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Winterluft

von

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Melissa spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann, als sie die Empore hinauf stiegen. Es war nicht ihr erster Auftritt, doch nach ihrem Unfall hatte sie sich von allem zurückgezogen und deshalb auch nicht mehr gesungen. So viele Dinge hatten sich verändert und Melissa hatte sich kaum vorstellen können, dass es auch wieder anders werden würde.

Schweigend sah sie zu Luisa, die neben ihr die Empore hinauf schritt. »Irgendwann wird alles wieder gut«, hatte sie ihr immer wieder gesagt. »Irgendwann wirst du wieder glücklich sein«. Wie oft hatte sie Luisa dafür verflucht, dass sie ihr das gesagt hatte? Wie oft hatte sie nicht daran glauben können und sich lieber von einfach allem zurück gezogen?

Als Luisa sie überredet hatte, fast zwei Jahre nach dem Unfall, bei dem ihre Mutter und ihre Schwester gestorben waren, wieder in den Chor zu kommen, hatte sie erst einmal vehement abgelehnt. Auch ihre Schwester hatte das Singen geliebt und es hatte sich falsch angefühlt, es ohne sie zu machen. In gewisser Weise tat es das auch immer noch. Wie oft hatte sie bei den Proben das Gefühl gehabt, Lea zu hintergehen, indem sie wieder damit anfing? Es war nicht so schlimm wie das Gefühl, das sie jedes Mal verspürte, wenn sie daran dachte, wie falsch es war, dass ihre kleine Schwester bei diesem Unfall ums Leben gekommen war, während sie selbst noch immer da war, doch nichts desto trotz war es nicht angenehm gewesen. Doch Melissa wusste, dass sie so langsam ihren Weg ins Leben zurück finden musste. Und immer wieder hatte Luisa ihr dabei geholfen.

Luisa warf ihr ein kurzes Lächeln zu und Melissa erwiderte es. Sie würde das hier schon irgendwie schaffen. Auch ohne Lea. Immerhin war Luisa bei ihr. Schließlich standen sie ganz oben auf der Chorempore und nachdenklich überblickte Melissa die vielen Menschen, die sich hier eingefunden hatten. Es war wirklich komisch, nach der langen Zeit nun doch wieder hier zu sein und vor den vielen Menschen zu stehen.

Als das Orchester die ersten Töne spielte, wurde Melissa schlagartig ruhiger. Es fing an, sich wieder gut für sie anzufühlen. Immerhin war das hier seit so vielen Jahren ein Teil von ihr gewesen, den sie einfach nur in den letzten Jahren von sich abgestreift hatte.

Schließlich begann sie zu singen und hörte, wie Luisa neben ihr es ebenfalls tat. Es war immer wieder wundervoll, ihre Stimme zu hören, auch wenn es in diesem Kollektiv der Töne kaum einen Raum für Einzelne gab. Sie sangen hier schließlich alle miteinander und es war ein großartiges Gefühl, zu spüren, dass man der Teil eines gewaltigen Klangkörpers war, der die Noten in den eigenen Händen zum Vibrieren brachte. Das Publikum lauschte stumm den Liedern, die sie sangen.

Das nächste Lied würde Tochter Zion sein und die Nervosität stieg erneut in Melissa auf. Das hier war Leas Lieblingsweihnachtslied gewesen. Schon als Kind hatte sie es immer begeistert geträllert. Ein Knoten schien sich in Melissas Brust zu bilden. Es war einfach nicht richtig, dass ihre Schwester nicht bei ihr war. Sie vermisste sie so sehr – und das auch noch an Weihnachten. Das war schon letztes Jahr besonders schlimm für sie gewesen. Immerhin hatte Lea immer ganz besonders gern andere Menschen glücklich gemacht. Es war ihr schon seit Jahren egal gewesen, was man ihr schenkte und ob es viel war, weil sie es immer viel mehr genossen hatte, sich wunderschöne Geschenke für ihre Freunde und ihre Familie zu überlegen. Und auch für Fremde. Sie hatte Teile ihres Taschengeldes gespendet und später ihres Lohnes, weil sie einfach gewollt hatte, dass auch andere wenigstens in irgendeiner Form ein paar schöne Dinge in ihrem Leben bekamen. Und dieses Mädchen war nun nicht mehr da. Es war einfach nicht gerecht.

Das Orchester spielte die ersten Töne und Melissas Hände zitterten. Sie konnte das hier nicht. Wie sollte sie das nur schaffen? Ein paar Sekunden schloss sie die Augen und spürte plötzlich eine andere Hand in ihrer eigenen. Luisa. Melissa schlug die Augen wieder auf und sah aus den Augenwinkeln zu ihrer Freundin. Diese lächelte nur, begann dann aber zu singen und Melissa tat es ihr gleich. Es tat sie gut, sie an ihrer Seite zu haben und endlich gelang es ihr, sich erneut zu entspannen.

Nachdem sie alle Lieder gesungen und das Publikum ihnen und dem Orchester dem Applaus geschenkt hatte, gingen sie wieder zurück hinunter in die Umkleideräume und zogen sich um. Melissa fühlte sich noch immer berauscht von dem Applaus der Menschen. Auch wenn sie eben nur eine von vielen Sängerinnen in diesem Chor war, war das zum Teil, wie immer, auch ihr Applaus gegeben und es war einfach ein tolles Gefühl, den Menschen durch die Musik eine Freude machen zu können. Auch wenn es sie ein bisschen unglücklich und nervös gemacht hatte, das hier ohne Lea zu machen, bereute sie doch nicht, es getan zu haben.

»Danke«, sagte sie plötzlich und sah zu Luisa.

Diese sah sie fragend an. Damit hatte sie offenbar nicht gerechnet.

»Dafür, dass du für mich da warst. Ich … weiß nicht, ob ich es ohne dich geschafft hätte.«

»Oh, ach das«, entgegnete Luisa und lächelte erneut leicht. »Mach dir keine Gedanken deswegen. Ich … wollte einfach nicht, dass du so traurig sein musst. Ich … es ist einfach schöner, wenn du lächelst.«

»Tochter Zion war Leas Lieblingslied. An Weihnachten lief sie immer fröhlich durchs Haus und hat es immer wieder gesungen.«

»Das wusste ich gar nicht.«

Melissa zwang sich zu einem leichten Lächeln, schlüpfte aus dem langen, schwarzen Abendkleid, das sie beim Singen getragen hatte und zog sich wieder wärmere Sachen und bequemere Schuhe an. Auch Luisa zog sich um und gemeinsam machten die beiden sich schließlich auf den Weg nach draußen.

Eine ganze Weile lang liefen sie nur schweigend nebeneinander her und niemand von ihnen sagte ein Wort, doch das machte Melissa eigentlich nichts aus. Es war keine unangenehme Stille. Sie war noch immer berauscht von dem Gefühl, das das Singen in ihr ausgelöst hatte und ließ einfach alles auf sich wirken. Schneeflocken begannen vom Himmel zu fallen und Melissa konnte beobachten, wie sie sich in Luisas blondem Haar verfingen.

Plötzlich blieb Luisa stehen und sah Melissa einen Augenblick lang an. »Ich habe ein Geschenk für dich.«

Überrascht sah Melissa sie an. »Oh, das ist …« Sie sah zu Boden. »Ich habe gar nichts für dich …«

Luisa schüttelte den Kopf und sah ebenfalls kurz zu Boden. »Es … ist auch nichts wirklich Großes, ich meine … es hat kein Geld gekostet oder so.«

Melissa wurde neugierig, auch wenn sie noch immer ein etwas schlechtes Gewissen hatte, weil sie gar nicht daran gedacht hatte, etwas für Luisa zu besorgen.

»Schließ die Augen«, wies Luisa sie an.

»Okay.« Melissa tat wie ihr geheißen.

Einen Moment lang passierte gar nichts und Melissa fragte sich, was Luisa jetzt wohl vor hatte, als sie plötzlich weiche Lippen auf ihren eigenen spürte und die Augen überrascht wieder öffnete.

Luisa küsste sie. Melissas Herzschlag beschleunigte sich. Sie kannten sich schon seit vielen, vielen Jahren, doch sie hatte niemals damit gerechnet, dass so etwas passieren könnte. Ein bisschen Verwirrung mischte sich in ihr Gefühlsleben, als sie feststellte, dass es ihr nichts ausmachte. Sie hatte niemals darüber nachgedacht, ob sie sich vorstellen konnte, Luisa zu küssen, doch nun, da es passiert war, fühlte es sich wirklich gut an.

Wieder senkte Luisa den Kopf. »Ich … Tut mir Leid«, stammelte sie und setzte sich in Bewegung, doch Melissa streckte ihren Arm aus und hielt sie am Handgelenk fest.

»Lauf nicht weg …«

»Aber ich …« Ihre Stimme verlor sich in der kalten Winterluft.

»Ich fand es wirklich schön. Also mach dir keine Sorgen, okay?«

Luisa lächelte nun wieder. »Okay.«

»Lass uns weiter gehen, ja?«

»Okay.«

Und so nahm Melissa Luisas Hand und sie schritten gemeinsam über die von leichtem Schnee bedeckte Straße in die Nacht hinein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Tosho
2015-04-22T12:00:00+00:00 22.04.2015 14:00
Hey !)
Die Geschichte ist sowohl traurig als auch süß, aber sie gefällt mir. Auch wenn der Schluss etwas kurz und sehr schnell kommt,.... Sonst ist es aber wirklich sehr gut geworden.
Mir hat es gefallen und man konnte sich auch gut in die Hauptfigur hineinversetzen.
LG, Tosho


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