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Amnesia

Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?
von

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Kapitel 10: Schlagabtausch im Klinikum

Ladies and gentlemen –
 

Ja, man kann meinem Wort tatsächlich noch trauen. Hier kommt das nächste Kapitel – make yourself comfortable and enjoy reading!
 

Viele Grüße,

bis nächste Woche,

eure Leira
 

PS: Leute, ich kann euch nicht genug für die letzten Kommentare und eure Treue danken – ein Jahr lang bei der Stange zu bleiben verlangt schon wirklich viel ab. Meinen ehrlichen Dank dafür.

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Kapitel Zehn: Schlagabtausch im Klinikum
 

„Kommissar!“

Takagi stürzte außer Atem in die Einsatzzentrale.

„Kommissar Meguré, ich kann Inspektor Chiba nicht erreichen! Als ich nach dem Austreten zurückkam, war er weg und ich kann ihn nicht finden, und an sein Handy geht er nicht...! Ich kann ihn nicht erreichen…!“

Meguré, der gerade die Standorte und Berichte seiner Leute überprüfte, schaute auf.

„Was soll das heißen, Sie können Ihn nicht erreichen, Takagi?“

Seine Stimme klang schärfer als beabsichtigt. James Black, der gerade telefoniert hatte, trat näher, nahm Takagi die Last einer Antwort ab. Shiratori, der mit ihnen in der Zentrale den Einsatz koordinierte, horchte ebenfalls auf.

„Nun, unter Beachtung der besonderen Umstände, in denen wir uns befinden, könnte das heißen, dass einer von unseren ehrenwerten Gegnern Ihren Mann ganz unehrenwert aus dem Verkehr gezogen hat.“

Blacks Stimme klang nüchtern, sein Gesicht regungslos. Gedankenverloren begann er, mit drei Fingern seinen Bart zu zwirbeln.

„Im besten Fall heißt das, dass er nur bewusstlos in irgendeiner Abstellkammer liegt. Im schlechtesten Fall…“

Als er Megurés scharfen Blick bemerkte, brach er ab.

„Let’s not think about worst cases, shall we? Ich denke, wir sollten viel eher daran denken, was das heißt… nämlich, dass sich die Lage zuspitzt, und zwar drastisch. So wie es sich darstellt, currently, steuern wir auf den Höhepunkt des heutigen Abends zu… we’re reaching the climax… finally.“

James strich sich über seinen Schnauzbart.

„It is about time, indeed. Diese Warterei zermürbt einen doch ein wenig, und es tut gut, endlich reagieren zu können, don’t you think, gentlemen? Our first reaction therefore will be to check out the situation. Takagi, Sie und ich gehen zum Eingang. Dort erwarte ich Shuichi Akai und Jodie Starling, die gleich hier eintreffen werden. Zusätzlich können wir sehen, ob sich ihr Kollege in der Nähe… aufhält. Kommissar…“

Er wandte sich zu Meguré um, der ihn aufmerksam anschaute.

„Sie sammeln am besten Ihre Leute und versetzen sie in Alarmbereitschaft. Gin should be in the building by now, and we know his aim. His final… destination.“

Ein leises Seufzen entwich Blacks Kehle, dann komplimentierte er einen immer noch etwas konsterniert dreinblickenden, leicht panischen Takagi aus der Tür, während Meguré damit anfing, die Telefone heiß laufen zu lassen. Shiratori tat es ihm gleich.
 


 

Als Jodie und Shuichi aus dem Auto stiegen und sich auf den Weg zum Eingang des Krankenhauses machten, kamen sie nicht umhin, zwei Dinge zu bemerken. Erstens, die Tatsache, dass der Eingang unbewacht war, und zweitens, die Augen, die auf sie gerichtet waren auch, wenn sie sich anstrengten, so zu tun, als wären sie das nicht.
 

„Sie sind hier.“ Jodie zwang sich, sich nicht allzu offensichtlich umzusehen.

„Kaum zu übersehen.“ Akais Stimme klang frostig.

„Außerdem wussten wir das, überflüssig, es festzustellen, also.“

Er ging durch die sich für seinen Geschmack viel zu langsam öffnende Tür, Jodie folgte ihm; und dann sahen sie auch schon James, der ihnen in Begleitung von Wataru Takagi entgegen eilte - nicht rannte, denn ein James Black rannte nicht. Seinem ausgreifenden Schritt konnte man die Dringlichkeit des Anliegens aber dennoch ansehen.

Sie ahnten, was los war.
 

„Wer ist bei Kudô?“, fragte Akai, als sie in Hörweite waren.

„Inspektor Sato und Officer Miyamoto.“, antwortete Takagi eilfertig; langsam hatte er sich wieder im Griff, unterdrückte seine Panik und versuchte, das Adrenalin in geordnetere und nützlichere Bahnen zu lenken als in die, die seinen Fluchtinstinkt nährte.

„Kontrollieren Sie das bitte...!“, murmelte Jodie, sah sich unbehaglich um. „Eigentlich dauert das schon viel zu lange, es könnte sein, dass sie jeden Moment zuschlagen…“

Takagi nickte, zückte sein Handy, wählte und wartete.
 

„Warum steht hier keiner?“

Akais Stimme klang sachlich.

„Well, hier stand einer… eigentlich zwei“, James starrte gedankenverloren vorbei an Shuichi vorbei.

„Die Inspektoren Takagi und Chiba. Takagi was away for a short while, and when he came back, Chiba had been gone. We don’t know, where he’s gone, if you understand, what I mean.“

Shuichi verdrehte die Augen, bemerkte dann das immer blasser werdende Gesicht Takagis, der angestrengt in sein Handy horchte.

„Inspektor Takagi, what is it?“, murmelte Jodie nervös.

„Haben Sie die beiden denn schon erreicht…? Was sagen sie?“
 

Der junge Inspektor ließ seine Hand sinken, beendete mit zitternden Fingern den Anruf.

„Nichts, ich bin… bin nicht durchgekommen. Sie gehen beide nicht an ihr Mobiltelefon. Nun, eigentlich stimmt das auch nicht… es ist kein Freizeichen zu hören. Die beiden Telefone sind wohl ausgeschaltet..“

„Or broken.“

Jodie strich sich über die Augen, merkte, wie sich ihr Puls rasend schnell erhöhte, ihre Atemfrequenz nach oben stieg. Die Jagd hatte begonnen.

„Let’s go!“
 

Umgehend rannten sie zurück ins Gebäude, wohl wissend, dass keine Nachricht in diesem Fall keine gute Nachricht war.

Takagi umklammerte immer noch sein Handy, war ein gutes Stück bleicher im Gesicht als all die anderen, als er durchs Foyer hetzte.
 

Miwako!
 

Inspektor Miwako Sato lag neben ihrer Kollegin Yumi Miyamoto, die genauso bewusstlos war wie sie, in der kleinen Teeküche am Gang – eingeschlossen. Ihre beiden Handys schwammen einträchtig nebeneinander in einer schönen Glaskanne voll grünem Tee, hatten ihren Geist aufgegeben.

Korn und Chianti hatten sie auf Geheiß Absinths außer Gefecht gesetzt, um Gin den Weg frei zu machen, und dann ihre Positionen am Klinikdach bezogen. Für sie blieb hier nichts mehr zu erledigen, außer den Innenhof zu kontrollieren.

Chianti lächelte spöttisch. Die Überraschung in Satos Augen, und das kurze Aufflackern von Schmerz in ihrem Gesicht, als sie die Nadel in ihrem Bauch spürte, stand ihr immer noch vor Augen.

Leider war in der Nadel nur ein Betäubungsgift gewesen; die kleine Polizistin, die in der Teeküche gewartet hatte, hatte es nicht so glücklich erwischt, sie lag mit einer Kopfwunde, die sie sich zugezogen hatte, als Korn ihr den Schädel gegen einen Einbauhängeschrank gestoßen hatte, bewusstlos auf dem Boden.

Sie hatten sie nicht töten sollen, warum, war ihr schleierhaft; eigentlich pflasterten Leichen ihren Weg, nicht Bewusstlose. Sie wusste nicht, weshalb sie diesmal so vorgegangen waren.

Aber gut. So blieb das Spiel spannend.

Vielleicht wollte man einfach nicht zu viel Aufsehen erregen, brachte man eine ganze Polizeimannschaft um, neigte das, unkontrollierbar hohe Wellen zu schlagen.

Ein paar Bewusstlose und ein toter Schülerdetektiv reichten wohl aus, für heute. An und für sich war so ein Krankenhaus wohl auch kein geeigneter Platz für einen Showdown.

Aber vielleicht - vielleicht kamen sie ja noch zum Zuge. Sie warf einen Blick zu Korn, der wie sie lächelnd auf den Parkplatz blickte, als er sah, was auch sie schon längst bemerkt hatte.

Die Ankunft ihrer special friends vom FBI.

Ein düsteres Lächeln schlich sich auf Chiantis Lippen.
 

Zu Schade, Shuichi… leider hat Gin das Privileg, dir das Licht auszupusten. Mal sehen, was der gute Junge heute alles gebacken kriegt, eigentlich hat er ja alle Hände voll zu tun, sollte man meinen...
 


 

In Rans Zimmer war es mittlerweile stockfinster geworden. Sie lag auf dem Rücken, ihre Hände hinter ihrem Kopf verschränkt, starrte aus ihrem Fenster. Draußen hing träge der Mond über den Dächern der Stadt; sie sah die Laternen angehen, zuerst schwach flackernd, ihre Lichter zuckend zum Leben erwachend, dann immer strahlender.
 

Sie dachte an ihn.

Er lag jetzt wohl auch in seinem Bett, ähnlich wie sie, und bestimmt brütete er vor sich hin, wie sie. Dachte nach über sein Leben, oder dem, was davon übrig geblieben war.

Ran zog ihre Stirn kraus, rieb sich über die Augen. Sie war müde, ja, aber schlafen konnte, wollte sie nicht.

Stattdessen drehten unzählige Fragen in ihrem Kopf ihre Runden.
 

Ob man ihm von ihr erzählt hatte?
 

Bestimmt.
 

Sie schluckte, merkte, dass der Kloß, den sie seit Stunden im Hals hatte, immer noch da war, und sich hartnäckig weigerte, geschluckt zu werden.
 

Bestimmt hat man ihm von mir erzählt. Schließlich bin ich der Grund für sein Dilemma. Wegen mir hat er so entschieden.

Ich weiß nicht, ob er gefragt hat, nach der Ursache… warum er eingetreten ist.

Ich weiß auch nicht, ob er sich noch gut genug kennt, um sich selbst als jemanden einzuschätzen, der hehre Prinzipien hat und diese nie verraten hätte.

Jemand, der für Gerechtigkeit und Wahrheit kämpft.

Aber er muss noch eine Ahnung haben, wer er ist, was er tun würde und wofür er einsteht… oder?

Dass Shinichi Kudô nie freiwillig ein Krimineller geworden wäre… das muss er doch noch wissen…
 

Ihre Gedanken schweiften ab.

Sie könnte den Professor fragen, wie viel Shinichi wusste. Er war es ja gewesen, der immer bei ihm gewesen war, seit man ihn gefunden hatte.

Hatte er ihm von ihr erzählt?
 

Ran seufzte, krallte ihre Hände in ihre Bettdecke.
 

Ihre Entscheidung von gerade eben, ihn nicht sehen zu wollen, hatte zu wanken angefangen, sobald die Tür hinter ihren Eltern ins Schloss gefallen war.

Sie wusste, wovor ihre Mutter sie gewarnt hatte, und ihr war genauso klar, dass sie genau wusste, was sie tat, wenn sie sich wirklich von ihm abwandte, ihn nicht besuchte, nicht mit ihm sprach.

Sie ahnte, was sie sich damit verbaute, und fragte sich, wie vernünftig diese Entscheidung wirklich war, die sie da im Affekt gefällt hatte.

Sie musste sich widerwillig eingestehen, dass ihre Mutter Recht haben könnte.

Unwillig kaute sie auf ihrer Unterlippe, setzte sich auf.
 

Sollte sie ihn wirklich so vor den Kopf stoßen, musste sie damit rechnen, dass sie sich das, was sie sich am Meisten wünschte, eine Zukunft mit ihm, nämlich, unter Umständen für immer verbaute.

Mit zitternden Fingern fuhr sie sich durch die Haare.

Sie dachte, wenn sie sich von ihm fernhielt, wäre das besser für ihn, aber stimmte das denn auch?
 

Er war wegen ihr in solche Schwierigkeiten geraten, das war nicht zu vergessen.

Aber andererseits… wenn sie schon so versagt hatte, als Freundin, war es da nicht eigentlich ihre Pflicht, ihm nun endlich beizustehen? Ihm zu helfen?

Sehr bedacht, verstand sich, damit sie ihm nicht noch mehr Ärger machte, als er ohnehin schon hatte. Eigentlich schrie doch alles in ihr danach, ihn endlich zu sehen, sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Schon seit Tagen, sie wusste es doch eigentlich besser.
 

Tatsache war, dass neben dieser Schuld, die sie auf ihren Schulter lasten spürte, es noch einen weiteren Grund gab, warum sie zögerte, ihn zu besuchen, auf den Gedanken kam, ihn nicht besuchen zu wollen.

Ein ganz und gar egoistischer Grund, den sie sich eigentlich nicht eingestehen wollte, für den sie sich schämte.
 

Es war die Angst.
 

Angst, sich selbst zu konfrontieren damit… was sie angerichtet hatte.

Shinichi war verletzt, und hatte sein Gedächtnis verloren. Er hatte unheimlich viel durchgemacht, weil er verhindern wollte, dass man sie tötete. Sie fragte sich, ob er in einem anderen Fall einfach nein gesagt hätte… die Konsequenz wäre sein eigener Tod gewesen.

Als sie Blut schmeckte, merkte sie erst, wie fest sie auf ihre Unterlippe biss. Eine Antwort auf diesen Gedanken hatte sie dennoch nicht gefunden, wohl vor allem deswegen, weil sie ihn sich nicht weiterdenken traute.
 

Sie zerknüllte ihr Kissen in ihren Armen, ließ den Kopf in die Federn sinken, atmete tief den Duft frisch gewaschener Bettwäsche ein. Jemand hatte während ihrer Abwesenheit ihr Bett neu bezogen.

Ein tiefer Seufzer entwich ihrer Kehle, dann warf sie das Kissen zurück aufs Bett, kämpfte sich auf die Beine, ging zu ihrem Schreibtisch, setzte sich auf ihren Stuhl und zog ihre Handtasche zu sich heran, die sie achtlos auf die Tischplatte gelegt hatte, kramte ihr Handy heraus.

Sie wusste, es war spät… aber sie musste jetzt mit jemandem reden.

Nicht mit ihren Eltern, allerdings.
 

Mit zitternden Fingern tippte sie Sonokos Nummer ein. Sie hörte das Freizeichen, hörte es nochmal… gerade, als sie aufhängen wollte, hob jemand ab.

„Hallo, Ran?“

Sonokos Stimme klang etwas atemlos.

„Entschuldige, ich hab mein Handy nicht gehört…“

Ran seufzte auf, merkte, wie Erleichterung sich in ihr breitmachte. Sie hatte schon sonst was befürchtet.

„Schon gut.“, murmelte sie nur leise.

„Sag, Sonoko, hast du kurz Zeit für mich?“

Sonoko am anderen Ende der Leitung horchte beunruhigt auf. Ran hörte es, fragte sich, was sie eigentlich tat. Eigentlich hatte sie ihre Entscheidung ja schon gefällt. Jedoch, mit jemandem über ihre Angst zu reden, jemandem, der sie verstehen würde, war im Moment genau das, was sie unbedingt brauchte, um sich selbst wieder einigermaßen zu fangen.

„Sicher, Ran, immer.“, hörte sie Sonokos Stimme. Sie klang etwas müde und bei Ran meldete sich das schlechte Gewissen.

„Schieß los, meine Liebe. Ich nehme an, es geht um deinen Märchenprinzen.“

Ran lächelte kurz, schluckte, schloss für einen Moment die Augen.

„Ja.“

„Hast du ihn denn schon gesehen, Ran?“

Ran schüttelte den Kopf.

„Nein, und darum geht es. Hör zu, das ist… ein ziemlicher Brocken, den ich dir jetzt erzählen werde, aber ich muss das loswerden, ich hab das Gefühl, irgendwie… ist das alles zu viel und ich weiß…“

Sie hörte Sonoko in den Hörer seufzen.

„Fang am besten von vorn an.“

„Schön. Also… es geht um Conan…“, begann Ran mit zitternder Stimme, erzählte dann die ganze Geschichte, wie sie sie eben von ihrem Vater erfahren hatte. Als sie geendet hatte, herrschte eine Zeitlang Schweigen; nur das leise Atmen einer der beiden Freundinnen rauschte ab und an geräuschvoll durch den Äther.
 

„Wow.“, murmelte Sonoko dann leise. Sie saß auf ihrem Bett, hatte eine Hand um ihre Beine gelegt, mit der anderen presste sie das Telefon an ihr Ohr.

„Das ist echt… krass. Was hat er sich denn dabei nur gedacht…?“

Ran lächelte bitter.

„Werden wir so bald wohl nicht erfahren.“

Sie starrte an die Decke.

„Weißt du, dass… ich meine, hast du eine Ahnung, wie viel daran hängt? Bis heute dachte ich ja nur, es wäre diese eine Woche. Tatsächlich geht das Theater schon über zwei Jahre, in denen er versucht, all die Schwierigkeiten, die er hat, von mir fernzuhalten. Und das, weil ich mit ihm unbedingt in diesen Vergnügungspark wollte, und dann noch dumm genug bin, ihn laufen zu lassen. Verdammt, ich wusste doch, dass er sich Ärger einhandelt.“

Ihre Stimme brach.

„Ich wusste das doch… Sonoko, ich habs gespürt, ich hätte ihn aufhalten sollen, ich…“

„Ran, hör auf mit dem Schwachsinn.“

Sonokos Stimme klang nüchtern, aber Ran schien sie gar nicht zu hören.

„Und dann das Telefonat! Verdammt, ich hab ihn angerufen und mit der ganzen Sache angefangen, du weißt das doch! Du warst doch dabei!“

Tränen sammelten sich in ihren Augen, schon wieder. Sie wischte sie sich unwillig weg, verachtete sich, weil sie so eine Heulsuse war.

Sie hasste das.

„Und wegen diesem Telefonat hat man ihn enttarnen können. Nur wegen diesem Telefonat!“

Sie schluchzte.

„Das kann gut sein, Ran. Nein, wahrscheinlich ist es so, wie du sagst.“, meinte Sonoko sachlich, mit ruhiger Stimme.

„Aber das darf dich nicht davon abhalten, ihm jetzt beizustehen. Gerade wenn du denkst, dass du Schuld hast, an seinem Zustand, über welche Wege auch immer, dann Ran – dann solltest du alles tun, um den Fehler wieder gut zu machen. Wir beide wissen, dass deine Mum Recht hat, Ran. Ich kann verstehen, dass du dich schuldig fühlst, aber… was wärst du für eine Freundin, wenn du ihn jetzt im Stich lässt. Ob und wie du mit ihm hinterher umgehen willst, musst du selber wissen, aber ihn jetzt fallen zu lassen, das wär richtig mies.“

Ran kniff die Augen zusammen. Sie hatte sich gedacht, dass Sonoko die Sache so sehen würde; eigentlich, gestand sie sich ein, sah sie sie selbst ja mittlerweile auch so.

Schon kurz nachdem sie allein mit ihren Gedanken gewesen war, war ihr langsam immer klarer geworden, dass sie vorhin reichlich blind gewesen war, einfach zu entscheiden, sich für immer aus seinem Leben heraushalten zu wollen. Wie würde denn das auf ihn wirken…? Er riskierte sein Leben für sie, und sie ließ ihn links liegen? Sicher… damit wäre wohl gewährleistet, dass sie bald keine große Rolle in seinem Leben mehr spielen würde, ein Ziel, das sie gerade noch als erstrebenswert in Erwägung gezogen hatte… andererseits war sie seine Freundin. Es stand ihr nicht zu, so zu handeln.

Freunde taten das nicht.
 

Sie massierte sich die Schläfen, schloss die Augen.

„Ran, bist du noch dran?“

Sonokos Stimme klang nervös.

„Ja, bin ich.“ Das Mädchen seufzte.

„Und ich weiß ja, du hast Recht. Wie meine Mutter auch, aber…“

Ein letztes Mal wischte sie sich mit ihrem Ärmel über die Augen.

„Ich hab Angst, Sonoko. Ich hab irre Angst, ihn zu besuchen, zu sehen, was… ich hab Angst…“

Sie hörte ihre Freundin leise atmen.

„Ran, ich weiß ja…“ Sonoko schluckte.

„Aber stell dir vor, wie er sich vorkommen muss… er riskiert sein Leben für ein Mädchen, das ihn dann im Stich lässt, und er hat nicht einmal… nicht einmal die Erinnerung an dich. Was muss er von dir denken… und von sich selber. Er wird sich für einen liebeskranken Trottel halten, einen Vollidioten vor dem Herrn. Und das wär auch nicht gut für ihn… denn damit bekäme er ein total falsches Bild von sich.“

„Ich weiß ja.“ Ran biss sich auf die Lippen.

„Daran hab ich auch schon gedacht.“

Tatsache war, sie konnte den Gedanken kaum ertragen, dass er allein war… allein war, und sich zusätzlich die Frage stellen musste, ob er sich wirklich so getäuscht hatte, sich so verrannt hatte…

Sich selbst infrage stellte, wenn er sein Leben an Menschen verschwendete, die es nicht verdienten, nicht zu schätzen wussten.

„Ich weiß doch, was er durchmacht, wie man sich da fühlt. Und ich kann mir nur vage vorstellen, was er die letzten Tage erlebt hat, wie es ihm geht und was er denkt, ich meine - er ist verletzt, Sonoko… ich hab Angst, zu sehen, welche Spuren das hinterlassen hat, an und in ihm, weil ich… weil ich damals nicht meine Klappe halten konnte… und weil er… weil er mich liebt.“
 

Langsam ließ sie ihre Hände sinken, öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf ein Bild auf ihrem Schreibtisch; es war das Foto, das sie im Tropical Land hatten machen lassen, dem Tag, als er verschwunden war.
 

Sie hörte Sonoko leise seufzen.

„Du wirst dich um ihn kümmern, Ran. Bis es ihm wieder besser geht. Gerade deswegen. Weil du es weißt.“

Ran schluckte. Sonokos Aussage war weniger ein Befehl als eine Feststellung gewesen.

„Ja.“

„Und weil du ihn liebst, Süße. Selbst wenn du wirklich wolltest, könntest du dich nicht von ihm fernhalten.“ Sie hörte Sonoko leise kichern, kam nicht umhin, selbst kurz zu schmunzeln.
 

„Danke fürs Telefonieren, Sonoko. Ich werd'… ich werd‘ dann mal schlafen gehen. Morgen wird sicher ein langer Tag. Ich meld‘ mich dann wieder…“

Sie hörte noch Sonokos gemurmelte Verabschiedung, dann legte sie auf. Anschließend stand sie unheimlich ungelenkig auf und wankte ins Badezimmer um sich frisch zu machen.
 


 

In Shinichis Zimmer war soweit alles ruhig. Irgendwann hatte das Karussell in seinem Kopf aufgehört, sich wie irr zu drehen… irgendwann ging einfach auch dem tollsten Karussell der Saft aus.

Als die Tür geöffnet wurde, war er dementsprechend halb eingedöst, ein wohliger Zustand, in dem zu befinden er sich glücklich schätzte, nach diesem Tag; allerdings fuhr er hoch, als er hörte, dass sich Schritte seinem Bett näherten.

Shinichi drehte ruckartig den Kopf und sah einen schwarz gekleideten Mann vor sich stehen. Lange, blonde, fast weiße Haare wallten ihm über die Schultern, über seinen Rücken, sein Hut war ihm tief ins Gesicht gezogen, verschattete seine Augen komplett und lenkte somit die Aufmerksamkeit seines Gegenübers auf seine Lippen.

Auf dieses gefährliche, spöttische Lächeln, das auf ihnen lag.
 

Shinichi erstarrte, merkte, wie sein Kopf schlagartig aus dem Dämmerschlaf erwachte, sich in ihm alles auf Alarmbereitschaft stellte, das Adrenalin durch seine Adern raste. Er wusste nicht, was es war, das seinen Puls so sehr nach oben trieb.

Doch; er wusste es- Angst.

Angst.

Angst vor dem Mann, der vor ihm stand. Vor diesem schwarzen Schatten, der ihn zweifellos anstarrte, auch wenn er seine Augen nicht sah. Er stemmte sich hoch, rutschte an die Rückenlehne des Bettes, ohne den Kerl aus den Augen zu lassen.
 

Anscheinend sind doch nicht alle Erinnerungen weg.
 

Shinichi atmete gepresst aus.
 

Offensichtlich hab ich doch noch eine ziemlich genaue Ahnung, vor wem ich Angst haben muss. Wer es war, der mich umbringen wollte.

Nun gut, eventuell ist das jetzt unwichtig…
 

Shinichi blieb unbewegt, als der Mann langsam seinen Mantel auseinander schob, beim Nähertreten eine Waffe mit Schalldämpfer hervorzog. Er krallte seine Hände in seine Decke, biss seine Zähne zusammen, bis sein Kiefer zu schmerzen anfing, spürte, wie sein Herz gegen seinen Brustkorb schlug.
 

Ja, das überrascht mich jetzt… irgendwie nicht.
 

Hinter ihm erschien ein weiterer, etwas kleinerer, untersetzter Typ, ebenfalls gekleidet in schwarz; er zog die Tür hinter sich zu, schloss die Welt damit aus.

Nun war er allein, mit diesen beiden Männern in Schwarz; schwarze Hose, schwarzes Jackett, schwarzer Mantel, schwarze Sonnenbrille, schwarzer Hut.

Schwarz.
 

Anspannung ergriff Shinichi, unwillkürlich. Er atmete langsam, kontrolliert, wartete ab.
 

Wissen die von meiner Amnesie?
 

Der Blonde trat näher, hob den Kopf, schaute ihn nun von oben herab an. Der Blick seiner eisgrauen Augen traf Shinichi, durchfuhr ihn wie ein Blitz, versetzte sein Innerstes in äußerste Aufruhr. Spätestens jetzt wünschte er sich, sofort aufzuspringen und loszulaufen. Aber noch war nicht die Zeit… noch hatte er keinen Plan, hatte keine Ahnung, was er tun sollte.
 

„Sieh mal einer an, wen wir hier haben. Du siehst gut aus, Kudô.“
 

Eine Stimme, klirrend kalt… wie berstendes Eis…
 

Das war er. Ohne Zweifel. Dieser Mann- diese Männer- wollten ihn umbringen.

Shinichi schluckte, seine Gedanken rasten; seine Lage schien aussichtslos, er saß in der Falle. Die Tür versperrte der andere – also ihm blieb nur das Fenster.

Das Fenster… und er war im dritten Stock.
 

Sein Herz pochte gegen seinen Brustkorb.

Das Fenster war keine Option, wollte er die Sache hier überleben. Unbeschadet, möglichst.
 

Verdammt!
 

„Du hast es tatsächlich geschafft, uns zu entkommen, sieh einer an. Allerdings muss ich dir jetzt mitteilen, dass deine Glückssträhne ein Ende hat.“

Ein bitteres Lächeln schlich sich auf Shinichis Lippen.

„Welche Glückssträhne?“
 


 

Shiho starb gerade ihren tausendsten Tod, als sie sich von der Besuchergruppe, unter die sie sich gerade gemischt hatte – eine Familie mit Großvater, Großmutter, Mutter, Vater und einem kleinen Jungen; da fiel eine ‚große Schwester‘, die etwas abseits mitlief, nicht auf – abseilte.

Sie war in dem Gang angekommen, in dem er stationiert lag, und fragte sich gerade, wie sie eigentlich zu entkommen gedacht hatte. Oder, in sein Zimmer zu kommen, fürs erste.

Sicher standen ja vor seiner Tür Polizisten. Immerhin war das hier ja ein Großeinsatz und er das zu beschützende Objekt.
 

Zumindest ihr zweites Problem stellte sich allerdings als nonexistent heraus, als sie näher trat. Außer einer Schwester, die ihr entgegen und an ihr vorbei eilte, war hier kein Mensch.

Eigentlich hätte sie das stutzig werden lassen müssen… und das tat es auch. Da in ihr allerdings ohnehin schon, seit sie auf dem Parkplatz angekommen war, alle Alarmglocken ohrenbetäubend laut schrillten, verdrängte sie, was das bedeuten könnte. Und an und für sich war es auch möglich, dass man die Polizei gleich in seinem Zimmer stationiert hatte, in diesem Fall erhöhter Alarmbereitschaft.

Sie näherte sich der Tür, griff nach der Türklinke, ignorierte ihre Bedenken- schließlich war sie ja jetzt hier. Jetzt würde sie es auch durchziehen.

Auch wenn sie gerade wohl die wahrscheinlich größte Dummheit seines Lebens beging; dessen war sie sich bewusst. Eigentlich handelte sie nicht so impulsiv. Vielleicht war aber impulsives Handeln gerade jetzt angesagt?
 

Sie drückte die Türklinke herunter, öffnete sie und erstarrte augenblicklich.
 

Shinichi wandte seinen Blick ab von der Mündung der Pistole, als er hörte, wie die Tür aufging, und auch Gin und Wodka drehten sich um.

Der junge Detektiv erstarrte, als er sah, wer im Türrahmen stand, bemerkte aus den Augenwinkeln, dass auch Gin und Wodka sich umgewandt hatten. Bemerkte das süffisante Grinsen auf Gins Lippen, das immer breiter wurde, als er ihren Besuch musterte.
 

Im Türrahmen stand eine junge Frau. Ihre Silhouette zeichnete sich deutlich im Licht ab, das vom Gang ins Zimmer fiel.

Genauso wie auch die Farbe ihrer Haare.

Sie waren rotblond.
 

Shinichi konnte ihre Augen nicht genau sehen, aber aus irgendeinem Grund bezweifelte er nicht, dass sie blaugrün waren.
 

Was er allerdings sah, war das Entsetzen, das ihre Gesichtszüge entgleisen ließ. Er spürte, wie ihm ihre Angst ins Gesicht schlug, fast körperlich.

„Nein…“, hauchte sie leise.

Die Angst schwang auch in ihrer Stimme mit.

Todesangst.
 

Gins Lächeln wurde noch breiter.

„Na, wenn das nicht mal die liebe Sherry ist… das scheint heute mein Glückstag zu sein. Ich muss schon sagen, es wundert mich, wie mutig du bist. Früher war die Mutigere von euch beiden doch eindeutig deine Schwester.“

In seiner Stimme troff der Spott, als er sich wieder Shinichi zuwandte.

„Du hast dich damals also umsonst angestrengt, sie aus dem Haus zu schmuggeln… Armagnac.“
 

Armagnac?

Okay, er weiß nicht, dass ich nichts weiß.

Aber sie ist anscheinend eine von den Guten, auf jeden Fall keine von ihnen… und noch dazu sieht sie aus wie… sie… kann das denn wirklich sein…?
 

Der blonde Mann warf Shinichi einen spöttischen Blick zu, stutzte allerdings kurz, als er den fragenden Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkte; allerdings ließ er sich davon jetzt nicht beirren; die Gelegenheit war zu günstig. Langsam hob er seine Waffe.

„Nun, wenn du nichts dagegen hast, Kudô, lassen wir der Dame den Vortritt. Damit sie sich nicht einfach wieder verabschiedet. Wodka, steh da nicht so nutzlos rum, mach die Tür endlich wieder zu.“

Er hob seine Pistole, zielte.

Shiho war nicht in der Lage sich zu bewegen, sie schien wie zur sprichwörtlichen Salzsäule erstarrt, hatte keinerlei Kontrolle über sich. Sie starrte Shinichi an, unfähig aus seinem Gesicht zu lesen, was in seinem Kopf gerade vorging.

Die nächsten Ereignisse spielten sich in Sekundenbruchteilen ab.
 

Shinichi handelte, ohne groß nachzudenken, viele Wahlmöglichkeiten hatte er auch nicht.

Er krallte seine Hände in die Decke - und als der Blonde auf Sherry, wie er sie genannt hatte, zielte, warf er sie hoch, zog sie ihm über den Kopf und Arme, gab ihm einen Stoß, gegen seinen Kumpan, stolperte an beiden vorbei und griff Ai, Sherry, oder wer immer sie war, an der Hand und hetzte mit ihr den Gang entlang.

Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, aber er ignorierte sie; ignorierte den Schmerz in seiner Seite und die Tatsache, dass er kaum Luft zum Atmen hatte, rannte einfach nur, spürte kalten, glatten Krankenhausfußboden unter seinen nackten Füßen, und lief, sie immer noch am Arm haltend. Er hatte keine Ahnung, wohin er eigentlich lief, hoffte einfach, dass er Richtung Ausgang steuerte und hielt Ausschau nach Schildern, so gut es eben ging.
 

Sie hörte ihn keuchen, wusste, was das für eine Anstrengung war für seinen geschwächten Körper, versuchte, aufzuschließen und ihn ein wenig zu schützen; aber man merkte, er war durchtrainiert, er war ein wirklich guter Läufer, trotz der Verletzungen; sein Laufstil war sehr effizient. Kein Wunder, er hatte in seiner Zeit als Mittelstürmer und Kapitän seiner Fußballmannschaft sicher viel gelernt.
 

Dann hörten sie den Schuss knallen.
 

Guter Gott, sei uns gnädig, bitte…
 

Shinichi wandte sich nicht um, kniff die Augen nur kurz zusammen, wartete, ob sich irgendwo ein weiterer Schmerz einstellte; und wartete umsonst.

Dennoch war das nicht allzu viel Grund zur Freude; er war verletzt, und die anderen beiden hinter ihm nicht. Noch dazu hatten sie Schusswaffen, sie mussten sie nicht einholen, um sie zu erschießen.

Und ein gutes Schussfeld würden sie bald haben. Die Gänge waren menschenleer, nur schlugen sie hier noch zu viele Haken.
 

„Da ist er!“

Er hörte sie hinter sich. Sie klangen erschreckend nahe.
 

Dann schossen Bilderfetzen durch seinen Kopf, die ihn fast ins Straucheln brachten.
 

„Da ist er!“

Bäume. Regen… ein Stechen in der Seite, das Geräusch seines keuchenden Atems…

„Lasst ihn nicht entkommen!“
 

Er blinzelte. Was zur Hölle war das gerade gewesen?
 

Shiho schaute ihn an, hatte ihn festgehalten, als sie gemerkt hatte, dass er kurz aus dem Takt kam, war mit ihm weitergelaufen, die Treppe hinunter ins Foyer, konzentrierte sich nur aufs Laufen, merkte nicht, wie sie mit jemandem zusammenstieß.
 

Der Mann hielt sie fest, während Shinichi sie losließ, kraftlos zu Boden sank, nach Luft rang.

Shiho versuchte blind, sich loszureißen, bis eine starke Hand ihr Kinn umschloss und sie zwang, die Person vor sich anzusehen.

Und der… der sie festhielt, war niemand anderer als Shuichi Akai. Hinter ihm erkannte sie Jodie Starling, James Black, Inspektor Meguré, und noch ein paar andere Polizisten.

Offenbar hatte man sich auf dem Weg zu Shinichis Zimmer befunden.
 

„Du…?“, wisperte er, schaute sie sehr überrascht, fast ein wenig entsetzt an.

„Sie sind gleich hinter uns.“, flüsterte sie nur, in ihrer Stimme schwang Panik, schaute dann zu Boden, in Shinichis bleiches Gesicht, er keuchte, starrte die Treppe hinauf, bis er merkte, dass jemand an seinem Arm zerrte. Er ließ sich von James Black hochhelfen und um die Ecke ziehen, in ein Zimmer, in dem ein paar Leute versammelt waren. Shiho rannte ihnen hinterher, atmete erst dann ein wenig auf, als die Tür hinter ihnen zufiel. Dann bedachte sie Shinichi mit einem prüfenden Blick; er hielt sich an der Tischkante fest, warf einen angespannten Blick in die Runde, ließ sich dann weiter gegen die Tischkante sinken, versuchte, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu kriegen. Anscheinend ging es ihm gut; auch wenn er, wie sie sehr wohl mitbekam, vermied, sie anzusehen.
 

Du ahnst es schon, nicht wahr?

Du weißt es.

Du weißt es…
 

Shinichi schluckte, ergriff dankbar das Glas Wasser, das ihm eine Frau in Schwesterntracht anbot und nahm einen Schluck, beobachtete dabei die Tür. Die Männer in Schwarz waren ihnen offensichtlich hierher nicht gefolgt; er fragte sich, ob sich gerade irgendwo im Krankenhaus eine Schießerei ereignete. Vielleicht waren sie in Deckung gegangen, als sie die Leute gehört hatten… so dumm, in einen Hinterhalt zu laufen waren sie sicher nicht.
 

Dann wurde er aus seinen Gedanken gerissen.

„Für lange Erklärungen ist keine Zeit, wie ihr auch denken könnt. Auch wenn du sie wohl nötig hättest.“

Der schwarzhaarige Mann, in dessen Arme sie gerade gelaufen waren, schaute Shinichi mit durchdringendem Blick an. Der junge Mann erwiderte seinen Blick ohne zu blinzeln.

Akai musterte ihn kurz. Der Kerl hatte nichts weiter an als seine Krankenhausklamotten.

„Ihr verschwindet hier. Ist der Professor in der Nähe?“

„Ja.“ Shiho nickte. Sie war neben ihn getreten, dicht; so dicht, dass er die Wärme, die ihr Körper abgab, spüren konnte, und das leise Zittern wahrnehmen konnte, das sie schüttelte. Sie hatte ihr Hände vor ihrer Brust verschränkt, versuchte, souverän zu wirken, und konnte ihm doch nicht darüber hinwegtäuschen, wie viel Angst sie in gerade diesem Moment hatte.
 

Was wolltest du eigentlich hier... Ai? Wenn du es denn bist.

Warum bist du hier, wenn du doch weißt, sie erkennen… dein wahres Ich.

Aber wenn du du bist…

Stimmt es denn dann…
 

Kann das denn wirklich sein?
 

Wenn ja…

Welchen Zweck hat so ein Gift… was können die falschen Hände damit nur anrichten?

Ungeheuerliches, zweifelsohne.
 

Er warf ihr einen schrägen Blick zu, sagte aber nichts, wartete ab. Sie ergriff wieder das Wort, schaute dabei den Mann mit den schwarzen Haaren, der sie angesprochen hatte, aber nicht an; ihre Augen fixierten einen Punkt zu ihren Füßen, ihre Stimme war kaum zu verstehen, auch wenn sie sich bemühte, sie sicher klingen zu lassen.
 

„Aber er ist… nun ja, er parkt in einer Seitenstraße. Ich weiß nicht, ob ihr mal einen Blick auf die Dächer geworfen habt.“

Jodie verzog das Gesicht.

„Haben wir. Und deshalb… müssen wir da jetzt auch zu sehr unorthodoxen Methoden greifen. They observe every ambulance… also bringen wir dich nicht mit einem Krankenwagen hier raus. Du rufst den Professor an, er soll ins Haido-Hotel-Parkhaus fahren. Wir bringen euch dahin.“

Sie versuchte ein Lächeln, seufzte dann aber tief.

„Und was verstehen Sie unter unorthodoxen Methoden?“

Shiho hatte die Augenbrauen hochgezogen, warf Shinichi einen musternden Blick zu, den offenbar fröstelte.

„Nun… da sie alle Transporte noch lebender Patienten zu genau beobachten, dachten wir…an einen Leichenwagen.“

Die junge Chemikerin schaute sie aus Halbmondaugen an. Shinichis Augenbrauen waren in mildem Interesse nach oben gerutscht.

„Aha. Aber Sie wissen doch, dass hier überall… wie gedenken Sie denn, uns in die Leichenhalle zu bringen?“

Shihos Stimme klang schnippisch. Unwirsch verschränkte sie ihre Hände vor ihrer Brust, ihrem Gesicht war ihr Zweifel an ihrem Plan nur zu deutlich abzulesen. Allerdings wusste sie wohl, dass sie nicht viele Alternativen hatte. Sie warf Shinichi einen raschen Blick zu, der in Gedanken versunken schien; auf seinem Gesicht war genau der Ausdruck von Nachdenklichkeit zu sehen, der ihr so vertraut war. Ein Blick aus wachen Augen auf einen unbestimmten Punkt vor sich in der Luft, die leicht zusammengezogenen Augenbrauen, die leicht aufeinander gepressten Lippen – ein Blick, den sie bei Conan so oft gesehen hatte. Offensichtlich ging er das Pro und Kontra des Plans im Kopf durch.
 

„Ja, das wissen wir.“

Unbehagen schwang in Megurés Stimme mit, als er sprach. Shinichi schaute auf, als er merkte, dass der etwas fülligere Kommissar vor ihn trat.

„… und deshalb muss das jetzt schnell gehen. Wir müssen aus dir eine Leiche machen, und sie kurz in dem Glauben halten, Gin hätte erreicht, weswegen er hier war. Mit etwas Glück haben die sich untereinander noch nicht abgesprochen, und wir laufen keinem über den Weg, aber für den Fall der Fälle…“
 

Shinichi sog scharf die Luft ein, dann schlich sich ein sarkastisches Lächeln auf seine Lippen.

„Nun, um aus mir einen Toten zu machen, brauchen Sie wenigstens nicht viel Phantasie… und auch der materielle Aufwand sollte sich in Grenzen halten.“

Er seufzte, betrachtete sein bleiches Spiegelbild, das sich auf dem Wasserglas reflektierte.

„Ich schätze, ich seh ja fast aus wie eine Leiche. Aber was ist mit ihr? Es schien gerade eben so, als hätten diese Leute auch mit dir ein Hühnchen zu rupfen.“, meinte er zu Shiho gewandt. Sie wurde bei dem Gedanken an gerade eben bleich, wich dann seinem Blick aus und konzentrierte sich auf Jodie, die ansetzte, das Vorgehen zu erläutern.

„Für sie reicht wohl ein Arztkittel, eine OP-Haube und ein Mundschutz. Das suggeriert nicht nur Tod, sondern könnte auch als Verkleidung einer der ihren missverstanden werden…“

„Wenn wir Glück haben.“, murmelte Shiho nur.

„Es wird Zeit, dass wir ein wenig Glück haben.“, seufzte Meguré, warf ihr einen skeptischen Blick zu.

„Und abgesehen davon haben wir auch gar keine Wahl.“

Er ahnte, wer sie war, auch wenn keiner ihren Namen ausgesprochen hatte; darüber nachdenken wollte er aber lieber nicht. Den Ausdrücken auf den Gesichtern der Agenten vorhin, als sie sie gesehen hatten, entnahm er jedoch, dass sie genauso überrascht waren, Shiho Miyano zu sehen, wie er es war.

Akai und Jodie verließen kurz darauf das Zimmer, als die Tür aufging, und eine junge Schwester sichtlich nervös eine Bahre herein rollte. Sie nahmen wohl die Verfolgung wieder auf, kehrten zum Rest der Truppe zurück, die sich wohl immer noch um die beiden Männer in Schwarz kümmerte. Shinichi wartete, bis die Tür hinter ihnen zugefallen war, dann stieß er sich vom Tisch ab, trat auf die Liege zu und legte sich hin, ließ es zu, dass man an ihm herumzupfte und -pinselte, bis er tot genug aussah, merkte er doch erst jetzt, wie sehr in dieser kurze Sprint wirklich angestrengt hatte. Und einmal mehr fragte er sich, wo ihre Verfolger abgeblieben waren. Es schien ihm fast unwirklich, dass sie hier in aller Ruhe seine Flucht vorbereiteten- wobei, von „aller Ruhe“ konnte auch nicht wirklich die Rede sein. Es ging hier zu wie in einem Bienenstock, wenn man so wollte.
 

Er starrte an die Decke, geradewegs in das künstliche Licht einer Neonlampe, und merkte, wie er immer schläfriger wurde. Der Tag war lange gewesen, und anstrengend.
 

„Nun denn…“

Megurés Gesicht erschien über seinem. Er sah tatsächlich äußerst besorgt aus, was Shinichi zu der Frage brachte, wie gut sie sich eigentlich kannten. Wenn er wirklich so etwas wie ein Detektiv gewesen war, dann sollte er doch eigentlich auch bei der Polizei bekannt sein. Diese Frage zu erörtern würde allerdings warten müssen.

„Wie fühlst du dich?“

„Tot genug, schätze ich.“, murmelte der junge Detektiv leise. „Lassen Sie‘s uns hinter uns bringen. Ich will ins Bett.“

Er seufzte, brachte irgendwie ein schiefes Lächeln zustande, bemerkte noch, wie der alte Kommissar ernst nickte, und schloss die Augen, als man eine schwarze, blickdichte Plane über ihn warf. Er musste darauf gefasst sein, dass man sie aufhalten würde und nachschauen würde, wer da transportiert wurde; deshalb versuchte er, möglichst schwer auf der Bahre zu liegen und so flach und langsam wie möglich zu atmen. Sehr schwer fiel ihm das im Moment nicht; allerdings musste er aufpassen, nicht einzuschlafen, denn ein schlafender Mensch hatte bekanntlich keine Kontrolle über seinen Körper. Unwillig versuchte er, sich wachzuhalten.
 

Er hoffte sehr, dass ihnen diesmal etwas Glück beschieden war.

Dann setzte sich die Prozession in Bewegung.
 


 

Jodie und Shuichi unterdessen standen mit Takagi auf der Treppe, im toten Winkel eines Ganges, und horchten in die Stille.

Es war seltsam gewesen, dass Gin und Wodka ihnen nicht gefolgt waren, und andererseits auch wieder nicht.

Sie wären dumm gewesen, in eine Mannschaft Polizisten zu laufen; allerdings war auch nicht davon auszugehen, dass sie allzu schnell von ihrer Beute ablassen würden. Shuichi starrte die gegenüberliegende Wand an, merkte, wie Takagi neben ihm schwer atmete, während Jodie mit einem Taschenspiegel den Gang ausspionierte. Der Rest der Polizisten war ausgeschwärmt und verschiedenen Gänge und Treppen entlang gelaufen; das Ziel war, ihnen den Weg abzuschneiden, aber noch hatte sich keiner gemeldet, dass er die beiden gefunden hatte. Glücklicherweise waren aber auch noch alle zu erreichen, was bedeutete, dass weder Gin und Vodka, noch ein anderes Mitglied der Organisation, jemanden ausgeschaltet hatte.

Takagi war also mit ihnen gegangen, als sie die Einsatzzentrale verlassen hatte, und Akai konnte sich denken, warum. Er ahnte, warum der junge Inspector so blass war, so kurzatmig, so… angsterfüllt. Und so erpicht darauf, endlich dieses Krankenhaus auf den Kopf zu stellen.

Es ging um die junge Polizistin.

Shuichi warf ihm einen kalkulierenden Blick zu; der Mann bemühte sich um Fassung, und er wirkte auch hochkonzentriert, aber wirklich frei würde sein Kopf erst sein, wenn er gefunden hatte, wen er suchte.
 

In dem Moment signalisierte Jodie reine Luft.
 

Sie stiegen die Treppe hoch, standen nun im Gang, an den sich eine weitere Treppe anschloss, die in die Etage führte, in der Shinichis Zimmer lag.
 

„Wir teilen uns auf.“
 

Jodie starrte Akai an wie einen Geist. Takagi fuhr herum.

„Bitte was, dear?“

„Wir teilen uns auf.“, wiederholte Akai ruhig.

„Inspektor, Sie gehen die Treppe rauf und zu Shinichis Zimmer. In der Nähe sollten sich ihre Kollegen befinden, suchen und finden Sie sie, und erstatten Sie Meldung, wenn Sie erfolgreich waren. Wir gehen in die andere Richtung. Irgendwo müssen die beiden sein, und wahrscheinlich auch noch andere von ihnen, also ist höchste Vorsicht geboten.“

Der junge Polizist schaute den schwarzhaarigen Japaner lange an. Ein entschlossener Gesichtsausdruck trat auf sein Gesicht, dann nickte er scharf, und eilte lautlos den Gang entlang zur zweiten Treppe. Jodie musterte ihren Partner immer noch mit einem Blick voll Unverständnis.

„You’re mad, Shu. He’ll run into his doom. Headlong. If he encounters-”

Ihre Augenbrauen hinter ihren großen Brillengläsern waren nach oben geschossen, ihre Lippen zu einem schmalen Strich gepresst.

„Wird er nicht. Er wird nicht in sein Verderben rennen, und sicherlich nicht kopflos, Jodie. Und wenn er einem von ihnen begegnet, werden die schon zu tun haben, ihn aufzuhalten.“

Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen.

„An dem Inspektor ist mehr dran, als du denkst. Und jetzt komm, wir haben nicht viel Zeit. Wir sollten suchen, wen wir finden wollen. Finden, wen wir suchen.“
 

Damit drehte er sich um, zog seine Waffe aus seinem Holster und entsicherte sie.



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Kommentare zu diesem Kapitel (9)

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Von: abgemeldet
2012-04-28T17:01:33+00:00 28.04.2012 19:01
Ich kann nicht in Worte fassen, wie ich mich gerade fühle. Ehrlich, ich dachte, ich kippe um vor Herzrasen. Und dann spaziert auch noch Shiho herein. Also, du hast es echt drauf, es spannend zu machen. Gott, ich brauche doch wohl eher einen Moment mehr als erwartet, um von den Trip runter zu kommen. Man, ich bin voller Adrenalin xD
Ja, mal sehen, wie es weitergeht. Wenn sie dann auch gefunden werden... von den richtigen Leuten hoffentlich... wird es wahrscheinlich auch wieder sehr aufwühlend, oder? Wenns darin endet, dass man Shinichi i-wo versteckt und niemand, wirklich niemand zu ihm darf, werde ich sauer... jetzt, wo Ran doch dabei ist, ihre Meinung zu ändert xD Ich bin so gespannt, was jetzt so kommen mag.
Hach, ich bin einfach nur happy, dass es jetzt weitergeht und dass es gerade dermaßen genial ist. Ich liebe es einfach.
Freue mich schon auf das nächste Kapitel
Liebe Grüße
M.B.
Von:  Kati
2012-04-25T18:30:26+00:00 25.04.2012 20:30
ohgottohgottohgott!
wie spannend ist das eigentlich?!
ich hoffe Ran bleibt in ihrem Bett und versaut nicht alles indem sie... Egal, ich verrat nicht wie ich glaube das es weiter geht!! :P
Super-tolles Kapitel!
Next pleeeaaaseee :D
Von:  R3I
2012-04-24T14:00:19+00:00 24.04.2012 16:00
Über Jahre erlernte und trainierte Reflexe und Instinkte legt man nicht einfach ab, auch wenn das Gedächtnis weg ist! Super Einsatz von Shinichi und von Shiho, die ihm diese Chance (wenn auch unfreiwillig) erst ermöglicht hat! Sehr spannendes Kapitel! Ich hoffe es geht so weiter!
Bis nächste Woche!
Grüße R3I
Von: abgemeldet
2012-04-23T21:29:13+00:00 23.04.2012 23:29
Um dem allgemeinen Chaos im Krankenhaus die Krone aufzusetzen fehlt eigentlich nur noch, dass Ran reinplatzt...ich hoffe, ich beschwöre hier nichts herauf...

Wieder ein gelungenes Kapitel!
Und so spannend es momentan im Krankenhaus zugeht, so hat mir doch das Telefonat zwischen Ran und Sonoko am besten gefallen ^^

Bis nächste Woche~
Grüßle, Puffie~
Von:  kokuchou
2012-04-23T17:13:20+00:00 23.04.2012 19:13
das ging ja flott ^^
spannendes kapitel
gut das shinichis überlebensinstinkt in der situation funktioniert hat
man erkennt gefahr also doch noch, auch ohne gedächtnis ^^
ich hoffe sie kommen ungesehen raus da, alle o.o
gut das ran ihre meinung nun wohl doch noch grändert hat
solange man ihr auch mitteilt das shinichi woanders hingebracht wird *lach*

bis zum nächsten kapitel
ich freu mich drauf ^^
GlG ruha

Von:  LlunaKudo
2012-04-23T13:23:41+00:00 23.04.2012 15:23
Ich bin so froh, dass du weiter macht! *.*
Erst auch noch ein Danke von mir für die ENS beim letzten Kapitel.
Hab micht wirklich sehr darüber gefreut <33
Das aktuelle Kapitel find ich absolut genial. Richtig spannend geschrieben, konnte richtig mitfiebern.
Ich drücke Shinichi und Shiho jedenfalls ganz fest die Daumen, dass beide wieder heil da raus kommen
Bin sehr gespannt aufs nächste Kapitel!
Von:  Punika
2012-04-22T21:21:43+00:00 22.04.2012 23:21
auch dieses Kapitel ist wie immer toll! mal wieder endest du sehr spannend und sicherst dir somit, dass ich mich die ganze Woche freuen werde, weiter zu lesen :-)
Wir warten ja alle darauf, aber ich befürchte, dass du die Begegnung zwischen Ran und Shinichi noch eine Weile hinauszögern wirst. Und wir warten doch alle schon fast ein Jahr!! :-P Nein, nein. Du machst das alles schon ganz richtig. Der Spannungsbogen verläuft hervorragend. Ich freue mich auch mehr jeglicher Art.
Eine schöne Woche wünsche ich. Bis zum nächsten Mal
Punika
Von:  Yuki_Salvatore
2012-04-22T21:02:04+00:00 22.04.2012 23:02
Ein sehr spannendes Kapi *_*
Ich mag das total wenn das Adrenalin hoch geht XDD
Und wie man gesehen hat, hat Shinichi noch immer was drauf und alles ist nich weg ^^ Das ist eben der Überlebensinstinkt den jeder hat.
Ich bin auch wirklich mal gespannt ob sie es schaffen ihn da rauszubekommen ohne das Gin was merkt...immerhin ist der Gin nicht blöd und das er und Vodka nicht zu finden sind macht mir i-wie sorgen u.u

Achja und zu Ran...ich finds gut das sie ihre Meinung wieder geändert hat. Shinichi braucht sie jetzt mehr als jeden anderen...nur ich hoffe sie sieht ihn erst wenn es wieder etwas sicherer ist.
Bin echt gespannt *_*
Von:  funnymarie
2012-04-22T20:51:20+00:00 22.04.2012 22:51
ein super tolles spannendes kapitel^^
und shinichi hat ja mal wieder bewiesen, trotz seines gedächtnisverlustes, was in ihm steckt
ich bin gespannt darauf, wie es weiter geht
und nichts für ungut, aber hoffentlich bekommen sich ran und shinicht im nächsten kapitel endlich mal zur gesicht^^
das würde mir jedenfalls sehr gefallen
ich freu mich auf das nächste woche
lg funnymarie


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