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Allvaters Wege

von  Studl

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Allvaters Wege

von Werner Stadlmayr


-Präludium-
Wechselgesang der Wahrheit


„Viel erfuhr ich, viel versucht’ ich“,
so sprach Vater Gangradr einst.
Sprich du nun, Schreiber, denn es fragt sich
der Leser, was du hiermit meinst.

Dreifach sind des Vaters Opfer,
das Auge bei Mimir,
der Leib bei Yggdrasil,
das Leben bei Ragnarök.

-

Wie es sich damit verhält,
das mag ein jeder selber lesen,
wie, Schreiber, ist es hier bestellt,
was ist nun dieser Worte Wesen?

Dreifach ist des Daseins Zeit,
anfangs die Jugend,
später die Mannheit,
am Ende das Alter.

Was treibst du für ein übles Spiel,
warum lässt du uns Rätsel raten,
führ’ doch in Schnelle uns ans Ziel,
und zeig’ den Sinn von allen Taten.

Dreifach ist des Daseins Ziel,
die Jugend sucht Leben,
die Mannheit sucht Mitte,
das Alter sucht Tod.

Wie dröhnt mir schon mein armes Haupt,
wohin soll dein Gerede führen?
Die Frage ist mir wohl erlaubt,
was hat es auf sich mit den Tieren?

Dreifach sind des Vaters Tiere,
es schweben die Raben,
es streunen die Wölfe,
es donnert sein Ross.

Ich kann die Viecher wohl benennen,
die Antwort macht nicht satt,
gib mir lieber zu erkennen,
was es damit hat.

Dreifach ist der Tiere Art,
geistig die Raben,
gierig die Wölfe,
tödlich das Pferd.

Du sprichst mir stets von Dreifachheit,
davon will ich nichts hören.
Sag mir’s in aller Einfachheit,
ich will nicht weiter stören.

Dreifach ist die Erkenntnis,
Urd webt Gestern,
Werdandi webt Heute,
Skuld webt Morgen.
Einfacher ist keine Wahrheit zu gewinnen.

-

Wenn einem Wahrheit selbst gesteht,
dann sollte man nach ihr sich richten,
doch weil man sie sonst schwer versteht,
erklingt sie besser in Geschichten.






-Erstes Opfer-
Am Brunnen

Das sanfte Geplätscher des rieselnden Wassers gab der Szenerie eine eigentümliche Art von Perfektion. Der helle Hain war an und für sich schon eine rechte Augenweide, der abendliche Sonnenstand brachte zudem seine leuchtend grüne Färbung in ihrer vollen Blüte zum Vorschein und das leichte Säuseln des Windes sorgte dafür, dass die malerischen Schatten auf den kühlen Matten des Waldes sich in seliger Synchronität umschmeichelten. Aber es war doch nur eine Augen-Weide, besser gesagt, wäre nur eine solche gewesen, wenn sich nicht eben jener beständig glucksende Laut dazu gesellt hätte. So wurde es zu mehr, das ganz Bild
–wobei Bild eine ihm nicht gerecht werdende Bezeichnung ist, weil es ja gerade über ein bloßes Bild hinausging!- avancierte zur audiovisuellen Synthese im schaurig-schönen Doppelsinn. Einerseits nämlich stand das Geräusch des Wassers, mit seiner übervollen Botschaft des ewig dahinfließenden Lebens geradezu im schärfsten Widerspruch zu der untergehenden Himmelswächterin, die ihre ersterbenden Strahlen noch einmal zu einem fulminanten Requiem für den dahinscheidenden Tag verzweifelt verstärkte, andererseits war der steinerne Brunnen, Quelle schon wieder in zwiefacher Hinsicht, des Wassers und des Tones, so man beide überhaupt trennen kann, ein von Menschenhand geschaffenes Werk, welches hier eigentlich fremd und widernatürlich wirken sollte, aber durch die grünen Ranken, welche das massive Becken schon seit langer Zeit umarmten, fast vollends assimiliert worden war und als Botschafter für die Vereinbarkeit von Mensch und Natur auftrat. Die beiden Gegensatzpaare Leben-Tod und Mensch-Natur waren wohl selten in so einfacher Eindrücklichkeit dargestellt worden, wie hier.

Er wusste und sah und hörte es.
Er ruhte am Rand des Brunnens, der eigentlich um diese Jahres- und Tageszeit schon viel zu kalt war, um darauf zu sitzen, aber sein ästhetisches Gefühl verlangte es von ihm, er musste dort weilen, in dieser gedankenschweren Pose, fast so, als ob er jemanden erwartete, der des Weges käme und er alles daran setzte, diesen jemand davon zu überzeugen, dass er –und nur er!- die Würde und Größe hätte, hier, an diesem heiligen Ort zu sein und zu sinnen. Er hatte eigentlich keinen wirklichen Grund zur Sorge, dass jemand in sein Sanktuarium eindringen könnte, um diese späte Stunde war der Park gemeinhin schon leer, und selbst zu Stoßzeiten hielten sich die Senioren oder Mütter mit ihren Kindern lieber in der Nähe von entenbestückten kleinen Seen auf, als hier. Dies war sein Platz und er machte es durch seine Pose deutlich. Er war stämmig von Wuchs und seine eindrucksvolle Größe kam ihm gnädig zu Gute, denn wäre er einen Kopf kleiner gewesen, hätte er als fett gelten müssen. Seine blau-grünen Augen starrten durch die verschmierten Gläser seiner Brille in die Ferne und verloren sich im endlosen Abendhimmel, die zusammengebundenen, lockigen Haare fielen links von seinem Haupt vorn über die Schulter herab, sein Kinn, etwas unsymmetrisch, lag auf seinem Handballen. Sein schwarzes Hemd trug einen leichten Hauch von Eitelkeit, denn es würde zwar zu einem anderen Anlass als Zeichen stillen und guten Geschmacks erkannt werden, hier aber, um alleine zu sinnen –und nur dazu war er hergekommen- wirkte es überzogen. Die dunkle Hose, welche etwas zu weit war, und die matt glänzenden Halbschuhe rundeten den Eindruck von unaufdringlich-sublimer Eleganz weiter ab. Sein geschmackvoll komponiertes Kleiderensemble war eigentlich zu fein für seinen grobschlächtigen Körper und hätte er es zu bewerkstelligen vermocht, er hätte sich dünne, schlaksige Arme und Beine verschafft und feingliedrige Finger, die seinem Wesen so viel mehr entsprochen hätten, als sein überaus maskuliner Bau.

In dieser Manier saß er also an dem Brunnen und sann. Aber was beschäftigte seinen Geist so, dass er, eigentlich ein Kind der Stadt, der Zivilisation, des Gestankes und geschäftigen Stresses, sich hierher herauswagte, in eine Welt, die zwar nur wenige Minuten, aber doch unendlich weit von seiner eigenen entfernt war? ‚Seiner’ Welt? Hätte er diese Formulierung vernommen, er wäre wohl in psychotisches Gelächter ausgebrochen. Gerade darum war er ja hier. So oft er versucht hatte, sich in den warmen Schoß der Existenz zurückzuschleppen, so oft hatte sie ihn auch wieder ausgespieen. Sein Verstand war scharf, nicht ohne Vorurteil oder Selbstüberschätzung, aber trotzdem scharf. Er hatte längst erkannt, dass er ein Fremdkörper war, den die Menschheit abstieß, sich ihn wie ein Krebsgeschwür aus der Haut schnitt und jeden Versuch, wieder in ihre Mitte zu gelangen, schon im Keim ersticken wollte.

Er war schon immer tiefer und geistiger als seine Mitmenschen gewesen, auch wenn sich jene gegenseitig darin übertrafen, diese Tatsache zu übersehen. Wenn andere Jugendliche sich in unbeschwerten wie sinnlosen Tätigkeiten ergingen, dann versank er in sich selbst. Er las und lernte dadurch, was es bedeutet, Sprache zu führen, wie viel mehr mit ihr anzustellen war, als bloße Verständigung. Das Wort wurde für ihn zu etwas Göttlichem, es schien gleichsam Kunst und Werkzeug, zur zweckfreien Ergötzung daran ebenso geeignet wie zum Erlangen von Zielen. Er führte es bald meisterhaft und erkannte dann schmerzlich, dass es sich mit der Sprache leider nicht so einfach verhielt. Es ähnelte einem sportlichen Wettkampf, bei welchem ein Teilnehmer haushoch überlegen ist und keiner mehr gegen ihn antreten will. So wagten wenige den verbalen Widerstreit mit ihm, niemand wollte ihn auf seinen Wort-Reisen begleiten. Frustriert begann er zu Schreiben, suchte das Gespräch mit sich selbst. Eigentlich war es viel mehr, als ein ‚Gespräch mit sich selbst’, das erkannte er später, denn in Wirklichkeit hoffte er durch die Unvergänglichkeit seiner Rede vielleicht zu anderer Zeit oder anderen Orts jemanden zu finden, der sie zu deuten und schätzen wusste. So schrieb er keinen Vers –denn meistens waren es Gedichte, die er schuf-, ohne dabei nicht zumindest den unbewussten Wunsch zu hegen, seine Zeilen mögen eingehen in das Gedächtnis der Welt und so sein innerstes Wesen, welches er stets in sie legte, auf ewig hin konservieren.

Dieser Wunsch nach Unvergänglichkeit, gemischt mit seiner Unmöglichkeit zur wahren Unbeschwertheit machte ihm schwer zu schaffen. Er hatte seine banalen Momente, nie würde er das bestreiten, einem Außenstehenden würde er wohl gar in manchen Situationen als infantiler Einfaltspinsel erscheinen, doch im Grunde seines Herzens war immer Trauer und Angst. Seine Ur-Angst, nicht mehr zu sein, seine Panik vor der Nicht-Existenz, davor, dass seine Mitmenschen ihn einfach vergessen würden, vergessen, weil sie ihn nicht brauchten und er nichts von Wert und Bedeutung hinterlassen hatte, nahm sich für einen knapp über zwanzig Jahre alten –oder besser: jungen- Menschen äußerst seltsam aus und doch – sie war sein steter Begleiter. Er konnte sich zwar selber für intelligent halten, ein Wesenszug, der sich übrigens manchmal in wahrlich unangebracht-aufdringlicher Weise manifestierte, aber er konnte nicht glauben, dass er gebraucht würde. So wurde er immer wieder in die Lage gedrängt, seinen Mitmenschen –zumindest denen, deren Präsenz er schätzte- seinen Wert zu beweisen, ihnen seine Notwendigkeit zwingend vor Augen zu führen, um sie davon abzuhalten, sich einfach von ihm abzuwenden, von ihm, der zwar klug war, aber keinen Nutzen hatte in der Welt.

An dieser Stelle durchbrach er sein Nachdenken. Zwei Raben hatten sich in den Kreis seiner Aufmerksamkeit gedrängt. Mit ihrem lauten Gekrächze und ihren akrobatischen Einlagen zogen sie ihn fast magisch in ihren Bann. Es könnte wohl ein Pärchen gewesen sein, und er erinnerte sich, gelesen zu haben, dass manche Rabenarten ein Leben lang gemeinsam verbrachten und sich außerdem die Wissenschafter praktisch einig waren, dass der Rabe zu den klügsten Vögeln überhaupt gehört. Plötzlich schien sich alles in ein ironisches Bild zu formen: Der Rabe, welcher ja eigentlich der Natur nach ein Zeichen für Beständigkeit und Partnerschaft sein müsste, verkündet antithetisch das Einsamkeit verheißende ‚Nimmermehr’, die beiden schimmernden Gespielen balzten vor seinen Augen, als ob sie in eifersuchterregender Fasson zeigen möchten, dass es sehr wohl Arten gibt, in denen die Klügsten die Mächtigsten sind und werden dafür von den Menschen, die das Kluge als das „Andere“ fürchten, zum Bösen stigmatisiert, so wie der Rabe ja als Botschafter des Schlechten weitläufig bekannt ist, als Todes-Vogel, welcher das Schlachtfeld überfliegt, um sich über die Kadaver gefallener Helden herzumachen, als verfluchtes Wesen, welches als Strafe für seine Sünden seine schwarze Farbe erhielt und trotzdem - war es nicht auch ein Rabe, den Noah aussandte? Bezüglich dieser Sache war er sich aber nicht mehr ganz sicher. Eigentlich hätte es mehr Sinn gemacht, eine Taube oder einen anderen reinen, langweiligen Vogel die biblische Botschaft der Hoffnung überbringen zu lassen. Er nahm sich den Vorsatz, die Sache später nachzuschlagen.

Für den Moment aber kamen seine Gedanken und Erinnerungen zurück, die er beim Beobachten der beiden metallisch glänzenden Gesellen kurz aus den Augen –oder besser: aus dem Sinn- verloren hatte. Und sie fühlten sich anders an, neu, so, als ob der Schuss Ironie, den ihm die beiden Krächzer gespendet hatten, ein neues Licht auf die ganze Sache warf. Das warme Gefühl tiefer Selbstzufriedenheit stieg in ihm hoch, gerade so, als ob er ein Held wäre, der den ihm bestimmten Pfad in voller Duldsamkeit und Leidensfreude auswanderte und die beiden Raben nur Kunden einer höheren Gottheit, welche prüfen ließ, ob er noch am rechten, von ihr bestimmten Pfad, war. Und er war es. Es war seine Rolle, die er in vollendeter Perfektion erfüllte, und so seltsam es klingt:
Er war dazu geschaffen, er zu sein, wie es kein anderer gekonnt hätte.

Er würde noch lange so sitzen, ständig hin- und hergeschwemmt zwischen Hass und Liebe, Verzweiflung und Bestätigung für sich selbst, er würde Gedanken umwälzen und von allen Seiten betrachten versuchen, ihnen noch nicht gekannte Seiten abzugewinnen, er würde seine Erinnerungen durchforsten, durchkämmen gleichermaßen nach Bestätigung und Widerlegung und doch würde er nie zu einer Auflösung des ganzen Problems seiner selbst kommen. Und obwohl es unter diesem Gesichtspunkt eigentlich unsinnig erschien, sich weiter mit der Sache zu befassen, war es für ihn doch notwendig, lebenswichtig, ja, sogar über-lebenswichtig, der ständige Streit, der konsequente Kampf in seinem Herzen, das zehrende und zerrende Tosen des Sturmes seiner Seele, die ganze entsetzlich-wunderbare Gefühlsambivalenz, die ihn zu jener herrlichen und überflüssigen Existenz machte, die er –oder ein Wesen über ihm für ihn- beschlossen hatte, zu sein.




-Zweites Opfer-
Im Schatten einer Esche

Die Aura, die der mächtige Stamm des uralten Baumes aussandte, lässt sich nur schwer in Worte gießen. Der Titan musste gut fünfunddreißig Meter Höhe messen, und alleine die einzelnen Blätter, die an seinen eigentlich viel zu dünnen, geraden Ästen hingen und die durch ihre Schwere stark nach unten geneigt waren, so dass sie einer Schar von betenden Mönchen ähnelten, die ihre Häupter senkten, um ihre Demut zu zeigen, waren mit einer einzelnen Hand nicht zu bedecken. Seine graue Rinde, welche von zahllosen feinen Rissen übersät war, hatte schon viel Frost und Kälte erduldet, ohne ihre würdevoll glimmernde Glätte zu verlieren. Sie nahm sich aus wie eine vom Denken zermarterte Stirn, welche in einem Moment völliger Leichtigkeit all ihre Anspannung aufgegeben und die ehemals tiefen Gruben ihres Grübelns in zarte Linien verwandelt hatte, die nur mehr vorsichtig auf ihre einstige Ernsthaftigkeit hinwiesen. Die drei kräftigen Wurzeln gewährten seit Jahrzehnten einen sicheren Stand, und eine ragte beinahe in den kleinen Bach, der sich durch die enorme Weite der Ebene zog, die so typisch für Alaska war, wie sie eben nur sein konnte. Die nähere Umgebung zeichnete sich durch steiniges Geröll aus und bald ragten kleinere Zusammenschlüsse verschiedener Bäume in den wolkenlosen Himmel, etwas ferner erst hoben sich rötlich schimmernde Hügel an, die in verschwindender Distanz in gigantische, schneebedeckte Berge mündeten. Der Höhepunkt –nein, eigentlich das Zentrum- des Ganzen war aber genau jene Esche, die ganz alleine und stumm von der Geschichte dieses Ortes zeugte.

Im Schatten dieser Esche saß er.
Es gab keinen ersichtlichen Grund, warum er gerade im Schatten saß, denn der Tag war noch ziemlich jung und sehr kühl und frisch. Manchmal schien seinen Körper ein kurzes Frösteln zu durchjagen, aber davon abgesehen war er vollkommen ruhig. Er trug ein rot-weiß kariertes Flanell-Hemd, dazu eine legere Jeanshose und braune Stiefel, wie man sie zum Wandern oder Bergsteigen verwendet. Über das Knie seines rechten Beines, welches er angezogen hatte, lag starr sein rechter Arm, in dessen Hand er ein Allzweckmesser hielt, welches er immer mitzunehmen gewohnt war. Sein Kopf war leicht nach hinten geneigt und seine stählern-klaren Augen blickten unter seinem hellen, nach oben gekämmten Haar hervor in den Himmel, gerade so, als wollten sie ihn herabziehen und in sich aufsaugen. Sein Kinn war schon von einem struppigen Bart überzogen, was aber nicht etwa unästhetisch wirkte, sondern das Bild –ja, beinahe das Klischee- des einsamen Überlebenskünstlers, der früh morgens schon alleine die Weiten Alaskas durchstreifte, deutlich unterstrich. Sein Rucksack, unmodisch, aber praktisch und ihm immer treuer Begleiter, lehnte ebenfalls am Stamme seines Schattenspenders. Er hatte vorhin begonnen, mit seiner Klinge ein Stück Holz zuzuspitzen, ohne richtige Intention, eher aus einer Laune heraus, es aber in mitten der Arbeit aufgegeben, um sich ganz seiner Betrachtung und Einverleibung des Himmels zu widmen. Sein muskulöser Körper atmete mit beinahe beängstigender, fast mechanischer Ruhe ein und aus, und er machte überhaupt den Eindruck, als hätte sein Geist beschlossen, sich in tiefe Meditation zu begeben und seine hochgeschossene Hülle für diese Zeit einfach zurückzulassen.

Und tatsächlich war sein Kopf bis zu diesem Moment praktisch leer gewesen. Nun aber kam mit einem Mal sein Bewusstsein zurück und nahm wieder von ihm Besitz. Sein Blick senkte sich, seine Hand begann wie von selbst mit dem Messer zu spielen, ließ es hin und her gleiten und drehte es immer wieder um sich selbst. Er war im wahrsten Sinne des Wortes erwacht, eine Tatsache, die ihn nicht unbedingt erfreute, war er doch in diese Wildnis, diese Einsamkeit gezogen, gerade um alle äußeren Reize auszuschalten, gerade um ein vollkommenes Nichts in seinem Denken zu generieren. Er war wohl für kurze –oder lange, denn so genau wusste er das selber nicht- Zeit in einem Zustand gewesen, der dem von ihm angestrebten Ideal sehr nahe kam, aber dann war er wieder abgestürzt, in seinen Körper und seine Existenz zurück-gestürzt und er konnte nicht einmal sagen, warum es geschehen war. Er ließ seine Augen kurz durch die morgendliche Einöde schweifen, um festzustellen, ob irgendetwas seine Aufmerksamkeit erregt haben könnte, vermochte aber nichts Auffälliges feststellen. Unfähig, den Grund seines Bewusstwerdens zu fassen, ließ er seinen Kopf zurück sinken und blickte mit einem laut hörbaren Seufzer durch die Äste der Esche.

Dass es eine Esche war, das wusste er genau, denn seit langem war er Bogenschütze, und sein Wissen über die Geschichte des Sportes, der für ihn zur Kunstform geworden war, war äußerst umfassend. So war es ihm genau bekannt, dass Bögen in früheren Zeiten, lange vor der Erfindung von synthetischen Werkstoffen, meist aus Eiben- oder Eschenholz gefertigt wurden, zumindest in den Breitengraden seiner Heimat. In östlicheren Regionen war auch der Bambus als Material sehr beliebt und eigentlich wäre es ihm lieber gewesen, einen solchen Bambusbogen zu führen, wie ihn wohl die asiatischen Meister benutzt haben müssen, von denen er so viele Lehren gezogen hatte, wenn auch nur aus Büchern. Ja, der Bogen war sein Einstieg gewesen, seine Eintrittskarte in eine Welt der Meditation, der erste Schritt auf seinem Weg ins buddhistische Nicht-Sein, ja, aus einer anfangs sportlich motivierten Betätigung wurde langsam eine Art zu leben, eine Hinführung zu einer Idee, wie man seine persönliche –oder eben nicht-persönliche- Erfüllung und Auflösung erreichen konnte. Er hörte noch einmal viele Worte seines Mentors, der ihn zum Schießen bewogen und ihn die Grundlagen gelehrt hatte, seine Ausführungen, dass die ersten Bögen wahrscheinlich in Frankreich erfunden worden waren, in einer Zeitperiode mit einem schön klingenden Namen -welchen er aber leider vergessen hatte-, dass man nie selbst schießen soll, sondern dass „es“ schießen muss, so wie Schnee, der von einem Bambusblatt fällt, in seinen Ohren widerklingen und seufzte noch einmal.

Eine Welle trauriger Gefühle brach über ihn herein. War es umsonst? Würde es ihm je gelingen, sein Ziel zu erreichen? Seine Reise nach Alaska hatte viel Zeit und Planung gekostet, und im Grunde war sie für ihn dazu da, diese Einsamkeit herzustellen um darin zu versinken. Wenn es ihm nun aber nicht zufriedenstellend gelang, war dann die ganze Expedition nicht als Fehlschlag anzusehen? Waren all die Entbehrungen, die Isolation von seiner Familie, seinen Freunden, die er sich selbst auferlegt hatte, sinnlos gewesen? Wo war der Lohn für all seine Opfer, für seine Versuche, für seine Mühe? Er hielt sein Messer ausgestreckt wie einen Speer, und spielte mit dem Gedanken, es voller Zorn in den Stamm der Esche zu schleudern, auf die nun seine Aggression übergriff, weil sonst nichts da war, außer ihm selbst -auch wenn er für den Bruchteil eines Augenblickes Lust hatte, nicht die Esche, sondern eben sich selbst zu durchstoßen, um seinem sehnenden Suchen ein Ende zu bereiten, oder genauer: Sich und die Esche, um alles mühselige Dasein zu beschließen, was ihm sein Überlebenswille aber sofort wieder verbot-, ließ es aber gleich wieder bleiben, denn solch ein emotionaler Ausbruch hätte ihn wieder denkbar weit von seinem Weg abgebracht.


In den so dahindonnernden Fluss seiner Gedanken trat plötzlich lautes Geheul. Zwei graue Büffelwölfe jagten über einen Hügel hinab auf seine Position zu und ihren wilden Gebärden nach waren sie in sehr erregter Stimmung. Als sie ihm immer näher kamen, erblickte er ihre speicheltriefenden Zungen, die sie hechelnd hervorstreckten, einen Eindruck von Gier und Gefräßigkeit vermittelnd. Er umfasste seine Waffe noch fester, wild entschlossen, sich zu wehren, sollten ihn die beiden zottigen Gesellen anfallen, auch, wenn er keine Chance haben würde, denn die Tiere waren zwei und selbst wenn er einen abwehren könnte, zweie zugleich konnte er nicht besiegen. Da hörte er wieder altbekannte Lehren in seinem Verstand, aber ihre Bedeutungen schienen ihm neu, so als ob alles, was je geschrieben wurde, nur für diesen Moment geschrieben wurde, so als ob alles, was je gelebt hat, nur für diesen Moment gelebt hat, in welchem sich alles erfüllen soll. Alle Anspannung wich aus seinem zurücksinkenden Körper und sein Messer fiel zur Erde.

Als ihn die beiden Wölfe erreichten, hielten sie keinen halben Meter vor ihm inne. Ihr heißer Atem, den sie zwischen ihren scharfen Zähnen hervorstießen, wurde in der Luft sichtbar und ihre Brustkörbe gingen geräuschvoll auf und nieder. Sie stierten beide in die Augen des Mannes, der seinerseits durch sie hindurch zu blicken schien. Für einige Momente schienen die beiden Raubtiere irritiert und verwirrt, ihre großen Köpfe mit den breiten Stirnen und kurzen Ohren wandten sich einander fast fragend zu, dann fixierten sie wieder ihr ursprüngliches Ziel und erkannten: Hier war kein Feind und keine Beute, denn der Mensch, dem sie gegenüberstanden war eins mit ihnen, eins mit der Natur, eins mit allem. Er hatte in einem Moment größter Angst erkannt, dass er sie ablegen musste, er hatte seine Angst überwunden und war zu Gott geworden und der Gierige und der Gefräßige erkannten ihren Gott und wussten, dass sie ihm nichts anhaben konnten. Sie setzten sich auf ihre Hinterbeine, gerade so, als ob sie treue Hunde wären, die zu ihrem Herren zurückgekehrt waren und stimmten in sein stilles Gebet ein. Für eine Zeit, die gleichsam unendlich kurz und unendlich lang war, blieb die Welt stehen und nichts existierte mehr.


Als er am Abend seine Rückreise antrat, war in seinem Inneren eine so tiefe Ruhe, dass sie die meisten Menschen mit Abstumpfung oder Lethargie verwechseln würden. Er aber kannte Bedeutung und Ursprung derselben und das sanfte Lächeln auf seinen rauen Lippen zeugte davon, dass er sein Ziel –wenn auch nur für einen kurzen Moment- erreicht hatte und nun wusste, dass es erreichbar war, eine Gewissheit, die ihn sein gesamtes Leben begleiten würde und die vieles erträglicher und einfacher machen würde, denn er war nun frei.




-Drittes Opfer-
Im Winter

Das über-helle Weiß der weiten Schneelandschaft stand in einem solchen Kontrast zu den tiefst-schwarzen Rauchschwaden, die am Horizont hochstiegen, sich nach oben verdichteten und schließlich den ganzen Himmel einhüllten, dass es einen in den Augen schmerzte. Überhaupt waren die weichen Hügel, welche die schier endlose Ebene einschlossen, die zerbombte Stadt, Quelle der Dunkelheit bringenden Säulen, die an ihrem Ende lag und die Ebene selbst eine insgesamt schmerzliche Erfahrung für die Sinne, gerade so, als ob das wunderschön-morbide Bild einen gar zu großen Rahmen hätte, als ob der menschliche Geist einfach nicht dafür gemacht wäre, eine solche gleichzeitige Fülle an Schönheit und Grausamkeit zu erdulden. So schien jedem, der sein Auge hier zu ausgiebig schweifen ließ, das Herz zu platzen, wissend, dass eine Brust nicht in der Lage ist, seinem inneren Druck standzuhalten, so wie es jemandem ergehen muss, der auf einer Brücke aus kristallenem Eis steht, einerseits gebannt von der glitzernden Pracht derselben, andererseits praktisch paralysiert von der Panik, die sich jedem offenbart, der einmal in eine bodenlose Schlucht schaute und kein Halt gebendes Geländer vorfand. Und hier, inmitten Russlands, gab es keine Geländer, die qualmenden Ruinen waren das einzige von Menschenhand erschaffene –und wieder zerstörte- Werk.

Er lehnte regungslos an dem Panzer, eine Zigarette im Mundwinkel, an der er gelegentlich zog, was den Vorteil hatte, mit Sicherheit sagen zu können, dass er noch nicht erfroren war, denn die Kälte war klirrend, oder noch schlimmer, jedenfalls waren seine buschigen Augenbrauen, die wohl auch zu einem gemütlichen Großvater gehören konnten, der einem Abends im Lehnsessel Pfeife rauchend von seinen Abenteuern berichtete, von kleinen Eiszäpfchen gesäumt, hatten aber noch einen Anflug von Leben, während seine Augen darunter, obgleich jeden sichtbaren Frostes bar, schon lange erfroren schienen. Die wärmende Kopfbedeckung, die ohne Zweifel notwendig war, verdeckte seinen ungepflegten Seitenscheitel zur Gänze, seine Uniform war, im Gegensatz zu seiner Kappe, offenbar nicht für solche Witterungsverhältnisse ausgelegt, sie schien geradezu luftig und tatsächlich machte er hin und wieder Anstalten, ihren Kragen, an welchem ein stark zerkratzter Reichsadler prangte, ein wenig zusammenzuziehen, was aber nie von bleibendem Erfolg gekrönt war. So durchlief seinen Körper, der stark von Wuchs gewesen, aber unter den Folgen und Entbehrungen des Krieges einiges von seiner alten Mächtigkeit eingebüßt hatte, oft ein Frösteln, dass seine Finger zitterten und einmal schüttelte es ihn so heftig vor Kälte, dass er instinktiv die Arme verschränkte, was aber auch schon seine ausschweifendste Bewegung während der ganzen Zeit war.

In Gedanken war er ganz bei dem Befehl, den er durchzuführen hatte, den Feind an der Ostflanke umgehen und zu der 16. Panzerdivision stoßen. Undurchführbar, das wusste er wohl, aber seinem Befehlshaber ging es nicht darum, dass er und seine Männer, deren es gar acht an der Zahl waren, weil sie –was sonst nicht üblich war, aber von den besonderen Umständen auferlegt wurde- vier Überlebende eines zweiten, von der Hauptstreitmacht abgeschlossenen Panzers, welcher im Verlaufe der Kampfhandlungen irreparabel beschädigt worden war, aufgenommen hatten, jemals zurück in ihren Verband kehrten. Ihre Verirrung und Abgeschiedenheit war ein willkommenes Element, weil sie hinter der Feindesfront waren und bei ihrem Versuch, diese zu überwinden zwar unzweifelhaft vernichtet werden mussten, aber vorher bestimmt noch einiges an Aufregung und Zerstörung über den Feind bringen würden, der plötzlich mit einem Angriff von hinten zu rechnen hatte, da er ja nicht wissen konnte, dass es nur ein versprengter Tiger II war, der ihn in solchen Kalamitäten brachte. Ja, er würde diese acht Männer, von denen er vier besser kannte als seine leiblichen Brüder, weil er mit ihnen Schmerz und Tod überwunden hatte, in den Untergang führen.

So hatte er sich das damals nicht vorgestellt, damals, als er voll glühender Begeisterung aufgesprungen war auf den Zug, der so Erfolg versprechend losrollte aus dem Bahnhof der Verzweiflung. Er war damals schon älter, er hätte anfangs gar nicht in den Krieg müssen, er ging freiwillig, um für eine Sache, die damals noch die seine war, zu kämpfen. Wahrscheinlich hätte er später, als der Endsieg länger auf sich warten ließ, sowieso einrücken müssen, dachte er sich, aber er musste tatsächlich schmunzeln, wenn er bedachte, dass er sich selbst und aus freien Stücken in diese Hölle manövriert hatte. Seine Ausbildung und vielleicht noch mehr seine guten Kontakte zu einigen wichtigen Leuten hatte seinen militärischen Werdegang erheblich beschleunigt, sodass er als Unteroffizier bald seinen eigenen Panzerkampfwagen Tiger II kommandierte. Wie war der Stolz ihm in die Glieder gefahren, als er das erste Mal „seinen“ Triumphwagen sah. Er hatte damals so gut als möglich versucht, die Fassung zu wahren und prüfenden Blicks eine inspizierende Runde um das über sechs Meter lange Ungetüm zu drehen, ohne einen lauten Freudenjuchzer auszustoßen, aber an den überquellenden Augen konnte wohl jeder aufmerksame Beobachter ablesen, wie erhaben, wie würdig die sechzig Tonnen Stahl auf ihn wirkten. Den vier Kameraden, die unter seinem Kommando die Besetzung stellten, imponierte seine unterdrückt-begeisterte Art, sie vermochte andere anzusprechen und den Gedanken an große Taten zu wecken. Die Enttäuschung, die sein Innerstes zerbrach, spottet jeder Beschreibung. Es gibt wohl auf der Welt keinen so krassen Unterschied, keine so unfassbare Diskrepanz, als zwischen der glorifizierten Beschreibung des Krieges und seiner brachialen Wirklichkeit. Unter den zermalmenden Rädern von Mars’ Karren war kein Platz für Ehre. Er hatte seine Ziele schnell angepasst, bald wollte er nicht mehr sein Vaterland zum Siege führen, sondern nur noch sich und seine Männer lebend durch diesen Abgrund der Realität bringen und selbst dieses Ziel schien nun unendlich weit fern.

Aber große Taten, die würden sie vollbringen!
Er lächelte zynisch. Ja, man würde sie loben in höchsten Tönen und ihm wohl posthum einen Orden verleihen, für seine tapferen Bemühungen, für seine mannhafte Zähigkeit, für das Blutbad unter den Feinden. Sie würden dastehen, die Generäle, die diese Symphonie des Wahnsinns dirigiert haben und dem Komponisten derselben berichten, dass sich im Russlandfeldzug eine Gruppe besonders bewährt hat und maßgeblich zum Verlauf des Krieges beigetragen hat. Sein Lächeln verzerrte sich zum fratzenhaften Grinsen. Vor wenigen Jahren hätte er bei dieser Vorstellung mit wässrigen Augen der Rührung ringen müssen, heute verspürte er manchmal gute Lust, jenen Lügnern, die ihn zu einem Instrument ihrer Pläne gemacht hatten, die verwüstende Macht seiner Panzerkanone zu demonstrieren. Aber zurück ging es auch nicht mehr, auf Fahnenflüchtige wartete einzig der Tod und Gefangenschaft beim Feind war wohl noch schlimmer als dieser. Augen zu und durch. Die Fahne hoch. Er hatte am eigenen Leib erfahren, wie gefährlich solche Phrasen waren, wie sie in den Geist sickerten und langsam ihre manipulative Wirkung entfalteten, wie das Einfache, das auf ein Minimum Reduzierte in der Lage war, den Menschen gefangen zu nehmen. Wie oft hatte er selber diese propagandistischen Sätze in die Welt gebrüllt und wie dumm schien es ihm jetzt, im Angesicht seines Endes.

Plötzlich wurde ihm wirr vor Augen. Die Kälte! Die Kälte ließ ihn wieder phantasieren, es war nicht das erste Mal. Aber diesmal war es besonders heftig. Er hörte plötzlich Getrappel von vielen Pferdehufen und es war ihm, als dränge der Klang von Speer und Schwert, die aufeinander schlugen, an sein Ohr. Vor seinen Pupillen kreiste eine flammende Klinge und als er die Augen zum Himmel riss, um sich aus den Klauen des Irrsinns zu befreien, und den Mond sah, der zwischen den schwarzen Fetzen herausblinzelte, da war ihm, als wären die Wolken nicht mehr bloße Russsäulen, sondern ein gigantischer Wolf, der die glänzende Scheibe verschlang und nun seine Zähne nach der Erde bleckte.

Er schrie laut auf, als wollte er sich selbst aus seiner Vision erwecken. Sein Atem ging schwer, sein Oberkörper war vorn über gebeugt, er musste sich mit den Händen auf den Knien abstützen, um nicht zu fallen und trotzdem, trotz dieser offensichtlichen Schwäche, die seinen Körper umfing, war in seinen Augen wieder ein Glanz, ein Glühen. Er hatte lange gelebt, er hatte genug gelebt. Wenn schon sterben, dann richtig! In die Schlacht, in die Schlacht, da ist der Mann noch was wert! Solche und andere Parolen jagten durch seinen Kopf, es schien, als würden sich auf seiner halbgefrorenen Stirn kleine Schweißtropfen bilden, was bei diesen Temperaturen natürlich höchst unwahrscheinlich war. Er richtete sich auf, so wie sich ein Held wohl aufrichtet, der in die letzte Schlacht reitet, in die Apokalypse und die Kameraden sollten sein Pferd sein, sie sollten ihn in sein Ragnarök tragen. Er würde kämpfend untergehen, er würde verglühen, aber sein Opfer, so sagte ihm sein fieberndes Hirn, würde vielleicht der Nachwelt Hoffnung geben, was bei Lichte betrachtet natürlich auch wenig wahrscheinlich war, aber er sah es, er spürte es und noch bevor seine weggeworfene Zigarette den Schnee berührte und verlosch war er bereits die ersten zwei Sprossen zur Einstiegsluke hochgehechtet.

Als der Panzer sich langsam und unter rasselndem Dröhnen in Bewegung setzte, da war dieser Klang wie ein altes Herz, welches noch einmal, ein letztes Mal, lospocht, wild, voll jugendlicher Kraft, um dann zu verstummen, im zufriedenen Bewusstsein, ein Leben gelebt zu haben um danach dem Tod stolz entgegenzutreten, mit erhobenem Speer und sein Ende zu einem zu machen, welches es verdient, so bezeichnet zu werden.


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