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Wintersonnenwende

17. Adventskalendertürchen
von

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Eine Herausforderung

Stöhnend rieb ich mir den Nacken, während ich die schlecht beleuchtete Straße entlang ging. Es war genau eine Woche vor Weihnachten und ein Schneesturm vom Vortag hatte die Landschaft um mich herum in eine weiße Decke gehüllt. Es war bitterkalt und den letzten Bus hatte ich ganz knapp verpasst. So schlang ich meinen Schal etwas fester und marschierte in Richtung zu Hause.

Links von mir erstreckten sich weite Felder im Winterschlaf, rechts lag dunkel und ruhig der Wald, ein Naherholungsgebiet.

Ich war erledigt von der Arbeit im Lager, der ich vier Mal in der Woche jeden Abend nach der Schule nachging, um meine Miete zu bezahlen. Als 17-jähriger Schüler hatte man es nicht leicht, alleine zu leben, doch ich bekam es schon irgendwie hin. Niemals würde ich zu meiner Mutter und ihrem Bastard von einem Freund zurückkriechen, egal wie schwer es war, über die Runden zu kommen. Auch wenn der Kerl von einer Anzeige abgesehen hatte, nachdem ich ihm mit einem einzigen Tritt eine Rippe angeknackst hatte, so konnte ich nicht garantieren, dass ich mich das nächste Mal in seiner Gegenwart zurückhalten konnte. Ich hasste ihn. Und ich hasste meine Mutter dafür, dass sie dieses Arschloch verteidigte.

„Lazarus!“, hatte sie unter Tränen geschrien. „Laz, hör auf! Bitte!“

Dabei hatte ich sie vor diesem Mistkerl verteidigt. Er hatte sie geschlagen. Ich war blind vor Wut. Und dann schickte sie mich weg.

Ich schüttelte meinen Kopf und versuchte, die blöden Gedanken zu vertreiben. Es war mittlerweile eineinhalb Jahre her, ich hatte mich bereits mit dieser Situation arrangiert.

Einige hundert Meter vor mir ging ein Mädchen. Ich beobachtete sie bereits eine Weile, scheinbar hatte sie wie ich den Bus verpasst. Damit teilten wir wohl das gleiche Schicksal an diesem Tag. Auch wenn es bereits sehr spät war, um noch alleine eine menschenleere Straße entlang zu latschen. Aber es sollte nicht mein Problem sein.

Ich seufzte und schloss kurz meine Augen. Eventuell sollte ich dieses Mal etwas früher zu Bett gehen, da ich sonst wahrscheinlich wieder im Unterricht einschlafen würde.

Plötzlich hörte ich einen kleinen, spitzen Aufschrei. Ich riss die Augen auf und entdeckte das Mädchen, das nun auf dem Boden lag. War sie ausgerutscht?

Ich beschleunigte meinen Schritt, doch da rappelte sie sich bereits auf und ging zielstrebig von der Straße runter in Richtung Wald.

Was hatte sie vor? Der kleine Abhang wurde von kahlen Büschen bedeckt und führte direkt zu einem Bach. Scheiße, bei der Dunkelheit durfte man doch nicht einfach so irgendwo runtersteigen!

Ich rief noch ein „Vorsicht!“ doch es war bereits zu spät, das merkte ich, als sie erneut aufschrie. Yep, sie hatte anscheinend das Wasser entdeckt.

Ich fluchte und sprintete zu der Stelle, an der sie verschwunden war.

„Ist alles okay bei dir?“, rief ich probeweise und schielte in die Dunkelheit.

„Ja“, piepste sie nach wenigen Sekunden zurück. „Ich stecke mit meinen Füßen im Eis fest.“

„Kann ich dir irgendwie helfen? Dich rausziehen?“ Ich schob ein paar der steifgefrorenen Zweige zur Seite. Es knackte in meiner Nähe und ich hörte Wasser plätschern, da entdeckte ich eine Hand, die sich in meine Richtung streckte.

„Es ist so rutschig hier. Ich habe ein bisschen Angst, mich zu bewegen. Ich kann nichts sehen“, sagte sie und ich hörte, wie sie langsam panisch wurde.

„Keine Sorge, sowas ist mir auch schon mal passiert. Und wie du sehen kannst, lebe ich noch.“ Ich umschloss ihre Hand, sie war eiskalt und nass. „Achtung, ich zieh dich jetzt raus. Bereit?“

Nach einer halblauten Zustimmung ihrerseits zog ich sie mit einem Ruck zu mir. Sie stolperte, doch ich konnte sie gerade noch so halten. Meine Hände lagen fest an ihren Oberarmen, um sie zu stützen. Sie zitterte am ganzen Leib.

„Alles klar?“, fragte ich vorsichtig.

„Danke“, nuschelte sie, hielt ihren Kopf dabei aber weiterhin gesenkt.

Ihre langen, schwarzen Haare unter der Wollmütze, ihre große Brille sowie die zierliche Statur kamen mir bekannt vor, doch ich kam nicht drauf, woher ich sie kennen konnte. Mit Namen hatte ich das aber generell nicht so.

Ich ließ sie los, sobald ich das Gefühl hatte, dass sie nicht sofort umkippen würde und machte einen Schritt rückwärts. Im schwachen Licht der ein paar Meter entfernten Laterne wirkte ihre Haut leichenblass. Ihre Zähne klapperten unaufhörlich aneinander.

„Bist du sehr nass geworden?“

Sie schüttelte mit dem Kopf. „Nur meine Füße. Und ein bisschen meine Hände.“ Hektisch rieb sie Letztere aneinander und versuchte, sie durch Hauchen zu erwärmen. Dabei hüpfte sie unaufhörlich von einem Bein aufs andere, was schmatzende Geräusche verursachte.

„Du musst dringend aus diesen nassen Schuhen raus, sonst erfrierst du noch vollkommen“, sagte ich und schaute mich nach einer Sitzgelegenheit um. Sich jetzt auf den vereisten Boden zu setzen, wäre nicht so klug. Nicht weit von uns entfernt sah ich eine alte, heruntergekommene Bushaltestelle. „Komm.“ Ich schnappte mir meinen Rucksack, grapschte nach ihrer eisigen Hand und zog sie hinter mich her.

„W-Warte, was tust du?“ Ihre Stimme brach ein bisschen.

„Deine Füße vor dem sicheren Erfrierungstod bewahren.“

Bei der Haltestelle angekommen drückte ich das fürchterlich zitternde Mädchen auf die Holzbank , kniete mich vor sie und begann, ihre Schuhe aufzuknoten.

„Ich weiß, es klingt jetzt wenig appetitlich, aber du musst gleich meine Socken anziehen, damit deine Füße in etwas Trockenem stecken“, sagte ich und fluchte, weil die Schnürsenkel so voll mit Wasser gesogen und beinah eingefroren waren.

„Und was ist mir dir? Werden dann nicht DEINE Füße erfrieren?“

Ich winkte ab. „Meine Schuhe sind gefüttert, das geht auch ohne Socken bei mir.“

Als ich beide Knoten endlich gelöst hatte, setzte ich mich neben sie auf die Bank und begann, meine eigenen Schuhe abzustreifen. In der Zwischenzeit ließ sie ihre auf den Boden plumpsen und zog vorsichtig an den durchnässten Socken.

„Ich bin übrigens Laz. Und wie heißt du?“, fragte ich, um keine unangenehme Stille zwischen uns entstehen zu lassen, und stellte gleichzeitig mürrisch fest, dass ich ausgerechnet heute diese dämlichen, leuchtend roten Socken mit Tannenbaummotiv an hatte – meine „Notfallsocken“, wenn mal wieder alles andere in der Wäsche war.

„Du kennst meinen Namen nicht?“ Ihre Stimme klang verwundert und ich schaute sie fragend an. „Ich heiße Yola und wir sind zusammen im Bio-Kurs.“ Mit einem Taschentuch begann sie, ihre Füße abzutrocknen. Sie waren krebsrot.

„Oh, entschuldige, ich bin so schlecht im Namen merken“, gab ich ehrlich zu und kratzte mich verlegen am Hinterkopf. „Und außerdem penne ich die meiste Zeit in Bio, deswegen bekomme ich eh kaum was mit.“

Sie kicherte leicht. „Ich weiß. Manchmal bewerfe ich dich mit Papierkügelchen, wenn mir langweilig ist.“

„Ach, DU bist das immer!“, rief ich entrüstet und wollte eigentlich gerade aufspringen, was aber bei dem kalten Boden ohne Schuhe keine so gute Idee wäre. Schnell zog ich die Socken aus und schlüpfte in meine noch warmen Stiefel.

Abwehrend hob sie ihre nun in die Ärmel zurückgezogenen Hände. „Ich kann da nichts dafür. Manchmal schläfst du mit offenem Mund und bietest dich quasi als Zielübung an. Du forderst mich damit geradezu heraus!“

Ich schüttelte lachend den Kopf. Vor ihr kniend streifte ich ihr vorsichtig die Socken über die Füße.

„Ich kann das auch selbst!“, rief sie und schob meine Hände weg. „Schick“, kommentierte sie das Ergebnis an ihren Füßen.

„Wusstest du, dass Weihnachten eigentlich ein geklautes Fest ist?“, fragte Yola mich.

Ich schaute sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an.

„Die Christen haben es von den Heiden übernommen, die zu dieser Zeit die Wintersonnenwende feierten.“

„Du bist ja wie ein laufendes Lexikon.“ Ich lachte.

„Ich stehe total auf unnützes Wissen“, sagte sie und grinste mich frech an. Und in dem Moment erinnerte ich mich an ihr Gesicht in der Schule.

„Du bist Yolanda Perfect“, rief ich unnötigerweise. Die Streberin, die immer von den Lehrern hoch gelobt wurde. Die in der Mensa immer alleine saß und las. Die überheblich grinste, wenn sie etwas besser wusste. Die gemieden wurde.

Ein drückendes Gefühl legte sich auf meinen Magen.

Ihre Lippen waren nur noch ein schmaler Strich. „Yola reicht völlig. Danke.“

Plötzlich war der Glanz aus ihren Augen verschwunden, sie fixierte einen Punkt am Boden und krallte sich mit den Händen in die Bank.

„Entschuldige bitte, habe ich etwas Falsches gesagt?“

Sie schüttelte leicht den Kopf. „Nicht falscher als das, was die in der Schule sagen. Mein Nachname ist Prefect und nicht Perfect. Aber du hast vergessen, deine Stimme auf Spott zu stellen.“

„Ach Quatsch! Wer verspottet dich denn?“, rief ich halbherzig, denn ich wusste bereits die Antwort.

Ihr vernichtender Blick, der nun auf mich gerichtet war, schrie es beinah: alle.

„Mach dich ruhig lustig darüber.“

Eine unangenehme Kälte jagte mir den Rücken hinab. Plötzlich klang sie so anders, so distanziert. Sie griff nach ihren Schuhen, die nun von einer dünnen Eisschicht bedeckt waren, und machte Anstalten, sie sich überzustreifen.

„Was zum Teufel tust du da bitte?“, rief ich und schlug ihr die Stiefel aus der Hand. „Du willst jetzt doch nicht ernsthaft diese durchnässten Schuhe anziehen!“

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. „Und wie soll ich deiner Meinung nach sonst nach Hause kommen, Einstein?“

Ich seufzte leicht. Es war natürlich klar, dass ich mich selbst in diese Situation gebracht habe. Ich hätte ihr meine Hilfe nicht anbieten müssen und sie hätte schon selbst irgendwie nach Hause geschafft.

„Kannst du nicht deine Eltern anrufen, damit sie dich anholen?“, fragte ich hoffnungsvoll.

„Nein“, sagte sie und zupfte an ihrer Jacke rum. „Mein Handy ist ertrunken.“

„Wie meinst du das?“

Sie sah mich mit einem trotzigen Blick an, ihre Wangen waren leicht gerötet. Wenigstens schien sie wieder ein bisschen aufzuwärmen. „Als ich vorhin ausgerutscht bin, habe ich mein Handy fallengelassen und es ist den Abhang runter. Deswegen bin ich ja überhaupt erst in dieses Gestrüpp gegangen.“

Und hast dich in diese blöde Lage gebracht, vervollständigte ich ihre Erklärung in Gedanken.

„Okay.“ Ich kratzte mich am Hinterkopf. „Dann muss ich dich eben tragen.“

Ihre Augen wurden riesig. „W-Was?“

„Naja, wenn wir mal die Lage analysieren, dann sehen wir, dass es bis zur nächsten Stadt noch etwa drei Kilometer sind. Wir haben keine Handys dabei-“

„Du hast keins mit?“, rief sie ungläubig dazwischen.

„Nein, es liegt warm und trocken bei mir zu Hause.“ Ich stemmte die Hände in die Hüfte. „Also kein Handy bedeutet, dass wir auch kein Taxi oder so rufen können. Das bedeutet, wir müssen zu Fuß weiter, der Bus fährt ja heute nicht mehr.“

Ihre Lippen waren wieder fest aufeinander gepresst. Man sah ihr deutlich an, dass ihr die Idee mit dem Tragen missfiel.

„Ah, warte! Da fällt mir ein“, sagte ich und wühlte in meinem Rucksack herum. Zum Vorschein kamen zwei Plastiktüten, die ich vor einer halben Ewigkeit mal da reingestopfte hatte. „Tada!“

Nun wurde ihr Blick skeptisch. „Was soll ich damit?“

Für eine Streberin stellte sie sich aber ganz schön blöd an. Gut, dass ich regelmäßig Survival-Sendungen schaute.

„Trick 17: Die ziehst du über die Socken, dann werden sie in den Schuhen nicht nass. So können wir dann weitergehen“, sagte ich und hielt ihr die beiden Tüten vor die Nase.

„Und du meinst, das klappt?“ Überzeugt schien sie nicht zu sein.

Ich nickte eifrig. „Nun mach schon, sonst sitzen wir noch ewig hier.“

„Du kannst ja auch schon gehen“, sagte sie, während sie sich die Tüten über die Füße zog. „Ich halte dich nicht hier fest, weißt du?“

Täuschte ich mich oder klang sie ein bisschen traurig? Oder war das trotzig?

„Ich meine“, fuhr sie fort, würdigte mich dabei aber keines Blickes, „es ist total nett von dir, dass du mir hilfst, aber … ich weiß, dass du mich eigentlich nicht magst. Also ist das bereits mehr, als ich erwartet habe. Ich befreie dich also von der gesellschaftlichen Konvention, einem Mädchen zu helfen und es sicher nach Hause zu begleiten.“

„Warte … Was? Wie kommst du darauf, ich würde dich nicht mögen? Und was für eine gesellschaftliche Konven-wasauchimmer?“

Sie holte tief Luft. „Eine gesellschaftliche Konvention ist im Grunde wie eine Verpflichtung, die eine Gruppe ohne direkte Absprache einhält, weil es zu einer bestimmten Gesellschaftsform gehört. Es sind gesellschaftliche Normen, an die wir uns halten, weil man sie von uns erwartet. Wie zum Beispiel Geschenke an Weihnachten oder zu Geburtstagen.“

„Okay. Also da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, ich helfe dir nicht, weil ich mich verpflichtet fühle.“

„Sondern?“ Sie schaute mich ausdruckslos an.

„Keine Ahnung, vielleicht weil ich nett bin?“, rief ich und fuchtelte mit meinen Armen.

Yola schaute mich einen Augenblick lang stumm an und ich hatte das Gefühl, sie würde versuchen, meine Gedanken zu lesen.

„Kein Lebewesen“, sagte sie sachlich, „handelt rein altruistisch.“

Altru-was? Was hatte das Mädel bitte genommen?

Mein Blick schien meine Verwirrung nur all zu deutlich wiederzugeben, denn während sie sich damit abmühte, ihre steifgefrorenen Schnürsenkel zu einem Knoten zu formen, begann sie, zu erklären: „Altruismus ist das Fremdwort für Selbstlosigkeit. Meiner Meinung nach hat jede Handlung, irgendwo einen egoistischen Kern, sei er noch so klein.“

„Also findest du anonyme Spenden egoistisch?“, warf ich spontan ein und war von mir meiner eigenen Schlagfertigkeit überrascht.

Yola stand auf und ich legte reflexartig eine Hand an ihren Arm, um sie zu fangen, wenn sie hinfallen sollte.

„Ja“, sagte sie und schaute erst meine Hand und dann mich an. „Man spendet, weil man sich selbst dann mit Glücksgefühlen belohnt. Dadurch, dass man etwas Gutes tut, fühlt man sich besser.“

Touché.

Sie ging probeweise ein paar Schritte, es raschelte leicht.

„Also muss ich irgendwelche Hintergedanken haben, wenn ich dir helfe?“, fragte ich und grinste sie an, in der Hoffnung, die Stimmung ein bisschen aufzulockern. Ich hatte nämlich das Gefühl, dass sie sich einfach in ihren Klugscheißermodus flüchtete, um mich zu vergraulen.

„Richtig.“ Sie schien unbeeindruckt zu sein. „Und weil ich weiß, dass du mich nicht magst, gehe ich davon aus, dass du dich gezwungen fühlst, mir zu helfen, um dann dir selbst sagen zu können, dass du ein guter Kerl bist. Frei nach dem Motto: eine gute Tat am Tag.“

Ich schnappte mir meinen Rucksack und wir gingen gemeinsam los.

„Ich frage dich noch einmal: Warum glaubst du, ich würde dich nicht mögen?“

Sie antwortete nicht sofort. Doch als sie es tat, klang sie unglaublich resigniert: „Weil mich niemand wirklich mag.“

„Rede keinen Blödsinn.“

„Tue ich nicht.“ Ihre Stimme war fest. „Ich bin nicht darauf aus, Freunde zu finden. Ich möchte lieber in Ruhe gelassen werden, deswegen erscheint meine distanzierte Art für viele befremdlich oder gar unhöflich. Deswegen meiden sie mich und … ja, mir gefällt es so.“

„Das kaufe ich dir nicht ab.“ Ich sagte es lauter als beabsichtigt.

Ruhig schaute sie mich von der Seite an. „Warum?“

„Weil man alleine nicht glücklich sein kann.“

„Ich schon. Projiziere nicht dein Verhalten und deine Bedürfnisse auf mich. Wir sind verschieden.“

„Nicht so verschieden, wie du denkst.“

Okay, vielleicht war das ein bisschen weit hergeholt, denn schließlich wusste ich so gut wie gar nichts über Yola. Und wenn überhaupt, dann nur durch Erzählungen, wobei das meiste sowieso nur negativer Natur war. Doch einen Versuch war es trotzdem wert.

„So wie du denkst, dass kein Mensch altru-dingens-“

„Altruistisch.“

„-altruistisch ist, so denke ich, dass die Einsamkeit keinen Menschen auf Dauer glücklich macht.“

Sie schwieg und ich nutzte die Gelegenheit, um meine These weiter auszuformulieren: „Menschen sind doch soziale Lebewesen oder nicht? Und meiner Meinung nach bedeutet sozial sein, dass man Kontakt zu anderen Menschen hat. In dem Fall spielt das Urvertrauen eine wichtige Rolle – hatten wir das Thema nicht letztens in der Schule?“

„Wenn du mit ‚letztens‘ letztes Schuljahr meinst, dann ja.“

Meine Kiefermuskulatur spannte sich unangenehm an. Wollte sie mich mit diesem überheblichen Ton in der Stimme provozieren oder mir gar etwas beweisen?

„Wie auch immer“, fuhr ich unbeirrt fort, „wir haben im Unterricht jedenfalls von innerer emotionaler Sicherheit gesprochen, die uns erst den Kontakt zu anderen Menschen ermöglicht.“

„Du musst mir das Thema nicht nochmal vorkauen. Ich war auch dabei, ich habe es auch gelernt“, sagte sie unwirsch. „Komm also auf den Punkt. Obwohl ich bereits weiß, was du sagen willst.“

Was für eine kleine Zicke.

„Und was denkst du, möchte ich sagen?“, fragte ich seufzend.

„Dass ich ein sozial-emotionaler Krüppel bin.“ Die Teilnahmslosigkeit in ihrer Stimme ließ mich schlucken.

Ich war kein Psychologe und auch als Kummerkastenfreund nicht wirklich geeignet, aber Yolas Aussage ließ mich nicht los. „Nein, ich denke eher, dass dein Verhalten etwas mit negativen Erfahrungen zu tun hat.“

Sie blieb stehen und schaute mich stumm an, als würde sie auf eine Erklärung warten.

„Naja“, begann ich langsam, „vorhin, als ich dir aus dem Wasser geholfen habe, warst du ganz anders drauf. Du warst irgendwie offener. Erst als ich dich erkannt und deinen Namen gesagt habe, wurdest du abweisend. Es ist also eher so, dass du mir etwas unterstellst und mir nicht mal die Möglichkeit geben willst, dich vom Gegenteil zu überzeugen.“

„Vom Gegenteil überzeugen? Meinst du, wir werden nun beste Freunde oder was?“ Ihre Stimme triefte nur so vor Sarkasmus, was mich ziemlich wütend machte. „Das glaubst du doch selbst nicht. Mag sein, dass wir uns in den nächsten Tagen bis zu den Weihnachtsferien in der Schule sehen und auch vielleicht höfliche Floskeln austauschen, aber im Endeffekt wird dieses Verhalten zu einer Last für dich, vielleicht wird es auch unangenehm, dich mit der Außenseiterin abzugeben. Und es läuft alles darauf hinaus, dass du mich spätestens im neuen Jahr nicht einmal mehr mit dem Arsch anschauen wirst. So läuft das, Lazarus, so läuft das Leben.“

Diese Ansprache verschlug mir den Atem. Was muss dieses Mädchen erlebt haben, dass sie so negativ gestimmt war? Was musste passiert sein, dass sie niemanden an sich ranlassen wollte? Und warum zum Teufel wollte ich das überhaupt herausfinden? Sie war anstrengend, definitiv. Aber sie tat mir auch Leid. Und aus irgendeinem hirnrissigen Grund fand ich Yola interessant.

„Gut, also beste Freunde werden wir nicht. Aber überhaupt Freunde?“, fragte ich und setzte meinen treuherzigsten Blick ein. Ich schätzte, mein Gehirn war wohl eingefroren.

„Wieso sollten wir?“, fragte sie mich und sah sehr misstrauisch aus.

Ich zuckte mit den Achseln. „Um dir zu zeigen, dass ich doch nicht so ein Arschloch bin, wie du denkst?“

Yola biss sich auf die Unterlippe. Dachte sie ernsthaft darüber nach? Wow, ich war wohl ziemlich gut.

Doch zu früh gefreut: „Also willst du mir nur etwas beweisen. Ich denke nicht, dass das auf die Definition von Freundschaft zutrifft. Anscheinend siehst du mich gerade als eine Art Herausforderung an. Doch sobald der Reiz des Unbekannten und Neuen verflogen ist, wird auch dein Interesse nachlassen.“

Ich seufzte. „Yola, hör auf, mich zu analysieren. Du machst es einem echt schwer, dich zu mögen.“

Gut, das war nicht nett von mir, aber es war ehrlich. Und es saß, denn plötzlich marschierte sie in einem Wahnsinnstempo los und bewirkte bei mir nichts weiter außer einem schlechten Gewissen.

Ich holte sie ein. „Entschuldige, ich wollte nicht gemein sein.“

Sie schniefte und in dem Moment rutschte mein Herz sprichwörtlich in die Hose.

„Weinst du etwa?“ Ich packte sie am Oberarm und drehte sie zu mir.

Reflexartig hob sie ihre Hände und wischte sich über die Augen. Ihr Mascara verschmierte dabei und hinterließ schwarze Streifen auf ihrem Gesicht und an ihren Händen.

„Nein“, entgegnete sie mit einem trotzigen Blick. „Warum sollte ich weinen? Du hast doch nur das wiederholt, was ich dir bereits erklärt habe. Ich will nicht gemocht werden. Also lass mich jetzt los, ich will nach Hause.“ Ihre Nasenflügel bebten.

Ich blieb standhaft. „Aber ich meinte das nicht so, wie ich es gesagt habe.“

„Doch meintest du.“

Energisch massierte ich mir den Nasenrücken. „Du bist so unglaublich stur. Ich weiß ehrlich nicht, was passiert ist, dass du so bist, wie du bist, aber mich schreckst du damit nicht ab.“

Okay, das war gelogen. Sie nervte mich tierisch, aber irgendwas hatte sie bei mir entfacht. Vielleicht war es ja doch die Herausforderung?

Sie schniefte wieder. „Ich verstehe dich nicht.“

Willkommen im Klub, Schwester.

Ich lachte, legte ihr eine Hand an den Rücken und forderte sie so damit auf, weiterzugehen.

Nach etwa zwanzig Minuten standen wir vor meinem Wohngebäude.

„Möchtest du reinkommen, dich aufwärmen?“, fragte ich und kannte bereits die Antwort, bevor ich die Frage gestellt hatte.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich wohne drei Straßen weiter.“

Nickend machte ich bereits die ersten Schritte, um sie nach Hause zu begleiten, da hielt sie mich überraschend am Ärmel zurück.

„Ich möchte nicht, dass du mich begleitest“, sagte sie.

„Aber-“

„Nein, ich möchte das nicht. Du hast bereits genug getan.“

Sie sah verlegen aus. Und dann tat ich das Dämlichste, was ich nur machen konnte: Ich umarmte sie. Ehrlich gesagt wusste ich nicht, was mich in dem Moment geritten hatte. Ich erwartete einen Schlag, eine Abwehrmaßnahme, doch die blieb aus. Yola ließ sich stillschweigend von mir umarmen.

In dieser Nacht träumte ich das erste Mal von ihr.
 

In den letzten Tagen vor den Weihnachtsferien kam Yola nicht zur Schule, was mich irgendwie traurig machte. Ich erwischte mich dabei, ständig nach ihr Ausschau zu halten. Ich machte auf meinem Schulweg sogar einen Umweg und klapperte die Straßen ab. Doch ich wusste nicht, wo sie wohnte. So gab ich meine Suche auf.

Am ersten Weihnachtsmorgen, als ich mir gerade einen Kaffee machte, klingelte es plötzlich an meiner Haustür. Mit Besuch rechnete ich die Tage über nicht.

In Boxershorts und T-Shirt bekleidet öffnete ich die Tür und ließ einen Schwall kühler Luft herein. Doch da stand niemand. Mein Blick richtete sich auf den Boden auf dem zu meiner Überraschung ein kleines Päckchen in grün-rot gestreiftem Geschenkpapier eingewickelt lag. Ich hob es auf – es war sehr leicht und weich – und entdeckte meinen Namen in kleinen, geschwungenen Lettern. Ein Blick links und rechts verriet mir, dass niemand im Hausflur stand.

Ich schloss die Tür und setzte mich auf den einzig freien Platz auf meiner völlig zugemüllten Couch. Vorsichtig öffnete ich das Päckchen und zum Vorschein kamen diese verdammten roten Socken mit dem Tannenbaummotiv. Darunter lag ein kleines Kärtchen:
 

„Entschuldige, dass ich dir deine Socken geklaut habe. Es war nicht meine Absicht. Ich habe mir trotz deiner hervorragenden Rettungsaktion eine dicke Erkältung eingefangen, aber alles halb so wild.

Ich wollte Danke sagen für deine Hilfe und wünsche dir eine schöne Wintersonnenwende.
 

Yola
 

P.S.: Wusstest du, dass man die Farbe Rot über die L-Zapfen in den Augen wahrnimmt?“
 

Schmunzelnd drehte ich das Kärtchen um und entdeckte in roter Schrift eine Handynummer – ihre Handynummer. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer.
 

„Nimmst du die Herausforderung an?“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Der 17. Dezember ist der Namenstag von Lazarus und Yolanda. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  May_Be
2016-01-11T11:50:47+00:00 11.01.2016 12:50
Hey :D

Nachdem ich angefangen habe, deine Geschichte über Cara und Jamie zu lesen, konnte ich nicht genug von deinen Erzählungen und von deinem Stil bekommen ^w^

Mir gefällt an dieser Geschichte sehr die Unterhaltung zwischen Yola und Laz, das haucht der Story sehr viel Leben ein :) Laz' Interesse an der Außenseiterin kann ich gut nachvollziehen. Ich bin auch eher so, dass ich solche Menschen interessant finde und sie näher kennen lernen möchte.

Das Ende ist auch super: "Nimmst du die Herausforderung an?" - Ich hab sofort Gänsehaut bekommen <3

Schreib bitte mehr eigene Geschichten, die genauso süß sind ^_^ Ich bin spätestens jetzt dein Fan! *.*

Liebe Grüße
May_Be
Antwort von:  MissImpression
11.01.2016 18:56
Und hier auch nochmal ein großes Dankeschön fürs Lesen und Kommentieren <3
Ich freue mich einen riesen Keks, dass dir diese Kurzgeschichte gefällt ^_^

Im Grunde besteht die Handlung ja aus Dialog :D also wirklich viel passiert ja nicht. Und deswegen bin ich besonders froh, dass du es trotzdem als lebendig empfunden hast ^.^

Ich hatte tatsächlich mal eine längere Geschichte mit den beiden angefangen, leider ist sie aber im Sande verlaufen, da die beiden Protagonisten jeweils einen zu großen Knacks weg haben :D
Ich schreibe momentan aber aktiv an zwei seichteren Geschichten, bei denen ich aber nicht weiß, ob ich sie bei Animexx überhaupt veröffentlichen werde... Kenne mich hier mit der Altersbeschränkung nicht so aus :/ Naja.

Freut mich auf jeden Fall, dass es dir gefallen hat!! ^.^

LG
Tanja
Antwort von:  May_Be
11.01.2016 20:01
Ich würde mich auf jeden Fall freuen, wenn du dich dazu entschließt, weitere Geschichten zu veröffentlichen :) Von deinem Schreibstil und deinen Geschichten kann man nicht genug bekommen^^
Wegen der Altersbeschränkung kannst du dich direkt beim Hochladen informieren. Das steht immer dabei. Oder du schreibst einen Admin an ;)
*versuche dich zu motivieren* XD

Antwort von:  MissImpression
11.01.2016 21:17
Ja, also bei fanfiktion.de sind diese Geschichten schon drin ... in der Kategorie Erotik ab 18 xD das wäre hier vielleicht etwas umständlich? *grübel*
Ich bin mir nicht sicher, ob das hier die richtige Plattform dafür ist :D

Falls du mal reinschnuppern möchtest in die Geschichten, sag Bescheid, dann schick ich dir einen Link. Alternativ findest du sie natürlich über Google, mein Nick ist der gleiche hier wie dort^^

Danke wirklich für dein Lob und die Motivation <3 das bedeutet mir sehr viel!
Antwort von:  May_Be
11.01.2016 22:09
Ich hab dich jetzt bei fanfiction.de gestalkt XD
Hab jetzt diese Geschichte dort zu Ende gelesen ^^" konnte es nicht abwarten.

Ich finde vor allem den Epilog klasse ♡
Antwort von:  MissImpression
11.01.2016 22:10
Haha, freut mich, dass es dir gefallen hat <3 :)
Von:  Guardian
2014-12-21T00:42:18+00:00 21.12.2014 01:42
Hallo :)

Ich mag deine Geschichte sehr :)
Sie ist super geschrieben und inhaltlich in allem ebenen wieder zu finden. Das mit den Socken finde ich besonders toll. Es ist amüsant gewesen, deine Geschichte zu lesen, allein schon so manche Sprüche
Antwort von:  MissImpression
21.12.2014 19:57
Hi ^_^

Vielen Dank für deinen Kommentar!
Es freut mich sehr, dass dir mein Geschreibsel gefallen hat :)
Es war tatsächlich die erste Geschichte mit eigenen Figuren, die ich auch zu Ende geschrieben habe und ich überlege, ob ich sogar noch mehr zu den beiden Protagonisten schreibe... :3

LG
Tanja


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