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Dandelion

von

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December

Er hatte versucht, die Jahre nicht mehr zu zählen, aber je mehr er sich dazu zwingen musste, um so hartnäckiger hatte sich ihm die vergehende Zeit beharrlich in Erinnerung gerufen.

Zu Anfang war es noch schlimmer gewesen. Da hatte er noch in Jahreszeiten gerechnet; in Frühling, Sommer, Herbst und natürlich Winter.

Die ersten davon waren die Surrealsten gewesen. Er hatte nicht gleich verstanden, welche Auswirkungen das alles haben würde, wie groß das Ungetüm war, dessen Wachstum zuerst im Kleinen stattfand.

Der erste Sommer ohne sie.

Der erste Herbst ohne sie.

Und dann der erste Winter ohne sie.

Chris sah auf seine Schuhspitzen hinab, auf die Schneeflocken fielen und gleich zu Wassertropfen schmolzen.

Das erste Mal war er wirklich alleine gewesen. Es war als hätte man eine Verbindung gekappt, von der man vorher schon geahnt hatte, dass sie nie mehr wieder herzustellen war.

Das erste Weihnachtsfest ohne sie war besonders schlimm gewesen.

Ohne Leon. Und ohne D.

Er hatte noch immer die Weihnachtsgeschenke von damals, weil er da noch gehofft hatte, dass sich nach Leons Genesung wieder alles einrenken würde. Dass der Count wieder zurückkäme. Dass er sie in den Pet Shop zum Tee einladen und er dort alle anderen wiedertreffen würde. Die echte Pon-chan und den echten T-chan – nicht das, was er gesehen hatte, kurz bevor er mit Sam und Joshie nach Long Island abgereist war...

Ein näher kommender Wagen ließ Chris den Kopf heben. Die Lichter der Scheinwerfer krochen langsam die sanfte verschneite Anhöhe hinauf, auf der sich die Schule befand, die Chris seit dem Sommer besuchte. Vorsichtig, fast schleichend näherte sich der Wagen. In der Kurve kam er ins Schlingern, was Chris vor Schreck kurz den Atem verschlug, aber dann fing sich der Wagen zum Glück wieder.

Erleichtert atmete Chris aus.

Zwei Meter vor Chris bremste das Auto etwas zu fest, so dass man den Schnee unter den Reifen knirschen hörte. Das Fenster auf der Beifahrerseite öffnete sich und eine ziemlich bleiche Sam grinste den wartenden Chris schief an.

"Hey", begrüßte Sam Chris, der das Lächeln seiner Schwester erwiderte. "Fertig?"

Chris nickte und sein Lächeln wurde breiter.

"Na dann spring rein", forderte Sam ihren Bruder auf und schloss das Fenster.

Chris öffnete den Kofferraum und verfrachtete seine Rucksack hinein.
 

"Du kannst gerne vorne sitzen", sagte Sam, die mittlerweile ausgestiegen war und geduldig neben dem Wagen auf Chris wartete.

"Wirklich?" Chris' Augen blitzten erfreut auf. So ein Angebot bekam er nicht oft. Meistens gab Sam ihren Platz in der ersten Reihe nicht ohne lange Diskussionen auf.

"Ja, sehr gerne sogar", bestätigte Sam ihr Gesagtes und nickte nachdrücklich. Ehe Chris noch einmal nachhaken konnte, saß sie auch schon auf der Rückbank des Wagens.

Chris ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder.

"Hallo, Kleiner." Joshie, die auf dem Fahrersitz saß, warf ihm einen schnellen Blick zu. Das letzte bisschen des Schreckens über den Schlenker im Schnee spiegelte sich noch in ihrem unsicheren Lächeln wider, das an Chris ging.

"Schnall dich besser an, Chris", rief Sam auch prompt von hinten. "Joshie hat ihre Fahrkünste extra für den Schnee um ein paar Sprünge und Pirouetten erweitert."

"Ruhe auf der Rückbank!", wurde Sam erbost von Joshie unterbrochen. Sie warf ihrer Schwester im Innenspiegel finstere Blicke zu, was Sam lediglich mit rausgestreckter Zunge kommentierte.

Mit einem gemurmelten Wer fährt auch schon gerne bei diesem Mistwetter? ließ Joshie den Wagen langsam anfahren.

Das konnte ja lustig werden, dachte Chris stumm bei sich.
 

"Bist du schon wieder gewachsen?", wurde Chris kurz darauf aus seinen Gedanken gerissen. Joshie löste die Blicke schnell von der Fahrbahn und ließ sie blitzschnell über Chris gleiten.

"Gewachsen? Seit dem Sommer?" Ratlos sah Chris an sich hinab, als könne er dort die Antwort auf Joshies Frage finden. "Ich denke nicht..."

"Doch, doch, bist du", widersprach Joshie und wedelte mit ihrer rechten Hand jeden aufkommenden Zweifel weg. "Du wirst langsam erwachsen und ich bekomme kaum noch etwas davon mit." Ihre Stimme schwankte und brach nach dem letzten Wort ab.

"Oh bitte, nicht schon wieder." Sam verdrehte genervt die Augen und beschloss, ihre Aufmerksamkeit ab sofort dem Verkehr auf der Straße zukommen zu lassen.

"Sechzehn ist noch nicht erwachsen..." Chris lächelte unsicher. Hoffentlich fing Joshie nicht wieder zu weinen an – wie sie das eigentlich jedes Mal tat, wenn sie sich nach einer Weile wieder trafen. Was in Joshies Fall tatsächlich immer weniger wurde, weil ihr Job sie auf Trab hielt und sich Besuche jetzt, wo Chris auch noch diese neue Schule besuchte, fast nur noch auf nahende Feiertage beschränkte. Und Leon – den hatte er schon viel länger nicht mehr gesehen. Nicht einmal an den Feiertagen. Chris schluckte. Er sah auf, als sich Joshies Hand auf seine verkrampften Hände legte, die er im Schoß gefaltet hatte.

"Tut mir leid, ich wollte dich nicht traurig machen", begann sie, als ihr bewusst geworden war, dass, egal wie groß ihre Familie auch war, immer eine Person fehlte. Jahr für Jahr.

"Schon gut." Chris lächelte tapfer und drückte Joshies Hand, die kaum merklich zitterte.

Sam seufzte theatralisch. "Klasse, jetzt heult sie doch..."
 


 

"Wir teilen uns wohl besser auf", schlug Joshie nach einem schnellen Rundumblick durch die belebte Einkaufspassage vor, deren Gänge dichtgedrängt mit Menschen waren, die genau wie sie ihre letzten Einkäufe erledigten. "Habt ihr eure Geschenkelisten dabei?"

"Welche?", fragte Sam und blinzelte unschuldig. "Die, die du uns im August per Post zugeschickt hast oder die Ausdrucke der gleichen Listen, die im Auto lagen?"

"Um Himmels Willen, ich habe die Listen im Auto liegen lassen!" Joshie wollte lossprinten.

"Hast du nicht." Sam und Chris wedelten mit den Ausdrucken, die Joshie liebevoll mit allem möglichen weihnachtlichen Kram dekoriert hatte.

"Gott sei Dank." Joshie war sichtlich erleichtert, dass der sorgsam geplante Ablauf nun doch nicht wieder umgeworfen werden musste. "Sam, du gehst in den zweiten Stock und suchst etwas für Papa, und Chris bleibt im Erdgeschoss und besorgt das Geschenk für Mama", teilte Joshie ihre Geschwister eifrig ein.

"Und was machst du?", hakte Sam interessiert nach.

Sam und Chris sahen ihre Schwester gespannt an, die verlegen grinsend den Blicken ihrer jüngeren Geschwister auswich. "Ich... ich kümmere mich um eure Geschenke", sagte sie nach einer Weile und errötete unter Sams forschenden Blicken.

"Oh, eine Premiere", witzelte Sam scheinheilig. "Dann bin ich mal gespannt, was für Geschenke das sind, die du im Café für uns besorgst."

Chris, der sich schon die ganze Zeit zu beherrschen bemühte, musste nun doch lachen. Joshies ertapptes Gesicht war zu komisch.

"Los, haut schon ab", brummelte Joshie vor sich hin und nur zu gerne kamen Chris und Sam dieser Anweisung nach.
 

Nach eineinhalb Stunden, in denen Chris jedes in Frage kommende Geschäft nach den aufgelisteten Geschenkevorschlägen abgesucht hatte, kam er wieder an seinem alten Ausgangspunkt vor einem Bücherladen an.

Was jetzt?, dachte er. So langsam verzweifelte er. Keinen einzigen der Vorschläge hatte er bekommen. Entweder war alles schon lange ausverkauft oder wurde erst in den nächsten Tagen geliefert. Joshie und Sam waren auch nirgendwo zu entdecken und er konnte unmöglich die gesamte Mall nach ihnen abklappern.

Ein eisiger Luftzug ließ Chris aufsehen. Er kam von den sechs Türen des Haupteingangs, die allesamt nach draußen auf den Vorplatz führten.

Eigentlich könnte er sich ja auch außerhalb der Mall umsehen, fand Chris. Treffpunkt war ohnehin erst in knapp zwei Stunden und Sam und Joshie würde es gar nicht auffallen, wo er nach Geschenken suchte. Wenn er erfolgreich war, würde Joshie erst recht nichts sagen...

Der nächste Luftzug, der den kaum abreißenden Menschenstrom begleitete, während er sich nach draußen schob, war praktisch eine Aufforderung. Schneeflocken tanzten von draußen herein, wirbelten zwischen den Menschen umher, die keinen Blick an die winzigen Kunstwerke verschwendeten, und schmolzen schließlich und verschwanden sang- und klanglos in der warmen Luft des Einkaufszentrums.

Chris schloss den Reißverschluss seiner Jacke und reihte sich in die nach draußen strebende Menschenschlange ein. Der Luftzug war nun stärker und sog ihn förmlich aus der Mall hinaus. Hunderte Schneeflocken begrüßten ihn stürmisch. Sie kribbelten eisig auf seinen Wangen und verflüchtigten sich dort so schnell wie hingehauchte Küsse.
 


 

Draußen trennte sich Chris von dem Strom an Menschen, von dem er sich hatte mitziehen lassen, und blieb auf dem weiträumigen Marktplatz vor dem Einkaufszentrum stehen, um sich neu zu orientieren.

Es schneite so stark, dass die normalerweise grellen Neonlichter über den unzähligen Läden verschwommene, schwach leuchtende Schemen in dem dichten Schneetreiben bildeten.

Er hatte keine Mütze dabei und eine Kapuze hatte seine Jacke auch nicht, fiel es Chris ein. Er würde ziemlich nass werden, wenn er über den ungeschützten Vorplatz lief und die Geschäfte, die ihn säumten, nach einem Geschenk für seine Mama absuchte.

Oder er nahm eine der abzweigenden, wind- und schneegeschützten Seitenstraßen und hoffte, dass es dort ebenfalls Läden gab, in denen er das passende Geschenk finden würde.

Chris musste nicht lange überlegen.
 

Déjà-Vu – Secondhand stand in verschnörkelten Buchstaben auf der halbblinden Scheibe des Ladens, vor dem Chris als erstes stehengeblieben war, gleich nachdem er sich für eine der Seitenstraßen entschieden hatte. Es war still geworden. Das Schneetreiben war zwischen den hohen Häuserfronten auch weniger geworden, aber die Stille, die nur wenige Meter vom lebhaft schwirrenden Marktplatz entfernt herrschte, wirkte wie ein Vakuum, das er betreten hatte.

Noch einmal las Chris den Schriftzug auf der Scheibe. Secondhand – das konnte ja alles bedeuten. Chris legte seine Hände auf die Scheibe, als würde er durch ein Fernglas schauen, und versuchte, einen Blick ins Innere des Ladens zu erhaschen.

Im Schaufenster gab es keine Auslagen. So weit konnte er durch die blinden Scheiben gucken. Was weiter dahinter lag, war nicht zu sehen. Nur, dass es nicht wirkte, als wäre der Laden geöffnet. Es brannte kein Licht und Leute waren auch keine zu sehen.

Chris trat einen Schritt von der Scheibe zurück. Er sah sich um, welche Geschäfte es hier sonst noch gab, und wurde enttäuscht. In den Häusern, deren Fronten aus großen Scheiben bestanden, hingen Plakate, die allesamt das gleiche sagten: Geschlossen oder die weniger schöne Variante: Geschlossen wegen Geschäftsaufgabe. Die restlichen Häuser waren Wohnhäuser.

Seufzend sah Chris zu dem Secondhand-Laden. Er ging zur Tür und drückte probeweise die Klinke hinunter. Es war abgeschlossen. Gerade als er sich umdrehen und weggehen wollte, fiel Chris ein kleiner handgeschriebener Zettel auf, der knapp über dem Türgriff angebracht war.

Bitte klingeln.

Chris suchte den Türrahmen nach einer Klingel ab und drückte auf den kleinen messingfarbenen Knopf neben dem Namensschild und wartete. Im Ladeninneren geschah noch immer nichts, aber etwas in seinem Augenwinkel ließ Chris den Kopf nach links drehen.

In dem schmalen Durchgang zwischen dem Seconhandladen und dem Haus daneben waren Lichter angegangen. Warmes rot-oranges Licht fiel auf den Schnee und ließ die Eiskristalle schimmern. Stimmen waren zu hören und leise Musik.

Neugierig geworden ging Chris auf den Durchgang zu und stand gleich darauf in-
 


 

Chinatown.

Mit offenem Mund starrte Chris das Treiben vor sich an. Eine ewig lange Geschäftsstraße erstreckte sich vor ihm. Beide Seiten säumten unzählige Geschäfte und Restaurants, deren Fenster hell erleuchtet waren und aus denen es nach exotischen Gewürzen roch. Rote Lampions in allen möglichen Formen zogen sich wie riesige Lichterketten von einer Straßenseite zur nächsten und wieder zurück. Hunderte Menschen, meist asiatisch gekleidet, strömten durch die Gasse, die größer war, als der Durchgang zwischen den Häusern vermuten ließ.

Das war doch unmöglich, dachte Chris. Es wirkte wie eine andere Welt. Als wäre er von einer Realität einfach in die nächste gegangen wie durch eine Tür. Von einer ruhigen, dunklen Realität in eine grellbunte, turbulente Realität.

Chris zögerte einige Augenblicke und überlegte, was er jetzt tun solle. Gerade noch hatte er vor dem Secondhandladen gestanden und sich gefragt, wo er etwas für ihre Mama kaufen konnte und keine Minute später stand er auf einmal unter einem chinesischen Torbogen, dessen grünlackierte Ziegel mit kleinen Glühbirnen bedeckt waren, die im Takt blinkten.

Das war kein Zufall. Das war die beste Gelegenheit, die sich ihm heute bieten würde.
 

Staunend schlenderte Chris die Straße entlang. Hier war es so viel wärmer als dort, wo er hergekommen war. Er sah nach oben, doch der Himmel war der gleiche. Dunkle Wolkenberge türmten sich dort auf, aus denen sanft der Schnee rieselte – ohne dass er hier unten ankam.

Okay, ein bisschen seltsam war das schon, musste Chris sich selbst eingestehen.

Seltsam, aber umso interessanter. Und es war ihm ja kein unbekannter Ort, auch wenn es so gesehen schon ein anderer Ort hier war. Aber er hatte lange Zeit an einem solchen Ort verbracht und fühlte sich auch hier gleich wohl.

Wie damals beim Count.

Chris blieb mitten auf der Straße stehen. Ein Mann, der an einem Holzstand Töpferwaren anbot, witterte sofort ein Geschäft. Er packte Chris am Arm und zog ihn zu seinem Stand hinüber, auf dessen Platte hübsch bemalte Vasen und Schalen standen. Dabei plapperte er ohne Punkt und Komma, so dass es Chris bald in den Ohren klingelte.

"Entschuldigen Sie", versuchte sich Chris Gehör zu verschaffen, doch der Alte hatte ihn so fest im Griff, dass alle Versuche, sich aus den Händen des Mannes zu befreien, fehlschlugen.

Na schön, dann hörte er sich eben an, was der Mann ihm da zu bieten hatte. So viele Sachen standen hier auch wieder nicht...

Chris hatte sich gerade seinem Schicksal ergeben, als er erneut am Arm gepackt wurde – dieses Mal am rechten – und schneller als er gucken konnte in die andere Richtung gezogen wurde.

"Da bist du ja endlich", hörte er eine weibliche Stimme sagen, die von der Person stammte, die ihn wegzog. Er war kurz erleichtert. Joshie oder Sam waren hier, jetzt wurde alles gut.

"Du hast mir das Leben gerettet", lachte Chris und sah, wie der Mann, der die Hände empört in die Hüften gestützt hatte, immer kleiner wurde, je weiter sie sich von ihm entfernten.

"Weiß ich, aber ganz genau genommen waren es nur zwanzig Minuten deines Lebens, die ich dir gerettet habe."

"Woher weißt du das so genau?" Chris sah zu seiner rechten Seite hinüber, wo er entweder Joshie oder Sam erwartete, und zuckte erschrocken zusammen als ihn eine fremde junge Chinesin freundlich anlächelte.

"Ich weiß alles", sagte sie, ohne etwas von ihrem Lächeln zu verlieren. "Ich bin das berühmteste Orakel hier in Chinatown und ich warte schon ewig auf dich."
 

Sprachlos stolperte Chris hinter der jungen Frau her, die von sich behauptete, irgendein Orakel zu sein, das auf ihn gewartet hatte. Auf ihn gewartet? Chris lachte innerlich auf.

Er fand seine Sprache erst wieder, als sie in einem schummrigen Haus standen und die Frau ihn endlich losließ.

"Wo sind wir?" Chris blieb mitten im Raum stehen und sah sich um.

Nach und nach flammten kleine Öllampen auf den niedrigen Kommoden auf und er hörte ein leises Zischen aus einer Duftlampe, die vor ihm auf einem Tisch stand. Gleich darauf roch es nach Jasmin und Kräutern, die ihm sehr bekannt vorkamen. Er wartete darauf, dass sich gleich eine Tür öffnete, aus der der Count mit einem Tablett voll Kuchen und Tee heraustrat.

Doch statt des Counts tauchte die Frau aus dem Halbdunkel hinter der Duftlampe auf und bedeutete Chris näherzukommen.

"Setz dich", wies sie ihn freundlich an und zeigte auf einen Hocker, der vor dem Tisch stand.

Chris tat alles wie in Zeitlupe. Er hatte doch nur ein Geschenk für seine Mama kaufen wollen. Und was tat er? Er saß in Chinatown in einem unbekannten Haus mit einer unbekannten Frau an einem Tisch, auf dessen Platte Münzen, Murmeln und schmale bemalte Holzplatten lagen.

"Du fragst dich sicher, wer ich bin", mutmaßte die junge Frau, die gegenüber von Chris am Tisch Platz nahm.

"Nein, das weiß ich doch schon", antwortete Chris der Frau, die ihn kurz irritiert anschaute. "Sie sind das berühmteste Orakel hier in Chinatown", beendete Chris seinen Satz.

"Ach so, ja stimmt." Die Frau kicherte erheitert. "Hatte ich ganz vergessen..." Sie setzte sich gerade hin und räusperte sich leicht. Sie schien etwas äußerst wichtiges verkünden zu wollen, dachte Chris mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen.

"Mein Name ist Ch'ang-O und ich warte wie bereits erwähnt schon sehr lange auf dich."

"Ach, ehrlich?" Chris war wenig beeindruckt, was auch der Frau auffiel. Sie klimperte nervös mit den langen schwarzen Wimpern und suchte hektisch nach den richtigen Worten.

Geduldig wartete Chris, was als nächstes kam. Umsonst würde er hier sicher nicht mehr wegkommen...

"Ich weiß alles über dich", fuhr die Frau geheimnisvoll fort. Sie hatte sich etwas vorgebeugt und sprach mit gesenkter Stimme weiter. "Du bist als Einzelkind bei deinen Großeltern aufgewachsen. Ihr wohnt auf einer hübschen kleinen Farm, wo dein Opa Perlhühner züchtet und deine Oma Runkelrüben in ihrem großen Garten anbaut."

Zufrieden sah Ch'ang-O die immer größer werdenden Augen des Jungen vor sich. Sie hatte heute wohl ihren guten Tag, freute sie sich innerlich.
 

Chris Mundwinkel bebten und ihm stiegen Tränen in die Augen. Dann lachte er laut prustend los.

"Was ist?", hakte Ch'ang-O verblüfft nach. "Was gibt es da zu lachen?"

"Das 'berühmteste' bezieht sich wohl darauf, dass Sie dafür berühmt sind, alles so falsch wie möglich vorherzusagen?"

Ch'ang-O stieß leise die Luft aus der Nase aus. Ihre schmalen Finger zupften an dem blaugrauen Pelzaufschlag, der ihre langen Ärmel zierte. "Sie hat es mir ja vorhergesagt", murmelte sie leise vor sich hin.

"Wer hat was vorhergesagt?", wollte Chris nun neugierig wissen. Die Frau tat ihm ein bisschen leid.

"Meine Schwester", stieß Ch'ang-O leise aus. "Sie sagte, dass ich zwar das berühmteste Orakel werde, aber leider auch das schlechteste, was meine Vorhersagen angeht. Und sie muss es wissen, sie ist nämlich das beste Orakel, das es hier in Chinatown gibt."

So langsam wurde Chris die ganze Sache hier peinlich. "Und warum ist sie nicht hier?"

Ch'ang-O sah Chris an als hätte er den Verstand verloren. "Aber sie ist doch hier", erklärte sie erstaunt. "Sie sitzt doch die ganze Zeit vor dir."

Jetzt war Chris ehrlich geschockt. Die einzige Person außer ihm hier war Ch'ang-O, die vor ihm saß. Von einer Schwester war keine Spur zu sehen.

"Wo-wo ist sie denn? Warum kann ich sie nicht sehen?" Chris' Kopf begann zu schmerzen. Er wollte die Duftlampe, die vor ihm stand, etwas wegschieben, damit ihn der Rauch nicht mehr mit voller Wucht traf, als er die Bewegung auf dem Tisch sah, genau dort, wo Ch'ang-Os verschränkte Hände auf der Platte lagen.

Der Pelzbesatz ihres Cheongsam – oder das, was Chris für einen Pelzbesatz gehalten hatte – bewegte sich, ohne dass Ch'ang-O auch nur einen Finger rührte. Der Pelz löste sich langsam von seinem Platz und jetzt erkannte Chris, was es war.
 

"Ein Hase?" Chris wusste nicht, ob er lachen sollte. Das erledigte dann Ch'ang-O an seiner Stelle.

"Hast du gehört, wie er dich genannt hat?", fragte sie den Hasen, der mümmelnd vor ihr auf der Tischplatte saß. Ch'ang-O lachte so laut, dass Chris Bedenken bekam, dass hier gleich jemand auftauchen und um Ruhe bitten könnte.

"Ist es denn kein Hase?", fragte Chris zögerlich. Er hob eine Hand und deutete auf das Tierchen, dessen Fell blaugrau schimmerte und das ihn aus seinen kleinen Augen aufmerksam ansah. "Ich dachte wegen den Ohren. Sie-sie sind lang und-und-und..."

Tränen liefen über Ch'ang-Os Wangen. Sie hatte die Arme um ihren Bauch geschlungen und lachte jetzt noch lauter.

"Wegen deinen großen Ohren hält er dich für einen Hasen!" Ch'ang-O stieß den Hasen mit ihrem Zeigefinger in die Seite. "Na, was sagst du dazu, Schwester?"

Vor Angst wie gelähmt sah Chris wie der Hase das kleine rosa Mäulchen öffnete und ein leises Grummeln ausstieß. Aber das war es nicht, was Chris solche Angst einjagte. Es war das, was er aus dem Grummeln herauszuhören meinte.

"Unwissendes kleines Menschlein."

Chris wurde schwindelig. Er musste sich mit beiden Händen an der Tischplatte festhalten, sonst würde er einfach nach hinten vom Hocker fallen.

Der Hase konnte reden...

"Unwissendes kleines Menschlein, das alles vergessen hat", wiederholte der Hase. Er klang, als bedauerte er Chris aus tiefstem Herzen.

Chris starrte den Hasen an, bis seine Augen brannten und der Hase vor seinen Augen verschwamm. Er flackerte wie eine defekte Glühlampe und für einen Moment überlagerten sich zwei Bilder. Auf dem einen war der Hase der gleiche, der die ganze Zeit dasaß, und auf dem anderen sah Chris eine Frau, die älter war als Ch'ang-O. Sie trug einen dunkelblauen Cheongsam mit einem sich wiederholenden Muster das an einen Vollmond erinnerte, der zum Teil von Wolken verdeckt wurde.

"Wo-wo habt Ihr den Hasen- ich meine, Eure Schwester her?" Chris musste seinen ausgedörrten Hals zu diesen Worten zwingen. Und er musste seine Ohren dazu zwingen, jetzt genau hinzuhören.

Ch'ang-O hörte augenblicklich auf zu lachen. Ernst geworden sah sie Chris an, der bleich und mit Tränen in den Augen vor ihr saß. "Du weißt es."

Mehr sagte Ch'ang-O nicht. Ihre Lippen bogen sich zu einem gütigen Lächeln, das Chris' Herz, das ihm schwer in der Brust pochte, etwas leichter werden ließ.

Natürlich wusste er es.

Dort, wo auch Pon-chan war. Und Tetsu. Und der Count. Und vielleicht auch Leon. Und er würde sie finden. Er hatte ja auch bei einem Secondhandladen geklingelt und Chinatown gefunden. Wer sagte, dass ihm das nicht noch einmal gelingen könnte? Wer wusste schon, ob er das nächste Mal nicht vielleicht an irgendeiner anderen wahllosen Tür klingeln und den Pet Shop dahinter finden würde? Und er ging jede Wette ein, dass Leon das gleiche dachte.

Chris lächelte und Ch'ang-O setzte sich wieder gerade hin.

"Das macht dann zwanzig Dollar", flötete Ch'ang-O fröhlich und streckte die Hand aus. Der Hase brummelte unwirsch und Ch'ang-O verdrehte die Augen. "Na schön, zehn Dollar, weil bald Weihnachten ist..."
 

"Chris?!"

Chris hob den Kopf. Er stand wieder vor dem Secondhandladen und Sam und Joshie kamen auf ihn zu geeilt. Sie lachten erleichtert.

"Endlich haben wir dich gefunden", rief Sam und fiel ihrem Bruder in die Arme. "Wir suchen dich schon seit über zwei Stunden."

"Warst du die ganze Zeit hier?" Joshie hatte Tränen in den Augen. Ihre Wangen waren rot und sie war außer Puste, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen.

"Ja, ich glaube, ich war die ganze Zeit hier." Chris lächelte verlegen. Das orange-rote Licht zwischen den beiden Häusern war erloschen, kaum dass er wieder auf die Straße getreten war und Chinatown hinter sich gelassen hatte. Aber wie sollte er das, was er dort erlebt hatte, seinen Schwestern glaubhaft machen? Es war ihm ja nicht einmal wie zwei Stunden vorgekommen, seit er beim Secondhandladen geklingelt hatte...

"Wenigstens hast du das Geschenk für Mama", lachte Sam nun und deutete auf Chris' Hände.

Seine Blicke folgten Sams ausgestrecktem Zeigefinger und er sah, dass sie recht hatte. Er hielt ein schwarz lackiertes Kästchen in den Händen, das er nun öffnete. Eine zarte Melodie erklang, kaum dass Chris den Deckel gehoben hatte.

Neben ihm sogen seine Schwestern anerkennend die Luft ein und auch Chris konnte sich den erstaunten Ausruf nur knapp verkneifen. Er musste immerhin so tun, als wüsste er, was er da als Geschenk in den Händen hielt.

Das Kästchen war mit blauem Samt ausgeschlagen in dessen Mitte eine Kugel aus weißem Quartz thronte. Und auf genau dieser Kugel saß mit erhobenen Vorderpfoten ein Hase aus grüner Jade und drehte sich zu der leisen Melodie um seine eigene Achse.

"Oh ist das schön", riefen Sam und Joshie im Chor.

Chris nickte vor Überwältigung stumm.

Ja, es war schön. Weihnachten war wieder schön, weil er wieder Hoffnung hatte.
 


 

* Ende *


 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Count D's Lexikon der mythologischen Kreaturen:

Ch'ang-O und der Jadehase: Ch'ang-O lebte glücklich mit ihrem Mann bis zu ihrer Verbannung auf dem Mond. Als Sterbliche auf die Erde vertrieben, wurde sie immer trauriger, bis ihr Mann sich schließlich erbarmte und nach einem Elixier suchte, das sie wieder unsterblich werden lassen sollte.
Er findet das Elixier und bringt es nach Hause zu Ch'ang-O, warnt sie aber davor, das Kästchen, das die Medizin enthält, zu öffnen oder etwas davon zu nehmen, da sie für eine einzige Person zu hoch dosiert sei.
Kaum ist ihr Mann weg, öffnet Ch'ang-O das Kästchen und nimmt die ganze Medizin auf einmal. Sie fliegt in den Himmel hinauf, bis sie schließlich wieder auf dem Mond ankommt. Da aber kein Elixier mehr für ihren Mann übrig ist, bleibt dieser weiter als Sterblicher auf der Erde zurück.
Da sich Ch'ang-O auf dem Mond ohne ihren Mann bald einsam fühlt, freundet sie sich mit dem Jadehasen an, der ebenfalls dort wohnt und Tränke braut. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  ChocolateChip
2014-12-18T21:53:07+00:00 18.12.2014 22:53
Hey!
Eine Pet Shop FF! Toll! Ich habe den Manga geliebt und tue es eigentlich immer noch xD Nach deiner Geschichte weiss ich auch wieder wieso xD
Antwort von:  ChocolateChip
18.12.2014 22:54
*räusper* *etwas falsches geklickt hat*
aber weiter im text lol
ich finde die Geschichte toll auch wenn Leon und Count D nur erwähnt werden ^^ Sie ist aber sehr schön mytstisch wie es sich für eine Pet Shop Geschichte gehört! Ich hatte sehr viel Spass am Lesen ^^
Lg Choco
Von:  MissImpression
2014-12-17T19:35:31+00:00 17.12.2014 20:35
Hallo :)

Ich kenne die Vorlage für diesen OS zwar nicht, aber es hat mir trotzdem Spaß gemacht, es zu lesen! Du erzählst sehr bildhaft, sodass man sich prima zurecht findet und ohne Probleme in die Geschichte eintauchen kann.
Wirklich sehr gut!

LG
Tanja


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