, da war es schon zu spät und sein Bruder hatte den Apfel mit aller Kraft über die Menge der johlenden, tobenden Kinder hinweg auf das Tor geschleudert. Nur, dass er nicht das Tor traf, sondern den Kopf eines unschuldigen Jungen, der dummerweise davor stand und jetzt fluchend herumwirbelte.

„Karana! Du Idiot!“, schrie Simu noch, und Karana bemerkte seinen Fehler schon selbst, hastete herüber und packte den armen Kerl an den Oberarmen.

„Ach du lieber Himmel, entschuldige! Bist du verletzt? Tut mir leid, ich wollte dich gar nicht treffen…“ Der kleinere Junge riss sich schnaufend aus Karanas Griff los und stierte ihn auf seltsame Weise an – teils wütend, teils panisch, wobei der Schamane nicht sagen konnte, wovor er Angst haben sollte. Etwa vor ihm? Er hatte den Knirps noch nie gesehen, der es schaffte, tatsächlich noch kleiner zu sein als er selbst. Karana war nicht sonderlich groß für sein Alter, was ihn insgeheim immer etwas wurmte; Loron war größer als er, Tayson, selbst Simu, das war schon arg unbefriedigend, wenn man doch der Prinz des Lyra-Clans war.

„Fass mich nicht an, du Verrückter…“, brummte der Kleinere jetzt und trat unwillkürlich zurück, wobei er sich den Kopf rieb, den der faule Apfel getroffen hatte. Karana grinste ihn zufrieden an.

„Ja, also, tut mir leid, ist ja noch alles dran. Tschüß!“ Dann nahm er seinen (oder Taysons) Apfel wieder mit, der noch heil war, und hechtete zurück zu den beiden anderen, den komischen Typen stehen lassend.

„Mein Apfel, wieso schleppst du den denn wieder an?!“, jammerte Tayson, als er ihn erreichte, und Karana schnaufte und warf das Fallobst in hohem Bogen so weit er konnte davon, dieses Mal traf er hoffentlich niemanden.

„Das musste ja passieren, wenn du hier im Hof herum wirfst.“, tadelte Simu seinen Bruder altklug wie immer, und der Braunhaarige streckte ihm die Zunge heraus.

„Ach, war nur so’n kleiner Penner aus der ersten Klasse oder so, der war noch kleiner als ich… keine Ahnung, wer das war, hab den noch nie gesehen hier.“ Simu stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, von weitem einen Blick auf den armen Kerl zu erhaschen, aber er konnte ihn nicht mehr sehen. Was Karana dann sagte, verwirrte ihn auch viel mehr: „Aber er hatte echt gruselige Augen, ich hab fast Schiss bekommen, so, wie der mich angeglotzt hat. Irgendwie war es, als ob…“ Er sprach nicht weiter und Simu runzelte die Stirn über den plötzlich sehr ernsten Ton in Karanas Stimme, der selten anzutreffen war. Eigentlich nur, wenn die Geister ihm gerade irgendetwas Wichtiges erzählt hatten.

Er kam nicht dazu, weiter zu denken, weil in dem Moment die Lehrerin die Klasse zu sich rief, um sie ins Gebäude zu bringen.
 

Das Schulgebäude war stickig im Sommer und im Winter kalt. Es war kein wirklich angenehmer Ort, fand Karana, aber es war durchaus von Vorteil, lesen und schreiben zu können. In Kisara und Senjo bestand so etwas wie eine relative Schulpflicht; es wurde dringend empfohlen, seine Kinder in die Schule zu schicken, aber wer das für unnötig hielt, wurde auch nicht ermahnt. Manche Bauern brauchten jede Hand zum Helfen und konnten ihre Kinder nicht sechs Jahre lang den halben Tag entbehren; und für diese Kinder war es vermutlich auch vollkommen egal, ob sie lesen oder schreiben konnten, denn beim Bestellen von Feldern und Ernten brauchten sie weder das eine noch das andere. Karana wunderte sich, dass Kinder aus einem Kaff wie Holia dann zur Schule gingen, denn viel mehr als Bauern und schlechte Handwerker gab es da nicht. Aber Loron als selbsternannter Prinz von Holia musste offenbar Eindruck schinden; als Sohn eines Häuptlings war es durchaus ratsam, damit angeben zu können, dass man lesen und schreiben konnte. Und seine Schlägerdrillinge folgten Loron vermutlich nur aus Solidarität, nicht aus Interesse; jedenfalls war es Karana immer ein Rätsel gewesen, wie die überhaupt die jährlichen Abschlussprüfungen bestanden hatten, um in die nächste Klasse zu kommen. Die konnten doch kaum einen Buchstaben vom andere unterscheiden, geschweige denn zählen.

Aber eigentlich waren ihm die Idioten aus Holia egal, dachte er sich, als er sich im Klassenzimmer auf seinen Platz fallen ließ und die besagten Hohlköpfe aus Kamien breit grinsend an ihm, Simu und Tayson vorbeizogen.

„Pass auf, Karana, heute wirst du bluten!“, lachte Loron schäbig und offenbar sehr überzeugt von sich. Karana zeigte ihm den Vogel.

„Sicher, ich zittere vor Angst. Üb lieber schon mal deinen Hofknicks, wenn du mir imponieren willst.“ Loron lachte darauf nur höhnisch, indem er sich auch auf seinen Platz in der letzten Reihe setzte, in dem Moment rief die Lehrerin die Kinder zur Ruhe.

„Beruhigt euch!“, rief sie, indem sie laut auf das Pult vorne schlug, „Ruhe! – Guten Morgen, Klasse, ich habe wichtiges zu berichten. Ihr habt ab heute einen neuen Mitschüler. Ich hoffe, ihr vertragt euch gut. – Komm schon herein, stell dich zu mir, Junge!“

Als der Neue in den Raum kam, fragte Karana sich dumpf, ob das Ironie des Schicksals oder Wille der Geister war; es war ausgerechnet der Knirps, den er mit dem Apfel beworfen hatte,

„Sein Name ist Zoras Derran.“, stellte die Lehrerin den schwarzhaarigen Jungen fröhlich vor, „Er ist vor kurzem mit seinen Eltern nach Holia gezogen. – Ah, Holia? Dann kennt ihr euch sicher, Loron?“ Sie sah zu Loron, und Karana hatte das spontane Bedürfnis, den Kopf auf die Tischplatte knallen zu lassen. Holia. Ausgerechnet Holia, dieses Mistkaff!

„Toll, aus Holia, dann ist er sicher bald Lorons vierter Schlägertyp.“, orakelte Simu kleinlaut; auch alle, die nie in Holia gewesen waren, wussten, dass niemand lange eine Chance hatte, Loron zu widersprechen. Und der Kleine da war so mager, als hätte er jahrelang nichts gegessen, ein Schlag von den Drillingen könnte ihn locker durchbrechen, dachte Karana sich beklommen. Andererseits würde ein so spindeldürres, kleines Kind auch keine große Hilfe für Loron sein… es sei denn…

„Er sagt, er kann das Gewitter rufen!“, posaunte der Prinz von Holia in dem Moment in die Klasse, und augenblicklich wurde es still im Raum. Aber nur kurz, dann folgte lautes Gemurmel, und Karana drehte hastig den Kopf.

„Dein Hochmut wird bald ein Ende finden, du wirst dein blaues Wunder erleben! Ich habe jetzt nämlich die perfekte Lösung, wie ich Prinz Karana zu Fall bringen kann. Und dann wirst du im Staub kriechen und mich anflehen, aufzuhören, haha!“, erinnerte er sich an Lorons Worte, und er fragte sich, was das zu bedeuten hatte.

Er kann das Gewitter rufen?! Er kann das, was ich kann? Wer ist der Sack?

„Das will ich sehen.“, schnaufte er so in Lorons Richtung und verdeckte seine Besorgnis mit einem arroganten Grinsen. „Wer’s glaubt, Prinz Loron.“

„Du wirst dir vor Angst in die Hosen machen.“, lachte Loron diabolisch, „Wenn du das siehst…“ Karana drehte sich wieder zu dem Neuen, der Loron fassungslos anstarrte und nicht die Spur so überzeugt aussah wie der selbsternannte Prinz des Kuhkaffs. „Ich bin gespannt.“ Er spürte, dass Simu und Tayson neben ihm in unsicher anblickten, dann fing er sich eine Rüge von der Lehrerin.

„Ruhe, Karana! Äh, wie auch immer… willst du etwas über dich erzählen, Zoras? Wie alt du bist, woher du ursprünglich bist, und so…“ Sie versuchte offenbar, mit dem kleingeistigen Gerede die Spannung zu unterdrücken, die im Klassenzimmer aufgestiegen war; Karana konnte es instinktiv genau spüren.

Der Junge da vorne war Schamane; ein Schwarzmagier, genau wie er. Das an sich war nicht ungewöhnlich, hier in Thalurien gab es viele. Aber dass jemand behauptete, in dem Alter schon das Gewitter rufen zu können, war überaus selten; zumindest hatte sein Vater ihm das einmal gesagt.

Dann haben die Geister mich nicht belogen mit dem unguten, schicksalhaften Gefühl vorhin, als ich zum ersten Mal sein Gesicht gesehen habe… dieser Knirps ist nicht einfach nur irgendein Knirps, da bin ich sicher.

„Ich… bin acht.“, murmelte der Neue vorne jetzt dumpf, und Karana hörte ihn kaum, weil er sehr leise sprach, wobei seine giftgrünen, sehr schmalen Augen sich nervös auf den Fußboden richteten. „Ich, ähm… komme aus Chayneh.“ Mehr schien er nicht sagen zu wollen, und nach einer langen Pause entschloss die Lehrerin, die Vorstellung zu beenden.

„Gut, dann setz dich da drüben auf den freien Platz neben Tayson. Wir beginnen mit dem Unterricht!“ Karana blickte zu Tayson, der doof schaute, als der Zwerg sich neben ihn auf den einzigen freien Platz in der Klasse fallen ließ. Sowohl sein Banknachbar als auch Karana und Simu am Zweiertisch daneben blickten ihn kurz an. Zoras Derran verengte nur missmutig die schmalen Augen zu noch schmaleren Schlitzen, ohne dass einer der vier etwas sagte.
 

In der Mittagspause bekam Karana zum ersten Mal die Gelegenheit, mit dem Neuen zu sprechen. Und er hielt es für klug, mit ihm zu sprechen, wie er vorher seinem Bruder und seinem besten Freund erklärte, als sie vor der Klasse standen. Loron war zu Zoras gegangen, letzterer hing etwas müde auf seinem Platz und schien nicht die Bohne daran interessiert zu sein, mit Loron in die Pause zu gehen.

„Wenn er noch nicht lange in Holia ist, ist er vielleicht doch noch nicht Lorons vierter Schlägertyp. Wenn er wirklich das Gewitter rufen kann, wäre es für uns wirklich ungünstig, wenn er auf Lorons Seite ist; nicht nur für uns! Überlegt euch mal, wie die anderen Kinder der ganzen Schule tyrannisiert würden, wenn der Oberschläger plötzlich einen Schamanen als Geheimwaffe mit sich herumschleppt?“

„Ich finde das furchtbar.“, sagte Simu, „Ich komme mir vor wie ein Kriegsstratege, Karana. Können wir ihn nicht einfach als Jungen betrachten, der neu ist?“

„Willst du gerne von dem geröstet werden auf Lorons Kommando?“, schnaufte Karana, „Keiner ist dumm genug, freiwillig Lorons Diener zu spielen, wenn er das Gewitter rufen kann. Wäre doch gelacht, wenn ich Loron seine Pläne vermiese, den armen Zwerg zu seinem Soldaten abzurichten, pff… und Prinz Zinca denkt, ich hätte Angst!“ In dem Moment ging Loron aus der Klasse an ihnen vorbei, ohne ihnen Beachtung zu schenken, und der Schamane schnaubte, sah ihm nach und ging dann wieder in den Raum, um sich gefolgt von Tayson und Simu vor Zoras’ Tisch aufzubauen. „Du kannst also das Gewitter rufen?“, sprach Karana den Neuen direkt an, und der hob verpennt den Kopf vom Tisch, um die drei Jungen anzustarren.

„Das hat Loron gesagt, nicht ich.“

„Dann glaubst du also nicht, dass du es kannst?“

„Kommt auf die Situation an. Was interessiert es dich, Äpfelchen?“ Karana feixte.

„Ich heiße Karana.“, korrigierte er, „Entschuldigung, wir haben uns gar nicht vorgestellt – du bist doch nicht immer noch sauer wegen des Apfels? Das war wirklich nur ein Versehen! Das hier ist jedenfalls Tayson und der hier ist mein Bruder, Simu.“ Die Vorgestellten grinsten, Tayson mehr als Simu, der etwas bekümmert seufzte.

„Dein Bruder?“, brummte Zoras scharfsinnig, „Ihr seht euch absolut nicht ähnlich.“

„Das hören wir oft.“, sagte Karana, ehe Simu etwas sagen konnte. „Was ist jetzt mit dem Gewitter, stimmt es?“ Zoras Derran setzte sich gerade auf und pustete hörbar die Luft aus, ehe er sein Gegenüber argwöhnisch musterte.

„Nein.“, sagte er dann erstaunlich kalt, „Loron hat nicht den Hauch einer Ahnung, wovon er spricht. Was ich kann, ist sehr viel mächtiger als bloß ein Gewitter. Ich habe zumindest noch kein natürliches Gewitter diesen Ausmaßes gesehen.“ Karana pfiff durch die Zähne und grinste ihn herrisch an.

„Aah, so ist das, du bist ein kleiner Angeber, wenn du schon nicht mit Körpergröße imponieren kannst. Halt mal den Ball flach, Junge, bevor du den Mund zu voll nimmst. – Bist du sowas wie Lorons Freund?“ Simu schlug sich im Hintergrund innerlich gegen den Kopf. Mit so einem Spruch war ja garantiert, dass die beiden die besten Freunde wurden… Karana konnte echt ein Idiot sein. Manchmal fragte der Blonde sich, ob sein Bruder wirklich so verblendet war zu glauben, dass er nur dank seiner Abstammung von den Lyras alles bekam, was er wollte.

„Was geht’s dich an?“, fragte Zoras – wie Simu erwartet hatte – angesäuert zurück, und Karana verdrehte die Augen.

„Du hast ihn sicher schon kennengelernt, er hält sich für den König von Holia und bildet sich ein, aufgrund dieses Privilegs alle anderen nach Lust und Laune piesacken und schlagen zu können. Wenn du ein so tolles Gewitter rufen kannst, müsstest du da doch drüber stehen.“

„Ich weiß, was für ein Sack Loron ist, danke, du Klugscheißer.“, war die Antwort, „Verpisst euch jetzt, ich hätte gern meine Ruhe.“ Karana sah erst ihn, dann seine beiden Mitläufer an und seufzte. Gut, wurde Zeit, dem Knirps zu zeigen, wo es lang ging.

„Dann lassen wir ihn, kommt.“, sagte er gut gelaunt und freute sich plötzlich diebisch, „Offenbar kommt er alleine mit Loron klar.“ Tayson zuckte gelangweilt mit den Schultern und murmelte etwas davon, dass er Hunger hatte, während er gemeinsam mit Simu und Karana zur Klassentür ging. Sobald die beiden ersteren draußen waren und schon vorgingen, blieb Karana in der Tür stehen und drehte sich noch einmal zu Zoras Derran um.

„Was ist noch?“, fragte der nur grimmig, und Karana grinste ihn euphorisch an.

„Ich bin auch Schwarzmagier, wie du! Und ich kann auch das Gewitter rufen, wie du! Mein Vater ist Geisterjäger, und mein Großvater und quasi alle männlichen Vorfahren waren es ebenfalls… wenn ich groß bin, werde ich auch mal Herr der Geister sein! Wenn es soweit ist, werde ich jedenfalls sicher dafür sorgen, dass solche Maden wie Loron ihre Strafe bekommen… du solltest dir also überlegen, auf welcher Seite du stehen willst bis dahin, wenn du im Gegensatz zu deinem Kumpel Loron keine Lust hast, zu kriechen.“

Der Blick, den ihm Zoras Derran darauf schenkte, war die Übertreibung durchaus wert, fand der Junge, und er kicherte amüsiert über die entgleisten Gesichtszüge des Kleineren, ehe er sich abwandte und die Klasse verließ. Dass jemand auftauchte, der dasselbe konnte wie er selbst, gefährdete immerhin seine Stellung; Karana würde sicher nicht zulassen, dass ein dahergelaufener Penner aus Holia, der nicht mal einen großen Namen hatte, seine Ehre und die seines Vaters untergrub. Schließlich musste Karana seinen Clan als Erbe würdevoll vertreten, und dazu gehörte auch den übrigen zu zeigen, wem sie Respekt zu zollen hatten.
 

Der Respekt, den er von Zoras Derran bekommen sollte, war nicht ganz das, was der Sohn des Herrn der Geister gewollt hatte. Als die Schule aus war, hockte er gemeinsam mit Simu und Tayson auf dem Hof und wartete darauf, dass sein Vater sie wie versprochen abholen kam. Allerdings ließ Puran auf sich warten; vermutlich machten die Politiker nicht ganz das, was er wollte, was alles verzögerte. Die meisten Kinder waren bereits abgeholt worden oder waren alleine heim gegangen, nur einige warteten genau wie die drei noch auf ihre Eltern, die meisten davon waren Erstklässler.

„So richtig geschickt hast du das jedenfalls nicht angepackt.“, tadelte Simu seinen Bruder gerade dumpf, während er in den grünen Himmel sah. „Wenn du den Neuen zu deinem Freund machen willst, kannst du ihn doch nicht arrogant angrinsen!“

„Wer sagt, dass ich ihn zum Freund will?“, fragte Karana lachend, „Mich würde brennend interessieren, ob er wirklich das Wetter beherrscht – glaubst du es, Simu?“ Der Blonde zog seufzend die Schultern hoch.

„Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Puran gesagt hat, die Gabe wäre vor allem in unserem Alter extrem selten…“

„Ja, aber irgendwie macht er auch nicht den Eindruck, als würde er sowas nur zum Angeben erzählen.“, grübelte sein Bruder weiter, „Was hat er eigentlich für ein Problem?“ Simu wollte gerade antworten, doch der Besagte selbst kam ihm zuvor.

„Als ob du das nicht genau wissen könntest, Karana!“ Die drei fuhren herum, als Zoras Derran plötzlich hinter ihnen aufgetaucht war, die Fäuste so fest geballt vor Zorn, dass die Knöchel hervortraten. Karana erhob sich und trat einen Schritt vor.

„Ah, du bist noch da! Was ist, hast du irgendetwas zu sagen?“

„Zeig es mir!“, befahl der Kleinere wutentbrannt und Karana blinzelte.

„Was?“

„Das Wetter! Das du angeblich so beherrschst wie ich! Zeig es mir, ich will es sehen!“ Der Braunhaarige keuchte.

„Hier?! Bist du verrückt, das geht nicht, das ist gefährlich! Ich-…“

„Du traust dich wohl nicht, was?“, zischte Zoras, „Oder du hast mich angelogen und kannst es in Wahrheit gar nicht. Wie war das, ich soll vor dir kriechen? Ich habe eine Weile darüber nachgedacht und frage mich, ob du dich ernsthaft für besser als Loron Zinca hältst, wenn du so großkotzig daher redest und dann dein Maul nicht aufbekommst, wenn es drauf ankommt! Los, beweis es mir, wenn du kein Schisser bist!“ Karana spürte rein instinktiv, wie hinter ihm Simu und Tayson einander erschrocken ansahen und sich erhoben, und der Schamane zischte.

„Sitzt du auf deinen Ohren, Kleiner? Ich sagte, es ist gefährlich, ich darf das nicht einfach!“ Doch der Zwerg ließ sich nicht erweichen und reckte mit einem Stolz und einem Trotz in der Miene das Gesicht, dass es dem größeren ernsthaft einen Schauer über den Rücken jagte. In dem Moment war es, dass er ernsthaft begriff, dass er es hier nicht mit einem Möchtegernmagier zu tun hatte, wie es sie in der Gegend oft gab.

Dieser Junge hatte gewaltige Gaben, genau wie er. Und er wusste sie genau zu benutzen. Aus ihm würde ein todbringender, gefährlicher Mann werden, wenn Karana nicht selbst dafür sorgte, ihn im Zaum zu halten.

Grantig riss er die Arme empor und erwiderte den zornigen Blick des Jungen vor sich mit derselben Energie.

„In Ordnung, du bekommst Regen, das muss dir fürs Erste reichen! Wage nicht wieder, an dem zu zweifeln, was die Geister mir vermacht haben… du weißt offenbar nicht, vor wem du stehst, Zoras Derran!“

„Karana!“, schrie Simu erschrocken, als der Himmel sich auf einen bloßen Wink des Jungen bezog und dunkel wurde. Es grollte unschön. „D-du weißt doch, was Vati gesagt-…!“

„Schnauze!“, bellte sein Bruder ihn an, „Das ist nicht dein Revier, Simu, du hast keine Ahnung von Magie, also halt dich da raus! Ich werde diesem Angeber zeigen, was Wetter ist!“ Simu wusste nicht, was er weniger fassen konnte; dass Karana in so einem Ton mit ihm sprach und es augenscheinlich ernst meinte (ganz zu schweigen von der üblen Wortwahl), oder dass er jetzt wirklich den Kopf in den Nacken warf und offenbar versuchte, dabei wie ein richtiger Geisterjäger auszusehen, während er mit lauter Stimme nach den Regengeistern rief. Aus den sich unnatürlich schnell zusammenbrauenden Wolken grollte es erneut, und im nächsten Moment ergoss sich ein Platzregen über dem Schulhof, wo zuvor noch strahlender Sonnenschein geherrscht hatte. Der Hof war binnen weniger Momente klitschnass, ebenso diejenigen, die nicht Schutz unter dem Vordach der Schule gefunden hatten, wie die beiden Schamanen und Simu oder Tayson, die noch immer mitten im Hof standen.

„Tss.“, machte Zoras Derran und schüttelte sich, dabei gelangweilt in den Himmel sehend, „Das… langweilt mich, Karana. Eben hast du noch so große Töne gespuckt! Ich zeige dir mal, was wirkliche Wettergeister sind!“ Karana riss die Augen auf, die Hände sinken lassend, als der andere jetzt seinerseits die Hände in den Himmel empor riss und mit einer Stimme voller Zorn und purer Macht zu den Geistern hinauf brüllte:

„Vater Himmel, schicke mir deinen Blitzspeer! Gib mir deinen Zorn, auf dass die Toren ihre gerechte Strafe bekommen!“

„Was, Strafe?!“, heulte Tayson panisch, „D-das meint der doch nicht ernst – Karana hat den Apfel geworfen, ja, nicht ich!“

„Seid ihr irre?!“, schrie Karana und sah nur kurz zu Tayson, denn das folgende, ohrenbetäubende Krachen zerriss das Rauschen des Regens und ließ ihn wieder herumfahren. Der Himmel war jetzt pechschwarz und mit dem grauenhaften, bebenden Donner war ein gigantisch großer Blitz zwischen Zoras’ ausgestreckte Hände geschlagen. Karana erinnerte sich spontan an den Angriff der Zuyyaner auf Lorana – gegen dieses Monstrum hier war sein Blitz damals ein Baby gewesen… „Um Himmels Willen, willst du uns alle ermorden, Zoras?! Hör damit auf, sofort!“, schrie der Junge alarmiert, als die bloße Präsenz des Blitzes und die damit verbundene Elektrizität alle Härchen in seinem Nacken sich sträuben ließ. Er fuhr keuchend herum und suchte nach irgendetwas, das er tun konnte, um das zu unterbinden – über so einen gewaltigen Blitz konnte Zoras unmöglich die volle Kontrolle haben!

„Ich zeige es dir, das habe ich ja gesagt, Karana!“, schrie Zoras vor ihm, der tatsächlich beträchtlich taumelte unter der gewaltigen Macht des Geisterblitzes, den er gerufen hatte – es musste ihm Körper und Geist zerreißen, wenn er das noch viel länger machte… „Ich… werde… sicherlich nicht kriechen, ist das… klar?!“ Karana erbleichte – für die Drohung hatte er keine Zeit.

„Simu, Tayson, haut hier ab, sofort!“, schrie er hysterisch, als ihm klar wurde, dass dieser Irre vorhatte, den Blitz tatsächlich auf sie alle loszulassen. „Haut ab!“ Wiederholte er lauter und wirbelte wieder herum, die Hände herum reißend, um irgendwie dieses Chaos zu bändigen, das sich gleich unweigerlich über sie ergießen würde – er hatte keine Ahnung, wie er das machen sollte. Ihn trieb nur die nackte Panik, die Todesangst, dass Zoras’ Gewitter ihn gleich zerschmettern würde wie eine nutzlose Fliege.

Ich bin verdammt noch mal der Sohn des Herrn der Geister! Ihr müsst mir gehorchen, Himmelsgeister, und diesen Wahnsinn auf meinen Befehl beenden!

In dem Moment, in dem Zoras vor ihm schrie und seinen Blitz auf ihn schleudern wollte, in dem Moment, in dem Karana die Arme weit ausbreitete und gerade zu den Geister empor brüllen wollte, sie sollten ihm gehorchen, krachte es plötzlich erneut. Karana spürte die Macht des Himmels und der Erde um sich herum erzittern in dem Augenblick, in dem mit einem weiteren, plötzlichen Blitzen und einem lauten Grollen von oben Zoras’ Gewitter im Nichts verschwand. Dann verlor der Junge den Halt, einen Augenblick später spürte er, wie er mit einem schmerzhaft festen Griff am Nacken gepackt und zurückgezerrt wurde.

Plötzlich war der Himmel wieder hell und die Wolken verschwunden; Karana sah, dass Zoras Derran ebenfalls gepackt worden war, hinter ihm stand plötzlich eine schwarzhaarige Frau, die ihn fest umklammerte. Dann hörte er Simu hinter sich verzweifelt japsen, dann erst nahm er wahr, dass er immer noch festgehalten wurde.

„Was im Namen von allen Mächten der Schöpfung ist hier los?!“, bellte sein Vater ihn da auch schon an, und Karana keuchte, als der Senator ihn unsanft losließ und ihn herum zerrte, um ihn wutentbrannt anzustarren.

„V-Vati-…“

„Was habe ich dir gesagt?! Du sollst nicht mit deinen Gaben spielen! Sitzt du eigentlich auf deinen Ohren oder rede ich Fannisch?! Bist du eigentlich des Wahnsinns, Karana?! Ihr hättet die ganze Stadt sprengen können!“ Karana erbleichte unter dem harschen Tadel; obwohl der Blitz von Zoras gekommen war, wusste er genau, dass er die Rüge verdient hatte, und es tat ihm weh, wenn sein Vater ihn so zornig anstarrte. Zu seinem Glück wendete der Mann seinen bohrenden Blick jetzt auf Zoras, als er Karana wieder packte und festhielt. „Und mit wem haben wir die Ehre?!“, blaffte er dann den Kleineren mit nicht weniger Geringschätzung und Argwohn an. „Hast du den Verstand verloren, einen derartigen Blitz hier aus dem Nichts zu rufen?! Hallo, ich rede mit dir, du Ganove!“ Zoras starrte ihn nur fassungslos an, und die Frau, die ihn festhielt, schob das Kind zur Seite und verbeugte sich tief.

„E-es tut mir leid, Herr!“, sprach sie, „Es wird nicht wieder vorkommen, ich verspreche es! Es… es war ein Versehen…“ Einen Moment herrschte Stille. Karana wartete darauf, dass sein Vater weiter meckerte; wenn er mit anderen schimpfte, mochte Karana das gern, das war lustig… aber nichts geschah, und als er seinen Vater doof ansah, weitete der gerade ungläubig die Augen, dabei die Frau anstarrend.

„Das… ist nicht möglich!“, keuchte er dabei, „Pakuna?!“
 

Puran fasste gar nicht, was er sah, als die Frau rasch den Kopf wieder hob und ihn aus riesigen, braunen Augen anstarrte, die schwarzen Haare hingen ihr noch etwas verwegen ins Gesicht. Unverkennbar. Das war Pakuna Kipu, die er als kleines Mädchen aus Dokahsan kannte! Das musste sie sein, ihr Gesicht war haargenau dasselbe, nur etwas größer. Er fragte sich, ob er sich wirklich nicht irrte, da sprach die Frau wieder und bestätigte seinen ersten Instinkt.

„Aber… Puran Lyra?!“

Nein, das – das gibt es doch nicht, du bist es wirklich!“, keuchte der Senator und vergaß seinen Zorn – das unerwartete Wiedersehen der alten Bekannten zauberte ihm ein Grinsen ins Gesicht. „Du… bist hier in Thalurien?! Das… ist doch wohl wirklich ein gnadenloser Zufall. Wer hätte gedacht, dass ich dich jemals wiedersehe…“

„Du bist es auch wirklich!“, japste die Frau, offenbar freute sie sich ebenso wie er, und sie sah aus, als wollte sie weinen vor Freude. Na, so nahe hatten sie sich aber nun auch nicht gestanden…? „Ich – ich glaube es nicht! Himmel, ich hätte dich doch erkennen müssen… deine Stimme hat sich verändert, aber man trifft hier selten Menschen mit dem Norddialekt, den wir beide sprechen…“ Sie strahlte und Puran ignorierte Karana, der ihn fassungslos anstarrte.

„Vati, Moment, du kennst die?!“ Der Mann räusperte sich kurz und sah dann auf Zoras.

„Wie ich sehe, hast du… einen Sohn im selben Alter von meinem eigenen…“

„Ja, offenbar…“ Pakuna strich dem kleinen Jungen über den ungewöhnlich hübschen Kopf. Puran blinzelte einen Moment, als ihm auffiel, an wen der Knirps ihn erinnerte.

„Moment – das heißt, du und Ram Derran seid jetzt tatsächlich zusammen?“

„Was heißt jetzt, das sind wir schon eine Weile.“, kicherte die Frau, „Ja, Ram ist sein Vater, das hast du gut erkannt.“

„Hallo, wieso kennt ihr euch?!“, empörte Karana sich verwirrt, und er sah Simu an, der auch bloß doof mit den Achseln zuckte. Puran ließ sich jetzt dazu herab, seinem Sohn zu antworten.

„Wir, ähm, sind alte Bekannte… mit Pakunas Mann bin ich mal zur Schule gegangen.“ Karana, Simu und Tayson tauschten kurz einen verblüfften Blick, dann räusperte der Senator sich und sah Pakuna kurz an. Sie war bildhübsch geworden; an sich sollte es ihn nicht wundern, dass ihr Sohn ein so ansehnliches Kind war. Wobei der Kleine eindeutig die schmalen Augen von Ram Derran hatte…

Ram, Himmel. Wie lange ist es her, dass ich den gesehen habe?

Obwohl er ihn nie gemocht hatte, freute Puran der Gedanke, dass sein ewiger Feind noch am Leben war nach den Jahren des Krieges.

„Ich würde wirklich gerne weiter mit dir plaudern, Pakuna… aber ich fürchte, ich muss meine Kinder jetzt mitnehmen, meine Frau wird sich sorgen, wo wir so lange bleiben.“ Die schwarzhaarige Frau lächelte ihn mit aller Freude an, die ein Mensch nur besitzen konnte, so kam es ihm vor, während sie ihren kleinen Sohn an den Schultern fasste. Der Kleine sah nur grimmig auf Karana und die anderen Jungen, sagte aber kein Wort.

„Ich freue mich, zu sehen, dass du wohlauf bist, Puran.“, sagte seine Mutter dann und neigte leicht den Kopf, „Vielleicht sehen wir uns ja. Auf Wiedersehen…“

„Mach es gut, Pakuna, und, ähm – nein, grüß Ram besser nicht von mir, ich will ihm ja nicht den Tag vermiesen.“ Sie lachten beide, ehe sie sich verabschiedeten und dann beide in verschiedene Richtungen den Schulhof und das Dorf verließen; Pakuna wandte sich mit ihrem Sohn nach Westen, während Puran die drei anderen Jungen nach Nordosten begleitete.

„Du kennst die?“, wiederholte Karana brummend, als sie die Straße hinauf in Richtung Lorana gingen. Tayson musste noch ein Dorf weiter, nach Gemi, wo er alleine mit seiner Mutter lebte.

„Nicht gut, nur flüchtig.“, warf Puran ein, „Ähm, Ram Derran und ich sind nie wirklich gut miteinander ausgekommen.“ Karana seufzte.

„Na, dann wissen wir ja, von wem Zoras seine Ignoranz hat. Du hättest den sehen sollen, das mit dem Blitz war der Hammer-…“ Puran fiel ihm ins Wort und hätte sich vor Schreck fast an seinem eigenen Speichel verschluckt.

„Moment, was?! Wie heißt der?!“

„Na, Zoras.“, sagte Karana, sichtlich aus der Bahn geworfen, und sein Vater starrte ihn an.

Zoras? Bist du sicher?“

„Zumindest wurde er uns als Zoras Derran vorgestellt.“, sagte Simu, „Aber jetzt wo du es sagst, könnte er auch ein Spion aus Janami sein und eigentlich anders heißen…“ Puran war zu verblüfft von der Erkenntnis, um sich über Simus für sein Alter sehr ausgereiften Sinn für Sarkasmus zu wundern.

Zoras? Der kleine Sohn von Pakuna hieß ausgerechnet Zoras? Sofort versuchte Puran sich an das Gesicht des Jungen zu erinnern und festzustellen, ob er seinem Namensvetter Zoras Chimalis ähnlich sah – er hatte schwarze Haare und grüne Augen… aber das war doch unmöglich. Der Junge war der Sohn von Ram Derran. Vielleicht war es nur Zufall, dass der Junge ausgerechnet Zoras hieß…

Aber gerade Zoras? Soweit ich weiß, ist Zoras ein durchaus großer Name unter den Chimalis… ausgerechnet dieser Name, der über viele Jahrhunderte immer mal weitergegeben wurde, soll zufällig bei den Derrans auftauchen?

Vielleicht sollte er mit Meoran darüber sprechen… es gab noch ein anderes Indiz, das ihn wirklich verblüffte, jetzt, wo er den Namen des Kindes kannte. Die Macht, die er heraufbeschworen hatte mit dem Gewitter, war unmöglich dem Blut seines magieunbegabten Vaters entsprungen. Wenn der Name doch kein Zufall war, sondern mehr der Wille der Geister?

Aber wieso dann ausgerechnet das Kind von Ram Derran?

Puran verschwieg den verwirrten Kindern seine Gedanken. Es war nicht wichtig, dass sie wussten, was ihn verblüffte… dass er auch nur in Betracht zog, dass Karanas neuer Schulkamerad – mit dem er scheinbar nicht besonders zurecht kam – mehr als nur ein zufälliger Namensvetter eines der größten Geisterjäger des zehnten Jahrhunderts sein könnte.
 


 

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September 991, lange keine Jahreszahl mehr gesagt xDDD Zorchen! xDD



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Decken-Diebin
2010-07-29T22:22:14+00:00 30.07.2010 00:22
Zorchen! *___* Er ist schon knuffig. Und tjaah, Puran weiß halt nicht, dass Pakuna Zoras' Enkelin ist, aber seine Eltern hatten es gewusst... hm, du fädelst das irgendwie alles sehr gerissen ein. Und Puran ist verwirrt, das mag ich xD
Die Puran und Leyya-Szene war geil xD' Puran tobt sich richtig schön aus. Leyya meint, dass Neisa da ist. Puran hat einen Schock. XDD Aber irgendwie ja verständlich, die Kleine ist ja noch jung.
Simu ist sooo süß! Ein Herz für meinen Simu-Fanclub. Karana und Tayson tun dem armen Baum weh und Simu entschuldigt sich bei Mutter Erde. *___* Er ist so putzig.
Hm. Sora, ach ja. Ich hoffe, ihr geht's wirklich gut und so... ich meine, leben wird sie noch. Aber wie ihr Leben war... aber interessant, dass Fann jetzt auch mal eine kleine Rolle spielt und so. :D
Meoran tut mir auch leid ;^; Er wird wirklich nicht mehr lange haben... Saidah tut mir jetzt schon leid. Ich meine, warum... aber er ist ool, er kann sadistisch sein... ich mag das xD
Nächstes Kapitel morgen lesen... *___*
Von:  -Izumi-
2010-07-16T15:13:19+00:00 16.07.2010 17:13
Awww! Awwwwww! >////<
Ich fange meine Kommis gern damit an XD
Na ja, also erstmal... HERZ? XD Saidah steht auf Puran, das fand ich ja so DERMAßEN süß XDD
Kinobaby, Herz <3 Ich meine, mal ernsthaft... dass die Lyra-Herren recht angetan sind von den Chimalis-Damen, ist bekannt, den Spieß einmal umzudrehen, finde ich doch sehr nett XD (Wobei es bei Salihah und Zoras auch umgekehrt war, aber irgendwie ist das bei denen anders oô)
So, und dann Meoran, um den sich alle sorgen, weil... aww ._. Bald ist es für ihn soweit ._. Aber zuerst mal hat er heute gepost, wenn auch nur mit Worten, aber er war so dermaßen cool XD Ich mag diese Seite an ihm <3
Und die arme Sora muss nach Ostfann, das ist echt hart XDD Mit fremden Hinterwäldlern, na geil XDD Was hat der studiert? Meereskunde? XDDD
Und dann wieder ab nach Hause für Puran ^^ Dieses Kappi gab es gar keine Neisa oô
Ich denke an dieser Stelle geht das Herz des Tages an sie, weil sie krank war <3
Bevor ich dann über Stiefsöhnchens Auftauchen jubele, erstmal: Yai, Tayson ist auch da ^o^
Irgendwie arg fies von seiner Mutter, ihm immer halb-faules Fallobst mitzugeben, ich meine... wie nicht nett XDD
Und dann kam Zorchen endlich *___* Hach, er ist so... so... so... klein! XDDDD *herzt ihn bedauernd an* Wie seltsam, dabei sind seine Eltern doch gar nicht so klein (und er trinkt viel Milch) óo *pattet ihn* Aber egal. Er hat schon leichte Aggressions-Probleme, süß <3 Was für ein Glück, dass Puran zufällig in dem Moment ankam, ansonsten hätte man sich die ganze Story von Fm schenken können XD
Und Pakunachen, aww ._. Sie ist SO lieb... und hat sich so über Puran gefreut, aam kam leider nicht vor... du schuldest mir also eine Szene mit ihm!


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