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Shinigami Haken Kyoukai desu - Shinigami Dispatch Society

von

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Verloren

Das Gefühl, endgültig verloren und versagt zu haben, begleitete Lily den ganzen Weg zum Café entlang, in dem sie mit Nakatsu gegessen hatte. Wenigstens war auf Michael Verlass und er ließ sie bei sich nächtigen, als sie bei ihm ankam.

Ohne zu zögern hatte er sich frei und sie mit in seine Wohnung genommen.

Wo war nur ihr verdammter Mentor Ronald Knox, wenn man ihn brauchte?

Wenn er da gewesen wäre, könnte sich die Sache ein für alle Mal klären, aber wer wusste schon, wo er sich rumtrieb?

Sicherlich schlürfte er an einem Strand von einem Cocktail mit Schirmchen und sonnte sich in einer Liege, während er Reihenweise Frauen abschleppte und sie das Chaos ausbaden durfte!

Was für eine Gemeinheit!

„Ich will nicht zurück in die Society…“, schluchzte Lily und drückte das Kissen enger an sich. Sie saß auf dem Sofa von Michael. Es hatte weiche Polster und war äußerst bequem. „Kann ich nicht einfach für immer hierbleiben? Ich esse nicht viel und mal ehrlich, wer braucht schon einen Berufsabschluss? Ich hab meine Grundausbildung geschafft, damit kann ich doch sicherlich auch Arbeit finden und mein Leben finanzieren!“

Michael lachte und stellte eine Tasse heiße Schokolade auf den Tisch. Sein Apartment war nicht besonders groß, doch dafür lag es in der Nähe seiner Arbeit.

„Du brauchst in jedem Fall einen Abschluss, meine Liebe. Willst du einfach so alles hinschmeißen? Denk doch nur, was du zu Hause zu hören kriegen würdest, wenn du dort mit eingezogenem Schwanz wieder auftauchst, nachdem du dich so gestritten hast. Was ist mit deinem Freund von heute Mittag? Mit deinen Kollegen, die zu dir stehen? Würdest du sie denn nicht vermissen? Welche Arbeit willst du annehmen, um dein Leben zu finanzieren? Willst du wirklich irgendwo Böden wischen oder auf der Straße Flyer verteilen?“

Lily sah zum Fenster hinaus und betrachtete nachdenklich die Lichter der Innenstadt.

In der Ferne erkannte sie die beleuchteten Fenster der Shinigami Dispatch Society und dessen Wohngebäude. In einem Fenster ging das Licht an und in einem der oberen Fenster ging es aus.

Von draußen kam ein Lichtflackern, als die Straßenlaterne anging und schien ein wenig mit ihrem künstlichen Licht herein.

Im gegenüberliegenden Gebäude ging Licht an und sie konnte die Umrisse einer Frau durch die zugezogenen Vorhänge erkennen. Ihr Blick schweifte zu einem anderen Fenster, wo sie eine Katze hinter der Scheibe erkennen konnte, die auf der Fensterbank mit mehreren Topfpflanzen saß.

Lily seufzte.

Was sie wirklich vermisste, war ihr Mentor und die Tage vor dem ganzen Chaos. Sie vermisste die Zeit, in der sie unbeschwert mit ihm gearbeitet hatte. Sie wollte am liebsten die Zeit zurück drehen, bis zu der Minute, in der sie sich einander vorgestellt hatten.

Natürlich würde sie auch Nakatsu vermissen und ihre Kollegen Mr. Humphries, Mr. Slingby und Mr. Sutcliffe. Immerhin hatten sie sie als Teammitglied bezeichnet und das war für einen auszubildenden Shinigami schon viel wert.

Aber auch Mr. Spears als Vorgesetzten, so streng und kalt er auch war.

„Mama und Papa könnten mich doch hier jederzeit besuchen oder ich suche mir was bei ihnen in der Nähe. Ich glaube, beide hatten Recht und Shinigami werden ist nichts für mich. Ich werde eine Menge lernen müssen, um Arzt zu werden, so wie sie es wollten.“

„Aber Anatomien haben dich nie interessiert. Angst vorm Zahnarzt hast du auch und ich glaube auch nicht, dass du gerne an Tieren rumschnibbeln willst oder Gynäkologie machen möchtest. Genauso wie Augenarzt.“

Lily schüttelte den Kopf.

„Dann bleibt dir nicht viel.“

„Ich weiß“, seufzte sie und setzte sich in den Schneidersitz.

„Was willst du also tun?“

„Ich weiß es nicht.“

„Du bist niemand, der sich einfach so fügt. Du hattest schon immer deinen Kopf.“

Lily musste leise schnauben, um nicht zu lachen. Wie Recht er doch hatte. „Ich könnte ja wie du kellnern.“

„Aber davon leben kann man nicht. Ich habe auch zwei Jobs. Ich gehe noch mehrmals in der Woche abends in eine Bar den Barkeeper machen.“

Lily brummte.

Michaels Augen funkelten. „Anderes Thema! Wir sollten den Abend genießen. Es sind nur noch ein paar Stunden, bis du wieder zurück in die Society musst.“

„Micha, genau daran versuche ich gerade nicht zu denken! Du bist keine große Hilfe dabei!“, stöhnte Lily und trank von der heißen Schokolade. Das Kissen wurde zur Seite gelegt. „Hast du mir überhaupt zugehört? Ich will nicht zurück!“

„Okay, okay“, wehrte Michael ab und hob die Hände. „Du denkst nicht daran, dass du zurück musst und ich rede nicht davon, wie viele Stunden es noch sind. Abgemacht?“

„Abgemacht.“

„Willst du darüber reden, was da eigentlich alles passiert ist? Ich kann es mir nur vorstellen bei den blauen Flecken und dem Veilchen. Aber ich denke, da ist noch mehr. War etwas mit deinem Vorgesetzten?“

Sie zuckte kurz zusammen.

Genau ins Schwarze.

Lily schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Ich denke, ich komme damit…ganz gut klar und brauch nicht reden….“ Lily wusste, sie war eine schlechte Lügnerin, aber sie wollte jetzt nicht über ihre Gefühle reden. „Ich glaube, ich komme mit all dem schon irgendwie zurecht und kann es ordnen.“

„Aber zurück willst du nicht?“

Sie nickte, während Michael nur skeptisch eine Augenbraue hoch zog.

„Wie du meinst.“

Es klang wie ein stiller Vorwurf, obwohl es sicherlich nicht so gemeint war.

Lily schwieg dazu und trank stumm die Tasse leer, dessen Inhalt inzwischen kalt war. Die Schokolade hatte sich am Boden abgesetzt und schmeckte zum Schluss bitter. Ein ekliger brauner Rand hatte sich an der Tasse gebildet.

„Und wie willst du es ordnen?“, fragte Michael nach einer Weile des Schweigens.

„Na ja…geordnet eben. Der Kopf befasst sich mit den Fakten und das Herz mit den Emotionen. Abschiede gehören zum Leben dazu und ich sollte mich nicht schuldig fühlen, nur weil Mr. Knox weggegangen ist. Es hat sicherlich alles seine Gründe und vielleicht ist sogar alles anders, als ich denke?“

Es war billiges Psychologiegebrabbel, was es in jeder zweiten Zeitschrift zu lesen gab. Lily wusste es und Michael auch. Sie wusste aber auch, dass er es wusste. Aber er sagte nichts dazu. Etwas, worüber Lily mehr als froh war.

Vielleicht konnte sie sich, wenn sie es sich nur oft genug einredete, irgendwann selbst davon überzeugen und der Schmerz würde erträglicher werden.

Michael nickte dazu nur. „Möchtest du vielleicht ein Bad nehmen? Ich kann dich dann rufen, wenn es Essen gibt.“

„Ich hab schon was gegessen“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Und Danke, aber ich möchte nicht baden. Du weißt doch außerdem, dass ich nicht baden kann. Ich hab doch eine Wasserphobie.“

„Stimmt. Das hatte ich total vergessen. Tut mir leid.“

„Schon gut. Ich sollte lieber Nakatsu anrufen und ihm sagen, wo ich bin, sonst macht er sich noch Sorgen.“

„Wenn er das nicht schon tut.“

Lily nickte und seufzte. „Ich denke, das tut er bereits.“

„Du bist wohl einfach so losgerannt, was?“

Sie nickte.

„Er ist ein guter Freund.“

„Ich weiß.“

Noch ehe Lily darauf etwas sagen konnte, wurden sie vom Klingeln des Telefons unterbrochen, das laut in dem Zimmer schrillte.

Michael warf Lily einen vielsagenden Blick zu. „Ich wette, es ist dein kleiner Freund.“

„Und das weißt du woher?“

„Instinkt?“

Lily zog die Augenbraue hoch. „Sicher, dass es keine deiner Liebschaften ist?“

„Ich höre es am Klingeln.“ Michael grinste frech und nahm den Hörer ab. „Hallo?“

Lily beobachtete ihn aufmerksam. „Am Klingeln…sicher…“, murmelte sie.

Ihr Bruder nickte und hielt ihr dann den Hörer hin. „Ich hab es doch gesagt. Es ist dein Freund.“

„Er ist nicht mein Freund. Wir sind nicht zusammen!“, flüsterte sie zurück und nahm widerwillig den Hörer entgegen.

Michael zuckte nur die Schultern und ging außer Hörweite.

„Woher weißt du, dass ich bei Michael bin?“, fragte Lily, als sie sicher war, dass Michael nicht mehr mithören konnte.

„Nur so eine Ahnung“, antwortete Nakatsu und sie konnte es förmlich sehen, wie er mit den Schultern zuckte.

Lily brummte. „Woher hast du seine Nummer?“

„Aus deiner Hosentasche. Er hatte sie dir doch am Nachmittag gegeben, Dummerchen.“

„Was meinst du eigentlich mit Ahnung?“ Stimmt, da war etwas gewesen. An den Zettel hatte sie gar nicht mehr gedacht.

„Entschuldige, nur ein Scherz. Aber mal ehrlich, ich helfe meinen Freunden, wenn sie mich brauchen. Nachdem du vorhin weggelaufen bist, hab ich die Society nach dir abgesucht und dann fiel mir der Typ vom Nachmittag ein. Anscheinend hatte ich Recht mit der Vermutung, dass du vielleicht bei ihm bist.“

Beim Klang seiner Stimme brach eine riesige Welle von Traurigkeit über Lily herein und sie hätte am liebsten wieder angefangen zu weinen. Sie dachte mit einem Mal an Mr. Humphries, wie er sich um sie gekümmert hatte und wie wohl sie sich gefühlt hatte. Aber auch an Nakatsu, wie oft er sie schon im Arm hatte, wenn sie wieder einen schlechten Traum gehabt hatte. „Verstehe.“, brachte sie hervor.

Es kostete sie viel Mühe, nicht zu schluchzen.

„Hör mal, ich weiß nicht, was da bei Mr. Spears vorgefallen ist, aber ich weiß, du denkst darüber nach und fühlst dich elendig.“

„Was willst du mir sagen?“, fragte sie und ihr Magen krampfte sich zusammen.

„Wie soll ich es sagen?“, fing Nakatsu am anderen Ende der Leitung an. Wieso hatte sie das Gefühl zu hören, wie die Zahnräder im seinem Kopf arbeiteten.

„Sag es doch einfach.“ Manchmal hasste sie es, wenn man um den heißen Brei herum redete. Natürlich tat sie es manchmal selbst, aber in diesem Augenblick nervte es sie nur.

„Es ist hier so leer ohne dich…“

Ein lautes Summen erfüllte ihr Ohr und Lily hielt kurz den Hörer von sich, um das Geräusch zu stoppen. Sie schüttelte den Kopf und hielt ihn dann wieder ans Ohr.

„Ich meine, wir…also besser…ich…vermisse dich…Komm wieder zurück. Ich…ich brauch dich…“ Lily hörte ihn am anderen Ende wehmütig seufzen. Es war ihm schwer gefallen, das zu sagen.

Das Summen wurde schwächer, dafür drehte sich ihr Magen um. Zumindest fühlte es sich so an.

„Das kann ich nicht“, platzte sie heraus, wusste aber nicht, was sie sonst weiter sagen sollte.

„Ich weiß, du brauchst gerade etwas Zeit für dich“, sagte er und seine Stimme klang traurig und besorgt zugleich.

„Ja…ich denke schon….“

„Es wäre schön, wenn du zurückkommst.“ Wieder seufzte er und es tat Lily leid, dass er sich so sorgte.

„Nakatsu…ich…ich kann nicht…“

„Ich weiß, ich weiß.“ Er seufzte schwer. „Es ist nur so, dass…ohne dich würde die Ausbildung keinen Spaß mehr machen.“

„Du meinst für die anderen?“

„So meinte ich das nicht!“

„Ich weiß, wie du es meinst. Aber bitte verlang es nicht von mir.“

„Lily, ich weiß nicht, wie du dich fühlst im Moment. Ich kann es nur erahnen. Aber ich weiß, dass es gerade nicht leicht für dich ist. Bitte überleg es dir und komm zurück. Es wäre alles verdammt einsam hier ohne dich. Mehr verlang ich von dir nicht, außer, dass du dich aufraffst und kämpfst. Denn, das bist nicht du. Das ist nicht meine Freundin Lily.“

Lily schniefte und versuchte die Tränen zurück zu halten, aber sie brachen trotzdem aus ihr heraus.

„Okay, Natsu…Ich überl…“ Ihre Stimme versagte. „Ich überlege es mir.“

„Okay, gut.“

Beide schwiegen und Lily konnte sich gut vorstellen, dass er jetzt nach den richtigen Worten suchte. Sie hörte leises Flüstern im Hintergrund.

„Nakatsu?“

„Ja?“

„Danke.“

Sie hörte ein kurzes Lachen. „Dafür sind Freunde da. Soll ich vorbeikommen?“

Lily schüttelte den Kopf. „Nein, brauchst du nicht. Michael kümmert sich schon um mich. Aber danke.“

Nakatsu brummte zustimmend.

„Wer ist denn da noch bei dir?“, fragte sie, denn das Flüstern war nun nicht mehr zu überhören.

„Nur ein paar Kollegen…“

„Wer denn?“

„Mr. Humphries, Mr. Slingby und Mr. Sutcliffe. Ich hatte mir Sorgen gemacht und sie gefragt, ob sie wissen, wo du bist.”

„Oh…“, war alles, was sie rausbrachte.

„Sie sagen, sie machen sich auch Sorgen und es wäre toll, wenn du zurückkommst.“

„Verstehe…Ich überlege es mir“, sagte sie und würgte noch ein „Tschüss“ heraus. Lily legte auf.

Sie seufzte und starrte auf den Hörer in ihrer Hand.

War sie wirklich so stark, wie Nakatsu und die Anderen glaubten? War sie wirklich bereit, zurück zu gehen? Würde sie das wirklich alles durchstehen bis zur Untersuchung des Falles? Was, wenn sie es nicht schaffte?

Sie stieß einen lauten Seufzer aus und ging zu Michael nach draußen auf die Veranda, wohin er sich während des Telefonates verzogen hatte.

Er würde sicherlich wissen, was zu tun war.

Schweigend gesellte sie sich zu ihm ans Geländer, während er seine Zigarette rauchte, deren Vanillearoma in der Luft hing.

Der Abend war recht lau und alles war ruhig. Nur ab und zu drangen kurze Gesprächsfetzten von der Straße zu ihnen herauf, wenn jemand vorbei lief. Aus der Nachbarwohnung hörte sie Musik und Gesprächsfetzten. Über ihnen goss jemand die Verandablumen, denn ein paar Wassertropfen fielen herab und sie hörte das Rascheln von Pflanzen und das Plätschern von Wasser.

Lily sah zur Society, die am höchsten in der Dunkelheit aufragte. Das Hauptgebäude war dunkel. Nur die Wohngebäude waren erleuchtet.

„Was wollte denn dein kleiner Freund?“

Lily verfolgte einen Riss im Boden, der unter ihren Füßen weiter verlief. „Er wollte, dass ich zurückkomme. Besser gesagt auch ein paar Kollegen. Er war nicht alleine im Zimmer.“

Michael erwiderte nichts darauf und Lily wusste, dass er darauf wartete, dass sie fortfuhr.

„Er meint, ich schaffe das schon und soll mich aufraffen, aber…ich weiß nicht, ob ich es schaffen kann…“ Sie wandte sich Michael zu, der ein wenig Asche von der Zigarette klopfte. Das Glimmen war in der Dunkelheit deutlich zu sehen.

Seit Michael offiziell rauchte, kannte sie keine andere Marke. Schon immer hatte er Vanillezigaretten geraucht. Nur ganz selten rauchte er mal welche mit Schokolade oder Kirsche. Sie kannte inzwischen keinen anderen Geruch mehr an ihm. Aber es störte sie nicht. Es war eben ein vertrauter Geruch. „Glaubst du, ich schaff das?“

Michael erwiderte ihren Blick. In seinem Blick lagen Jahre voller Weisheit. „Glaubst du, dass du das kannst?“

„Ich weiß es nicht.“

„Was wären denn die Vorteile?“ Er zog ein weiteres Mal von der Zigarette, die immer kleiner wurde.

Lily dachte eine Weile darüber nach und fuhr mit dem Finger das Muster der Absperrung nach. „Zum einen wäre ich wieder in meinem eigenen Zimmer, meinen eigenen vier Wänden. Nakatsu würde sich keine Sorgen mehr machen und auch die Kollegen nicht. Ich müsste auch nicht zu Mama oder Papa und ihnen alles erklären.“

„Was noch?“ Michael nickte und forderte sie auf, weiter zu sprechen.

„Ich würde meine Kollegen wiedersehen und vielleicht auch meinen alten Mentor.“

„Und du wärst ausgeglichen, weil du das tust, was du schon immer tun wolltest, meine Liebe“, sagte er. „Du wärst mit deinen Gedanken bei der Arbeit und auch bei denen, die dich unterstützten können. Die es besser können als ich.“

Jetzt war es an ihr zu nicken.

„Gut. Was wären denn die Nachteile?“

Darauf wusste sie sofort eine Antwort. „Carry und Kayden würden sich wieder auf mich stürzen und fertig machen. Carry würde mich wahrscheinlich halb zusammenschlagen, während Kayden und seine Freunde alles ausgraben an Anmachen, die es nur gibt. Ich könnte einen Nervenzusammenbruch kriegen, vor Nakatsu die Nerven verlieren oder vor Kollegen. Ich würde nur noch mehr zum Gespräch der ganzen Society werden.“

Michael berührte ihren Handrücken und drückte ihre Hand. „Das ist eine ganz schön lange Negativliste.“

„Ja, aber alles Dinge, die passieren könnten.“

Michael nickte verständnisvoll. „Stimmt. Aber du sagst selbst, es könnte passieren. Nicht, dass es mit Sicherheit passiert. Also was sagt dir dein Bauchgefühl?“

Lily stand still da und dachte über die Frage nach. Ihr Bauchgefühl sagte, dass sie früher oder später wieder dorthin musste und sei es nur deshalb, um ihre Sachen zu holen und die Kündigung abzugeben.

Sie seufzte ergeben. Es gab kein Weg dran vorbei, sich den Dingen zu stellen.

„Ich muss zurück.“

Michael nickte und zog ein letztes Mal an der Zigarette, ehe er sie in einem Aschenbecher ausdrückte und den Rauch gegen den Himmel ausblies. „Ich wusste, dass du dich nicht dagegen entscheidest. Dafür hast du zu viel Ärger zu Hause gehabt, um jetzt einen Rückzieher zu machen.“

Bei dem Gedanken musste er ein wenig lachen und wuschelte Lily durch die Haare. Unweigerlich musste sie auch lachen.

„Wechseln wir aber mal das Thema…“, sagte Lily. „Danke, dass ich heute Nacht hier bleiben darf. Es tut gut, mal ein wenig Abstand zu dem Ganzen zu gewinnen. Es ist das, was ich jetzt gebraucht habe.“ Sie schlang beide Arme um Michaels Oberkörper.

Durch sein Hemd konnte sie die Muskeln spüren, die er sich im Laufe der Jahre antrainiert hatte.

Er erwiderte ihre Umarmung und legte sein Kinn auf ihrem Kopf ab. „Das ist doch klar, meine Liebe. Du kannst jederzeit vorbeikommen. Dann machen wir es uns gemütlich auf dem Sofa und essen so viel Eis, bis wir platzen. Wie in alten Zeiten.“

Lily schloss die Augen und genoss es in seinen Armen zu sein.

„Ja, wie in alten Zeiten“, murmelte sie zurück.

So standen sie ein paar Minuten schweigend da, bis sich Lily von ihm löste.

„Ich glaube, ich sollte Natsu anrufen und ihm sagen, dass ich morgen wieder da sein werde.“

Michael nickte. „Mein Essen wird auch gleich fertig sein. Sicher, dass du nichts möchtest?“

„Ja, sicher.“

Lily folgte ihm zurück in die Wohnung und konnte das Essen riechen. „Lass mich raten, Brathähnchen aus dem Imbiss um die Ecke?“

„Ja. Sind in etwa fünf Minuten fertig.“

Michael kochte nie für sich. Er ließ lieber Profis die Arbeit machen und zahlte dafür auch gut, wenn es sein musste. Lily kannte aber auch den Grund dafür. Er konnte einfach nicht kochen. Entweder war das Essen angebrannt oder zu salzig. Oder beides. Schon vor Jahren hatte er aufgegeben. Sie hatten immer Witze darüber gemacht, dass er selbst Nudelwasser anbrennen ließ.

Lily griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer ihres Zimmers. Nach dem vierten Klingeln hob Nakatsu ab.

„Zimmer von McNeil.“

Lily war froh seine Stimme zu hören und seufzte auf. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie aufgehört hatte zu atmen.

„Hi Natsu.“

„Ähm…Lil, ich dachte, wir reden erst morgen weiter?“ Offensichtlich war er irritiert.

„Ich wollte dir nur sagen, dass…ich hab nachgedacht, über das, was du gesagt hast und…ich komme wieder. Ich komme morgen wieder zurück.“

„Bist du sicher?“ Er klang sprachlos, unsicher und überrascht. „Willst du nicht noch mal länger drüber nachdenken? Ich meine, nicht, dass ich mich nicht freue oder so…Es ist nur gerade mal eine halbe Stunde her…Du musst dich doch nicht jetzt entscheiden. Ich möchte nicht, dass du dich gedrängt fühlst und es bereust. Wieso reden wir nicht morgen beim Frühstück darüber?“

„Nein“, entgegnete sie und schüttelte den Kopf, auch wenn es Nakatsu nicht sehen konnte. „Ich habe mich entschieden und morgen komme ich zurück!“

Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war Zeit, um es sich doch noch mal anders zu überlegen. Vielleicht sollte sie auch schon heute Abend wieder zurück gehen?

„Okay…wie du willst…Ich freu mich auf morgen.“

„Bis morgen.“ Sie legte auf und fühlte sich erleichtert. Aber ein wenig frustrierend war es schon. Zuerst versuchte er sie zu überreden und jetzt schien es, als würde er sie wieder umstimmen wollen. Lily verstand es nicht ganz, aber sicherlich war es Männerlogik.

Wenigstens war die Entscheidung gefallen. Morgen würde es zurück in die Society gehen. Heute Nacht würde sie bei Michael bleiben und morgen in aller Frühe zurückkehren.
 

Die Ohnmacht war ein Segen für Emily, nachdem ihr Vater ihr die Luft abgedrückt hatte. So bekam sie wenigstens nichts mehr mit und brauchte keine Angst mehr haben. In dieser Nacht konnte sie seit langem nach dem Tod ihrer Mutter Ruhe finden und brauchte sich keine Sorgen um ihre Geschwister zu machen. Emily vermochte nicht zu sagen, was sie geträumt hatte. Ihre Träume verschwanden in ihr Unterbewusstsein, wo sie sie nicht mehr erreichen konnte.

Das Aufwachen war jedoch am schlimmsten.

Emily träumte von einem Felsbrocken, der auf ihr lag und sie unter seiner Last begrub.

Sie befand sich im Traum, aber ihr Körper wollte aufwachen.

Es war ein Dämmerzustand, den sie absolut nicht leiden konnte.

Auf der einen Seite wollte wie wach werden, aber auf der anderen weiter schlafen.

Die Geräusche von draußen drangen in diesem Zustand an ihr Ohr.

Leute unterhielten sich lautstark und die ersten Betrunkenen grölten, während eine Pferdekutsche mit knarrenden Rädern und lauten Hufgetrappel vorbei fuhr.

Emily wusste, dass nun der Versuch, weiter zu schlafen nichts mehr bringen würde. Durch ihre geschlossenen Augenlider konnte sie die Helligkeit wahrnehmen.

Aber der Traum von dem Felsbrocken, der auf ihr lag, verschwand nicht. Im Gegenteil. Er war realer als zuvor.

Der Felsen war schwer und drückte ihr auf den Bauch, so dass ihr schlecht wurde. Ein Schmerz durchzog dabei ihren Körper, der nicht nur vom Magen herführte.

Aus irgendeinem unerklärlichen Grund fing der Felsen an sich zu bewegen und zu schnaufen.

Mit einem Schlag war Emily hellwach.

Sie blinzelte benommen in das Licht und brauchte ein paar Sekunden, um zu erkennen, dass der Felsen eigentlich ihr Vater war.

Kaum wurde ihr bewusst, was er tat, begann Emily sich nach Leibeskräften zu wehren.

Sie kratzte, biss und versuchte den Mann, der ihr Vater war, von sich zu schieben. Er gab aber nicht nach, immerhin war er um einiges stärker als sie.

Der Geruch seiner Alkoholfahne schlug ihr unangenehm entgegen und Emily hielt kurzzeitig die Luft an.

Ihre Beine strampelten und versuchten ihn von sich zu drücken.

Als sie nach mehreren Minuten etwas Freiraum hatte, stieß sie ihm ihr Knie in den Bauch. Vielleicht war es auch etwas tiefer, aber das war Emily egal. Sie wollte, dass er von ihr herunter ging.

Ihr Vater heulte vor Schmerz auf und rollte sich von ihr herunter.

Emilys Herz schlug schnell und laut. Sie stieß ihn von sich und rappelte sich auf.

Stolpernd lief sie aus der kleinen Hütte, während ihr Vater immer noch jammernd auf dem Boden lag.

Sie drehte sich nur kurz um.

Ein Blutfleck war auf dem Lager zu sehen und ihr Vater lag noch immer am Boden.

„Bleib hier, du kleines Biest…“, stöhnte er und hielt sich die schmerzende Stelle.

Emily öffnete die Tür und rannte hinaus. Sie schlug diese hinter sich zu und wählte irgendeinen Weg. Hauptsache er führte fort von ihrem Hause.

So schnell ihre Beine sie trugen rannte sie durch die Straßen von London. Sie lief und lief bis sie keine Luft mehr bekam und gezwungen war anzuhalten.

Emily verkroch sich in den Schatten eines Hauses und ließ sich in den Staub fallen.

Die Gegend war verlassen und so fing sie an zu schluchzen und zu weinen. Ihr Körper zitterte und bebte. Sie schrie und weinte sich die Seele aus dem Leibe.

Niemand hörte sie in ihrem Wehklagen.

Erst als sie sich beruhigt hatte, rappelte sie sich wieder auf und machte sich auf den Weg durch die Straßen. Ihr fiel nur eine Person ein, wo sie jetzt hingehen wollte.

Undertaker.

Er hatte sie freundlich behandelt und er war die erste Person, die ihr einfiel, an die sie sich wenden konnte.

Ohne zu wissen, wie sie von diesem Stadtteil zu ihm gelangen konnte, ging sie ein Stück den Weg zurück, den sie gekommen war, und dann einen Hügel hinauf. Es wehte ein kühler Wind und Emily rieb sich über die kalten Arme.

Sie schaute auf ihre Füße und es dauerte nicht lange, bis sie vor seiner Tür stand. Dem einzigen Bestatter in London, der keinen Unterschied darin machte, ob man arm oder reich war.

Sie drückte die Tür auf, aber es war verschlossen.

Emily verzog das Gesicht und klopfte. „Undertaker?“, rief sie. „Undertaker, sind Sie da?“

Keine Antwort. Das Geschäft war verlassen.

Sicherlich war er auf einer Beerdigung und vergrub gerade einen Sarg oder holte einen Verstorbenen ab.

Was sollte sie also tun? Hier auf seine Rückkehr warten oder weiter ziehen?

„Mädchen!“, rief eine Stimme laut von oben herab.

Emily sah auf und konnte aus einem der oberen Fenster eine rundliche Frau ausmachen, die gerade ein altes Tuch ausklopfte.

„Wenn du den komischen Kauz von Bestatter suchst, Mädchen, er ist zum Friedhof vor nicht allzu langer Zeit.“

„Wissen Sie auch welchen?“, rief sie zurück und schlang vor Kälte die Arme um sich. Wenigstens hatten Waschweiber einmal etwas Nützliches an sich.

Die Frau nickte und deutete die Straße entlang. „Bunhill.“

„Danke!“ Emily lief los. Vielleicht hatte sie Glück und konnte ihn noch erwischen, ehe er mit seiner Kutsche zurückfuhr.

Bunhill war der Friedhof, wo auch ihre Mutter lag und wo sie sich gestern zum ersten Mal begegnet waren.

Ihr Herz klopfte laut. Ob es nun vom Rennen war oder vor Freunde ihn wiedersehen zu können, wusste sie nicht.

Vereinzelt fielen kleine Regentropfen vom Himmel, die sich schnell zu einem Schauer vermehrten.

Aber der Regen schien Emily mehr als nur angemessen zu sein. Wahrscheinlich beachtete sie ihn deshalb nicht und rannte unbeirrt der Kälte und des Wetters weiter. Er war wie ein Vorhang aus silbernen Fäden und bedeckte den frühwinterlichen Boden.

Emily schlüpfte durch das große schmiedeeiserne Tor und begegnete einer Trauerfamilie, die sich unter Schirmen versteckte und vor dem Regen flüchtete.

Zu gerne hätte sie jemanden angesprochen, aber sie beließ es lieber dabei. Es wäre zum einen respektlos gewesen und zum anderen war deutlich zu sehen, dass diese Menschen reich waren. Aus diesem Grund würden sie ihr niemals eine Antwort geben.

Suchend blickte sie über den kleinen Friedhof und ging in Richtung der großen Kapelle. Wenn sie sich nicht irrte, waren dort irgendwo die Gräber der reichen Familien angelegt.

Langsam ging sie den Trampelpfad entlang.

Der Boden ergab ein schmatzendes Geräusch unter ihren Füßen und ihre Kleider hingen ihr nass am Leibe.

Wo konnte das Grab nur sein? So groß war der Friedhof nicht und ein frisches Grab würde auffallen.

Emily rieb sich über die nassen Arme und zog den Kopf ein.

Heute hatte sie einfach kein Glück.

„Was machst du denn hier? Warst du nicht gestern erst an diesem Ort?“

Emilys Herz setzte aus und sie drehte sich um.

Offensichtlich hatte sie doch Glück. Was sollte sie jetzt zu ihm sagen? Sie konnte doch nicht sagen, dass sie ihn gesucht hatte! Das wäre viel zu aufdringlich.

„Ähm…“, brachte sie hervor und knickste ein wenig unbeholfen zur Begrüßung. „Nichts Besonderes.“

Es ärgerte sie, dass sie so atemlos klang.

Undertakers Gesicht verzog sich und sein Lachen verschwand aus dem Gesicht. Auch wenn sie seine Augen nicht sehen konnte unter dem dichten weißen Pony, war sie sich sicher, dass er die Augenbrauen hoch zog.

Er war genauso durchnässt vom Regen wie sie. Von seinen Haaren tropfte das Wasser, während sich der Mantel vollgesaugt hatte wie ein Schwamm.

Undertaker fing zu lachen an.

Emily war irritiert. Hatte sie etwas Falsches getan? War der Knicks vielleicht doch nicht richtig gewesen? Ihr Gesicht fing an zu glühen.

„Vor meiner Wenigkeit musst du nicht knicksen“, sagte er auf ihren fragenden Gesichtsausdruck hin.

„Oh…“, war alles, was sie rausbrachte, und hielt die Hände vor dem Körper nervös gefaltet.

Emily wusste nicht, was sie sagen sollte.

Wieder erstarb Undertakers Lachen und sein Gesicht verzog sich missmutig. Er trat näher an Emily heran und beugte sich zu ihr herunter. Mit seiner warmen Hand strich er ihr ein paar nasse Strähnen aus dem Gesicht.

„Was machst du schon wieder hier?“

„Ich…“ Emily überlegte. Sie wusste, er schaute sie durchdringend an. „Ich wollte wieder das Grab meiner Mama besuchen!“

„Bei so einem Wetter?“, fragte er, während seine Hand noch immer auf ihrem Kopf verweilte. „Und mit so roten Augen, dass man meinen könnte, du hättest dir die Seele aus dem Leib geweint?“

Emily schluckte hart. Dieser Bestatter war ein wirklich guter Beobachter.

„Eine schlechte Lügnerin warst du schon immer“, fuhr er fort und kicherte leise. „Du bist ganz kalt. Möchtest du wieder mit in mein Geschäft kommen und dich dort aufwärmen? Vielleicht erzählst du meiner Wenigkeit auch, was passiert ist?“

Emily nickte zaghaft und folgte Undertaker zu seinem Wagen, wo er ihr schon wie am Tag zuvor half aufzusteigen.

Diesmal wollte sie sich die Strecke zu seinem Geschäft merken, damit sie den Weg auch alleine finden konnte.

Während der Fahrt sprachen sie kein Wort miteinander. Sie saßen einfach nur schweigend auf dem Bock, während Undertaker den Wagen durch die nassen Straßen fuhr. Emily war froh, dass er sie wieder mitnahm. Es gab ihr ein sicheres Gefühl. Sie wusste selbst nicht einmal, warum das so war und wieso sie sich wohl bei ihm fühlte.

Bei seinem Geschäft angekommen, half er ihr abzusteigen und öffnete die Tür, damit sie nicht mehr im Regen stand, während er den Wagen hinter dem Haus verstaute und das Tier versorgte.

Emily stand etwas unbeholfen zwischen den Särgen. So nass wie sie war, wollte sie sich nicht auf einem der Särge niederlassen. Immerhin bildete sich schon eine Pfütze zu ihren Füßen von ihren nassen Kleidern.

Undertaker kam in sein Geschäft und schüttelte sich, als könnte er damit die Kälte abwehren.

„Du stehst da wie ein nasser Hund. Komm mit rauf. Dort kannst du dir frische Sachen anziehen.“ Der Bestatter zog einen Vorhang zur Seite und offenbarte damit eine Treppe, die nach oben führte. Er stieg die Stufen hinauf und Emily folgte ihm. Sie hörte, wie er das Türschloss öffnete und ging in die Räumlichkeiten hinein.

Der Geruch von süßen Keksen, wie Emily sie gestern gegessen hatte, stieg ihr in die Nase.

„Trete ruhig ein. Es ist nichts Besonderes. Meine Wenigkeit mag es bescheiden“, sagte er und wies mit einer einfachen Geste in die Räumlichkeiten.

Unsicher trat Emily ein und sah sich um.

Es gab zwei Räume.

Eine kleine Küchenstelle mit einem Schrank für Geschirr und Töpfe. Es gab auch ein Regal mit ein paar Lebensmitteln darin.

Auf der Herdplatte stand ein Blech und darauf lagen fertig gebackene Kekse. Wieder waren sie in Knochenform.

Der größte Raum war wohl der Hauptraum dieser kleinen Wohnung. Ein Bett stand darin und mitten im Raum ein Tisch mit zwei Stühlen. Auf der anderen Seite des Raumes standen eine große Kleiderkommode und daneben ein Regal mit Büchern.

Undertaker hatte seinen Mantel abgelegt und den großen Zylinderhut. Er stand vor der Kommode und suchte etwas.

„Ah da“, sagte er und wandte sich zu ihr um. In den Händen hielt er etwas Weißes und legte es auf den Tisch.

„Ein Handtuch“, sagte er auf ihren fragenden Blick hin. „Damit kannst du dich abtrocknen. Das andere ist ein langes Unterhemd. Das kannst du anziehen bis deine Sachen trocken sind. Ich bereite uns einen Tee zu.“

Undertaker ging in den kleinen Raum und sie hörte wie er dort in den Schränken herum suchte.

Unsicher und zögerlich zog sie ihr Kleid aus und rieb sich mit dem weichen Handtuch trocken. Es roch angenehm und war weicher als alles bisherige, was sie in den Fingern hatte. Auf so etwas weichem zu schlafen wäre sicherlich himmlisch.

Keine Flöhe oder Zecken würden sie beißen. Es roch nicht muffig oder schimmlig.

Emily rieb sich damit über die nassen Haare und zog sich dann das Hemd an. Es war ihr um einiges zu groß, aber wenigstens trocken und sauber.

Der Teekessel pfiff und sie hörte, wie Undertaker das Teewasser in Tassen füllte und kam wenige Augenblicke mit zwei dampfenden Tassen in den Raum.

„Setz dich, Kind, setz dich.“ Er stellte die beiden Tassen auf den Tisch und zog sich einen der Stühle heran. „Möchtest du jetzt meiner Wenigkeit vielleicht erzählen, wieso du auf dem Friedhof warst?“

Emily nahm auf dem anderen Stuhl Platz und betrachtete den Tee in der Tasse, dessen Dampf ungehindert aufstieg.

Mit beiden Händen umschloss sie die warme Tasse, während Undertaker bereits aus seiner trank. Erwartungsvoll hatte er den Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf auf die Hand geschützt.

Emily überlegte. Was sollte sie sagen?

„Die Nachbarsfrau sagte, du hättest meine Wenigkeit gesucht und sie hätte dir gesagt, wo ich zu finden bin.“

Emily merkte, wie sie errötete und senkte den Blick. Sie hoffte, dass er es durch ihre langen Haare nicht sehen konnte.

„Weiß nicht. Ich glaube, ich wollte einfach…“, begann sie stotternd. „Ich wollte Sie einfach nach gestern wiedersehen.“

Sie schluckte hart und ihr Mund fühlte sich trocken an, weshalb sie schnell etwas vom Tee trank.

„Dafür gibt es doch einen Grund.“

Emily nickte.

Undertaker beugte sich ein wenig vor.

„Ich weiß nicht, was passiert ist.“

„Woran erinnerst du dich?“

„Ich bin gestern nach Hause gekommen und mein Vater war da. Er hatte mich angeschrien, wo ich war und mich gewürgt…“ Sie brach ab und musste schwer schlucken. Emily spürte, wie sich Tränen bilden wollten und unterdrückte sie so gut es ging.

„Deshalb also die blauen Flecken…“, murmelte Undertaker leise und Emily zuckte zusammen. Er hatte sie also gesehen.

Sie trank erneut aus der Tasse und fuhr fort. „Ich weiß nicht, was in der Nacht passiert ist. Es war auf einmal alles schwarz…ich bin vorhin wach geworden und mein Vater war da…er…er lag auf mir…mein Bauch tat weh und zwischen meinen Beinen auch…er…er hat sich bewegt…und ich hab ihn gebissen, gekratzt, gefleht, aber er hörte nicht auf…“ Nun liefen langsam die Tränen über ihr Gesicht und immer wieder musste sie aufhören, um zu schniefen.

Sie konnte Undertakers Nägel über den Tisch kratzten hören. Langsam, so als würde er um Beherrschung ringen. Seine Hand hatte sich zur Faust geballt und seine Lippen waren fest aufeinander gepresst.

„Sprich weiter“, bat er und seine Stimme klang genauso angespannt, wie er aussah.

Emily nickte und blickte in den Tee als ob es ihr damit leichter fallen würde zu sprechen. Ein lautes Schniefen entfuhr ihr wieder.

„Ich hab mich gewehrt und getreten…und als er von mir herunter war, bin ich losgerannt…ich habe mich noch einmal umgedreht und gesehen, wie er auf dem Boden lag und…und…und da war…da war Blut auf der Decke…dann bin ich aus dem Haus und irgendwohin gerannt…“ Ihre Stimme versagte und es war ihr nun egal, ob sie weinte oder nicht. Sie ließ die Tasse los und schlang beide Arme fest um ihren Körper.

Undertaker schwieg.

Wieso sagte er nichts dazu? Wenn er wenigstens etwas sagen würde, würde sie sich vielleicht nicht mehr so elendig fühlen!

Emily spürte seinen Blick auf sich ruhen. Konnte er denn nicht wegsehen? Es war so unerträglich.

Plötzlich ertönte ein lauter Knall und Emily zuckte zusammen.

Ihr Blick war von Tränen verschleiert. Nur undeutlich erkannte sie, dass Undertaker mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen hatte und aufgesprungen war.

Ihr Herz raste.

Was hatte er vor? Würde er sie jetzt hinauswerfen?

Mit zwei Schritten war er bei ihr und lehnte sich über sie. Seine Lippen waren direkt an ihrem Ohr und Emily musste sich zurück halten, um nicht zu schaudern. Sein warmer Atem streifte ihren Hals. Seine Arme umschlossen ihren Körper und zogen sie näher zu ihm heran.

Emily konnte sein Herz klopfen hören.

Es war beruhigend, genauso wie das Heben und Senken seiner Brust, die beim Sprechen ein wenig vibrierte.

Der Bestatter flüsterte beruhigende Worte und strich immer wieder über ihren Rücken, während sie an seiner Brust weinte.

Erst nach mehreren Minuten, es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, beruhigte sie sich etwas und sie konnte Undertaker wieder ins Gesicht sehen.

Es war voller Mitgefühl und Traurigkeit.

„Ruh dich ein wenig aus, während ich meiner Arbeit nachgehe. Du kannst hierbleiben und ein wenig schlafen.“ Seine Stimme klang, als würde er sehr viel Schmerz und Trauer unterdrücken.

Emily nickte. Jetzt, wo er es sagte, fühlte sie sich tatsächlich müde.

Undertaker führte sie zu dem großen Bett und schlug die Decke zurück, damit Emily sich hinein legen konnte.

Sie schlüpfte unter die weiche Decke und ließ sich in die Kissen sinken.

Seine warme Hand war beruhigend, wie sie langsam über ihre Wange strich.

Emily schloss die Augen und genoss es, in der weichen Matratze zu liegen, während der Bestatter sich setzte und an ihrer Seite blieb.

Der süße Duft von Verwesung stieg in ihre Nase, aber auch ein leichter Rosengeruch.

Woher kam er? Sie hatte nirgendwo Rosen im Zimmer gesehen.

Es war dennoch sehr angenehm und vertraut.

Ein paar Strähnen wurden ihr aus dem Gesicht gestrichen und seine Hand ruhte lange zwischen den einzelnen Haaren.

Ein Gähnen entfuhr ihr und Emily kuschelte sich tiefer in die warme Decke.

An so ein Zuhause könnte sie sich fast gewöhnen.

Wieso konnte sie nicht bei ihm bleiben? Wieso konnte sie nicht einfach bei ihm leben und ihm helfen?

Sie war schnell im Lernen und an die Leichen würde sie sich schon gewöhnen. Fleißig war sie auch.

Sollte sie ihn einfach so dreist fragen?

Emily drehte sich zur Seite und Undertaker strich ihr über den Nacken, während er leise vor sich hin summte und leise Worte murmelte.

Dieser Mann war so anders als ihr Vater. Der Gedanke an ihn ließen erneut Tränen in ihr aufsteigen und Emily unterdrückte ein Schluchzen, während die warmen und salzigen Tränen über ihr Gesicht liefen.

„Schlaf jetzt. Danach fühlst du dich besser. Alles ist gut“, flüsterte Undertaker.

Emily nickte und zog die Beine eng an den Körper.

Wieso fühlte sie sich so sicher bei ihm? Was war das für ein Gefühl in ihrer Brust, dass ihn so vertraut erscheinen ließ?

Ihre Gedanken drifteten ab und verloren sich in der Tiefe ihres Unterbewusstseins, während die Müdigkeit von ihr Besitz ergriff.

Sie konnte spüren, wie Undertaker sich vom Bett erhob und sich seine warme Hand entfernte.

„Schlaf gut, Emily“, sagte er und strich ihr erneut ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Leise seufzte er und sie konnte mit einem Mal seine Nähe spüren. Er war ganz nah an ihrem Gesicht. Sein Atem streifte sie.

„Vergib mir, Alyssa“, flüsterte er kaum hörbar und im nächsten Moment konnte sie zwei warme Lippen auf ihrer Stirn fühlen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Akai_Hana
2013-09-05T17:26:22+00:00 05.09.2013 19:26
Soooo mit o ^w^
Jetzt fängt die Kommi-Stolkerei an |D
Kann man das so sagen? ^^"
Naja egal xD
Ohh~ ich liebe die Story's, über die früheren Leben von Lily~
Sowohl die von Alyssa als auch die von Emily find ich so toll~ ^.^
Einfach ein super Kapitel ^w^~

Von:  AkaiOkami
2013-09-04T13:18:24+00:00 04.09.2013 15:18
Ich find das kapitel ist wieder sehr gut gelungen und mir ist gerade aufgefallen das, das Etui was ich mir gerade gekauft hab von der Firma 'McNeill' ist ^^ XD
Antwort von:  Frigg
04.09.2013 15:29
Nein?! Ö_Ö Wei geil ist das denn und ich dachte schon meine Brille von "Humphreys" sei der Hammer.


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