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Durch meine Augen

von  Nordwind

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Kapitel 2: Stell mir keine Fragen

Mh, ein weiteres Textchen. Ich wollte ene Geschichte zu dem Begriff 'Versagen' schreiben, aber mir wollte einfach kein anständiger Plot einfallen...
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Stell mir keine Fragen...


Der Himmel ist blau. Azurblau. Blau und wolkenlos. Es ist ein schöner Tag. Die Sonne steht noch hoch über dem Horizont und eine lauwarme, angenehme Brise spielt leise in den frühlingsgrünen Blätterdächern der Bäume. Die langen Grashalme, die den Hügel bedeckten, wiegen wie sanfte Wellen im Wind.

Wie lautet Ihr Name?
- Yuriy Valkov.
Tala Ivanov.

Ich stehe auf dem Balkon, der zu dem Hotelzimmer meines momentanen Gastgebers gehört. Ich lehne mit den Armen auf dem Geländer und starre über den Hügel hinweg auf das Dächermeer Moskavs. Es ist ein schöner Tag. Ich trete einen Schritt zurück und fahre mir mit der Hand durch das feuerrote Haar. Ja, was für ein schöner Tag.

Haben Sie irgendwelche Verwandte? Eltern? Geschwister?
- Nein.
Ja, irgendwo, vielleicht.

Ich schließe die Augen und zucke beinahe unmerklich zusammen, als die Leere mich umfängt. Diese schreckliche Leere, die mit einem Mal mein ganzes Selbst ausfüllt. Ich reiße meine Augen wieder auf. Die grellen Strahlen der Sonne blenden mich und ich muss blinzeln. Mit einem Mal ist mir schrecklich kalt und ich spüre, wie sich etwas in mir schmerzhaft zusammenzieht. Mein Blick fällt auf meine zitternde Hand.
„Govno.“ zische ich leise und balle mit einem plötzlichen Anflug von Wut und Verzweiflung meine Hand zur Faust und schlage damit gegen das Geländer.

Waren die drei anderen Ihre Freunde?
- Nein.
Ja, oder so was ähnliches.

Ein dumpfer Gong füllt die Stille und meine Knöchel schmerzen, doch der Schmerz vertreibt die Wut und lässt nur eine vage Spur Verzweiflung und Hass zurück. Hass. Kalter Hass. Hass auf mich selbst.

Warum waren Sie an diesem Ort?
- Neugierde.
Ich habe etwas gesucht.

Es gibt Dinge, die geschehen und lassen sich nicht wieder ändern, ganz egal wie sehr man sie bereut. Ich weiß das. Ich weiß es so gut, doch es hilft nichts. Ich war nie ein großer Träumer und alles andere als ein Optimist. Es gibt Menschen, die wachsen auf ohne zu wissen, was diese Worte bedeuten und ohne jemals zu erfahren wie sie sich anfühlen.

Haben sie nach etwas bestimmten gesucht?
- Nein.
Ja.

Der Himmel ist noch immer blau und die Sonne strahlt weiter auf mich hinab, doch beides kommt mir auf einmal höhnisch und absurd vor. Es ist kein schöner Tag und ich weiß es und weder der Wind noch die Frühlingsfarben können mich darüber hinwegtäuschen. Ich weiß es, ich spüre es oder besser ich spüre es nicht mehr.
Wenn es einen Gott gibt, dann hat er einen perversen Sinn für Humor und wenn in dieser Welt so etwas wie Schicksal existiert, dann ist das hier die geballte Ironie.

Sind die anderen drei freiwillig mitgekommen?
- Ja.
Nein.

Ich verziehe die Lippen zu einem kryptischen Grinsen, doch es verblasst beinahe sofort. Es schmerzt. Die Kluft, die sich in mir aufgetan hat, schmerzt. Jemand hat etwas aus mir herausgerissen und das Loch das zurückbleibt schmerzt. Es ist kein Schmerz wie der, den ich kenne. Den ich so gut kenne. Den jeder kennt, der dort aufgewachsen ist wo ich aufgewachsen bin. Es ist nicht der Schmerz einer offenen Wunde, von Schlägen, Prellungen oder Hunger. Es ist ein dumpfer Schmerz irgendwo in mir drin, den ich nicht fassen oder beschreiben kann, der einfach da ist, der dort ist, wo zuvor irgendetwas anderes war. Etwas, an das ich mich nicht erinnern kann, aber ich weiß, dass es fehlt.

Haben Sie dort unten jemanden getroffen?
- Nein.
Natürlich, sonst wäre all das nicht passiert.

Ich weiß, dass es meine Schuld ist und ich will, dass es schmerzt. Es ist die Strafe dafür, dass er ich nicht wachsam genug war, dass ich nicht damit gerechnet habe, dass ich es nicht verhindern konnte, dass ich es nicht habe besser machen können. Für jede Art von Versagen gibt es eine Strafe und dies ist die Meine. Ich wurde schon oft bestraft, ich bin es gewöhnt, aber diese Art von Schmerz ist neu. Ein neuer, grausamer Schmerz um mich zu quälen. Ich weiß wie man Wunden behandelt, ich weiß, das ich einen Fuß, der verstaucht ist, nicht belasten darf, ich weiß, dass ein Schnitt mit der Zeit aufhört zu bluten, aber was ist mit diesem dumpfen Schmerz in mir? Was kann ich gegen ihn tun? Gar nichts, vielleicht kann ich gar nichts tun und vielleicht ist das gut so.

Waren Sie jemals zuvor dort unten?
- Nein.
Sicher, ich habe da unten gelebt.

Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte wissen müssen, dass sie vorbereitet waren, dass sie damit gerechnet hatten. Ich hätte damit rechnen müssen. Mir hätte klar sein müssen, dass sie wussten auf welchem Weg wir zu entkommen versuchen würden. Ich hätte es wissen müssen.

Wussten Sie, dass die Anlage vor drei Jahren noch eine Schule war?
- Nein.
Ja.

Ich hätte wissen müssen, dass sie sich abgesichert hatten, dass sie Fallen aufgestellt hatten, dass sie uns die ganze Zeit beobachteten. Wie hatte ich nur so naiv sein können? Wie habe ich sie auch nur für eine Sekunde unterschätzen können, wie habe ich mich selbst so überlegen fühlen können?
Ich hätte auf Bryan hören sollen, auf Bryan, der jetzt tot ist, nur weil ich nicht schnell genug reagiert habe, als ich ihn schreien hörte.
Es tut mir Leid. Es tut mir so schrecklich Leid, dass das Letzte, das ich zu Spencer gesagt habe war, dass er zum Teufel noch mal den Mund halten soll. Es tut mir Leid.
Ich wünschte ich hätte Ian nicht so unzählig endlos viele Male einen Zwerg genannt und dass diese Kugel an seiner statt mich getroffen hätte.

Sind sie Schuld an dem Tod ihrer Begleiter?
- Nein.
Ja.

Es tut mir Leid, dass ich aus diesem ganzen Chaos mit nicht mehr als ein paar Kratzern und Schnitten herausgekommen bin. Es tut mir Leid, dass ich immer noch lebe. Ich weiß, dass ich es nicht verdiene. Es tut mir Leid.

Warum wurden Sie nicht getroffen?
- Glück.
Er hat mich am Leben gelassen.

Ich hätte ihnen zuhören sollen, als sie mir sagten, dass es eine idiotische Idee war und dass wir niemals wieder lebend aus der Sache herauskommen würden. Aber ich wollte es tun. Ich wollte es trotzdem tun. Ich wollte frei sein. Frei von diesen Leuten, frei von meiner Vergangenheit und sie sind mir gefolgt, weil sie auf mich vertraut haben, weil ich immer die Entscheidungen getroffen habe, weil sie glaubten ich wüsste was ich tue, weil ich der Captain war. Aber ich war nur dumm. Jetzt sind sie tot und ich bin frei, aber es ist eine bittere Freiheit.

Ich schließe erneut meine Augen und dieses Mal taste ich bewusst nach der Leere. Sie ist wie ein Loch, das an jener Stelle klafft, an der einmal etwas anderes gewesen ist. Ich erinnere mich an das Gefühl der Wärme und der Geborgenheit, der Vertrautheit, doch es ist nur eine Erinnerung und als ich versuche danach zu greifen, entwindet es sich meinem Griff und verschwindet leise in die Dunkelheit. Zurück bleiben die beißende Kälte und das Nichts, die bittere Leere. Ich verziehe dass Gesicht und spürte wie meine Augen brennen. Vielleicht würde ich weinen, doch es kommen keine Tränen. Es ist so lange her, dass ich geweint hatte, vielleicht sind all meine Tränen inzwischen getrocknet.

Die Glastüre hinter mir wurde mit einem leisen Quietschen aufgeschoben und dumpfe Schritte näherten sich.
„Tala?“

Ich wusste, dass es Kai sein würde. Wer auch sonst? Wer in dieser verdammten Welt dachte jetzt noch an mich außer ihm?
„Hm?“ machte ich nur um ihm zu zeigen, dass ich ihn gehört hatte.

Er lehnt sich neben mir auf das Geländer und sieht über denselben Hügel und dieselben Bäume wie ich zuvor hinweg auf die Dächer der Stadt.
„Ich habe mit Mr. Dickenson gesprochen.“ antwortet er auf meine ungestellte Frage. „Er kümmert sich darum.“ Ich nicke nur und bin überrascht wie egal mir plötzlich alles ist. Alles hat irgendwie an Bedeutung verloren. Ich habe Pläne gehabt. Pläne für die Zeit nachdem ich mich befreit hatte, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Sie sind alle verschwunden.

„Tala?“ Kai hat sich von der Aussicht abgewandt und sieht nun stattdessen mich an. Ich schaue ihm nicht in die Augen, ich kann es nicht. Er hat in mir immer lesen können wie in einem offenen Buch und ich in ihm, doch heute kann ich es nicht, deswegen sehe ich an ihm vorbei in den strahlend blauen Himmel hinauf.

„Wir haben nicht gewonnen.“ sage ich schließlich und ich weiß, dass er es versteht. Er vielleicht als einziger.

„Ich weiß.“ antwortet er und ich weiß, dass er es ernst meint. Ich weiß nicht, ob er dasselbe fühlt wie ich, aber ich weiß, dass er weiß was ich fühle.

„Das war es nicht wert.“ erwidere ich und balle die Hand erneut zur Faust. Dieses Mal schaffe ich es den Drang, damit gegen irgendetwas zu schlagen, zu unterdrücken. Ich meine es ernst. Das war es nicht wert. Lieber wäre ich ein Vogel im Käfig geblieben als die einzigen Menschen zu verlieren, die jemals an mich geglaubt haben, die mir jemals vertraut haben.

„Ich weiß.“ antwortet er erneut und ich weiß, dass er es ernst meint. Ich nicke nicht mehr, sage nichts mehr. Es gibt nicht mehr zu sagen. Er weiß alles andere und er wusste auch diese Dinge bereits. Wir haben den Krieg gewonnen, aber jede einzelne Schlacht verloren und der Preis am Ende ist es nicht wert gewesen.

„Tala?“ Er sieht mich nicht mehr an, weil er weiß, dass ich lügen werde. Er braucht mich nicht anzusehen um es zu wissen, er weiß es schon zuvor. „Bist du in Ordnung?”

Was haben Sie geglaubt dort unten zu finden?
- Nichts.
Freiheit.

“...Ja.” Nein.



...und ich lüge dich nicht an.



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