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Der Greif

von

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Der Greif

Blauer Himmel erstreckte sich bis an den Horizont, wo eine stattliche Bergkette sich an die Luft zu schmiegen schien. Ein paar Schönwetterwolken drifteten in hohen Lagen vor sich hin und es machte den Anschein, dass sie sich keinen Meter bewegen wollten. Kein Lüftchen wehte, doch die Sonne brannte in ihrer sommerlichen Stärke auf das Gefieder der beiden Reisenden.

„Abigail, ich habe dir doch gesagt, dass wir hier falsch sind. Dein Gedächtnis lässt nach.“

„Iwo, du altes Huhn, mein Gedächtnis funktioniert noch ausgezeichnet!“, schnatterte die dickere von zwei Gestalten, die im Himmel ihre Kreise zogen, und gab einen sehr empörten Laut von sich. „Erinnerst du dich noch an jenen Sommer vor sieben Jahren, als wir Onkel Walter am See besucht haben? Ich war diejenige, die uns sicher ans Ziel navigiert hat! Wenn wir nach deinem Schnabel geflogen wären, wären wir im schlimmsten Gewittersturm gelandet!“

„Oh bitte nicht diese alte Kamelle.“

Das laute Geschnatter ging noch einige Minuten länger, bis die beiden Gestalten in einen Landeanflug übergingen und schließlich trotz ihrer unförmigen Körper elegant zu Boden glitten.

„Wir sollten jemandem nach dem Weg fragen, meinst du nicht auch, Abigail?“

Die Angesprochene richtete einige der weißen Federn neu aus, hob den Kopf und schien eine Weile zu überlegen. „Meinetwegen. Aber wir müssen jemanden finden, der sich mit dem Fliegen auskennt, dieses Fußvolk hilft uns auch nicht weiter.“

„Fußvolk!“ Die andere brach in schnatterndes Gelächter aus, in das Abigail sofort mit einstimmte. Dann machten sich die beiden Gänsedamen auf den Weg und watschelten an einigen kleinen Baumgruppen vorbei. Das Gras hatte bereits seine leuchtende Farbe eingebüßt, es hing schlaff zu Boden und zeugte von dem heißen Sommer, der das ganze Land in seinem Klammergriff hielt.

„Sieh nur, dort hinten!“ Abigail blieb stehen und stupste ihre Schwester mit dem Flügel an. „Agatha, ist das nicht ein Greif?“

„Ein Greif? Wo denn?“

„Psst! Nicht so laut. Ich habe gehört, Greife sollen sehr launische Wesen sein.“

„Und gute Flieger, bestimmt kann er uns helfen.“ Agatha beschleunigte ihren Schritt und ignorierte das Gezeter ihrer Schwester, die sie noch kurz zuvor zu einem ruhigen Verhalten aufgerufen hatte. „Hallo, Sie da! Herr Greif! Schau nur, Abigail, wie stattlich sein braunes Gefieder ist!“

„In der Tat, aber mit unseren Daunen kann er nicht mithalten.“

„Da hast du Recht. Ein Greif mit so weichen Daunen würde reichlich seltsam aussehen.“

Wieder stimmten beide in ihr lautes Gelächter ein, marschierten auf den Greif zu, der sich auf einem Stein sonnte, und riefen ihn mehrmals, bis er die Augen öffnete.

Der starre Blick eines gelben Augenpaars richtete sich direkt auf die beiden Gänsedamen, bevor sich der Greif erhob und eine gar königliche Haltung auf seinem Stein einnahm. „Wer wagt es meinen Schönheitsschlaf zu stören?“

„Guten Tag, werter Herr Greif“, sprach Abigail und machte einen leichten Knicks, der eher aussah, als würde sie eine Boje im Wasser imitieren. „Mein Name ist Abigail und das hier ist meine Schwester Agatha. Wir sind auf der Durchreise und wollen in die Stadt.“

„Genau“, stimmte nun Agatha mit ein und wippte aufgeregt hin und her. „Könnten Sie uns wohl den Weg weisen?“

„Sehe ich aus wie ein Wegweiser?“, erwiderte der braune Greif, hob eine Pfote an und fuhr sich damit über das struppige Brustgefieder. „Ein Herrscher beschäftigt sich nicht mit solch banalen Dingen.“

„Ein Herrscher?“, fragten Abigail und Agatha sofort aus einem Mund und warfen sich skeptische Blicke zu.

„Natürlich, sieht man das denn nicht?“ Der Greif räusperte sich und deutete auf einen Haufen mit Weidenzweigen, die zu einem unförmigen Kranz zusammengesteckt waren. „So reiche Sie mir meine Krone!“

Abigail lachte, tat jedoch, wie ihr geheißen. Während der Greif sich nun die Äste auf den Kopf setzte, beugte sie sich zu ihrer Schwester. „Der Ärmste, er muss auf den Kopf gefallen sein, so durcheinander, wie er ist!“

„Kein Wunder, mit diesen struppigen Schwingen kann doch niemand vernünftig fliegen!“

„Wenn ich mich vorstellen darf, mein Name ist Greiff.“

„Wir wissen doch schon, dass Sie ein Greif sind, werter Herr!“ Agatha schnatterte vergnügt und ihre Schwester stimmte sogleich mit ein. Beide Gänse schwankten lachend umher und hielten sich die dicken Bäuche, bis sie den angesäuerten Blick des viel größeren Greifs bemerkten und ihr Blick auch auf seine scharfen Krallen fiel. Kurzerhand wischten sie sich die letzten Lachtränen aus den Augen und bemühten sich um ein wenig Ernsthaftigkeit. „Sie sind also ein Herrscher, ja? Über welches Reich denn?“

Der Greif deutete auf den flachen Stein, auf dem er saß. „Dies ist mein goldener Thron und mein güldenes Gefieder zeigt meine wahrlich herrschaftliche Abstammung! Ich bin Graf Grüffel Griesgram Grießbrei der Vierte von Greiff mit Doppel-F!“

„Grießbrei!“ Agatha senkte die Stimme, als sie zu ihrer Schwester sprach: „Mir scheint, sein Hirn ist wie Grießbrei.“

„Seid Ihr auf den Kopf gefallen, oh großer und weiser Herrscher?“, fragte Abigail daraufhin unverblümt.

Grüffel trat von seinem Stein herunter und hob den Kopf dabei aufrecht in die Höhe gestreckt, damit jeder seine Weidenkrone bewundern konnte. „Gewiss nicht, Fräulein Wachtel. Nach dem Weg haben Sie gefragt? Den kenne ich nicht.“

Bei der Bezeichnung „Wachtel“ gaben beide Damen ein erzürntes Quietschen von sich. „Aber wir sind doch keine Wachteln, wir sind Gänse!“

„Oh Sie Ärmste“, fuhr Grüffel unbeirrt fort und auf sein Gesicht legte sich ehrliches Mitgefühl, „scheinen nicht einmal zu wissen, wer Sie sind? Eine Krankheit des Kopfes muss es wohl sein.“

Abigail und Agatha warfen sich Blicke zu, die eindeutig zeigten, dass sie an Grüffels Geisteszustand zweifelten, doch er bemerkte nichts davon und nahm zwischenzeitlich wieder auf seinem Stein Platz, wo er begann sich gleichzeitig beide Vorderpfoten zu lecken, was ihm das Aussehen eines Hundes gab, der für ein Stück Kuchen Männchen machte.

„Vielleicht sollten wir einfach verschwinden“, mutmaßte Agatha leise und schüttelte den Kopf. „Dieser Greif scheint ein wenig verwirrt zu sein und den Weg kennt er auch nicht.“

Abigail murmelte eine Zustimmung, doch gerade, als sie sich wortlos abwandten, sprach Grüffel sie wieder an.

„Wollen Sie schon gehen, meine Damen? Dabei wird doch die Teegesellschaft erwartet! Sie sollte schon vor Tagen eintreffen, ich weiß auch nicht, wo die anderen so lange bleiben. Mein hoheitliches Gemüt erfreut das nicht gerade. Wie wäre es, wenn ich Sie ein Stück des Weges begleite?“

„Und dann verlassen Sie Ihren … Thron?“

„Oh, gewiss, das geht natürlich nicht.“ Beinahe verschwörerisch blickte Grüffel die beiden Gänse an und klapperte leise mit seinem kräftigen Schnabel. „Hinter jeder Ecke lauern die Erbfeinde, die mir meinen Titel nicht gönnen.“ Und etwas lauter fügte er hinzu: „Nicht jeder kann ein Graf von Greiff sein!“ Anschließend räusperte er sich, schlug eine Pranke gegen seine Brust und begann mit schiefen Tönen zu singen:

„Greifenland, so groß und schön,

Möge jeder deine Stärke sehen,

In alle Himmelrichtungen du dich reckst,

Und deine Feinde niederstreckst,

Der König mit Macht und Klugheit regiert,

Und über alte Zeiten sinniert,

Oh Pudding, der du den Hunger stillst,

Und Koch, der du die Paprika grillst,

So singet zu Ehren von Graf von Greiff,

Olé, olé, olé!“

„Verrückt.“

„Definitiv.“

Agatha klatschte leicht verlegen, dann machte sie einen kleinen Knicks und trat einige Schritte zurück. „Werter Graf von Greiff, wir müssen uns nun leider verabschieden.“

„Das habe ich befürchtet.“ Grüffel seufzte. „Doch ich werde Sie ein Stück geleiten, um mein Reich von oben zu betrachten.“

Obwohl Abigail und Agatha noch mehrere Male betonten, dass dies nicht notwendig sei, ließ sich Grüffel nicht beirren und erhob sich mit kräftigen Schlägen seiner struppigen Schwingen in die Luft, um den beiden Gänsedamen zu folgen.

„Meine Damen, so warten Sie doch!“

„Wir müssen ihn abhängen, Abigail.“ Agatha warf einen gehetzten Blick nach hinten. „Sonst frisst er uns noch auf in seinem Wahnsinn. Los, nach rechts!“

„Nein, nach links, du altes Huhn!“

„Du Pute hast doch keine Ahnung, nach rechts müssen wir und in Richtung der Berge!“

„Nein, zurück zu den Bäumen, von wo wir gekommen sind!“

„Fräulein Wachtel, so warten Sie doch mit Ihrer Hofdame auf mich!“

„Er holt auf, das ist alles deine Schuld, Agatha!“

„Pah!“

Das zänkische Geschnatter wurde lauter, doch schließlich einigten sie sich und stiegen mit schnellen, hektischen Flügelschlägen weiter auf, um eine günstige Luftströmung zu erwischen.

„Egal wohin, Hauptsache fort von hier, dieser Greif ist verrückt!“

„Sieh nur, Abigail, mit seinen ungepflegten Schwingen wird er immer langsamer.“

„Und dick ist er auch, mit diesem Übergewicht kann doch keiner vernünftig fliegen!“

Aus der Streiterei wurde ihr lautes Lachen, als sie zur Seite abdrehten und Grüffel immer weiter hinter sich ließen.

„Schau, er will doch nicht etwa schon wieder singen?“

„Nein, ich glaube, er ruft uns etwas zu. Horch!“

Die Gänsedamen verlangsamten ihren Flug für einige Sekunden, bis sie die Worte vernahmen, die Grüffel ihnen zurief: „Oh du mien holde Fruhe, ich bin dien, du bist mien, so soll es immer sien!“ Sie kicherten und lachten, ließen Grüffel hinter sich zurück und änderten erneut die Richtung, um den Verrückten endlich abzuhängen.

Der Greif sah die beiden immer weiter von dannen fliegen, also gab er schlussendlich auf, drehte ab und landete mit einer schmerzhaften Bruchlandung neben seinem Stein. „So eine Unverschämtheit!“ Grüffel umkreiste seinen Thron, setzte sich auf ihn drauf und starrte über die Wiese, bis er eine Familie von Feldmäusen entdeckte, die ganz in der Nähe Beeren transportierte.

„Sie da!“, rief er und winkte ihnen mit seiner Pfote zu, während sein Schwanz leicht zuckte. „Hofmarschall, ich habe eine Nachricht zu verbreiten. Mir ist zu Ohren gekommen, dass zwei verrückte Gänse namens Abigail und Agathe in der Gegend unterwegs sind. Sie sollen wahrlich abstruse Geschichten über einen Greifen erzählen, der sich für einen Regenten hält. Wenn Sie mich fragen, sind diese beiden Damen schlichtweg krank im Kopf und benötigen dringend ärztliche Hilfe!“

„Was sagen Sie da, zwei verrückte Gänse?“, fragte Vater Feldmaus und kratzte sich am Kinn.

Grüffel nickte heftig. „Kaum vorstellbar, was diese beiden Damen mit ihren Geschichten anrichten könnten!“ Er wünschte der Familie Feldmaus noch einen wunderschönen Tag, dann reckte und streckte er sich und machte es sich wieder auf seinem Stein gemütlich, um ein schönes, beruhigendes Sonnenbad zu nehmen. „Was ein Glück, dass ich in meinem Reich keine Probleme mit solch schauderhaften Geschichtenerzählern habe.“ Sein Blick wanderte umher über die Wiese, weiter hinauf in die Luft zu einem Schwarm Zugvögel. „Ah, die Teegesellschaft kommt! Welch vortreffliches Timing. Ich denke, ich werde Gänsepastete servieren.“ Mit diesen Worten rollte sich Grüffel von der Seite auf den Bauch, schüttelte seine Schwingen und betrachtete die Vögel, die weit über ihm ihrer Route folgten.

Die Schönwetterwolken bewegten sich noch immer nur langsam, doch allmählich kam eine angenehme Brise hinzu, die die Grashalme leise rauschen ließ. Irgendwo quakte ein Frosch und das rege Treiben auf der Wiese gab Grüffel das gute Gefühl, dass in seinem Reich alles in bester Ordnung war. Alles, was noch fehlte, war ein Festmahl zu Ehren der Teegesellschaft, auf die er nun schon so viele Tage gewartet hatte.

Die Sonne brannte weiter auf die Erde nieder, die Grillen zirpten. Ein wahrlich majestätischer Tag.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  bettsy_illustration
2012-10-28T13:27:31+00:00 28.10.2012 14:27
Onkel Walter <3<3<3

Seeehr geil geschrieben und eine wirklich interessantes Thema. Besonders spannend finde ich ja, das man am Ende eigentlich gar nicht so richtig abschätzen kann, welche Partei denn nun wirklich geisteskrank war. Der Herr Greiff steht auf Gänse, fühlt sich aber nicht von unseren Damen angesprochen, die in seinen Augen Wachteln sind.

*Daumen hoch*

Gewohnt gute Schreibqualität.
Antwort von:  Kalliope
19.03.2014 20:32
Dankeschön :)


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