Zum Inhalt der Seite

Amnesia

Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel 28: Schlaflose Nacht, rastloser Tag

Tja... zur Feier des Tages, etwas früher und doch verspätet -

ein recht umfangreiches Kapitel.
 

Der Anfang vom Ende.
 

Mit den allerbesten Grüßen,

und dem allerherzlichsten Dank für eure Treue und eure Kommentare!
 

Lehnt euch zurück,

viel Vergnügen.
 

Eure Leira
 

_______________________________________________________________________________
 

Kapitel achtundzwanzig: Schlaflose Nacht, rastloser Tag
 

Unruhig wälzte Yusaku sich in seinem Bett. Yukiko lag neben ihm, tat so, als schliefe sie; in Wirklichkeit aber war sie hellwach.

Und bekam deshalb sehr wohl mit, dass es sich mit ihrem Mann ebenso verhielt.

Irgendwann war er still geworden, starrte mit weit offenen Augen die Decke ihres Schlafzimmers an, sah die silbernen Streifen, die der Mond durch einen Spalt in den Vorhängen vor dem Fenster quetschte, an und seufzte tief.
 

Yukiko drehte sich ebenfalls auf den Rücken, wandte den Kopf. Er hörte es rascheln, leise, wandte sich ihr aber nicht zu.
 

„Yusaku…“, murmelte sie, unfähig, den Satz zu beenden. Sie hatte reden wollen mit ihm, über Shinichi, über alle möglichen Personen, die er decken könnte – bis sie nachgezählt hatte, und auf sehr wenige Menschen gekommen war, die eigentlich noch als Boss in Frage kamen.

Es gab nur wenige, die sich immer noch wirklich verdächtig verhielten, es gab nur wenige, denen Shinichi nicht in die Augen gesehen hatte, seit er wieder wusste, was passiert war und nur wenige, denen sie es zutrauen würde, diese Organisation zu leiten.
 

Wahrscheinlich gab es nur einen.
 

Und ganz sicher gab es nur einen, für den, so schätzte sie, Shinichi sich nicht anders zu helfen wusste, um die erste große Katastrophe abzuwenden, als in den Knast zu gehen.
 

Wo er jetzt lag, wohl, und hoffentlich schlief. Irgendwie mochte sie daran so recht nicht glauben; erstens, weil das Gefängnis bestimmt nicht unbedingt ein idealer Schlafplatz war, ganz generell; und zweitens… weil Shinichi mit dem Wissen lebte, dass jemand ein Mörder war, jemand, den er verehrte, gut kannte… wahrscheinlich liebte.
 

„Yusaku…“, begann sie erneut.

Er hörte den Zweifel in ihrer Stimme und auch dieses immense Fragezeichen, das der Stille folgte.

Der Schriftsteller setzte sich auf, wischte sich über die Augen, müde. Sie brannten, und sein Kopf schmerzte; er fühlte sich wie gerädert, und wusste, woher das kam.

Er fühlte sich gehetzt, jetzt schon, obwohl noch nichts passiert war; er sah das Ende kommen, wusste, dass er es nicht verhindern konnte, und hoffte es dennoch.

Irgendwie hoffte er es.
 

Dann schwang er die Beine aus dem Bett, langsam.

„Versuch zu schlafen, Yukiko.“

Er beugte sich zu ihr, gab ihr einen Kuss auf die Stirn; und wunderte sich, dass sie immer noch nicht zurückzuckte vor ihm.
 

Du bist doch nicht dumm, Yuki…

Du weißt es doch schon längst.

Aber wahrscheinlich ist es bei dir und mir, wie es mit Shinichi und Ran war… sie wollte es auch nicht glauben, auch dann nicht, als ihr die Wahrheit lauthals und voller Verachtung ins Gesicht lachte.
 

Mach du nicht denselben Fehler. Der Sturz von diesem Lügengebäude kann fatal sein.
 

Damit stand er auf, zog sich seinen Morgenmantel über, verließ das Zimmer schleppenden Schrittes und hängenden Kopfes.

Yukiko starrte ihm wortlos hinter her, fröstelte – zog die Decke enger um ihre Schultern, vergebens.
 

Er hingegen stieg langsam die Treppe hinunter, ins Wohnzimmer, ging zu seinem Schreibtisch. Schwerfällig ließ er sich in seinen Stuhl sinken, knipste seine Schreibtischlampe an und dimmte das Licht, bis es gerade noch hell genug zum Schreiben war, nur noch den Platz auf dem Tisch vor ihm sanft erhellte. Dann zog er sich einen Bogen weißes Papier heran, griff nach seinem Füller, schraubte ihn auf, bedächtig, fast feierlich.
 

Langsam setzte er die Spitze aufs Papier.
 

Meine liebe Yukiko,
 

Er biss sich auf die Lippen. Persönlich konnte er es ihr nicht sagen, er konnte ihr dabei nicht ins Gesicht sehen; also würde er ihr die Geschichte aufschreiben. Allerdings, damit durfte er sich nun auch nicht mehr zu lange Zeit lassen. Wer wusste schon, was morgen geschah; morgen, wenn Shinichi reden musste.

Irgendetwas flüsterte ihm ins Ohr, dass morgen der Tag der Entscheidungen war.

Der Tag… aller Entscheidungen.
 

Und so fasste er sich, murmelte leise Formulierungen vor sich hin, ehe er sich für eine entschied, und wohlüberlegt weiterschrieb.
 

zuallererst… möchte ich dich um Verzeihung bitten, dass du es auf diese Weise erfahren musstest.

Einerseits hätte ich es dir gern selbst gesagt, andererseits… weiß ich nicht, ob ich je den Mut gefunden hätte, es dir zu sagen, und dir dabei ins Gesicht zu sehen.

Ich hätte heute Nacht die Gelegenheit gehabt, aber ich war zu feige… wie du weißt.

Ich bin ein ganz entsetzlicher Feigling.
 

„Ja, das bin ich wohl.“

Er seufzte, kratzte sich an der Nase, schob seine Brille mit dem Ende seines Füllers ein wenig höher.
 

Du liegst jetzt oben in unserem Bett, in unserem Schlafzimmer und weißt dir wohl keinen Rat mehr; eigentlich, Yukiko, ahnst du es doch längst. Ich hab es gesehen, in deinen Augen. Du willst es noch nicht glauben – und glaub mir, ich würde dir so gern sagen, dass das alles gar nicht wahr ist.

Dass es nichts weiter ist als ein böser Traum.

Ich möchte aufwachen morgen, mit dir, und mit Shinichi und unser Leben führen wie bisher, will diese Dinge alle ungeschehen machen.
 

Der Schriftsteller räusperte sich, strich sich über die Augen.
 

Leider kann ich genau das nicht tun.

Wenn du diesen Brief hier liest, bin ich weg – vielleicht im Gefängnis, vielleicht tot, auf jeden Fall… komme ich nie mehr wieder. Ich hoffe, ich kann in diesem Leben noch irgendetwas richtig machen, es wird sich zeigen.

Auf jeden Fall… wird es wohl die Runde gemacht haben, mittlerweile, dass der, gegen den Shinichi all die Zeit ohne sein Wissen gekämpft hat, ich selbst war.

Ich bin der Boss dieses Syndikats, das so vielen Menschen so großes Unglück gebracht hat.

Ich.
 

Als seine Hand zu zittern anfing, hielt er kurz inne, schluckte schwer.
 

Und ich bin auf meine Taten nicht stolz.

Wahrscheinlich hasst du mich jetzt, verachtest mich… schämst dich, dass du mir vertraut hast, all die Jahre. Fragst dich vielleicht, wie du darauf hast hereinfallen können, warum es dir nicht aufgefallen ist.

Das… tut mir Leid, Yukiko.
 

Lass mich dich dennoch um einen letzten Gefallen bitten. Bitte… hör mir zu.

Lies diese Geschichte von vorne, damit du verstehst…

Ich will nicht, dass du mir vergibst, aber du sollst verstehen, warum mein Leben so lief, wie es gelaufen ist.

Und damit auch deins nun diese Wendung nehmen muss.
 

Er schaute auf, atmete durch; dann nahm er das Blatt in die Hand, las aufmerksam durch, was er bis jetzt zu Papier gebracht hatte; nickte und hatte dabei das Gefühl, sein Kopf müsse mit Blei gefüllt sein, so viel Mühe machte ihm diese kurze Bewegung; und fuhr fort.
 

Yukiko saß immer noch im Bett, starrte die Tür an. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte; sie wollte nicht schlafen, konnte auch gar nicht. Andererseits wagte sie auch nicht, ihm sofort zu folgen, er war so seltsam gewesen, gerade eben.

Abweisend, und doch auch wieder nicht. Sie hatte das Gefühl, dass er eigentlich dringend ihre Hilfe brauchte – sie aber um keinen Preis darum bitten wollte und sie auch nicht annehmen würde, bäte sie sie ihm von sich aus an.

Unwillig strich sie sich ihre Locken aus dem Gesicht, kämpfte sich dann aus ihrer Decke frei, glitt aus dem Bett, sacht. Langsam und zögernd schlüpfte sie in ihre Pantoffeln, spürte den weichen, warmen Stoff an ihren Füßen, seufzte. Dann stand sie auf, griff nach dem Morgenmantel, der über dem Garderobenständer hing, warf ihn sich über. Kurz hielt sie noch inne; dann verließ auch sie das Schlafzimmer.

Sie fand ihn im Wohnzimmer, wo er gerade einen Brief zuklebte. Er sah sie überrascht an, legte das Kuvert dann bedächtig zur Seite, wohlüberlegt so, dass sie den Empfänger, den er bereits darauf geschrieben hatte, nicht sehen konnte.
 

„Yuki, du solltest doch schlafen.“, murmelte er leise, spürte einen Kloß in seinem Hals. Sie seufzte leise, sagte nichts.

„Morgen wird ein… sehr anstrengender Tag für uns alle.“, fügte er an, bückte sich ein wenig, griff nach der Topfpflanze, einem Ficus, die neben dem Schreibtisch stand, hob sie aus dem Übertopf und fischte nach dem Schlüssel für die verschließbare Schublade seines Schreibtischs.

Yukiko zog ihre Augenbrauen hoch, trat langsam näher.

„Da versteckst du den?“

Er nickte langsam, lächelte.
 

Er steckte den Schlüssel ein.
 

„Sag ihm, dass er es lesen soll, bitte. Das letzte Buch. Auch wenn er ihn nicht mochte, den Baron der Nacht...“

Yukiko trat näher, schaute ihn nun definitiv beunruhig an.

„Warum sagst du ihm das nicht selbst?“

Yusaku antwortete nicht, rollte nur langsam mit seinem Schreibtischstuhl nach hinten, wollte aufstehen. Yukiko hingegen tippte ihn an der Nase, hielt ihn auf dem Stuhl, ließ sich langsam auf seine Knie sinken.
 

„Yusaku, wenn du darüber reden willst…“

Er schüttelte den Kopf, langsam, presste seine Lippen aufeinander. Sie strich ihm mit der Hand über die Schläfe, langsam, fuhr mit ihren Fingern durch seine Haare. Er schloss die Augen, bedächtig, seufzte lautlos. Sie ließ seine Stirn gegen seine sinken, sah ihn aus blauen Augen sorgenvoll an.
 

„Ich merk doch, dass etwas nicht stimmt, Yusaku.“, flüsterte sie leise. Er öffnete die Augen wieder, sah sie an, griff nach ihrer Wange, strich ihr mit dem Daumen über die Haut.

„Ich weiß.“

„Es macht mir Angst, wenn du nicht redest. Dieses Schweigen hat bis jetzt keinem von euch beiden geholfen, Yusaku, dir nicht, und Shinichi auch nicht…“

Er lächelte bitter.

„Ich versprech dir, Yukiko, du wirst alles erfahren, zur rechten Zeit. Aber nicht heute Nacht.“

Unwillkürlich schlang er seine Arme um ihre Taille, drückte sie an sich. Sie atmete langsam aus, legte ihre Arme um seinen Hals, strich ihm immer wieder durch die Haare.

Sie konnte nicht verhindern, dass in ihr ein unglaublich beklemmendes Gefühl erwachte, dass ihr immer mehr die Luft zum Atmen raubte.
 

Yusaku…
 

Shinichi lag auf seiner Pritsche und starrte die gegenüberliegende Wand an; sein Rücken tat ihm weh, das Bett war schrecklich unbequem. Deshalb hatte er sich auf die Seite gerollt, das winzige Kopfkissen zu einem Knoten geballt unter seinen Kopf gestopft, und lauschte seinem eigenen Atem in der Dunkelheit.
 

Immerhin hatte er das Zimmer für sich allein, und immerhin sah es hier nicht aus wie in diesen Gefängnissen, die man in den amerikanischen Spielfilmen sah; diese offenen vergitterten Käfige, in denen man sich den Blicken des Nachbarn gegenüber immer ausgeliefert wähnte, und in denen man niemals seine Ruhe hatte; Geschrei, Gerede, Gelächter und Geheule überall.

Hier hingegen war es still, mucksmäuschenstill, absolut… totenstill.

Shinichi streckte einen Arm aus, berührte den Boden mit den Fingerspitzen, hob die Hand und begutachtete den Dreck, der an seinen Fingern klebte.
 

„Du musst mit ihm reden…“
 

Rans Stimme klang in seinen Ohren.
 

Muss ich das?

Muss ich das wirklich?

Ich will nicht, eigentlich…

Aber es stimmt wohl, ich muss.

Wenn ich alles verstehen will, brauch ich alle Fakten… die ganze Wahrheit.
 

Er schluckte schwer.

Mit seiner Aussage vor Gericht morgen, beziehungsweise seiner Verweigerung jeglicher Aussage vor Gericht, würde er den Stein ins Rollen bringen, unvermeidlich. Shinichi wusste, er durfte hinterher keinerlei Zeit mehr verlieren; er musste mit seinem Vater reden, und hoffen, dass er ihm half. Der Plan stand, morgen würden alle Mitglieder im Haus sein, und deswegen galt es, sie alle festzuhalten, sowie das Triumvirat auszuschalten… das unter Umständen den Braten schon gerochen hatte.
 

Es durfte keiner entkommen, sonst waren sie erledigt – und nicht nur das. Alles wäre umsonst gewesen.

Sollte er scheitern, dann bedeutete das sowohl den Tod vieler, die ihm etwas bedeuteten, und sowie auch den fulminanten Sieg für die Organisation – die auf Jahre hinweg ungehemmt weiter ihr Unwesen treiben würde können.

Shinichi setzte sich auf, stützte die Ellenbogen auf die Knie, ließ seinen Kopf in seine Hände sinken. Ein schwerer Seufzer entfloh seinen Lippen.

Egal wie der Tag morgen ausging, es würde nie wieder alles sein wie vorher. Er hatte keine Ahnung, was auf ihn zukam, aber er spürte die Veränderung, die dieses etwas mit sich brachte.

Fast reuevoll dachte er an die vergangene Nacht; an die Flucht, generell, an seinen Umgang mit Ran.
 

Eigentlich hatte er wieder einmal reichlich unüberlegt und verantwortungslos gehandelt; er hatte doch gewusst, dass das kein gutes Ende nehmen würde, die Hoffnung hatte er aufgeben. Er wollte, dass sie lebte, und es wäre einfacher für sie geworden, hätte er es bei ihrer etwas angeknacksten Freundschaft belassen; diese Berg-und Talfahrt der Gefühle hatte bei ihnen beiden Spuren hinterlassen.

Jetzt aber, da sie ahnte, dass er sie liebte, weil… und das gab er ungern zu, sein Verhalten, seine Gesten, die Tatsache, dass er… ihr so nahe gekommen war, eine recht deutliche Sprache gesprochen hatten - würde es umso schwerer werden, wenn er zurückkehrte. Noch dazu als Sohn, der seinen Vater ans Messer geliefert hatte, als junger Mann, der eigentlich schon mehr ertrug, als er tatsächlich zu ertragen bereit war, und das war eigentlich einiges.

Er hatte die Schmerzgrenze erreicht, das wusste er.

Und er wusste auch, dass nur sie es eigentlich noch erträglich machte.
 

Allerdings hättest du jemand anderes verdient, Ran.

Nicht jemanden, dessen Vater ein gesuchter Mörder ist.

Nicht jemanden, der diesen Vater deckt… um ihn dann doch auszuliefern.

Jemanden, der noch optimistisch in die Zukunft sehen kann, jemand, der nicht so sehr ausnutzt, was du gibst, wie ich.

Du hältst mich am Leben, aber wie lebst du…?
 

Ist das denn fair?
 

Shinichi schluckte, stand auf, langsam, ging in seiner Zelle auf und ab.
 

Ich liebe dich…

Aber hättest du nicht eine ganz normale Beziehung verdient? Nicht so eine wie mit mir, eine mit derartigen Tiefen…
 

Aber was soll ich tun, wenn ich dich sehe, wenn du vor mir stehst, dann will ich nur, dass du glücklich bist.

Ich will dich lächeln sehen.

Ich würde alles, wirklich alles, tun, damit du lächelst.
 

Langsam lehnte er sich gegen die Tür, stieß mit der Stirn gegen das kalte Metall, steckte seine Hände in seine Hosentaschen.
 

„Was mach ich nur, Ran?“
 


 

Ran saß in ihrem Bett, ein Buch in der Hand, aber las nicht; seit Minuten starrte sie die Buchstaben an, die vor ihren Augen verschwammen und einen trägen Tanz aufzuführen begannen.

Ihre Mutter blieb, wie es aussah über Nacht; es war schon spät, aber sie machte keine Anstalten, zu gehen. Sie konnte sie immer noch mit ihrem Vater reden hören, in der Küche.
 

„Eri, erzähl mir nichts. Er deckt ihn.“

Kogorô zog nervös an seiner Zigarette.

„Den Boss. Und ich will gar nicht daran denken, aber verdammt, eine große Auswahl haben wir nicht… was passiert morgen, wenn er auspackt?“

Eri nahm ihrem Mann nachdenklich die Zigarette aus der Hand.

„Wer sagt, dass er auspackt?“

„Äh…?“

Kogorô schaute seine Frau bass erstaunt an.

„Mein Lieber, die können ihn einsperren, solange sie wollen, er wird nicht auspacken. Ich denke, er ist anderes gewöhnt, da sollte der Knast fast Urlaub sein, abgesehen davon, dass ihn die Warterei an den Rand des Wahnsinns treibt, weil er die Kontrolle über das Geschehen verliert, nicht eingreifen kann…“

„Aber… sagtest du nicht…?“

Sie sah auf, Amüsement war in ihren blauen Augen zu lesen, die sie hinter ihrer großen Brille versteckte. Er seufzte, schaute sie fast ein wenig versonnen an; diese Art von Brille trug sie schon immer, aber er hatte gesehen, was dahinter steckte - und sah es auch heute.

Er ahnte, auf was sie anspielte, und wusste doch, sie würde es nicht sagen; er war ihr Mandant, sie seine Anwältin, ganz egal, wie sehr er schon Familienmitglied geworden war.

Das belustigte Funkeln verschwand aus Eris Augen, als sie sah, dass ihr Mann die richtigen Schlüsse zog. Sie hob die Zigarette an ihre Lippen, sog kurz daran, blies den Rauch dann elegant zur Seite, stand auf.

„Bemüh dich nicht, Kogorô, ich weiß noch, wo das Schlafzimmer ist. Aber ich warne dich, ich muss morgen früh raus, und ich werde dich wecken, gnadenlos.“
 

Kogorô nahm ihr die Zigarette wieder ab, schnaubte nur leise, grummelte etwas Unverständliches und steckte sich die Zigarette wieder in den Mundwinkel, starrte auf die Tischplatte. Er sah ihr aus dem Augenwinkel nach, wie sie verschwand, dachte über ihre Worte nach, und über den Sinn, den sie jetzt ergaben.
 

Wenn du nicht auspackst, Kudô, und aber trotzdem aus dem Gefängnis freikommst, dann geht das nur auf einem Weg…
 

Und dieser Weg beschränkt den Kreis der Verdächtigen auf drei Personen.
 

Dich selbst, Shinichi… und deine Eltern.

Ich denke, wir wissen alle, wen wir ausschließen können.
 

Verdammt.
 


 

Ran schluckte, biss sich auf die Lippen.

Eigentlich ließ dieses Gespräch nur einen Schluss zu; die Befürchtung, die sie hegte, seit er bei ihr gewesen war, bestätigte sich einmal mehr.
 

Also ist er es doch, Shinichi.
 

Kein Wunder, dass er so fertig gewesen war. So ratlos; so wütend und verzweifelt gleichzeitig. Er wusste, er rüttelte an den Grundfesten seines Lebens.

Und sie ahnte, die einzige echte Konstante, die er noch hatte, war sie.
 

Und ich lauf dir nicht weg. Zwischen uns ändert sich nichts, auch wenn du das befürchtest.
 

Sie seufzte, drehte ihren Kopf ein wenig im Kopfkissen, presste ihre Nase gegen den Stoff; es roch ein wenig nach ihm, dort, wo er gestern gelegen hatte. Ein verwundertes Lächeln huschte ihr über die Lippen; dass es doch so einfach war; jemanden am Geruch zu erkennen?

Am Aussehen erkannte man sie am einfachsten, an der Stimme auch – die Menschen, die man liebte.

Aber am Duft…?
 

Gedankenverloren strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, klappte ihr Buch zu, legte es beiseite.
 

Was wirst du tun, Shinichi?

Nachdem du mit ihm gesprochen hast, und wir wissen beide, das wirst du… wird euer beider Leben nicht mehr so sein wie vorher.

Und noch dazu hast du deinen Fall noch nicht abgeschlossen.

Du näherst dich dem Ende, langsam, aber beständig, aber die letzten Schritte…

… sind die schwersten, nicht wahr?
 

Und die gefährlichsten…
 


 

***
 


 

Er fühlte sich wie gerädert, als er am nächsten Tag aufwachte. Ein leises Ächzen glitt im über die Lippen, als er merkte, wie weh ihm sein Rücken tat – dann gähnte er, strich sich über die Augen. Durch ein winziges Fenster schien etwas Licht ins Zimmer. Das Fenster war zwar weit oben angebracht, allerdings kam es Shinichi doch ein wenig sehr weit weg vor. Kurz überfiel ihn die Angst, über Nacht ein paar Zentimeter Körpergröße eingebüßt zu haben, als er bemerkte, wo er sich befand – und damit auch den wahrscheinlichsten Grund für seine Rückenschmerzen gefunden hatte.

Er lag auf dem Boden.

Langsam drehte er den Kopf, bemerkte die dünne Wolldecke, die halb über ihm hing; offenbar war er doch noch irgendwann eingeschlafen, allerdings aus dem Bett gefallen, dabei.

Irgendwie entwickelte er in letzter Zeit wohl eine Neigung dazu, außerhalb seines Bettes aufzuwachen aus welchem Grund auch immer.

Shinichi lächelte säuerlich, strich sich erneut über die müden Augen, streifte sich seine Haare aus der Stirn, besah sich kurz seine Hand – irgendwie musste er sich doch noch vergewissern, dass alles so groß war, wie es sein sollte – ließ sie dann auf den Boden fallen, kraftlos. Ein lautes Seufzen befreite sich aus seiner Brust. Dann raffte er sich auf, setzte sich mühselig auf, kniff die Augen zusammen – sein Rücken schmerzte wirklich fürchterlich – und zog sich an der Bettkante hoch.

Unwillig starrte er aus dem Fenster. Es war noch nicht sonderlich hell, das hieß, es war noch früher Vormittag.
 

Und was mach ich so lang?

Verdammt.
 

Nachdenklich rieb er sich das Kinn. Dabei fiel sein Blick auf das Waschbecken in der Ecke. Ein Becher stand da, und eine eingepackte Billigzahnbürste, zusammen mit einer Reiseportion Zahnpasta.

Und erst jetzt fiel ihm auf, was er für einen schalen Geschmack im Mund hatte.
 

Warum eigentlich nicht? Wenn ich schon hier bin, sollte ich den Service, den dieses Etablissement bietet, auch nutzen.
 

Mit einem schiefen Lächeln stand er also schließlich auf, schlurfte unmotiviert drei Schritte weiter zum Waschbecken, drehte den Wasserhahn auf und ließ ihn kurz laufen, ehe er sich einen Schluck zu trinken genehmigte. Anschließend fing er an, sich die Zähne zu putzen, und zwar gründlich.
 

Er hatte ja alle Zeit der Welt, offenbar.

Gerade als er fertig geworden war und die letzten Reste der viel zu minzlastigen Zahnpasta ausgespült hatte, ging die Tür auf. Herein trat Kommissar Meguré, eine Tüte und einen Pappbecher in der Hand. Shinichi fuhr sich mit dem Ärmel über die Lippen, schaute ihn überrascht an.
 

„Ich hatte keine Ahnung, dass man hier nicht mal Geld für einen ordentlichen Zimmerservice hat, Kommissar. Ich hoffe, sie bekommen wenigstens ein Extragehalt dafür.“

Er sah, wie er Meguré ein kleines Lächeln entlockte mit seiner fast schon dreisten Bemerkung, trat dann näher, setzte sich einer entsprechenden Handbewegung Megurés folgend auf sein Bett. Der Kommissar zog sich den einzigen Stuhl im Raum heran, ließ sich ebenfalls nieder, drückte dem jungen Detektiv ihm gegenüber die Tüte und den Becher, dessen Inhalt sich als Kaffee einer einschlägigen Coffeeshopkette entpuppte, in die Hand. Shinichi warf ihm einen fragenden Blick zu, trank dann jedoch einen Schluck, und kam nicht umhin, ihn zu genießen.

„Der hier auf dem Revier schmeckt einfach grauenhaft.“, meinte der Kommissar mit einem gewissen Grad von Abscheu in der Stimme. Shinichi sah ihn an.

„Kann ich, glaub ich, nicht beurteilen. Ich hab hier noch nie welchen getrunken.“

Die Tatsache überraschte ihn fast selbst.

Meguré lächelte.

„Nun, ich war so frei, und hab dir Frühstück besorgt. Und nein, es ist nicht mit irgendwelchen Mittelchen versetzt, die deine Redseeligkeit fördern könnten. Du weißt, solche Aussagen dürfen nicht gewertet werden.“

Er sah Shinichi zu, der die Tüte öffnete und ein Sandwich herausholte.

„Das ist sehr freundlich von Ihnen, Kommissar.“

Unwillig schluckte er, merkte, wie trocken sein Hals geworden war.

„Ich hoffe auch, sie reißen es mir nicht gleich wieder aus den Händen, wenn ich Ihnen sage, dass ich meine Meinung nicht geändert habe. Ich werde Ihnen nichts sagen. Ich… kann nicht.“

Meguré wiegte schwer seinen Kopf, knetete den Saum seines Mantels, der sich mittlerweile merklich um seine Leibesmitte spannte.

„Das habe ich befürchtet, Shinichi. Und auch wenn ich es nicht verstehen will, respektiere ich es. Also iss dein Sandwich ruhig.“

Er lehnte sich zurück.

„Ich dachte mir nur, vielleicht willst du ein wenig Gesellschaft.“

Shinichi schaute ihn vorsichtig an, ehe er in das Sandwich biss.

Ihn hatte eine gute Ahnung beschlichen, was der Kommissar neben der Tatsache, dass er ihm wohl wirklich einfach nur etwas Gutes tun wollte, vorhatte.
 

Mich in ein Gespräch verwickeln, mich unvorsichtig machen, mir Informationen entlocken, die ich auf gezielte Fragen nicht rausrücken würde, nicht wahr, Kommissar?

Ich kenne die Methoden.

Leider sind sie oft sehr erfolgversprechend.
 

Shinichi spülte den Bissen mit einem Schluck Kaffee runter.

„Tun Sie sich keinen Zwang an, Kommissar. Ich… hab Zeit.“

Er verzog das Gesicht. Meguré schaute ihn bekümmert an.

„Du weißt, das müsste nicht sein.“

„Ja.“

Der junge Detektiv wandte den Kopf ab.

„Aber es ändert nichts daran, dass es so ist.“

„Eri Kisaki vertritt dich also? Auf was wird sie plädieren?“

Shinichi sah ihn aus den Augenwinkeln an.

„Ja. Und das werden Sie dann sehen, Kommissar.“

„Shinichi…“

Der alte Mann seufzte bekümmert. Shinichi schüttelte langsam den Kopf, auf seinem Gesicht ein sorgenvoller Ausdruck.

„Ich würde gern… alles erzählen, was ich weiß. Das… müssen Sie mir glauben, und irgendwo in ihrem Kopf, da wissen Sie das auch. Allerdings kann ich Ihnen nicht die ganze Wahrheit erzählen, jetzt noch nicht. Wenn diese Sache vorüber ist, und das wird sie bald sein… dann werden Sie verstehen. Und wenn nicht, werde ich es ihnen haarklein erklären.“

Der Kommissar sah ihn an. In seinen Augen lag ein etwas niedergeschlagener Ausdruck.

„Wenn du dann noch lebst, heißt das.“

Shinichi biss sich auf die Lippen.

„Ich denke, darüber sollten wir nicht reden. Gehen wir… einfach mal davon aus.“

„Tust du das wirklich?“

Meguré war aufgestanden, in seiner Stimme lag plötzlich ein Hauch von Schärfe.
 

Shinichi trank seinen Kaffee in einem Zug aus, bereute es fast umgehend. Die heiße Flüssigkeit brannte sich ihren Weg die Speiseröhre entlang in seinen Magen. Er verzog das Gesicht, schluckte.

„Darüber will ich nicht reden.“

„Weil du genau das nicht tust. Du gehst nicht davon aus, dass du das überlebst. Du bist wie dieser verdammte Holmes, den du so verehrst. Lieber stürzt du dich mit Moriarty die Reichenbachfälle hinunter, als dass du dir helfen lässt…“

Shinichi stand auf, merkte, wie in ihm die Wut hochkochte.

„Das ist nicht wahr!“

Er keuchte.

Meguré schaute ihn scharf an.

„Und was unterscheidet euch? Wenn ich fragen darf? Ich sehe nur zwei eitle, von sich selbst überzeugte Detektive. Gut, du magst ein wenig jünger sein…“, er lächelte zynisch, „aber im Grunde genommen bist du wie er. Traust keinem anderen etwas zu außer dir selbst und willst alles immer allein machen.“

Shinichi straffte die Schultern.

„Ich traue Ihnen sehr wohl etwas zu. Und ich werde Ihre Hilfe auch noch brauchen, aber zu meiner Zeit.“

Er biss sich erneut auf die Lippen, fester diesmal, ehe er fortfuhr.

„Und abgesehen davon trieb Holmes nicht die Eitelkeit oder Selbstgefälligkeit. Er wusste, mit wem er es zu tun hatte, und wollte nicht mehr Leute gefährden als nötig. Und das ist bei mir genauso.“

Unwirsch schüttelte er den Kopf.

„Abgesehen davon unterscheidet Sherlock Holmes und mich die simple Tatsache, dass… er eine fiktive Romanfigur ist, die nie gelebt hat, und ich ein Mensch bin. Ein echter Mensch.“
 

Er schaute auf, begegnete dem ernsten Blick des Kommissars.

„Und genau das, Kudô, ist der Grund, warum du hier sitzt. Im Gegenteil zu Holmes kannst du wirklich sterben. Du kannst von mir nicht verlangen, dass ich zusehe, tatenlos, wie du in dein Verderben rennst. Und wenn ich es könnte, würde ich dich hier einsperren, bis du schwarz wirst.“

Seine Stimme war gegen Ende seiner Rede immer leiser geworden, hatte sich fast auf ein leises, unverständliches Knurren reduziert. Nun presste er seine Kiefer zusammen, starrte den Jungen, der ihn erstaunt ansah, wortlos an; dann drehte er sich um, verließ den Raum. Stumm.
 

Shinichi stand da, sah die Tür zuknallen, hörte den Schlüssel, der sich im Schloss drehte.
 

Kommissar…
 

Natürlich hatte Meguré ihn nicht grundlos einsperren können, und irgendwie war die Zeit doch vergangen, wenn auch sehr, sehr… seeeeehr langsam.

Shinichi schaute aus dem Fenster, genoss die warme Sonne auf seinem Gesicht. Jetzt stand er hier, im dritten Stock des Hauptbaus des Beika-Strafgerichts, und wartete. Starrte sein Spiegelbild an, das aus dem spiegelnden Fensterglas zu ihm herüberblickte.

Es sah müde aus.
 

Seine Anwältin warf ihm einen tadelnden Blick zu, stieß ihn unsanft an.

„Mach was mit deinen Haaren, du siehst unmöglich aus. Und das, obwohl man dich doch ausschlafen hat lassen.“

Sie grinste ihn spöttisch an. Shinichi griff automatisch mit einer Hand ins Haar, versuchte sie irgendwie zu ordnen, gab es dann auf. Bemerkte Eris immer noch rügenden Gesichtsausdruck und grinste schief.

„Wenn ich das bemerken darf, Frau Kisaki, sie sahen auch schon frischer aus.“

Eri zog warnend eine Augenbraue hoch, strich sich dann ihre Haare hinter die Ohren, prüfte ihr Spiegelbild in einem kleinen Klappspiegel, den sie aus ihrer Handtasche hervorzauberte, lächelte dann amüsiert. Shinichi hingegen steckte seine Hände in seine Hosentaschen, versuchte gelassen auszusehen, und merkte doch, wie in ihm alles in Aufruhr war.

Sie standen vor dem Gerichtssaal, die schweren Türen immer noch fest verschlossen. Er war unruhig, das spürte sie, aber er stand wie die personifizierte Gelassenheit seit einer Viertelstunde auf einem Fleck und rührte sich kaum. Sie warf einen Blick nach rechts; dort standen die zwei Agents vom FBI, Mr. Black und Miss Starling, sowie Meguré, der auffallend nervös aussah, und Takagi, der einfach nur fertig wirkte – seine Augen rotgerändert, mit tiefen Ringen unterlegt.
 

Als dann endlich die Türen aufgingen, und man sie vor den Richter bat, ging es dann auf einmal sehr schnell. Sie standen keine fünf Minuten im Gerichtssaal; zwar hatten ihn alle Anwesenden fassungslos angestarrt, als er auf sein Aussageverweigerungsrecht bestand, da er mit einer wahrheitsgemäßen Aussage sich oder einen Angehörigen beschuldigen würde, aber nachdem er seine Aussage unterschrieben hatte, durfte er gehen. Shinichi hatte es eilig gehabt, sich aus dem Staub zu machen, er wollte den Fragen entgehen, die man ihm stellen wollte, zumindest, solange es ging. Eri hatte ihn in ihrem Auto mitgenommen und vor seinem Elternhaus abgesetzt, ihm einen langen Blick zugeworfen, den er unmöglich deuten konnte.

Als er nun an der Haustür klingelte, hatte ihm sein Vater geöffnet.

Shinichi erschrak, als er ihn sah; der Mann sah um Jahre gealtert aus.

Und nun stand er da, mindestens seit einer Minute, bewegungslos und sah ihn immer noch an. Dann kam Bewegung in den Körper des Schriftstellers.

„Also hat man dich wieder gehen lassen?“

„Offensichtlich.“

Der junge Detektiv bewegte sich unbehaglich, betrat dann die Eingangshalle, ohne seinen Vater aus den Augen zu lassen.

„Wo ist Mutter?“, fragte er dann leise.

„Mit dem Professor einkaufen. Sie wollte dir dein Lieblingsessen kochen.“

Shinichi merkte, wie in ihm das schlechte Gewissen wühlte, nickte dann kurz. Unsicher glitt sein Blick durch die Eingangshalle, dann blieben seine Augen auf seinem Vater haften.

„Also sind wir allein?“, fragte er sachlich. Zumindest, so sachlich, wie das sich ankündigende Zittern in seiner Stimme es zuließ.

„So ist es.“

Yusaku ahnte langsam, woher der Hase lief.
 

„Heute also?“

„Heute.“

Shinichi schluckte schwer.

„Ich denke, wir sollten noch einmal reden. Über alles. Und wir müssen darüber sprechen, wie es weitergeht. Denn so, wie jetzt, geht es nicht. Um aus dem Knast zu kommen, musste ich von meinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen, und ich meine, die können jetzt eins und eins zusammenzählen. Die nächsten, die verhört werden, werden du und Mama sein.“
 

Yusaku wandte sich wortlos um, ging in die Bibliothek. Shinichi folgte ihm, ebenfalls stumm. Merkte, wie in ihm etwas zu bohren anfing, pikste und zwickte, fühlte sich schlecht.

Einfach nur schlecht.

Er wusste, nach diesem Gespräch würde nichts mehr so sein, wie es war.

Er wusste, nach diesem Tag würde diese Familie, wie sie jetzt existierte, nicht mehr bestehen.

Fest biss er sich auf die Lippen, konzentrierte sich auf den Schmerz, den das verursachte, damit ihn seine Gefühle jetzt nicht übermannten.

Heute musste er einen klaren Kopf behalten.

Unbedingt.
 

Shinichi ließ sich seinem Vater gegenüber in einen Sessel sinken, sah ihn dann erstaunlich ruhig an.

„Ich denke, es ist nur fair dir zu sagen, dass ich unter deinem Namen ein Generaltreffen vereinbart habe, für heute Abend. Im Hauptquartier. Es ist jetzt fast Mittag. Mir ist offen gestanden reichlich egal, was du davon hältst oder mir dazu sagst; ich bin nur hier, um mir jetzt deine Geschichte anzuhören, ich werds zumindest versuchen, und dann werde ich tun, was ich für richtig halte. Aber zunächst… hat jedes Verbrechen ein Motiv. Und du… hast zahllose Verbrechen begangen.“

Shinichi sprach die Worte sehr leise und deutlich aus, und wunderte sich, woher er diese Selbstbeherrschung nahm.

„Also interessiert dich jetzt mein Motiv.“

Shinichi starrte ihn an; in seinen Augen glitzerte immer noch unverhohlene Wut, und Yusaku ahnte, dass sein Sohn ihn immer noch hasste. Vor allem wohl, weil er das Leben dieser Familie ruiniert hatte.

Er senkte den Blick.

„Es tut mir Leid.“

„Das hilft uns nicht weiter, Vater.“

Shinichi zerbiss sich immer noch die Lippen, hatte seine Hände zu Fäusten geballt. Er saß vornüber gebeugt auf der Kante des Sessels, jederzeit bereit zum Sprung; alles an ihm erinnerte an Anspannung und Nervosität.

„Du hast, verdammt nochmal, alles zerstört. Wenn der heutige Tag vorbei ist, sind wir vielleicht tot. Wenn nicht, muss entweder ich dich der Polizei ausliefern, oder du tust es selbst. Ich werde dich nicht mehr länger decken. Ich kann einfach nicht.“

Er schluckte, merkte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug, griff sich unwillig an die Kehle.

„Ich hab bis jetzt die Klappe gehalten, weil ich dir die Gelegenheit geben wollte, die Sache selbst in Ordnung zu bringen. Ich werde dir auch dabei helfen. Aber ich werde nicht länger zusehen, wie du nichts tust. Oder noch schlimmer, Morde und andere Verbrechen absegnest.“

Yusaku schaute auf, sah die Entschlossenheit in Shinichis Gesicht. Er wusste, sein Sohn würde ernst machen, auch wenn es ihm viel abverlangte.

Dann wiegte er den Kopf, nickte schließlich langsam.

„Du hast ja Recht. Und du hast ein Recht, es… zu erfahren. Die ganze Geschichte.“

„Dann fang endlich an.“

Shinichis Ungeduld war deutlich zu hören.

Yusaku stand auf, begann unruhig im Raum auf und ab zu gehen.

„Man hat mich erpresst, wie dich. Das sagte ich doch schon. Ich wollte das doch alles auch nicht. Ich wollte nie, dass es soweit kommt, ich hab dich beschützt, deine Mutter und dich, aber irgendwann…“

Dann wandte er sich wieder seinem Sohn zu, der sich leidlich unbeeindruckt zeigte.

„Ich weiß. Das sagtest du. Aber du hättest nein sagen können, zu dem ganzen Kram, du hättest es beenden können. Ich konnte das nicht.“

Er presste die Lippen aufeinander.

„Ich hatte nicht die Wahl, die du hattest, ich war nie in deiner Position an der Spitze dieses Vereins. Und außerdem interessiert mich das nicht, deine Ausreden will ich nicht hören. Ich will wissen, warum…“, er holte tief Luft, fasste sich, riss sich zusammen, „warum du all die Jahre dieses Theater gespielt hast. Warum du nie etwas getan hast. Warum du diesem Syndikat nicht den Garaus gemacht hast, sondern es ihm Gegenteil, auch noch zu Erfolg und Macht geführt hast. Ich will verstehen, warum du, verdammt nochmal, zulassen konntest, dass man all diese Menschen umbringt.“

Seine Stimme klang gepresst, er unterdrückte nur mit Mühe die Wut, die in ihm knapp am Siedepunkt kochte.

„Shinichi…“

„Du hättest etwas tun können. Du warst nicht so unter ständiger Beobachtung wie ich. Du hättest längst zur Polizei gehen können, heimlich still und leise diesen verrottenden Haufen Abschaum ausheben können, aber neeeeiiiin, das machst du natürlich nicht. Du gibst weiter Befehle, die die Leben von tausenden von Leuten ruinieren, du herrschst weiter über deine Schar von Mördern und Erpressern, du… versuchst aus mir einen Mörder zu machen… mein eigener Vater… du…“

Shinichi atmete schwer aus, schaute seinen Vater voll Verachtung in den Augen an.

„Du tust gar nichts.“

„Ich hatte Angst um dich und deine Mutter.“

„Auf uns hätte man schon aufgepasst. Und ich zweifle nicht daran, dass du geschickt genug gewesen wärst, das alles so anzustellen, dass man nicht merkt, was läuft, bevor die Hütte schon am Brennen ist.“

Shinichi stand auf, trat einen Schritt näher, hob die Hand, streckte ihm drohend den Zeigefinger entgegen.

„Ich sag dir, warum du nichts unternommen hast. Weil du zu feige warst. Weil du zu sehr an deinem schönen Leben hängst. Als Kronzeuge hätte man dich wohl immer noch lebenslänglich eingesperrt, dein Ruf wär hinfällig gewesen, alles, was du dir aufgebaut hast, ruiniert… und das wolltest du nicht.“
 

Yusaku schluckte schwer.

„Das ist nicht wahr.“

Shinichis Augen fokussierten einen Punkt vor seinen Füßen, er sah ihn nicht an, als er sprach.

„Doch ist es, und das weißt du. Du warst nur feige. Und bequem.“

Shinichi schüttelte den Kopf, in seinen Augen ein Ausdruck von Enttäuschung und Schmerz.

„Du hättest uns das hier ersparen können. Ich will dir keinen Vorwurf über die letzten Wochen machen, ich hab mich selber reingeritten, du hast getan, was du tun konntest… auch wenn es nicht… wirklich gute Entscheidungen waren, die du da für mich getroffen hast…“
 

Er schluckte, kniff kurz die Augen zusammen, als die Bilder dieser Zeit ihn fast zu überwältigen drohten.

„Aber du hättest uns dieses Gespräch hier ersparen können. Denn dass diese Situation eines Tages kommen würde… kommen musste… war abzusehen.“

Seine Stimme klang rau. Irritiert griff er sich an den Hals.
 

„Verdammt, du hast mir immer gepredigt, man soll die Wahrheit sagen! Warum hältst du dich nicht selber dran? Ich hielt dich für ehrlich! Für mutig! Für einen Mann, der zu seinem Wort steht, ich wollte werden wie du, wenn auch kein Schriftsteller… aber ich wollte werden wie du! Verdammt nochmal…!“

Er keuchte.

„So wie du…“

Seine Stimme brach weg.

„Ich weiß.“

Yusaku starrte nun ebenfalls auf den Boden, brachte es nicht fertig, ihm in die Augen zu sehen.

„Ich nehme an, das hat sich nun geändert.“
 

Shinichi kniff die Lippen zusammen.

„Allein vom Gedanken, jemals ein Leben zu führen wie du… jemals so korrupt, so selbstgefällig, so bequem und feige zu sein wie du… könnt ich kotzen…“

Yusaku kniff die Augen zusammen, schluckte schwer. Die Worte trafen ihn wie Pfeile in die Brust.

„Davor brauchst du dich nicht fürchten, schätze ich. Du bist weit davon entfernt, je zu werden, wie ich.“

„Danke für das Kompliment.“, fauchte Shinichi. Er war leichenblass im Gesicht.

„Weißt du, was sie Ran beinahe angetan hätten…?“

Seine Stimme klang leise, aber ungeheuer gefährlich.

Der Schriftsteller schaute nun doch auf, sah in seine Augen, die vor Zorn blitzten, seine Lippen waren leicht geöffnet, sein Brustkorb hob und senkte sich schnell.
 

„Wahrheitsserum…?“, fragte er matt.

Shinichi schaute weg.

Yusaku biss sich auf die Lippen.

„Hör zu, das tut mir leid, ich wollte doch auch nicht, dass es soweit kommt…“

„Wie nobel von dir. Allerdings vergisst du, dass, abgesehen von Ran, jede Menge anderer Leute sterben mussten.“

Shinichi sah ihn nicht an.

„Du hast das Okay für den Mord an Shihos Schwester gegeben… für den Mord an ihren Eltern…“

Yusaku keuchte. Shinichi hob den Kopf wieder, starrte ihn an.

„Ja, ganz Recht, ich hab die Aufzeichnungen gelesen, das meiste wusste oder ahnte ich aber selbst schon lange. Du magst sie nicht selber erschossen haben, aber du hast es gestattet. Du hast diese Organisation geführt. Du hast gebilligt, dass man dieses Gift entwickelt, dass man dafür Familien zerstört und über Leichen geht, und für was… für was?!?

Seine Stimme war erneut laut geworden.

Verdammt, für was das alles?!?
 

„Shinichi…“, murmelte Yusaku langsam.

„Hör zu, ich konnte nicht anders…“
 

Shinichi fuhr sich mit beiden Händen über sein Gesicht.

„Ja, das ist die beste Ausrede, die man haben kann. Ich konnte nicht anders.“

Sein Tonfall klang unglaublich bitter.

„Irgendwie glaub ich das nicht. Man kann immer anders. Man will es nur nicht immer.“

Yusaku blieb stehen, wandte sich, starrte seinen Sohn unverwandt auf. In ihm mischte sich ein gewisses Gefühl von Frust und Verzweiflung mit Wut über den Unwillen seines Sohns, ihn zu verstehen; auch wenn er sogar ein Stückweit begriff, warum Shinichi das alles nicht verstehen wollte.

Er holte Luft.

„Weißt du, wie es sich angefühlt hat, zu erfahren, von Gin und Vodka, dass sie am 13. Januar 1997 einen jungen Oberschülerdetektiv namens Shinichi Kudô ermordet hatten…?“

Yusakus Stimme stürzte ab.

„Mein Gott…“

Er schluckte, ließ sich auf die Lehne eines Sessels sinken.

„Zwei furchtbare Wochen lang dachte ich, du wärest tot. Wir hatten schon oft länger nichts von dir gehört, deshalb schöpfte sie auch keinen Verdacht, Yukiko… aber ich wusste es. Glaubte es zu wissen, schließlich arbeiteten ja deine Mörder für mich. Vierzehn Tage lang dachte ich daran, dass du wegen mir sterben hattest müssen. Dass es meine Schuld war. Und während all dieser Stunden, Minuten, Sekunden… in denen ich mit dem Wissen um dein Sterben lebte, wusste ich nicht, wie ich es ihr sagen sollte… Yukiko. Wie ich deiner Mutter sagen sollte, dass der Mörder ihres Sohns sein eigener Vater… ich… ihr Ehemann… war…“
 

Shinichi schluckte, stopfte seine Hände in seine Hosentaschen.

„Was glaubst du, wie erleichtert ich war, als sie mich am fünfzehnten Tag anrief… und mir sagte, dass du lebtest! Geschrumpft… verjüngt… aber am Leben…“
 

Er schaute auf. Shinichi starrte ihn an, taumelte zurück, als er in das Gesicht seines Vaters blickte.
 

Er weinte.
 

„Du warst am Leben…“
 

Der junge Detektiv ließ sich zu Boden sinken, stützte seinen Kopf schwer auf seine Hände, durchfurchte mit seinen Fingern sein wirres Haar.
 

„Ich hatte keine Wahl, damals… Yukiko und ich hatten gerade geheiratet, sie war schwanger mit dir, als…“

Shinichi horchte auf.

„Als was?“

Yusaku seufzte tief, seine Augen wurden glasig, als er in Gedanken zu jenem Tag zurückreiste, an dem er diese folgenschwere Entscheidung hatte treffen müssen.

Dann räusperte er sich, schaute seinem Sohn fest in die Augen, als er sprach.

„Wie du weißt, war ich nicht immer schon Schriftsteller; zumindest nicht immer schon hauptberuflich. Das kam erst nach den ersten Erfolgen meiner Romanreihe. Und ja…“

Er lächelte gequält.

„Nun, nachdem du weißt, wer ich bin, ist nachvollziehbar, wer die Inspiration für den Baron der Nacht war. Tatsächlich hat dieses Doppelleben erst so richtig für den Erfolg dieser Reihe gesorgt. Diese vielgelobte Authentizität kommt nicht von irgendwoher.“

Er lachte bitter. Shinichi rann es eiskalt den Rücken hinab, er konnte direkt spüren, wie sich jedes Haar einzeln aufstellte.

„Die Erfolgreichere von uns beiden war Yukiko; sie hatte mit ihren Filmrollen viel Geld verdient, aber nun war sie verheiratet und schwanger, und gezwungen, eine Pause zu machen. Und obwohl sie ihren Beruf liebte, konnte ich aus ihren Äußerungen vernehmen, dass sie gern als Mutter für dich ganz da wäre. Dass sie ihren Beruf aufgeben wollte, weil sie den Trubel um ihre Person von dir fernhalten wollte.“

Er schluckte.

„Ich hab damals ab und zu bei der Polizei ausgeholfen, wie du weißt. Nun gut, ab und zu ist wohl etwas untertrieben – ich schätze, man kann es mit deiner Situation vergleichen; allerdings, wie du weißt, ist das nun nicht unbedingt eine echte Einnahmequelle. Es blieb also nur meine nur in kleinen Kreisen bereits erfolgreiche Schriftstellerei; alles in allem aber zu wenig, um eine Familie zu ernähren, das wurde mir schnell klar.“

Yusaku wandte den Blick ab.

„Ich begegnete ihnen bei einem Fall. Absinth war der erste, den ich traf. Ich war bei einem ihrer Coups zugegen, konnte ihnen aber nichts nachweisen. Allerdings schien ich Eindruck hinterlassen zu haben, denn in den Tagen darauf fühlte ich mich beobachtet. Es ging über Wochen dahin; meine Neugierde und mein Ehrgeiz waren geweckt worden, ich recherchierte, fand heraus, wer er war; und ich wollte ihn kriegen. Ganz ähnlich wie du.“

Unsicher sah er auf. Shinichi starrte ihn an. Seine Gesichtszüge schienen seltsam entspannt, seine blicklosen Augen verrieten, wie tief er in seine Erinnerungen versunken war.

„Die Verbrechen, die ich mit ihnen in Verbindung brachte, waren die gleichen, wie du sie kennst; Mord, Drogenhandel. Entführungen, Erpressung. Es wurden immer mehr, das Netz spann sich immer weiter, und ich hatte das Gefühl, einer ganz großen Sache auf der Spur zu sein. Ich hatte mich festgebissen, ließ nicht locker. Natürlich fiel das Yukiko auf, aber sie sagte nichts, vorerst. Und irgendwann dann… kam der Tag.“

Der Schriftsteller knetete seine Hände.

„Es war ein Kongress angesagt, in einem Hotel. Ich wusste, Absinth würde da sein; damals war er ein bekannter Lobbyist, ein einflussreicher Mann, mit viel Geld und viel Macht. Und ich hatte Wind bekommen, von einer Drohung gegen den bei dem Kongress auftretenden Politiker; der Mann wollte den Einfluss von mafiös strukturierten Organisationen vorgehen, die Stellung der Polizei stärken, bei geringerem Verdacht Untersuchungen einleiten zu können, Email- und Telefonkontakte und –daten speichern – alles das, was die Organisation nicht brauchen konnte, Dinge, gegen die man sich mühsam wappnen musste, ein Prozess, der damals zu lange gedauert hätte. Man wollte diesen Schritt der Politik verhindern, das war klar. Ich witterte meine Chance und schlich mich rein.“

Er massierte sich die Schläfen.

„Der Politiker wurde erschossen. Ich konnte es nicht verhindern, und war doch so nah dran. So nah! Ich hatte aber immerhin ein Beweisstück in der Hand, gegen Absinth. Ich hatte das Glas ergattern können, aus dem er getrunken hatte. Die Fingerabdrücke würden die gleichen sein wie die auf der Tatwaffe.“

Er lächelte verhalten, als er Shinichis überraschten Gesichtsausdruck sah.

„Ja, damals gab sich der Gute noch selbst die Ehre. Heute lässt er die Drecksarbeit lieber andere erledigen. Aber wo war ich…“

Yusaku sortierte sich kurz.

„Bevor ich mit meinem Glas zur Polizei gehen konnte, stieß er gegen mich. Rein zufällig. Das Glas zerbarst auf dem Boden, und er trat auch noch drauf, zermahlte es unter seinen Fußsohlen zu Staub. Er grinste mich dabei nur an, und ging. Ich folgte ihm, dumm wie ich war, aber sobald ich aus der Tür draußen war, packten mich zwei seiner Handlanger und zogen mich in ein Auto. Die Situation, die dem folgte, kennst du. Man konfrontierte mich mit meinen Recherchen, lobte meinen Scharfsinn, zeigte mir Bilder von meiner schwangeren Frau. Das war’s.“

Er biss sich auf die Lippen, zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an.

„Seither arbeite ich da, führe mein zweites Leben als Baron der Nacht. Und war erfolgreich. Ich stieg gleich recht hoch ein, was ungewöhnlich war; aber ich war gefügig, ich liebte euch doch. Ich wurde Absinths persönlicher Handlanger, wurde aber hauptsächlich zum Austüfteln von Intrigen und Komplotten herangezogen. Ins Feld…“, er lächelte bitter, „schickte man mich kaum. Und ich gewöhnte mich daran... an diese Art von Arbeit. Ich schob die Skrupel von mir, lebte hier mein zweites Leben, und bald kam es mir nur noch vor wie eine Art… Traum. Der Boss der Organisation, das war nicht ich. Ich war nur der Schriftsteller.“

Shinichi schluckte hart, wandte den Blick ab.

„Abscheulich, ich weiß.“

Yusaku zog an seiner Zigarette, inhalierte tief, merkte, wie sich seine Nerven langsam wieder etwas beruhigten.

„Ich hatte nur euer Wohl im Sinn, und merkte, je höher ich auf der Karriereleiter kletterte, desto weniger belangte man mich mit der Drecksarbeit, und desto mehr Einfluss hatte ich auf euer Wohlergehen. Und so kam es, dass ich… seit etwa zehn Jahren diesen Verein leite. Kein Mensch da drin weiß, dass ich der Boss bin; nur das Triumvirat kennt mein Gesicht, und Sharon. Sie landete am Tag nach dem Tod ihres Mannes bei mir, ich war erst seit kurzer Zeit zum Boss gewählt worden, durch das Triumvirat, das doch tatsächlich glaubte, sie hätten in mir einen gefügigen Führer; ich muss gestehen, zum Teil hatten sie ihn auch. Die Entscheidung war eigentlich gefallen, jemanden, der gegen die Organisation rebellierte, war nicht zu gebrauchen, und ich sollte sie liquidieren, als… Einstand, sozusagen. Wie und wo überließ man mir, nur die üblichen Beweisdokumente wollte man sehen. Und deshalb… starb sie offiziell. Inoffiziell bekam sie das Gift, stieg als ihre Tochter bei uns ein, und bekam so die Gelegenheit zur Rache für ihren Mann; seither kennt sie mein Gesicht, und uns Verband dieser Wunsch, euch zu schützen; mich trieb nur dieser eine Gedanke an, euch da rauszuhalten, ihr Benzin war noch gemixt mit diesem Hass auf die Organisation, diesen unbändigen Wunsch nach Rache. Nun, sie war geschickt darin, das einzufädeln; sie ist eine exzellente Schauspielerin, es fiel ihr leicht mit Gin in Kontakt zu kommen, nachdem ich ihr gesagt hatte, wo sie ihn finden würde. Sie wickelte ihn um ihren Finger, und er glaubte in der Tochter einen perfekten Ersatz für die Mutter gefunden zu haben. Das Triumvirat segnete ihre Mitgliedschaft nach kurzer Zeit ab, fand es unglaublich spannend, die Tochter der großen Vermouth für ihre Sache gewonnen zu haben, nicht ahnend, dass sie den Feind soeben wieder ins Boot geholt hatten. Du kennst das Triumvirat, diese Verwandtschaftskisten finden die unheimlich prickelnd.“
 

Yusaku durchfurchte sich die Haare.

„Das war sie, meine Geschichte. Und du magst Recht haben, ich war zu feige, etwas zu ändern. Ich hatte nicht den Mut, den du hast. In dieser Hinsicht bin ich anders.“
 

Shinichi seufzte.

„So anders bin ich vielleicht gar nicht…“

„Hör auf.“

„Ich weiß immer noch nicht, ob ich geschossen hätte.“

Der Schriftsteller musterte seinen Sohn eingehend, sah dessen Zweifel und Grübeln auf seinen Zügen.
 

„Du hättest geschossen.“
 

Shinichi schloss die Augen, atmete langsam aus. Die Worte aus dem Mund seines Vaters fühlten sich an wie ein Schlag ins Gesicht – wusste er doch, dass sie stimmten.

Eigentlich hatte er es schon immer gewusst.
 

„Du hättest nicht ertragen, dass man sie umbringt, weil du sie liebst. Und du wirst es auch in Zukunft nicht dulden, dass man ihr etwas antut. Du wirst immer alles tun, um sie zu schützen.“

Ein trauriges Lächeln glitt über die Lippen des Schriftstellers. Shinichi sah ihn an, in seinen Zügen ein gewisser Unwille, eine gewisse Niedergeschlagenheit… Resignation.

Er fuhr sich unwirsch durch seine Haare.

„Aber was unterscheidet mich dann von dir? Mit welchem Recht verurteile ich dich dann?“

Shinichi klang erstaunlich sachlich, obgleich in ihm ein wahrer Sturm losgebrochen war an Fragen, die ihn überrannten… an Fragen, die ihn selbst in Frage stellten, und das machte ihm zu schaffen. Yusaku schüttelte den Kopf, lächelte dann bitter.

„Du bist anders als ich. Du wärst draufgegangen bei dem Versuch, dieses Leben zu führen. Du hättest es nicht über dich gebracht, zwanzig Jahre lang. Ich weiß nicht, ob dich das jetzt freut. Freuen sollte.“

Shinichi wandte den Blick ab.

„Du hättest nicht mit dieser Gleichgültigkeit über Leben und Tod entscheiden können, wie ich es tat. Ich brauchte keine fünf Sekunden, um meine Unterschrift unter so einen Beschluss zu setzen, Shinichi. Erzähl mir nicht, dass du das kannst. Egal was du tust, es wird bei dir immer anders sein als bei mir. Weil du anders bist als ich.“
 

Sein Sohn zuckte zusammen.

„Du…“

„Ich habs getan. Und ich konnte hinterher schlafen. Anfangs nicht so gut wie zuletzt, zugegebenermaßen, aber ich tat es. Ich sah die Menschen nicht mehr. Es waren nur Namen auf Papier für mich. Du hingegen…“

Er beugte sich vor, sah seinem Sohn fest in die Augen.

„Shinichi, du hättest das nicht über dich gebracht, nicht über diese Zeit hinweg. Du hättest viel früher versucht, den Laden hochzunehmen, egal welches Risiko dabei bestanden hätte. Du hättest, wie du schon sagtest, dafür gesorgt, dass man Ran in Sicherheit bringt, und dann hättest du den Laden in Brand gesetzt, und wenn du draufgegangen wärst dabei. Das hättest du getan. Das tust du… gerade. Ganz egal, was mit dir dabei passiert. Ich hingegen…“

Der Schriftsteller lehnte sich müde zurück.

„Ich hingegen saß bequem in meinem Sessel und ging kein Risiko ein. Es lief, wie es lief, und es lief bestens. Und es wäre weiter gelaufen, wärst du nicht gekommen.“

Gedankenverloren legte er seine Fingerspitzen aneinander, führte sie zum Kinn.

„Das, Sohnemann, unterscheidet mich von dir.“
 

Shinichi stand auf, langsam, stopfte seine Hände in seine Hosentaschen, starrte auf den Teppich, ehe er den Blick hob, seinen Vater kalkulierend anschaute.
 

„Was mach ich jetzt?“, flüsterte er.

„Das, was du planst. Denn, wie es aussieht, hast du einen Plan.“

Shinichi schluckte, nickte bedächtig.

„Ja…“
 

Yusaku erhob sich schwerfällig, sah seinem Sohn ernst ins Gesicht. Ihre Blicke trafen sich.

„Ich stand immer hinter dir. Auch wenn… es nicht immer den Anschein hatte, Shinichi.“

„Das… heißt?“
 

Yusaku schluckte, fuhr sich fahrig mit schweißnassen Händen über sein Gesicht.
 

„Das heißt, dass du das diesmal nicht allein machen musst.“

Er seufzte, blickte auf die Uhr.

„Und erzähl mir nicht, dass du darauf nicht gehofft hast. Nur deswegen bist du hier.“

Er schluckte.

„Weil du meine Hilfe brauchst. Und weil du‘s vielleicht nicht ganz so einfach über dich bringst, mich ans Messer zu liefern.“

Yusaku sah ihn milde lächelnd an.

„Aber du hast Recht. Es wird Zeit, dass jemand etwas unternimmt… dass ich etwas unternehme. Und wie ich das sehe, sollten wir uns am besten wohl gleich aus dem Staub machen, bevor… uns jemand aufhält. Bevor wir gehen, möchte ich allerdings noch… etwas hinterlassen. Für deine Mutter.“

Unwillig strich er sich über die Augen.

„Wer weiß, ob sie mir so ruhig zuhört wie du. Danke dafür, übrigens.“

Shinichi schluckte, lächelte bitter..

„Erst beim dritten Anlauf, wohlgemerkt. Also nichts zu danken.“
 

Er sah ihm zu, wie er die Bibliothek verließ, und merkte, wie in ihm das schlechte Gewissen nagte.
 

Vater.
 

Shinichi biss sich auf die Lippen. Dann stieg auch er die Treppe hoch, holte Sharons Brief und legte ihn auf den Küchentisch, schnappte sich selber einen Bogen Papier – und zerriss ihn nach kurzem Überlegen wieder. Einzig die Pläne und Unterlagen, die er sich ausgedruckt hatte, holte er, faltete sie und schob sie ein. Sein Vater kam nach wenigen Augenblicken und legte einen dicken Umschlag auf den Tisch.
 

„Vater, hör zu…“, begann Shinichi.

„Nein, Shinichi.“

Er schüttelte den Kopf, schlug seinen Kragen hoch.

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Das hätte schon längst getan werden müssen. Ich hoffe nur, dass wenigstens du aus der Sache einigermaßen heil rauskommst; allerdings muss ich befürchten, ohne dich schaff ich es auch nicht. Sharon hatte schon Recht… als sie dich silver bullet nannte. Auch wenn sie mir nie sagte warum, ich denke, langsam kann ich es mir denken.“

Shinichi wandte sich ab, presste die Lippen aufeinander.

Die silberne Kugel hatte, wie es aussah, ihr Ziel wohl bereits getroffen.

Dann riss die Stimme seines Vaters ihn aus seinen Gedanken.

„Du erklärst mir im Auto, was du planst, und ich sag dir, welche Möglichkeiten zur Umsetzung wir haben.“

Yusaku griff nach dem Autoschlüssel. Shinichi nickte nur knapp, folgte seinem Vater aus dem Haus.
 

Wenige Minuten später fuhr der Wagen aus der Ausfahrt Richtung Tottori.
 

Am Fenster in Professor Agasas Küche stand Ai, sah dem Auto hinterher.

Ein eiskalter Schauer rann ihr über den Rücken.
 

Also ist es jetzt soweit.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (4)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2012-11-04T18:22:06+00:00 04.11.2012 19:22
Mir ist gerade klar geworden, dass ich so wahnsinniges Herzklopfen bekomme, wenn ich diese Story lese. Um mich herum passiert immer soviel, aber immer, wenn ich das hier lese, bin ich total abgeschottet und tauche vollkommen in die Welt von Amnesia ein. Und es ist immer so scheiße, da wieder raus zu müssen... Naja, man kann nicht alles haben.
Hach, aber ich finde es immer wieder so toll, wenn man sich denkt, jetzt kannst du einen nicht mehr überraschen, man ist auf alles gewappnet. Und auch wenn es logisch ist, hätte ich nicht gedacht, dass die beiden jetzt einen letzten gemeinsamen Schlag ausführen. Zusammenarbeiten. Es ist einfach nur... hach, das erfreut mein Herz. Ich hab's echt nicht kommen sehen, genauso wie ich nicht erwartet habe, dass Shinichi Yusaku nochmal Vater nennt. Und trotzdem ist es nun so.
Ich ahne, dass da jetzt noch 'ne Menge kommt, was ich nicht erwarte und darauf freue ich mich einfach nur.
Liebe Grüße
M.B.
Von: abgemeldet
2012-11-03T16:21:04+00:00 03.11.2012 17:21
Was bin ich froh um meinen gemütlichen Platz auf dem Sofa...

Wirklich ein wunderbar gelungenes Kapitel!
Zimtphilosophie hat es auf den Punkt gebracht, daher schließe ich mich diesem Kommentar voll und ganz an.

Liebe Grüße,
Puffie-chan
Von:  Kati
2012-11-02T11:58:34+00:00 02.11.2012 12:58
Jetzt gehts los :D
Hätt ich irgendwie ned erwartet das ihm Yusaku sogar hilft. Ich dachte er bleibt zuhause und wartet ab was passiert xD Und Heiji wird sich demnächst denk ich auch noch ordentlich einmischen in Shinichis mysteriösen Plan.
Aber ich lass mich jetzt einfach mal überraschen ;)

Bis zum nächsten Kapitel!
Von:  Zimtphilosophie
2012-11-02T10:54:10+00:00 02.11.2012 11:54
Erneut ein grandioses Kapitel deinerseits. Du beweist sehr gekonnt mit welcher Präzision ein jede Facette dieser gelungenen Story miteinander verknüpft werden kann. Originalgetreu, fügt sich jedes Detail ins Gesamtkonzept. Im Kontrast zu den beiden vorherigen Kapiteln, bringt dieses nun erneut erkennbar mehr Dynamik ins Geschehen.

Mata ne!
Zimtphilosophie


Zurück