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Revenge of Rakazel

von

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Xerophes

„Habt Ihr etwa Eure Zunge verschluckt?“

„.....“

„Na gut, dann schweigt eben, aber beim Verhör solltet Ihr früher oder später besser anfangen zu reden, wenn Ihr Euch die Folter ersparen wollt.“

Seine Begleiter hatten sich scheinbar endlich damit abgefunden, dass aus Seik kein brauchbares Wort heraus zu bekommen war.

Er ignorierte die Warnung des Ritters, hielt den Blick gesenkt und blieb stur in seiner Rolle des stillen Arretierten, die er sich selber zugedacht hatte.

Hier und jetzt fühlte er sich weder Rede noch Antwort schuldig und schon gar nicht diesen zwei Figuren, die mit argwöhnischen Blicken neben ihm hermarschierten.

Wozu auch, in Ihren Köpfen war das Urteil doch schon längst gefällt. Wenn er also dennoch zu einem sinnlosen Verhör gezwungen war, dann wollte er wenigstens von einer achtbaren Person vernommen werden.

Vielleicht, mit etwas Glück, würde es jemand sein, der die Absurdität seiner Anklage erkannte und ihm einen letzten, rettenden Strohhalm reichte, an den er sich klammern konnte.

Er würde nicht einen Moment zögern, danach zu greifen.

Ja, mit ein wenig Glück.

Doch wenn sich Seik auf eines verlassen konnte, dann darauf, dass sein Glück ihn verlassen hatte. Und auch diesmal sollte ihm wieder bewiesen werden, wie Recht er damit hatte.
 

Gerade passierten sie die hohe, steinerne Pforte, die über einen stufenlosen Aufgang den Bereich der Unterschicht vom Dentrium trennte. Anlässlich des Festes hielt eine sechsköpfige Gruppe von Rittern Wache, damit kein Fremder sich unerwünschten Einlass verschaffen konnte. Bis auf die vier Zugangspforten, die zu jeder Himmelsrichtung aus dem Dentrium herausführten, war die Stadt so unzugänglich wie eine Festung und niemand mit Verstand versuchte sich unbefugt Zugang über eine der geschützten Tore zu verschaffen. Wer es dennoch wagte, kam selten ungestraft davon.

Auf der anderen Seite der Pforte betraten sie die prachtvolle Vorhalle, die zum Stadtzentrum des Dentriums führte. Unzählige Lampen und Laternen sorgten für eine großzügige Ausleuchtung des gesamten Gangs.

Die mit Äther gespeisten Magiekugeln leuchteten heller und gleichmäßiger als gewöhnliche Fackeln und eigneten sich trotz hohem Energieverbrauch hervorragend als Lichtquelle; nicht grundlos wurde diese Neuerung vor ein paar Jahren als blendender Fortschritt gefeiert. Ja, blendend, im wahrsten Sinne des Wortes, wie Seik in diesem Moment feststellte. Seine Augen, die noch an die dunklen Straßen des nächtlichen Fuoriums gewöhnt waren, schmerzten bei der Intensität des Lichtes und er kniff sie wie ein Maulwurf zusammen.

Erst nach mehrmaligem Blinzeln gewöhnte sich die empfindliche Netzhaut langsam wieder an die Lichtverhältnisse, und er blickte mit einem mulmigen Gefühl in den von unverständlichem Stimmengewirr erfüllten Durchgang. Hier ragten die hellen, weiß gestrichenen Wände imposant über ihren Köpfen empor und Säulen, durch grazile Bögen miteinander verbunden, säumten parallel und in regelmäßigen Abständen die Seiten der Halle.

Auch nach dem Fest herrschte hier ein recht reges Treiben.

Ein paar Adlige waren noch unterwegs und durchschritten die Halle auf dem Weg zu ihren Anwesen oder ließen sich mit Pferdegespannen herumkutschieren.

Er mied ihre schaulustigen Blicke, wann immer sie ihn angafften.

In der Nähe befanden sich ebenfalls die Quartiere der Ritter, die hier nach getaner Arbeit oft anzutreffen waren. Doch heute war, bis auf wenige Wachmänner, kaum jemand aus der Garde da.

Seik mutmaßte, dass keiner von ihnen Feierabend machen konnte, ehe sie Deviresh nicht wieder nach Hause gebracht hatten.
 

Sie setzten ihren Weg zu den Verhörräumen fort.

Doch wie um seine dunkelsten Befürchtungen zu quittieren, führten seine Begleiter ihn nicht wie erhofft weiter in Richtung der Ministeriumsgebäude, sondern bogen ab und erreichten den Abstieg in das untere Stockwerk.

Plötzlich wusste Seik wohin sie ihn führen würden.

Damit starb der letzte Funke Hoffnung und ihm wurde wieder hundselend zumute. Dicht gefolgt von den beiden Rittern, trat er über derbe Steinstufen in den weniger ansehnlichen Teil des Dentriums hinab, wo ihm eine eiskalte Luft entgegen schlug, die unter die Haut kroch und seinen ausgezehrten Körper unweigerlich zum Zittern brachte.

Er setzte einen Fuß auf die nächste Stufe, blieb dann zögernd stehen.

Er wollte da nicht runter. Bei Mafuu, nicht dieser Ort.

Er verharrte einen Augenblick auf der Stelle, doch die Ritter waren ungeduldig und drängten ihn sofort weiter voran, so dass ihm nichts anderes übrig blieb als ihnen Folge zu leisten.

Unten angekommen steckten sie ihn in einen der Arresträume, der seine Insassen mit beispiellosem Ambiente erwartete. Ausgerechnet die Luxussuite, dachte Seik grimmig.

Es handelte sich um eine schlecht beleuchtete Zelle aus rauem Granitstein, die durch ein Gitter vom übrigen Gang der unterirdischen Katakombe abgetrennt war.

Das kümmerliche Inventar bestand lediglich aus einer an der Wand befestigten Sitzbank mit Schieflage, sowie einem fleckigen Waschbecken mit einem verrosteten Wasserhahn darüber und einem ungewöhnlich breitem Rohr darunter.

Einen Abort gab es hier drin nicht, also befürchtete Seik, dass das Becken wohl für zwei Dinge in einem gedacht war.

Die Götter hassten ihn einfach.

Dennoch sprach er stumm ein Stoßgebet an Mafuu, dass er nicht lange genug hier verweilen musste, um von dieser seltsamen Vorrichtung Gebrauch zu machen.

Schon im Fuorium hatte er eine Reihe ekelhafter Dinge getan, die er sich liebend gerne erspart hätte, aber ihm war keine andere Möglichkeit geblieben und er hatte sich mehrmals mit dem Gedanken getröstet, dass es schlimmer nicht werden könnte.

Doch wie es aussah, konnte es das sehr wohl.
 

Nachdem die Ritter ihn abgestellt und mit ihren drohenden Blicken signalisiert hatten, dass er ja keinen Ärger machen sollte, verließen sie kommentarlos die Zelle. Seik wartete mit abgewandtem Gesicht, bis sie endlich den Gang runter verschwunden waren, dann ließ er sich kraftlos auf die schiefe Bank sinken und stöhnte.

Er war platschnass.

Kurz nachdem er draußen aufgelesen und verhaftet worden war, hatte es angefangen wie aus Eimern zu schütten. Ganz so als wäre das die dramatische Untermalung seiner großartigen Rückkehr ins Dentrium.

Nur, dass die Art dieser Rückkehr so großartig war wie einem Hund beim Kacken auf die eigenen Schuhe zuzusehen.

Eine wirklich brillante Lachnummer, wäre es nicht so demütigend sich von den Rittern herumkommandieren und wie einen Verbrecher behandeln zu lassen.

Er fragte sich abermals was ihn geritten hatte, auf dieses verdammte Fest zu gehen. Stattdessen hätte er einen ungestörten, heimischen Abend in den derzeitig eigenen vier, schimmeligen Wänden verbringen können.

Nur mit sich selber und dem hochprozentigen Mitgefühl aus der Flasche, vielleicht jene aus dem gutgeführten Sortiment des Weinhändlers.

Spätestens ab dem Feuerwerk hätte er den Zustand seiner Behausung gar nicht mehr bemerkt. Zugegeben, es war wirklich ein unheimlich versifftes und stinkendes Rattennest, eine Flasche hätte da nicht gereicht, aber immerhin noch besser als hier drin zu hocken.

Moment mal, waren das seine eigenen Gedanken oder wurde er jetzt auch noch wahnsinnig?

Er stöhnte wieder, lehnte seinen Rücken an die Wand und lauschte auf die Geräusche, die im Gang zu hören waren. Von irgendwoher drang das Gerassel von Ketten und irgendwelches unverständliche Gebrabbel bis an seine Ohren.

Jemand sang…oder schluchzte. Er konnte das gedämpfte Geräusch nicht genau definieren.

Recht bedacht wollte er das auch gar nicht.

Abgesehen von ihm, landeten üblicherweise nur Schwerverbrecher oder eben das aufrührerische Gesindel des Fuoriums innerhalb dieses Kerkers.

Er hatte nicht selten selber dazu beigetragen, dass die Zellen neue Bewohner beherbergten. Doch im letzten Jahr hatte sich das Blatt für Seik Jelester in eine unangenehme Richtung gewendet, die sich einfach nicht mehr umkehren ließ. Und er hatte am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie es sich auf der anderen Seite des Gitters anfühlte und dass es jedes Mal weiteren Schmerz und Erniedrigungen bedeuten konnte, wenn er das Geräusch von Schritten hörte die sich seiner Zelle näherten.

Er rieb sich frustriert mit den Daumenknöcheln über die Stirn und überlegte, wie vertraut ihm das noch alles war.

Ganz so als wären nicht Monate, sondern bloß wenige Tage vergangen, seitdem sie ihn das letzte Mal hier unten eingesperrt hatten.
 

In der Tat war er mal ein verdammt reicher Mistkerl gewesen. Vornehm, gut gekleidet, gepflegtes Auftreten, erfolgreich in vielerlei Hinsicht. Das besagte Paradebeispiel an Disziplin.

Nur nicht beliebt.

Das galt sowohl für die Bewohner des Unterschichtenrings, die voller Eifer über ihn und andere Dentrianer fluchten, als auch für die Oberschicht.

Einige Leute aus dem Dentrium hassten ihn so offensichtlich, dass ihm die entgegengebrachte Verachtung selbst hinter einem lachenden Gesicht kaum entging. Aber das störte ihn nicht allzu sehr.

Er hatte nicht viel übrig für Menschen, vor allem wenn sie weder Rang noch Namen hatten, und Taugenichtse oder perspektivlose Versager waren wertlos in seinen Augen. Was für ein grotesker Scherz, dass gerade er zu einem dieser Versager deklariert worden war. Und das ganze wegen einer hanebüchenen Lüge.

Jemand hatte ihm einfach ganz hinterhältig den schwarzen Peter untergejubelt und am Ende war es nicht Seik dem man Glauben geschenkt hatte, sondern dieser dreisten Beschuldigung.

Angeklagt, verurteilt und kurzerhand abgeschoben. Nicht einmal die üblichen Aufklärungsmethoden waren bei ihm zum Einsatz gekommen.

Das Ganze besaß zweifellos den üblen Beigeschmack von Verrat.

Das Fuorium hatte ihn daraufhin gierig mit Schimpf und Schande empfangen. Wie eine Herde Schafe, die mit Dreschflegeln bewaffnet darauf warteten, dass man ihnen den zahnlosen Wolf auslieferte.
 

Mit trübem Blick starrte er auf seine Hände, die wieder mal in Ketten lagen. Eine lächerliche Vorsichtsmaßnahme.

Als wenn er die Kraft oder den nötigen Willen gehabt hätte, gegen die Ritter aufzubegehren.

Zudem waren seine Hände inzwischen so dürr und knochig, dass er damit vielleicht sogar mit ein bisschen Mühe aus den Handfesseln herausschlüpfen konnte.

Das einzige womit er ihnen wirklich gefährlich werden konnte war seine Magie, die zu nutzen er im Moment nicht imstande war.

Außerdem war er müde und sein Kopf schwirrte immer noch grässlich vom Alkohol. Wie so ein irrsinniger Fluchtversuch da enden würde, konnte er sich an allen zehn Fingern abzählen. Wenn er jetzt doch wenigstens eine rauchen könnte, um dieses nervtötende Gefühl seines flauen Magens zu verdrängen, aber leider befand er sich gerade gezwungenermaßen auf Entzug.

Die Kippen hatten sie ihm zwar gelassen, nicht aber sein Feuerzeug.

„Großartige Leistung, ihr scheiß Witzbolde“, murrte er.

Es blieb ihm nichts weiter übrig, als zu warten und diesen unglücklichen Zustand zu ertragen.
 

Das Warten erwies sich als Geduldsprobe.

Die Minuten verstrichen so zäh und ereignislos, dass es Seik bald vorkam als wäre die Zeit hier unten, zusammen mit seinem unterkühlten Körper, eingefroren. Er rieb sich die zitternden Hände, dann die Armgelenke, doch das untätige Herumsitzen zehrte seine Nerven weiter auf.

Mit den Augen verfolgte er die Risse in dem Zementboden bis hinüber zu dem fragwürdigem Becken und ihm wurde schlecht dabei.

Wie spät es wohl inzwischen war?

Schwer einzuschätzen, wie lange er nun darauf wartete, dass etwas mit ihm passieren würde.

Vermutlich würde es gar keine Befragung mehr geben, stattdessen ließen sie ihn hier drin einfach schmoren, abgestellt und vergessen.

Eine unliebsame Ratte weniger, wie Gillermo zuvor schon treffend formuliert hatte.

Durchaus möglich, dass sie Lourde in der Zwischenzeit längst wieder gefunden hatten oder noch besser, vielleicht war er gar nicht erneut verschwunden und man hatte einfach einen Grund gesucht Seik den blanken Hintern zu zeigen.

Er konnte sich das schadenfrohe Gesicht des Ritterhauptmanns genau vorstellen, sah wie er in netter Runde mit seinen Männern zusammensaß, sich einen Humpen Wein hinunterkippte und mit roter Nase und unverhohlener Genugtuung von Seiks Festnahme schwadronierte.

Aber nein, so ein Aufstand, nur um ihm eins auszuwischen, das passte nicht zusammen.

Irgendetwas musste passiert sein, was diesen Aufruhr erklärte und wenn der Junge tatsächlich verschwunden blieb, würde das einen fatalen Rückschlag für das Dentrium bedeuten. Doch noch ehe Seik weiter darüber nachdenken konnte, schreckte ihn das Geräusch von Schritten auf.

TRAP TRAP.

Dumpf und hart klangen sie immer lauter in dem Flur wieder.

Sie kamen näher -TRAP TRAP TRAP-, begleitet von einem schleifenden Geräusch, und ihn beschlich die unbestimmte Gewissheit, dass sie wegen ihm kamen.

Sein Körper versteifte sich abrupt, als schließlich zwei Wachmänner hinter dem Gitter auftauchten. Aber sie waren nicht alleine.

Sie zogen einen wimmernden Insassen an den Beinen hinter sich her, an Seiks Zelle vorbei, und als er sich etwas vorlehnte und vorsichtig zur Seite spähte, konnte er gerade noch einen Blick auf das Gesicht des Mannes erhaschen.

Er war geschlagen worden.

Dunkle Flecken blühten auf den geschwollenen Stellen und über einem Auge prangte eine aufgeplatzte Wunde. Seik versuchte in dem gedämmten Licht zu erkennen, was da seitlich an dem Kerl herunterhing und ihn durchlief ein schauriges Kribbeln, als ihm bewusst wurde, dass das gekrümmte Gebilde sein Arm war.

Er musste mehrmals gebrochen worden sein sein, andernfalls ließ sich dieser bizarre Winkel, in dem er vom Körper abstand, nicht erklären.

Als nächstes hörte er wie ein Schloss geöffnet wurde, während die beiden Wächter irgendwelche Befehle grunzten, die er nicht wirklich verstand.

Den Geräuschen zu urteilen steckten sie den armen Kerl zurück in seine Zelle. Seik wurde übel.

Nicht wegen dem Mann. Der Mann und dessen Schicksal waren ihm egal.

Sein Anblick war zwar mitleiderregend, aber das ging ihm nicht allzu nahe. Vielmehr beunruhigte ihn die Aussicht auf den Verlauf seiner eigenen Befragung, denn er war nicht erpicht darauf, danach in genau demselben Zustand abgeführt zu werden. Die Behandlungen die den Verbrechern hier unten zu Teil wurden, waren ihm bekannt. Schuldig oder nicht, das war vollkommen irrelevant um jemanden so zuzurichten wie diesen Mann.

Nachdem er die scheppernde Tür der Zelle hörte und diese verschlossen wurde, kamen die Wächter wieder an seinem Gitter vorbei.

Der erste, ein großer, bulliger Mann mit breiten Schultern, trottete achtlos weiter.

Der zweite Wachmann, schmaler gebaut als sein Kollege, ging ihm nach, sah aber mit scharfem Blick zu Seik in die Zelle hinein.

An seinem Kragen klebten verräterische, dunkle Flecken.

Bei Mafuu. Seik lag weiß Gott nicht daran, die Aufmerksamkeit dieser Männer auf sich zu ziehen. Er senkte möglichst unauffällig den Blick, starrte auf den Boden und hoffte, dass sie schnell weitergingen.

Die verdammten Kerle ließen sich Zeit, murmelten irgendetwas vor sich hin, aber als er sich vorsichtig aus dem Augenwinkel nach den beiden umsah, waren sie vorbei.

Seik hielt einen Moment die Luft an, dann atmete er aus.
 

„Heee, ich hatte doch recht. Bleib mal stehen und schau dir das an.“

Seik ahnte nichts Gutes, als sich erneut die Gestalt des kleineren Wächters in sein Sichtfeld schob.

Er stand unweit der Gitterstäbe und als Seik ihm langsam den Blick zuwandte, konnte er sehen wie seine spröden Lippen ein linkisches Lächeln formten.

Er hatte ein rundliches Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen und sein spärliches Haar lag fransig auf der Stirn verteilt. Seik kannte den Mann. Er hatte ihn bei einigen seiner Einsätze befehligt. Nicht, dass er es als nötig befunden hätte, sich das Gesicht jedes beliebigen Wachmannes zu merken, doch an die kleine, spitzgeformte Geiernase und die dümmliche Art zu grinsen konnte er sich noch gut erinnern.

Der Wächter kam näher ans Gitter und das dämliche Grinsen breitete sich auf seinem ganzen Gesicht aus.

„Wenn das nicht Herr Jelester ist. Schön Euch mal wieder zu sehen. Lang, lang ist es her.“

Seik blickte den Wächter eine Weile ausdruckslos an und war nicht verblüfft darüber, wie hinreißend sich dieser in seiner Schadenfreude suhlte. Seit jeher war seine Beziehung zu den Wachmännern, wie in schweigender Übereinkunft getroffen, von einer tiefen Antipathie geprägt, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Kein Wunder also, dass sich die Freude über sein Schicksal so unverfroren auf deren Gesichtern abzeichnete.

Damals war der Kerl noch ein Ritter gewesen, im Übrigen ein lausiger, der mehr mit seinen kuriosen Frauengeschichten, als mit glorreichen Taten aufgefallen war. Unfähige Männer wie er stellten eine Beleidigung für die stolze Rittergarde dar.

Das hatte Seik auch dem Rat der Minister begreiflich machen können und darum war er nun kein ehrenvoller Ritter der Garde mehr, sondern Wächter. Und Seik war kein hochrangiger Magier mehr, sondern Gefangener.

Dumm gelaufen…
 

„Ich hätte Euch ja fast nicht wiedererkannt. Ein bisschen kränklich seht Ihr aus und Ihr habt ja unheimlich abgenommen. Geht es Euch etwa nicht gut?“

„Kommt vom vielen Feiern“, erwiderte Seik reserviert.

Er konnte nur hoffen, dass der Wächter schnell die Lust auf ein Gespräch verlieren und wieder seiner Arbeit nachgehen würde. Dieser verzog amüsiert seine Lippen, ließ die Zunge im Mund kreisen und nickte übertrieben verständnisvoll.

„Achso. Na, dann haben wir Euch doch hoffentlich nicht die Feierlaune verdorben?“

Seik lag ein Seufzen auf der Zunge. „Ich frage mich nur wie lange ich hier noch warten soll.“

„Ohhh, vielleicht für den Rest Eures Lebens? Wobei Euch das ja bestimmt freuen dürfte. Korrigiert mich, wenn ich falsch liege, aber die Zelle hier ist bestimmt immer noch ein bisschen schicker als das stinkende Loch im Fuorium, oder?“

„...“, Seik schwieg.

„Naa? Was ist?“

„Tu mir den Gefallen und verschwinde einfach, dann wäre die Luft hier unten auch wieder erträglicher“, zischte Seik, mehr zu sich selber, als an den Wachmann gewandt und ärgerte sich im selben Moment darüber, dass seine Stimme in dem Raum lauter klang als beabsichtigt.

Kein kluger Schachzug in Anbetracht seiner jetzigen Lage laut zu denken. Auch wenn er Mühe hatte, seine Verachtung gegenüber dem Mann zu verbergen, wusste er, dass er sich so nur Probleme einhandeln konnte.

Genau wie es der Wächter wusste und so brachte ihn die trockene Antwort zwar kurz ins Stutzen, doch auf sein verdutztes Gesicht folgte sofort wieder ein hämisches Grinsen. Er wechselte einen verschwörerischen Blick mit seinem Kollegen, der sich inzwischen dazu gesellt hatte.

„Natürlich, Herr Jelester! Wie konnte ich es nur wagen Eure Privatsphäre so zu stören? Ich werde nur kurz hereinkommen und Euch Euer Kissen aufschütteln, und dann bin ich auch ganz schnell wieder weg, ja?“

Dann hob er das Schlüsselbund ein wenig hoch, ließ es klimpern und begann eine fröhliche Melodie zu flöten. Seik merkte wie sich seine Schultern verspannten, als sich der Schlüssel knirschend im Schloss herumdrehte. Sofort tauchte das Bild des verprügelten Mannes vor seinen Augen auf.

„Das ist nicht nötig“, widersprach er, aber zu spät.

Der bullige Wächter sah über den Flur entlang und als niemand in Sicht war, deutete er seinem Kollegen mit einem Nicken an, dass die Luft rein war. Die Zelle wurde aufgestoßen und der Wächter trottete herein, während der andere draußen Wache hielt.

„So, vielleicht möchtet Ihr nochmal über Dinge nachdenken, die Ihr gesagt habt oder es könnte ungemütlich werden in Eurer privaten Suite hier, hm? Wenn ich mir schon die Zeit nehme, Euch ein wenig zu befragen und Ihr mir sagst, was ich hören will, sind wir doch beide fein raus.“

Seik blieb weitestgehend gefasst und nickte.

„Also gut.“

Er war froh, dass er seine Stimme trotz der Nervosität weiterhin unter Kontrolle hatte. Vor diesem Kerl wollte er sich nicht die Blöße geben.

„Was willst du hören?“

„Zu allererst könntet Ihr Euren Ton ein wenig einstimmen. Ich will, dass Ihr… Ach, eigentlich können wir auch auf Förmlichkeiten verzichten, nicht wahr? Ich meine jetzt, wo ich ja praktisch über DIR stehe. Ich bin ein Dentrianer und du? Ja, richtig, eine aussätzige, kleine Ratte aus der Unterschicht!“

Seik hielt die Klappe und hörte widerspruchslos zu.

„Also sprich mich mit dem nötigen Respekt an. Ich bin Herr Fasarth für dich, Fuorier. Und als nächstes kannst du mir sagen wo du den Jungen hingeschleppt hast.“, lachend wedelte der Wächter mit den Schlüsseln, als er Schritt für Schritt näher kam.

Ratte. Fuorier. Ob er noch weitere Beschimpfungen auf Lager hatte, oder waren das schon die ganz harten Geschütze? Von diesem Schwachkopf ausgesprochen verfehlten die Worte ihr Ziel, schmerzten nicht mehr allzu stark. Sie waren kein Vergleich zu der Qual und den Schikanierungen die er in den letzten Monaten über sich ergehen lassen hatte und durch die er beinahe resistent gegen jegliche Arten von Beleidigungen geworden war.

Trotzdem ertappte er sich dabei, wie die Aufforderung des Wächters, ihm gefälligst Respekt zu zollen, einen Funken Wut in ihm aufflammen ließ. Unter anderen Voraussetzungen hätte es das Großmaul nicht gewagt, sein Wort derart gegen Seik zu erheben. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie ein einziger, mahnender Blick genügt hatte, um den Kerl vor sich buckeln zu lassen.

Jetzt legte er es offenbar darauf an, den Spieß umzudrehen, nur war Seik nicht bereit sich darauf einzulassen.

„Deviresh wird also immer noch gesucht?“, murmelte er gleichgültig und schüttelte etwas den Kopf. „Bedauerlich…der arme Junge. Dumm gelaufen würde ich sagen.“

Der Wächter knirschte unwirsch mit den Zähnen.

Sicherlich war auch ihm bewusst, was für Folgen das für das Ansehen der Garde hatte, würden sie den Vermissten nicht schnell und unversehrt zurück nach Hause bringen. Aber was konnte ein rangloser Wächter schon unternehmen, als die Situation hilflos abzuwarten?

Es sei denn es fand sich jemand der noch hilfloser war und an dem er zumindest seine angestaute Aggression abreagieren konnte.

Als würde der Wächter Seiks Gedanken Zustimmung beipflichten wollen, holte dieser mit seinem Bein Schwung und rammte mit einem kräftigen Fußtritt sein Schienbein. Der Schmerz explodierte augenblicklich, Seik verkniff jäh das Gesicht und der Wächter keifte ihn unbeherrscht an

„Hör mal, versuch hier nicht den Harten zu mimen, Jelester. Es sollte in deinem Interesse sein, dass der Junge zurück gebracht wird, denn wenn er verschwunden bleibt, dann werden ein paar Leute sicher gerne alles veranlassen, dich als Schuldigen da stehen zu lassen. Und ich werde ganz vorne bei deiner Hinrichtung stehen, um dir zuzuwinken, wenn sie dir den Strick um den Hals legen. Du kannst dich sicher noch gut daran erinnern, wem ich diesen miserablen Posten als Wächter zu verdanken habe. Ja, DAS ist mal DUMM gelaufen, was?“

„Mir kommen gleich die Tränen“, keuchte Seik.

Der Schmerz in seinem Bein ebbte langsam wieder ab, aber in Erwartung des nächsten Tritts drängte er sich enger an die Wand hinter sich.

„Was war das?“

„Nichts. Ich fürchte nur ihr verschwendet wertvolle Zeit mit mir“, wehrte er ab und hoffte der Diskussion damit ein schnelles Ende zu setzen. „Ich weiß nicht was mit Deviresh passiert ist.“

„Glaubst du wirklich, dass du mir so davon kommst?“

„Wenn es nun mal die Wahrheit ist?“

„Absoluter Blödsinn ist das.“

„Genau wie dein affenartiges Benehmen.“

„Klappe!“

Der Wächter stürzte ungehalten auf ihn los, wobei ihre Kniescheiben hart gegeneinander krachten. Er griff in Seiks Haare und riss seinen Kopf mit Schwung in den Nacken. Seik biss die Zähne aufeinander und sah angewidert in das zorngerötete Gesicht über sich. Aus dem geöffneten Mund strömte ihm ein ekelhafter Pfefferminzatem entgegen.

„Jetzt sag zur Abwechslung wirklich mal die Wahrheit. Die Wahrheit, du arroganter Mistkerl! Sag mir, was für ein Drecksstück du bist.“

Seik konnte sich nicht durchringen, irgendetwas darauf zu erwidern. Die wässrigen Augen des Mannes gafften umso gereizter und er kläffte ihm eine weitere Drohung entgegen, wurde aber plötzlich von seinem Kollegen unterbrochen. „Hey, Fasarth, Schritte! Lass lieber ab, wir haben keinen Befehl zum Verhör!“ Der Wächter sah überrascht und ärgerlich auf.

Er zog Seiks Kopf wieder zurück, bevor er ihn losließ und brachte seinen Mund dicht an sein Ohr.

„Es wird übel für dich enden, Jelester, darauf hast du mein Wort!“, knurrte er und ging eilig zur Zellentür, um hinaus zu spähen.

„Ah, verdammt!“

Als Seik wieder aufsah, stellten sich die beiden Wächter bereits in ehrerbietender Haltung auf und starrten angestrengt nach vorne, wo sich eine weitere Person der Zelle näherte.

Wie ein Gespenst erschien hinter den Gitterstäben die Gestalt eines älteren Mannes mit glatt zurückgekämmtem, blassblondem Haar und noblem Antlitz, der in einer erhabenen Haltung ein kurzes Nicken an die beiden richtete.

Er trug die Gewandung eines Hohepriesters am schmalgebautem Leib, die nur dem höchsten Würdenträger Grisminas zugedacht war.

Seik erschauderte. Xerophes!

„Willkommen, Exzellenz“, grüßten die beiden Wächter etwas fahrig.

Dann Stille.

Eine geschlagene Weile sah der Ältere einfach nur zu dem Mann an der geöffneten Gittertür. Sein Blick schien ihn sorgsam überlegt abzutasten, wie eine Eule es tat, bis sie sich entschloss lautlos und präzise auf ihre Beute herabzustürzen und ihr einen kurzen Tod zu bereiten.

Als der Wächter das Wort erheben wollte, um die für ihn ungünstige Sachlage zu klären und warum die Zelle bereits offen stand, war es die Hand Xerophes, die sich gewichtig in die Luft hob um das angefangene Herausgerede zu unterbrechen. Ohne den Blick abzuwenden, sprach er nun mit ruhiger, beinahe andachtsvoller Stimme zum Wachmann:

„Ich würde Euch höflichst darum bitten, mir Einlass zu dem Gefangenen zu gewähren, um die Befragung durchzuführen. Die Zeit...sie eilt.“

Seiks Gedanken stürzten wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Der Hierophant persönlich kam, um sich seiner anzunehmen und die Befragung durchzuführen.
 

Die grau-gelblichen Augen fanden ihren Weg zu Seiks wehleidiger Gestalt und ein sorgsames Lächeln wuchs über die Lippen des Mannes, das genauso verständnisvoll wie eisig wirkte und somit ohne vieler Worte klar machte, wie herablassend wenig er für den Gefangenen übrig hatte.

Seiks Hals wurde unter dem Blick des höhergestellten Magiers noch trockener als zuvor. Was bewegte einen Mann wie Xerophes dazu hier unten zu erscheinen, wenn es doch andere hochrangige Personen gab, die eine Vernehmung an einer unwichtigen Ratte aus dem Fuorium durchführen konnten?

Am liebsten wäre er tatsächlich auf die Größe einer Ratte geschrumpft, um seinen bebenden, von flatterndem Herzschlag begleiteten, Körper schnell durch eine der tiefen Ritzen in den Zellenwänden zu retten. Lieber ein Leben als Ratte, als dem Zorn des Hierophanten ausgeliefert zu sein.

Den Wächtern schien es nicht anders zu gehen, denn beide versuchten mit solcher Anspannung Stellung zu halten, dass nur ein Pfahl durch den Rücken sie noch gerader gehalten hätte.

Der Kleinere, dem es sein vorlautes Mundwerk verschlagen hatte, machte nach kurzem Zögern eiligst, um Xerophes durchzulassen und huschte somit selber wieder aus der Zelle hinaus, um sich neben seinem Kollegen aufzustellen.

Der Hierophant trat ein.

Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde mit jedem Schritt dünner, schmaler, kaum mehr zu sehen und dann war da nur noch eine harte, undurchdringliche Maske, die keinen Gedankengang mehr verriet.

„Magus Jelester,“ begann er sich an Seik zu wenden, „Es ist eine Zeit her, dass ich in Euer Angesicht sah.“

Seine Worte kamen zwischen zusammengepressten Lippen hervor und in einer Weise, die einer Beschwörungsformel glich.

Seik war Xerophes bislang nur wenige Male persönlich unter vier Augen begegnet. Der alte Mann war ein bemerkenswerter Magier, mit einem breit gefächerten Wissensschatz und seine magischen Künste umfassten ein beachtliches Spektrum an Fähigkeiten, bei dem Seik sich nicht einmal sicher war, wo es anfing und wo es tatsächlich endete.

Zu Recht besaß er einen respekt-, nein, um nicht zu sagen, angsteinflößenden Ruf. Innerhalb der Gilde kursierte schon seit längerem das Gerücht, dass Xerophes sogar Bereiche verbotener Magie erforsche, allein die Art wie er artikulierte ließ ihm kalte Schauer über den Rücken laufen.

Jedes einzelne Wort sprach er langsam und bedacht aus und gab ihm jederzeit einen bedeutungsvollen Unterton.

Das Merkwürdigste an ihm waren aber seine Augen, die keinen Punkt zu fixieren schienen und einem das irritierende Gefühl bereiteten, in keinem direkten Blickkontakt zu stehen. Er sah durch seine Gesprächspartner hindurch, als wären sie bloß Luft, oder zu wertlos um von diesem Mann eines Blickes gewürdigt zu werden. Jetzt schämte sich Seik mehr als ihm lieb war seines verlotterten Aussehens.

„Exzellenz, ich habe nicht erwartet Euch hier zu begegnen“, sagte er kleinlaut. Sein Hals kratzte beim Reden und er musste schlucken.

Xerophes starrte ihn weiterhin mit glasigen Augen an.

„Ich bin gekommen, um mich mit Euch zu unterhalten. Seid Ihr dazu bereit?“ Er bediente sich dem tadelnden Tonfalls eines Vaters, der sein Kind schalte, nachdem es sich einer Ungehorsamkeit schuldig gemacht hatte.

Ob er bereit war? Was für eine Frage.

War er bereit gewesen, ohne Vorwarnung sein Leben im Dentrium zu verlieren?

War er bereit gewesen, als ein Versager das Dasein im Fuorium zu fristen und alle Hoffnung hinter sich zu lassen?

Nein!

Und jetzt war er genau so wenig bereit.

Frierend starrte er Löcher in die Luft. Sein Atem kondensierte vor seinen halb geöffneten Lippen zu einem weißen Nebel.

Das war nicht mehr die normale, zugige Kühle eines steinernen Kellers, die sich im Raum sammelte.

„Ich...weiß nicht“, brachte er zögernd hervor.

„Ihr solltet es wissen, Jelester. Wurde Euch nicht gelehrt vorauszublicken, Situationen zu beherrschen und Euer Können effektiv in die Dienste Eures Wappens zu stellen? Damals war es so gewesen. So denke ich. Und heute? Euer Gesicht, hohlwangig, seiner einstigen, galanten Erscheinung beraubt, und die Gestalt gekrümmt, wie ein verdörrter Baum. Armselig - karg - bedauernswert.“

Xerophes senkte den Blick bekümmert, obwohl er die eindringlichen Worte mit bewussten Pausen und gezielten Betonungen in ihrer Wirkung nur bestärkte.

Im Angesicht seiner Hochwürden schnitt dieser unverblümte Vortrag messerscharf in Seiks noch unverheilten Wunden.

„Ja, damals, Jelester. Aber die Zeit läuft mit einem weiter... Unaufhörlich bringt sie einen an das Ziel, dass uns vorherbestimmt ist. Möchtet Ihr nicht noch einmal überlegen, was Ihr wisst?“

„Ich möchte tot sein“, war das einzige, das Seik in diesem Augenblick noch einfiel.

Stille folgte seinen Worten, während sein Gegenüber ihn erwägend musterte. Plötzlich wurde ihm sein Fehler bewusst.

Was, wenn er gerade tatsächlich kurz vor der Erfüllung seines Wunsches stand? Xerophes trat näher heran und streckte abrupt eine Hand nach Seik aus, vor der er zurückwich, doch die Wand hinter seinem Kopf verriet ihm mit einem dumpfen Aufprall, dass es keine Rückzugsmöglichkeit mehr gab.

Seik kniff die Augen zusammen und keuchte weiße Nebelwolken, doch er spürte nichts, nur das bebende Auf und Ab seines Brustkorbs. Als er langsam wieder die Augen öffnete, waren Xerophes knochigen Finger nur einen Hauch von seinem Gesicht entfernt und er konnte die Altersfurchen in der weißen Handfläche sehen.

„Möchtet Ihr, dass ich Euch Euren törichten Wunsch erfülle? Möchtet Ihr frei sein?“

Xerophes Worte waren voller zäher Güte und Seik fühlte wie sich ein dicker Kloß in seinem Hals bildete.

Er fühlte sich schwach und haderte mit der Versuchung „ja“ zu sagen. Jetzt in unmittelbarer Nähe des Hierophanten umhüllte ihn die Kälte wie eine fremde Aura und lullte seine Gedanken ein.

Plötzlich schien es eine verlockende Vorstellung zu sein einfach zu fliehen, nicht selten hatte er den Tod als Ausweg aus seiner erniedrigenden Lage ersehnt. Aber er wollte nicht sterben. Seik fürchtete sich zu sehr vor dem Tod, vor allem gebracht von der Hand des Hierophanten.

Während er noch über eine Ausflucht nachdachte, griff der Hierophant in eine Tasche seiner Gildentracht und zog eine kleine, goldene Taschenuhr hervor.

Mit abwesender Miene strich er über die, mit ineinander gewundenen Mustern verzierte, Deckkappe des Schmuckstücks und öffnete sie.

Sogleich ergriff ein rasender Kopfschmerz von Seik Besitz.

Wie von einem innerlichen Blitz getroffen, verzerrten sich seine Gesichtszüge vor Grauen und er riss die Hände hoch um sie an seinen Kopf zu pressen.

Nutzlos.

Der Schmerz kam mit einer Intensität, die ihm den Atem raubte und selbst einen Schrei ersticken ließ. Als würde sich sein Schädel unter der Kopfhaut zu spalten beginnen.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er ungläubig zu seinem Gegenüber, doch der machte sich ungerührt von Seiks Leiden lediglich daran seine Uhr zu putzen. Die Wachmänner, die noch immer am Zelleneingang Stellung hielten, traten unruhig von einem Bein zum anderen.

Erneut griff eine Welle des Schmerzes nach Seiks Verstand, diesmal war es nicht nur in seinem Kopf, sondern legte sich über seinen gesamten Körper und er hatte das Gefühl als würde unsichtbares Schmirgelpapier seine Haut zerreiben.

Immer dann, wenn Xerophes über die tiefen Risse und Kratzer, in die das Uhrenglas zersprungen war, strich, wallten neue Schmerzen auf.

Bald verwandelte sich sein Körper in ein empfindliches Gebilde aus Nerven und Fleisch, in das die fremde Magie unnachgiebig ihre Krallen trieb. Er riss verzweifelt den Kopf zurück und schlug abermals hart mit dem Hinterkopf gegen die Wand, schlug wieder und wieder zu, als könnte er damit den Dämon vertreiben, der ihn quälte.

„Aufhören! Bitte...! “

Er konnte kaum reden, so laut klapperten seine Zähne vor Kälte. Wie eine frostige Woge strich sie immer wieder über seine zitternden Gelenke, fraß sich mit jeder Sekunde mehr und mehr in ihn hinein und durchdrang die Knochen bis aufs Mark. Hilflos krümmte sich Seik zusammen und versuchte seine Augen zu schließen, aber er konnte nicht. Sie waren so trocken und brannten wie Feuer. Sein Fleisch brannte wie Feuer. Seik fühlte, wie ihm die Galle aufstieg.

Die Angst und Anspannung hatten sich zu einem Gefühl des Krankseins gebündelt, das seinen Hals allmählich hinaufkroch. Er kämpfte gegen die Übelkeit an und versuchte seine Fassung zurückzugewinnen.

„Bitte aufhören. Tötet mich nicht.“

Die Taschenuhr wurde wieder zugeschlagen und gleichzeitig verebbte der Schmerz schlagartig.

Zurück blieb einzig das Gefühl absoluter Leere.

Seik brauchte eine Weile, bis die Wirklichkeit ihn wieder eingeholt hatte und er merkte, dass es vorbei war. Genau so schnell wie es begonnen hatte.

Nicht mal ihm, der ein Kenner war in den verschiedensten Formen der Magie, sogar weit über das gängigste Wissen hinaus, war eine derart realistische Art von Illusionen bekannt. Kraftlos und ausgezerrt sackte er auf der Bank in sich zusammen.

Endlich war er wieder in der Lage sich die Trockenheit aus den brennenden Augen zu blinzeln, doch dass es vorerst aufgehört hatte, konnte ihn nicht beruhigen. Was er jetzt spürte war nicht besser als der Schmerz, es war nackte, pure Angst.
 

Xerophes stand noch immer an Ort und Stelle und betrachtete ihn mit einer undurchsichtigen Miene.

„Nein? Dann habt Ihr Euren Entschluss noch einmal überdacht? Wenn Ihr ein kluger Mann seid, Jelester, dann zeigt Euch willens mir bei der Aufklärung von Deviresh’ Verschwinden behilflich zu sein und Euer Leben wird nicht vor seiner Zeit enden. Diese Entscheidung liegt allerdings in Eurer Hand, hauchzart und schwindend wie der Sand eines Stundenglases.“

Die Entscheidung fiel ihm nicht mehr allzu schwer: „Ich sage alles... Alles was Ihr hören wollt.“
 

Der Hierophant des Dentriums genoss jeden Tropfen zähen Widerstandes, der sich von Seik Jelesters gebrochenem Verstand löste und sich unter ihm zu einer imaginären Pfütze sammelte.

Er fühlte sich heute großzügig und gewährte dem ehemaligen Magier die Zeit, die er brauchte, um seine Fassung wiederzuerlangen.

Noch hatte er genug davon, wie ihm die goldene Taschenuhr mit ihrem melodiösen Ticken zuflüsterte. Doch er musste es zu Ende bringen, bevor seinem wertvollen Besitz etwas zustoßen konnte.

Jelester schnappte nach Luft und richtete sich Stück für Stück wieder auf.

Er musste bemerkt haben, dass Stille eingekehrt war, denn sein irritierter Blick war ihm wieder zugewandt. Zu Xerophes Wohlgefallen lag hinter den tiefschwarzen, sonst so desinteressierten Augen, eine wahnsinnige Furcht.

Und dieser Mann hatte sich eben noch den Tod gewünscht.

Xerophes schloss sein goldenes Schmuckstück in seiner Faust ein und legte die Hände dann hinter den Rücken, eher er sich ein paar Schritte weit von dem Abschaum menschlichen Versagens entfernte.

„Sprecht.“

„Ich weiß nicht wo Deviresh sich befindet...“, antwortete Jelester sehr leise und mühsam, fügte aber rasch noch etwas hinzu. „Aber vielleicht weiß ich, wer es wissen könnte.“

Während seine Augen ziellos durch den winzigen Arrestraum wanderten und immer wieder vor Xerophes zurückwichen, setzte er seinen Bericht fort.

„Da war ein großer Mann... ein Händler mit roten Haaren. Bei ihm hielt sich noch ein junger Mann von der Straße auf. Ich habe gesehen, wie beide während des Festes mit Deviresh gesprochen haben... Kurz danach ist der Junge verschwunden. Möglich, dass sie etwas damit zu tun haben.“

Der Hierophant ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Offensichtlich klammerte sich Jelester an eine Möglichkeit, an die er selber nicht glaubte, so deutlich, dass der Unglauben in seiner Stimme mitschwang. Doch Xerophes war nicht erzürnt darüber, wie sich der ehemalige Magus darin wand, seine Fragen zufrieden zu stellen.

„Wie lauten die Namen der zwei Verdächtigen?“

Jetzt keimte abermals Panik in Jelesters Augen auf.

Mit zuckenden Pupillen suchte er in seiner Erinnerung nach den richtigen Namen, die ihm anscheinend nicht einfallen wollten. Auch ohne Xerophes Einwirkung musste der Gedanke über den Verlust der Namen Jelester so verängstigen, dass er in Verzweiflung ausbrach. Er duckte sich in Erwartung neuer Strafen noch tiefer und erweckte den Anschein eines kauernden Tieres.

Dem Hierophant gefiel es, dass Jelester eine ihm passende Rolle eingenommen hatte. Die Zeit war nun reif, da er kaum mehr im Stande war sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Xerophes nickte den Schatten zu, die verursacht vom müßigen Fackelschein des Flures, zitternd über die Zellenwände tanzten und ihm ebenfalls zunickten.

„Gemach, Gemach. Kein Grund zur Verzweiflung. Ich werde Euch behilflich sein, was den Verlauf Eurer Erinnerung betrifft, Jelester. Es wird schnell gehen, macht Euch keine Sorgen darüber.“

Ein hässlicher Ausdruck legte sich über Jelesters Züge als Xerophes abermals näher an ihn herantrat, um die Hand nach ihm auszustrecken. Doch diesmal zuckte er nicht zurück, wagte nicht einmal mehr zu atmen, während Xerophes ihm die Sicht verdunkelte.

Leise sprach er geheimnisvolle Worte. Sätze aus einer fremden Sprache, die er immer wieder wiederholte und die in der Zelle zu etwas Greifbaren wuchsen.

Unter seinen Fingern konnte er spüren, wie Jelesters Augenlider flatterten.

Er zog ihn mit sich in einen tiefen, schwarzen Abgrund des Unterbewusstseins und ließ ihn nicht los, auch nicht als sie die modrigen, stickigen Zellenwände hinter sich gelassen hatten und fern der Realität an einem neuen, geheimen Ort angekommen waren.

Der Hierophant konnte seine eigene Stimme aus der Ferne hören, die in der Leere ihres Bewusstseins wiederklang, wie das Hallen innerhalb einer Kathedrale, dort schwoll sie zu einem einzigen Ton an.

Ein Surren, nein, ein leises Ticken.

Wie das Geräusch eines Uhrzeigers, der monoton immerzu dieselben Kreise drehte. In den Ohren des Hohepriesters ein willkommener Wohlklang, der seine Meditation in noch tiefere Sphären ermöglichte.

Und dann war da Jelester.

Er konnte ihn nicht sehen, doch er konnte ihn spüren.

Er spürte wie Jelester mit ihm verschmolz und war nun selber Bestandteil seiner Ängste und Verzweiflung - seiner Erinnerungen.

Das Uhrenticken dröhnte laut und in diesem Moment konnte der Hierophant durch die Augen des anderen Mannes sehen.

TICK. Ein Bild flammte aus dem schwarzen Nichts auf. Männer und Frauen ohne Gesichter, die in einer großen Halle standen und durcheinander sprachen. Alle in Roben und prächtigen Gewandungen. Als er kam, machten sie Platz. TACK. Das Bild verschwand in dem Sekundentakt, den der Uhrzeiger brauchte um den nächsten Ton anzuschlagen, nur um durch ein neues Bild ersetzt zu werden. Die Gesichtslosen hinter sich gelassen, starrte er am Ende der Halle in einen großen Spiegel. Starrte auf das Spiegelbild einer wohlbeleibten, ansehnlichen Person mit pechschwarzen Augen, in ebenfalls reichlich verzierte Kleidung gehüllt. TICK. Wieder verschwamm und wechselte das Bild, zeigte einen Jungen im Kindesalter mit schwarzem Haar und strengem Gesicht. Zeigte wie dem Knaben mit der flachen Hand in das gepflegte, makellose Gesicht geschlagen wurde. TACK. Dasselbe Kind, akkurat hergerichtet, perfekte Haare, wie es neben einem weiteren, kleinen Jungen auf dem Boden saß. An einen Schrank gelehnt. Beide saßen ganz ruhig da, brav, den Kopf nach vorne gebeugt, als würden sie dort schlafen. TICK. Ebenfalls schlafend: eine junge, bildhübsche Frau lag auf dem Bett. Ihr haselnussbraunes Haar ergoss sich weit über das zerwühlte Laken. Sie trug ein schneeweißes Kleid mit roten Sprenkeln und ihre Füße ragten nackt und zierlich über den Bettrand. Um ihren Hals lag eine Kette aus tiefroten Perlen, doch sie schlief gar nicht, ihre Augen waren geöffnet. TACK. Die Frau war schon wieder in weite Ferne gerückt, dafür sah er nun die massiven Holzpodeste des Tribunals vor sich. Gesichts- und namenlose Ankläger donnerten unverständliche Drohungen auf ihn nieder. TICK. Das Bild zerriss als brennender Schmerz, der ihn in das nächste Szenario zog. Er stand inmitten eines lottrigen Hauses. Glasscherben und Dreck bildeten einen Teppich auf dem Boden zu seinen Füßen. In den Glasscherben konnte er verzerrt einen weiteren Blick auf sein Spiegelbild erhaschen. Doch der Mann darin war ein anderer. Ausgezerrt und von tiefen Schatten gezeichnet. Die Augen starrten wie schwarze Perlen aus dem eingefallenen, blassen Gesicht. Ein Anblick der nichts von einem Edelmann übrig gelassen hatte. TACK. Es war dunkel. Nacht. Das feuchte Geräusch auf den Boden tropfender Flüssigkeit erfüllte die Stille und ein strenger Alkoholgeruch lag in der Luft. Eine dünne Glasscherbe in seiner Hand reflektierte spärliches Mondlicht, während er sie auf sein Handgelenk drückte. Aber er konnte es nicht. Er konnte es einfach nicht. TICK. Ein anderer Tag. Es war heller als vorher, aber dieselbe Behausung. Schmutz und Reste verdorbener Lebensmittel hingen an seinem verprügelten Körper und an der Decke baumelte noch immer der ausgefranste Strick aus altem Sisalseil, den er am Tag zuvor geknüpft hatte. Jetzt lachte das Ding ihn hämisch aus. TACK. Leere Flaschen bildeten eine Reihe auf dem Boden und draußen schrieen und jubelten Menschen. TICK. Zwei Personen unterhielten sich vor festlicher Kulisse mit einem jungen Mann. Deviresh. TACK. Die zwei Personen. Einer davon groß mit wildem, rotem Haar. Er stellte sich als Meister Raffa vor. Der andere noch nicht ganz ein Erwachsener. Zottelige, braune Haare umrahmten das freche Gesicht. Er wurde Demian genannt. Die Zeit fing an sich schneller zu bewegen. Ein Zeigerschlag folgte auf dem nächsten und Bilder prasselten in Bruchteilen der Sekunden über seine Augen ein. TICK. Die Ritter. TACK. Die Festwagen. TICK. Xerophes Gestalt in der Ferne. TACK. Wieder die beiden Fuorier, jetzt zu dritt sitzend am Brunnen. TICK. Abermals Ritter. TACK. Er ging mit ihnen mit. TICK. Er saß in einer Zelle. TACK. Er sah sich als Seik Jelester und er sah sich als Xerophes, er sah wie er die Hand über Jelesters Augen legte und er sah wie seine Sicht gleichsam durch die eigene Hand in Schwärze getaucht wurde.

Dann war es vorbei und die Uhrzeiger verstummten. Er war wieder in die Kammer zurückgekehrt und konnte seinen eigenen ruhigen Atem hören.

Zufrieden lächelnd schaute er auf den Mann herab, dessen Erinnerungen er gerade durchlebt hatte, als wären es die seinen gewesen.

Leider waren die Ergebnisse gering und nicht annährend so brauchbar, wie er es erhofft hatte, doch mit der Zeit würde Licht in das Dunkel kehren. Die Zeit würde auf seiner Seite sein.
 

Mit jedem neuen Ticken der Uhrzeiger, mit jedem neuen Bild welches hinter seinen Augen erschien, zuckte Seik zusammen.

Dabei konnte er nicht sagen, ob er sich tatsächlich bewegte oder ob es auch nur eine Erfindung seiner Einbildung war.

In Sekundenschnelle flatterten die Erinnerungen vorbei und hinterließen nichts als Schmerz und Bitterkeit.

Das Letzte was er sah waren Xerophes Hände, die über seinem Gesicht lagen und seine eigenen, weit aufgerissenen und von roten Adern durchzogenen Augen, die aus ihren Höhlen hervortraten.

Er schrie, zumindest glaubte er zu schreien. Doch als es aufhörte, waren seine bebenden Lippen geschlossen.

Was zur Hölle hatte der Hierophant mit ihm angestellt? Während er die schlimmsten Tage seines Lebens innerhalb weniger Sekunden noch einmal durchlebt hatte, konnte er in jeder Faser seines Verstandes die Präsenz des alten Magiers spüren. Ihm war nicht klar was eben passiert war, oder was nun mit ihm passieren würde, er war viel zu erschöpft um einen klaren Gedanken zu fassen.

Xerophes stand immer noch vor ihm und stirnte durch Seik hindurch, reglos und erhaben, als hätte er gerade eine göttliche Eingebung erhalten.

„Siribeen, der Göttin der Wahrheit, zum Dank lösen sich die Schleier des Ungeklärten“, hob Xerophes seine Stimme heiser und kehlig.

„Ihr wart in Begleitung der zwei Handlanger, die offensichtlich des jungen Deviresh’ grausiges Schicksal besiegelt haben. Soll das Gericht nun über Eure Mitschuld entscheiden. Sollen die Verbrecher, die ich mit meinem eigenen Augenlicht sah, dem Henker überführt werden. Sie müssen gefunden werden.“

Dann brach Seik zusammen und ergab sich einem schwindelerregenden, traumlosen Schlaf.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Dezembi
2012-10-08T09:46:31+00:00 08.10.2012 11:46
:O krass.
Das Tick Tack gefällt mir! Irgendwie wurde mir beim lesen schwindelig XD Ich leide mit Seik

Es bleibt so spannend :3 toll *-*

Von:  Isa
2012-10-05T06:23:11+00:00 05.10.2012 08:23
Go Seik Go

:-)
Von:  -Koto-
2012-10-03T09:21:25+00:00 03.10.2012 11:21
spanend, spanend bin neugierig wie es weiter geht ^^ toller schreibstiel. Gibt es eigentlich auch mal ein zwei adult Kapitel?


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