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Eiskristalle

Eine Weihnachtsgeschichte
von

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Eiskristalle

Der Wind zog kalt durch die kleine Ortschaft und wirbelte den Schnee von den Straßen auf. Es schien, als würden die vielen, weißen Flocken zu einer unbekannten Melodie tanzen. Die alte Frau legte ihre Hand auf die gefrorene Fensterscheibe, dass Schauspiel beobachtend. Es war ein so schöner Anblick, den sie jedes Weihnachten aufs Neue genoss. Doch wie sie so ihren Gedanken nach hing, bemerkte sie nicht, dass sich hinter ihr jemand näherte, bis die kleine Hand an ihrem Rock zog.

„Oma?“

Sie drehte sich um und blickte zu ihrer Enkelin hinab. Das kleine blonde Mädchen, mit den roten Pausbacken und den vielen Sommersprossen starrte sie mit ihren großen grauen Augen Erwartungsvoll an. Es war ihr so ähnlich, dachte die Alte melancholisch, bevor sie dem Kind eine Hand auf den Schopf legte und ihr über die Lockepracht strich.

„Du sollst dich doch nicht so an mich heran schleichen, Milena.“, ermahnte sie das Mädchen, dessen Wangen sich sofort noch röter färbten.

„Ich wollte fragen, ob du Sascha und mir eine Geschichte vorliest?“, stieß die Kleine ungehalten hervor. Es war schon interessant zu beobachten, wie schnell Kinder ihre Wünsch äußern konnten. Die Alte lächelte und wuschelte dem Kind so stark durch die Haare, bis es anfing zu protestieren.

„Das würde ich sehr gerne.“ Sofort leuchteten die Kinderaugen auf. Milena sprang davon, voraus ins gemütliche Wohnzimmer, in dem die Kerzen am Weihnachtsbaum brannten, unter dem Lebkuchen, Zuckerstangen und andere Leckereien standen und auf dessen Spitze ein gläserne Eiskristall saß.

„Sascha! Oma liest uns etwas vor!“, rief das Mädchen glücklich, schnappte sich ihre Puppe vom Sessel und legte dafür ein Kissen hinein, sodass die Alte sich bequem in das Polster setzen konnte. Der rothaarige Junge blickte von seinem Puzzle auf. Auch seine Augen begannen zu strahlen und er rutschte näher an die alte Frau heran, bis er neben seiner älteren Schwester saß.

„Diesmal werde ich euch aber nicht vorlesen.“, erklärte die Großmutter.

„Nicht?!“, fragten beide Kinder gleichzeitig verwundert.

Die Alte schüttelte langsam den Kopf: „Heute werde ich euch eine alte Geschichte aus dieser Gegend erzählen. Eine Legende.

Es war einmal ein jungen Paar, die sehr verliebt in einander waren. Ihre Namen, waren Sanja und Maxim. Ihr sehnlichster Wunsch war es zu heiraten und ein Kind zu bekommen. Halt eine glückliche kleine Familie zu werden. Doch dafür brauchten sie ein Haus. Und so bauten sie sich den Sommer über eines. Doch der Winter zog früher als normal in das Land und brachte bald den ersten Schnee mit sich. Das gemeinsame Haus der beiden Verliebten war jedoch noch nicht fertig gestellt und so sahen sie sich gezwungen, den Winter zurück in ihr Heimatdorf zukehren. Sie packten das weniges Hab und Gut das sie besaßen zusammen, schnürten es auf einen Schlitten und zogen los. Auf den Straßen, Wegen und Feldern, hatte der Schnee sich bereits gesammelt und bildete eine hohe Schicht, die Sanja und Maxim die Reise erschwerte. Sie kamen nur langsam voran. Der Himmel schickte weiter die weiße Pracht vom Himmel hinab und zwang die beiden Verliebten immer öfter Pause zu machen. Langsam aber sicher zweifelte Sanja daran, dass sie ihr Ziel überhaupt erreichen würden, doch Maxim machte ihr immer wieder neue Hoffnungen, in dem er ihr sagte, dass der Weihnachtsstern sie schon leiten und die Eiskristalle sie vor allen Gefahren schützen würden. „Die Eiskristalle?“, hatte Sanja ihn gefragt.

„Ja. Die Eiskristalle die von den Bäumen und Sträuchern und Dächern und Höhlen hängen. Sie alle sind die Seelen derer, die im Schnee am Weihnachtsabend ihr Leben ließen.“

Sanja schien geschockt: „Das ist ja schrecklich!“

Doch Maxim schüttelte lächelnd den Kopf: „Es ist ein Wunder. Denn es sind die Seelen der Liebenden, die wir verloren haben.“ Er nahm sie in den Arm und küsste sie, sodass seine Lippen die ihren erwärmten, bevor sie ihre Reise fortsetzten.

Die Tage vergingen, doch Maxim und Sanja erreichten ihr Ziel nicht. Ja, sie schienen sich ihm nicht einmal zu nähern. Es schien ihnen fast so, als würden sie im Kreise laufen. Einen Tag vor Heiligabend fanden die beiden dann eine kleine Höhle und sie entschieden sich darin zu verweilen, bis der Schnee nachgelassen hatte. Sie breiteten ihre mitgebrachten Decken über den kalten Boden aus, entzündeten ein Feuer und suchten die Nähe des anderen, um sich warm zu halten. Es war fast, als würde die Höhle ihnen das Haus ersetzten, das sie eigentlich fertig gestellt haben wollten. Doch der Schnee fiel weiter und ihre Vorräte waren verbraucht, sodass Maxim auszog um zu jagen. Sanja blieb allein zurück, denn sie musste das Feuer anfachen, sodass es nicht ausging und sie erfrieren würden. Die Stunden vergingen, die Nacht zog herein, doch Maxim kehrte nicht zurück. Langsam stieg in Sanja die Sorge auf, dass ihm etwas zu gestoßen sei, aber sie traute sich auch nicht, die Höhle zu verlassen. Wenn er dann zurückkehren würde, wenn sie nicht da war, und das Feuer ausginge… Nein, sie würde verweilen und auf ihn warten. Und sie sollte belohnt werden. Denn als die Sonne den Horizont berührte kehrte Maxim zurück, in den Händen zwei weiße Hasen. Überglücklich umarmte sie ihn: „Maxim! Ich dachte dir sei etwas geschehen!“

„Entschuldige, dass ich dir Sorge bereitet habe, Liebste. Doch die Nacht hatte mich überrascht und ich musste Schutz vor den Wölfen suchen.“ Er küsste sie auf die Stirn.

„Hauptsache du bist wieder da.“, seufzte Sanja und ließ sich von seiner Wärme erfüllen.

Am Abend ließ der Schnee nach und die Verliebten entschieden weiter zu ziehen, sobald der Morgen eintraf. Doch als Sanja die Augen wieder aufschlug und ihren Geliebten wach zu küssen versuchte, war sein Körper so kalt wie das Eis der Kristalle, die von der Höhlendecke hingen und sein Kopf so heiß wie die Liebe in ihren Herzen. Erschrocken wich das Mädchen zurück und sah, dass sein Atem zu schnell, zu rasselnd ging, seine Brust sich unruhig hob und senkte und seine Gesichtszüge verkrampft waren.

„Maxim!“, stieß sie verzweifelt hervor, „Maxim! Was ist mit dir?!“

Langsam öffnete er seine Augen und blickte sie an, eine Hand auf ihre legend.

„Es tut mir Leid, Sanja. Ich musste es tun. Wenigstens du sollst diese weiße Hölle wieder verlassen können.“, sprach er mit schwacher Stimme.

„Was erzählst du da?! Maxim!“

„Ich habe die Geister des Schnees gebeten, dich gehen zu lassen und ihnen dafür mein Leben versprochen.“

„Was? Nein! Warum?“ Verzweiflung lag in Sanjas Stimme.

„Die Geister hatten uns gefangen gehalten… Wir hatten es uns nicht eingebildet… Wir sind die ganze Zeit im Kreis gegangen.“

„Aber…“

„Sie wollten uns beide… Doch ich konnte sie überzeugen, dich gehen zu lassen, wenn ich sofort zu ihnen komme.“

Er verkrampfte seine Hand um ihre, zog sie an seine Brust heran und drückte sie gegen sein schwächer werdendes Herz.

„Sanja. Versprich mir, nicht auf ihre Stimmen zu hören. Versprich mir, mich hier zu lassen und zu gehen.“

„Nein!“ Das Wort war nur noch ein einziges Schluchzen.

„Ich werde immer bei dir sein, Sanja.“

Maxim lächelte, während der letzte Atemzug aus seinen Lungen entwich. Ihr rannen die Tränen über die Wangen, die in einzelnen Eiskristallen zu Boden fielen und den Schnee schmolzen, der von außen in die Höhle hinein geweht wurde. Sie wollte nicht gehen. Sie wollte bei ihm bleiben, hier mit ihm sterben. Doch sein Wunsch lag schwer in ihrem Herzen und sie wollte auch nicht, dass sein Opfer umsonst gewesen sei. Also machte sie sich auf, verließ die Höhle, verließ seine Seite und bahnte sich einen Weg durch die weiße Wüste aus Schnee und Eis. Und immer, wenn sie an eine Kreuzung kam, an der der Schnee sie in eine Richtung wies, folgte sie der anderen, auf deren Seite die Eiskristalle von den Bäumen hingen und im Wind wie ein Glockenspiel zu ihr sangen.

So fand sie nach nicht all zu langer Zeit zurück in ihr Heimatdorf, welches sie nie wieder verließ. Und obwohl der Verlust ihres Geliebten ihr Herz zerbrochen hatte, war es doch nicht unheilbar. Denn als die Blätter begannen wieder von den Bäumen zu fallen schenkte Sanja einem gesunden Jungen das Leben. Maxims und ihr Sohn. Und sie nannte ihn Anjo, der Engel. Da er ihr wie ein kleiner Engel die Hoffnung wieder gebracht hatte, die sie meinte für immer verloren zu haben. Es war, wie Maxim es ihr versprochen hatte. Ein Teil von ihm war für immer bei ihr. Und da Sanja ihre Geschichte dem Dorf erzählt hatte, wurde es zur Tradition anstatt eines Weihnachtsstern einen Eiskristall auf die Spitze des Weihnachtsbaumes zu setzten, um den geliebten Seelen den Weg zurück zu weisen. Ende.“

Die Großmutter blickte zu den Kindern hinab, die sich die Tränen aus den Augen wischten.

„Das ist aber eine sehr traurige Weihnachtsgeschichte, Oma.“, meine Sascha schniefend.

Die Alte lachte: „Ich finde sie sehr schön. Denn sie zeigt uns, dass unsere Liebsten immer um uns sind, auch wenn wir sie nicht mehr sehen können.“

„Ja… aber es ist trotzdem gemein das Sanja allein geblieben ist.“, schluchzte Milena.

„Oh, aber sie ist doch nicht allein geblieben. Sie hatte Anjo! Und sie fand eine neue Liebe, einen wunderbaren Mann, der ihr noch zwei weitere Kinder schenkte.“

Das Mädchen sprang auf und umarmte ihre Großmutter.

„Wirklich? Wie schön!“

„Oma?“, fragte Sascha, dessen Augen leicht gerötet waren, „Wenn ich mich draußen im Schnee verlaufe, wird Maxim mich dann zurück nach Hause führen?“

„Aber natürlich, mein Kleiner. Er wird dich beschützen. Euch beide.“, lächelte die alte Frau.

Die Türklingel schellte und sofort sprangen beide Kinder wie wild durcheinander.

„Mama und Papa sind zurück!“

„Sie haben sicher Geschenke dabei!“

Sie stürzten hinaus und ließen ihre Großmutter allein. Ihr Blick glitt den Weihnachtsbaum hinauf zu dem Eiskristall, der friedlich über sie alle wachte.

Ja, Maxim würde die Kinder beschützen, so wie er sie damals beschützt hatte, als für sie die Hoffnung längst verloren war. Die Kinder, die nicht nur ihre, sondern auch seine Enkel waren. Anjos Kinder.

Großmutter Sanja stand auf und ging hinüber zum Fenster. Das Schneetreiben hatte nachgelassen und die Sonne schien durch vereinzelte Wolkenrisse auf die Erde nieder. Sie brach sich in den vielen kleinen Eiskristallen an den Fenstern und Dächern, den Bäumen und Sträuchern und Laternen und erfüllte die Ortschaft mit einem warmen Licht, dass den Schnee schmelzen ließ und ihren Herzen Glückseligkeit schenkte. Es war als würden die Seelen der Liebsten in den Eiskristallen lachen und ihnen allen frohe Weihnachten wünschen.
 

Ende



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  DanteMaxwell
2012-05-05T20:10:03+00:00 05.05.2012 22:10
Deine Weihnachtsgeschichte hat mir sehr gut gefallen, auch wenn das Ende leider ziemlich absehbar ist. Aber die Idee mit Sanjas und Maxims Geschichte finde ich sehr schön und gelungen. :) Der letzte Satz ist vor allem unglaublich schön. Aber es haben sich einige Flüchtigkeitsfehler bei dir eingeschlichen:

[...]die gefrorene Fensterscheibe, dass Schauspiel beobachtend. = das nur mit einem <s>.

roßen grauen Augen Erwartungsvoll an = erwartungsvoll bitte klein in diesem Kontext. :)

Lockepracht = da fehlt ein <n>

Sie packten das weniges Hab und Gut = wenige, ohne <s> bitte.

hinab und zwang die beiden Verliebten immer öfter Pause zu machen. = Pausen. Das Wort steht in diesem Kontext im Singular. Ich kenne auch die dialektare Form, in welcher man in diesem Kontekt auch den Plural verwendet, aber da der Rest der Geschichte auf Hochdeutsch ausgelegt ist, fände ich Pausen sinniger.

Liebe Schreibziehergrüße
Renni^^ *dich abknuddel*
Von:  Hoellenhund
2011-10-10T14:39:07+00:00 10.10.2011 16:39
Hallo liebe Ricchan-san!

Erst einmal ein großes Dankeschön für deine Einsendung und herzlichen Glückwunsch zum ersten Preis dieses Wettbewerbs. Du kannst dich auf eine vertonte Fassung deiner Geschichte freuen, die bald als CD in deinem Regal thronen wird ;)
„Eiskristalle“ hat uns Juroren sowohl von der sprachlichen als auch von der inhaltlichen Ausarbeitung überzeugt und in den Bann gezogen – der Leser findet eine abgeschlossene, runde Geschichte vor.

Durch die beiden Ebenen – Oma & Enkel / Sanja & Maxim – wird von Anfang an ein Spannungsbogen aufgebaut, der sich zum Schluss der Geschichte im Rhema auflöst und für den Leser ein überraschendes Ende darstellt. Die beiden Ebenen werden letztlich verbunden, keine Fragen werden offengelassen.
Die ganze Geschichte durchzieht eine verzauberte Atmosphäre, was den Leser fasziniert und zum Weiterlesen animiert.

Abgesehen davon finden sich ein paar kleinere Ungereimtheiten im Text: Oma Sanja sagt, Maxim hätte ihr versprochen immer bei ihm zu bleiben, ganz genau steht ist dies im Plot allerdings nicht zu finden. Ebenso schmelzen die gefrorenen Tränen den Schnee – was auf vielerlei Weise nicht möglich ist (Tränen gefrieren durch den hohen Salzanteil nicht, Eiszapfen können den Schnee nicht schmelzen). Dies sind allerdings nur wenige Details, die den sehr positiven Gesamtleseeindruck nicht trüben können.

Wir, das Jurorenteam sind sehr begeistert von deinem Werk und freuen uns darauf, diesem durch Ton und Klang Leben zu verleihen.

Viele Grüße vom NachtschattengewächZ und dem STP-Juroren- Team


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