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Amnesia

Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?
von

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Kapitel 35: Von einem Vater zu einem Sohn

Mesdames, messieurs -
 

langsam geht's dem Umvermeidlichen zu - das Ende naht, die letzten Fäden werden aufgenommen und vernäht, die Schlinge zieht sich zu.
 

Vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel - es freut mich sehr, wenn die Gedankengänge, die diesen Ereignissen vorangingen, verständlich waren.
 

Ich wünsche euch viel Spaß bei diesem Kapitel!
 

Eure Leira :)

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Kapitel 35: Von einem Vater zu einem Sohn
 

Der Abend war ereignislos verlaufen. Das Abendessen hatte er ausfallen lassen; stattdessen hatte er von seinem Zimmer aus beobachtet, wie der Professor mit Heiji und Kazuha das Haus des Professors verlassen hatte; sie hatte eine Reisetasche bei sich, offenbar fuhr sie nach Hause.

Warum auch nicht, hier in Tokio waren alle Dinge erledigt; er schätzte, Heiji blieb nur wegen ihm. Und vielleicht wegen der Beerdigung seines Vaters. Ein unangenehmes Ziehen meldete sich in seiner Magengegend, weckte sein schlechtes Gewissen, das ohnehin nur sehr leicht schlief, seit gestern.
 

Ein weiteres Detail war ihm jedoch auch nicht verborgen geblieben.
 

Du hältst ihre Hand.
 

Ein fast lauwarmes Lächeln schlich sich auf seine Lippen, winzig und vergänglich, als er seinen besten Freund beobachtete, wie er Kazuha die Tür aufhielt und beim Einsteigen half. Kurz wandte sich der Oberschüler aus Osaka um, sah geradewegs hinauf zu Shinichi.

Er hatte keine Ahnung, ob er ihn im Dämmerlicht sah; er hatte kein Licht gemacht im Zimmer, also konnte es gut sein, dass er unentdeckt geblieben war.

Wie auch immer.
 

Ich freu mich für dich, Hattori. Wenigstens bei dir läuft es so, wie es laufen sollte.
 

Als der Professor wiederkam, mit Heiji im Schlepp, allerdings, wie vermutet, ohne Kazuha, saß er immer noch da, unverändert; was gab es auch zu tun.

Während um ihm alles lebte, bewegte und sich veränderte, schien er still zu stehen.

Irgendwie einfach aufzuhören.

Ai, so schätzte er, saß wohl über ihren Festplattendaten, Reagenzgläsern und Petrischalen im Labor – zumindest ließ das der Lichtschein, der aus dem Kellerfenster schimmerte und ein Fleckchen des Gartens erhellte, annehmen. Seine Mutter saß in der Küche; sie hielt es wohl weder in der Bibliothek noch im Wohnzimmer und erst Recht nicht in ihrem Schlafzimmer aus, momentan. Er wusste, er sollte ihr ein besserer Sohn sein, und ihn quälte sein schlechtes Gewissen. Allerdings hatte diese Kontrollinstanz verglichen mit all den anderen Teilen seines Ichs momentan die deutlich leiseste Stimme.
 

Damit war die Nacht hereingebrochen über Tokio; eine Nacht, die jeder anders verbrachte.
 

Im Polizeipräsidium saß die altbekannte, eingeschworene Runde und schwieg. Eigentlich war eine Abschlussbesprechung anberaumt worden; der Fall war abgeschlossen und ad acta gelegt, eine der größten Verbrecherorganisationen des Landes zu Fall gebracht und vernichtet.
 

Eigentlich ein Grund zu Feiern.
 

Stattdessen saßen die Agents vom FBI, James Black, Jodie Starling und Shuichi Akai ihren Tokioter Kollegen Meguré, Takagi und Sato ziemlich schweigsam gegenüber.

Schließlich war es Meguré, der die Stille brach. Er räusperte sich, stand auf, klopfte seinen altgedienten Trenchcoat glatt.

„Im Namen der Tokioter Polizei, allen voran des Morddezernats, möchte ich Ihnen unseren Dank bei der Lösung dieses Falls aussprechen.“

Sein Tonfall war förmlich, sein Auftreten von ausgesuchter Höflichkeit.

„Ohne Ihre Hilfe…“

„Ah, lassen Sie das, Meguré, old friend.“, lächelte Black freundlich, bedeutete dem Mann, sich wieder zu setzen. Meguré ließ sich nieder, sichtlich erleichtert; ihm lagen solche Reden gar nicht, aber sie waren angebracht nach solch einer Kooperation, und er wollte sich nicht lumpen lassen.

„It was our pleasure to work with men and women of such professionalism.“

Sein Lächeln bröckelte ihm langsam von den Lippen.

„Sie wissen, Meguré, unsere Arbeit hier ist getan. Wir haben erreicht, was wir wollten, die Organisation, die ihre Fühler auch in unser Land ausstreckte, ist zerstört. Dennoch ist dies kein Anlass für Gratulation… nicht, nachdem was ihm passiert ist. Er hätte nie über diese Klinge springen dürfen.“

Meguré nickte schwer.

„Es wird sich zeigen, wie er es wegsteckt… er weiß, diese Tür steht ihm immer offen, und ich hoffe, er folgt eines Tages diesem Ruf…“

Jodie lächelte.

„Nun, ich denke, das Gleiche darf ich wohl vom FBI behaupten. Er hätte das Zeug dazu, groß zu werden. Wenn…“

„… wenn er darüber hinwegkommt, was er tun musste.“

Akai, der sich bis jetzt ruhig verhalten hatte, zog eine Zigarette heraus, zündete sie an und zog an ihr. Jodie seufzte, warf ihm einen tadelnden Blick zu, beließ es jedoch dabei. Takagi schaute gedankenverloren aus dem Fenster; die Sonne schickte gerade die letzten Strahlen über den Horizont nach Japan.
 

„Also fliegen Sie?“

„Morgen früh, seven thirty, exactly.“

Black nickte.

„Die Arbeit ruft, und die Welt bleibt nicht stehen. Allerdings bleibt Agent Akai noch ein Weilchen in seinem Heimatland, um persönlichen Verpflichtungen nachzukommen.“

Meguré nickte kurz, versank kurz in Gedanken, ehe sich ein schmales Lächeln auf seine Lippen schlich.
 

„Eigentlich ist trinken im Dienst verboten, aber nach dem Abschluss dieses für uns alle sehr schwierigen und sehr persönlichen Falls denke ich, können wir uns ein Gläschen Sake erlauben, zudem wir uns offensichtlich zum letzten Mal in dieser Runde sehen. Erweisen Sie mir die Ehre?“

Ohne das Nicken der drei Agents abzuwarten verschwand er, um mit einem Tablett, beladen mit sechs feinen Porzellanschälchen und einer Flasche Sake wiederzukommen. Er befüllte die Sakeschälchen ordentlich, ehe er sie verteilte, und sich, wie er hoffte, möglichst ehrenvoll zum Trinkspruch aufbaute. Er wartete, bis alle anderen ebenfalls standen, räusperte sich dann gründlich.
 

„Auf das Ende dieses außergewöhnlichen Falls. Auf den Detektiv, der ihn löste – auf Shinichi Kudô.“
 

Das Porzellan klirrte, während in Tokio die Sonne unterging.
 


 

Môri seufzte leise, als er seiner Tochter beim Abspülen zusah. Sie hatten gerade gemeinsam zu Abend gegessen, und es war ein eher schweigsames Mahl geworden - die Stille hatte wie ein Damoklesschwert über ihnen gehangen, bereit, jedes auch nur ansetzende Gespräch sofort zu beenden. Ran hatte ihn nicht angesehen, kaum etwas gegessen, sofern man das lustlose Rumgestochere, das sie veranstaltet hatte, überhaupt als Essen bezeichnen durfte. Sie war blass, ihre Augen gerötet, ein Zustand, den sie seit gestern zeigte, und von dem sie sich offensichtlich nicht erholen wollte, in absehbarer Zeit.

Und wie um diese Schweigsamkeit nun wettzumachen, spülte sie nun höchst lautstark ab; mit dem Rauschen des Wasserstrahls ging eine Vielzahl von klirrenden, blubbernden und spritzenden Geräuschen einher.

Er wusste, sie war nur so laut, um ein anderes Geräusch zu übertönen.
 

Ihr leises Schluchzen.
 

Und er wusste auch, sie wünschte sich nichts mehr, als dass er endlich ging, das Zimmer verließ und hinter sich die Türe schloss, am besten. Den Gefallen würde er ihr jedoch nicht tun, soviel stand fest für ihn. Er war ihr Vater, und er würde ihr beistehen, und dass sie Beistand brauchte, jetzt, war in seinen Augen klar. Also beobachtete er, wie sie mit zitternden Fingern abspülte, bemerkte an den aufsteigenden Dampfwolken, dass das Wasser viel zu heiß sein musste, und seufzte erneut. Dann stand er auf, trat an das Spülbecken und drehte den Hahn zu. Ran schniefte, blickte überrascht auf, wischte sich mit einer spülschaumtriefenden Hand eine Träne aus dem Augenwinkel mit dem Erfolg, dass das Auge gleich umso mehr zu laufen anfing, als es mit der Seife in Kontakt kam.

Môri stöhnte leise auf, dann zog er sie an sich, merkte und hörte, wie sie jetzt erst so richtig zu heulen anfing. Er schluckte, streichelte ihr über den Rücken, über die Haare, und verfluchte diesen Kerl innerlich an die tausend Mal.
 

Ich hätte dich nie ins Leben meiner Tochter lassen dürfen…

Es war von vorneherein klar, dass du nur Ärger bringst… ich habe dich gewarnt, hab dir gesagt, was passiert, wenn du ihr Herz brichst…!
 

Du elender Mistkerl, wenn dein Leben die Hölle ist, musst du ihrs denn dann auch dazu machen!?
 

Er atmete tief durch, dann schob er sie etwas von sich, bugsierte sie zurück zum Tisch, drückte sie auf die Sitzkissen am Boden und setzte sich neben sie, behielt dabei ihre Hand in seinen Händen, spürte die Hitze der vom Spülwasser aufgewärmten Finger.
 

„Mausebein… was war los, gestern?“

„Nichts…“, murmelte sie, versuchte, ihre Tränen unter Kontrolle zu bringen.

„Natürlich. So siehst du auch aus.“

Der schlafende Meisterdetektiv verzog das Gesicht.

„Also, was hat er angestellt?! Irgendwas muss er doch getan oder gesagt haben…!“

Ran presste die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf, kurz.

„Nichts, ich sagte doch…“

„Ran, für wie blöd hältst du mich?“

Kogorô war laut geworden.

„Du warst gestern bei ihm, hast ihn getroffen, als er nach Hause kam, und seitdem bist du hier, mit den Nerven relativ am Ende und flennst in Schüben.“

Er knurrte.

„Nenn mich einen Optimisten, aber eigentlich dachte ich, die Tatsache, da er wieder er wäre, der Fall vorbei und die Gefahr vorüber, wäre für dich ein Grund zur Freude.“

Sie wich seinem forschenden Blick aus, was ihn in seiner Ahnung nur bestätigte.

„Also, sag mir nicht, dass nichts los ist. Der letzte Stand der Dinge, den ich kenne, war der, dass er bei uns war, sein Leben zwar nun nicht gerade prickelnd, aber doch noch soweit für ihn zu ertragen war, dass er damit dich nicht fertig machen musste. Zu diesem Zeitpunkt wusste er, dass sein Vater der Boss ist, also kann es das nicht sein. Sein Vater ist gestern gestorben, das ist ein Grund, warum er traurig ist, neben der verkorksten Tatsache, dass sein Vater der Boss war und ihn sein Leben lang angelogen hat – aber das wäre eher ein Grund, warum du heute bei ihm hättest sein sollen und ihn trösten. Man tröstet Freunde, deren Eltern gestorben sind.“

Seine Stirn legte sich in Falten. Ran hickste, bemerkte zu ihrem Leidwesen, dass ihr die Heulerei einen Schluckauf eingebracht hatte.

„Du warst aber heute nicht bei ihm. Nicht eine Minute. Stattdessen geht’s dir schlecht, und ich vermute doch stark, nach allem was er erlebt hat, ihm auch. Warum, Ran?“

Kogorô beugte sich vor, studierte ihr Gesicht genau, hob ihr Kinn an. Ran hickste leise, sah in seinen Augen die Sorge um sie. Sie lehnte sich zurück, schüttelte unmerklich den Kopf, seufzte tief.

„Paps…“

Ihr Vater schüttelte den Kopf.

„Ran… Er wusste doch, wohin er musste, wenns ihm schlecht ging, und er kam auch. Und darum geht’s doch… sowohl in einer Freundschaft, als auch in einer Beziehung. Jetzt sitzt du aber hier, und weinst, so sehr, dass ich vermuten muss, dass ihr nicht nur kein Paar seid, sondern nicht einmal mehr Freunde. Was ist jetzt anders…?“
 

Seine Tochter sah auf; Überraschung konnte er auf ihrem Gesicht lesen, überdeutlich, und fragte sich, warum sie so überrascht war. Ob sie ihm nicht zutraute, auch zu sehen, was für alle anderen doch so deutlich gewesen war.

Er seufzte leise.

„Ich bin nicht blinder als der Rest der Welt. Die Tatsache, dass du heute nicht bei ihm warst, und dich hier aber die Sorge auffrisst, kann eigentlich nur eins heißen…“

Ran schluckte hart, biss sich auf die Lippen und hickste erneut.

„Er hat gesagt, er will mich nicht mehr sehen.“

Sie schaute auf, registrierte den verständnislosen Blick ihres Vaters und nickte nur matt. Kogorô schüttelte den Kopf.

„Er will dich nicht mehr sehen?“

„Ja, genau das hat er gesagt. Dass ich gehen soll, verschwinden, nie wieder kommen. Er will mich nicht mehr sehen.“

„Und hat er dir auch den Grund dafür genannt?“

Ran seufzte tief, rieb sich die Stirn.

„Nur sehr vage. Er wäre ein anderer, nicht mehr der Gleiche, er wäre nicht der Richtige für mich, und er wollte, dass ich gehe, und nicht mehr komme, das waren seine Worte. Er hat mir nicht gesagt, was passiert ist, außer dem, was offensichtlich war… dass sein Vater in seinen Armen gestorben ist. Ich hab ihn nie so gesehen, ich war selber… total erschrocken, er sah so… so fertig aus. Verletzt und voller Blut und seine Augen…“

Ran seufzte, wischte sich über die Augen.

„Leer, ratlos. Dunkel. Und das war er doch nie – ratlos, meine ich. Ich meine, wie viele Situationen muss er in den letzten Jahren erfahren haben, gerade in der letzten Woche, die ihm aussichtslos erschienen sind – aber er gab doch nie auf! Genau das scheint er aber jetzt zu tun. Aufgeben. Sich. Uns. Alles.“

Sie räusperte sich.

„Als ich ihm zu beharrlich wurde, hat er mich dann stehen gelassen, mit den Worten, dass er nicht gut für mich wäre.“

Sie strich sich über die Arme, fröstelte, als sie an seine Stimme dachte, an sein Gesicht.

„Die Erkenntnis kommt ihm aber früh.“, grummelte Kogorô.

„Paps!“

Er lächelte, als er die Entrüstung auf ihrem Gesicht sah; dann seufzte er.

„Also schön. Was denkst du, ist los mit ihm?“

„Ich weiß es nicht. Ehrlich – ich kann mir nicht vorstellen, was ihn so niederschmettern könnte. Wenn man bedenkt, was er alles ausgehalten hat, ohne sich davon entmutigen zu lassen, überrascht es mich, dass es überhaupt etwas gibt.“

Sie seufzte, sah ihren Vater fragend an. Er nickte zustimmend.

„Da hast du allerdings Recht.“

Ran sah ihn schräg an. Kogorô schüttelte den Kopf.

„Mausebein, ernsthaft. Ich habe Jahre gebraucht, um mich an ihn zu gewöhnen, und wofür? Damit er jetzt die Biege macht? Nicht ohne Grund, das sag ich dir. Ich will wissen, was los ist.“

In die leichte Verärgerung in seiner Stimme mischte sich eine Spur Sorge. Ran quittierte sie nicht ohne Verwunderung. Er stand auf, warf ihr einen ernsten Blick zu. Dann drehte er sich um.

„Ich geh nochmal aus, warte nicht auf mich.“
 

Ran seufzte, verdrehte die Augen. Sie wusste, es hatte keinen Sinn, ihn zu fragen, wo er hin wollte. Auch keinen, ihn zu bitten, nicht zu ihm zu gehen… denn irgendetwas sagte ihr, dass er genau das tat.

Sie schüttelte unwirsch den Kopf.
 

Bestimmt gehst du zu ihm. Und willst ihm den Kopf waschen.
 

Sie lächelte bitter.

Sicher würde er das; ganz der Löwe, der sein Junges beschützt, würde er nun loseilen und versuchen, ihm den Kopf zurecht zu rücken, ihn, den er doch irgendwie mochte, und dennoch hasste, für das, was er ihr antat.
 

Aber es spielt auch eine Rolle, warum er das tut.

Nur verstehe ich es nicht…

Du warst doch immer hier.

Wie Paps sagte… du wusstest doch, wo dein Zuhause ist…

Wo du zur Ruhe kommst.

Du bist doch immer hier angekommen, wenns dir schlecht ging.
 

Shinichi, warum jetzt nicht?
 


 

Shinichi saß immer noch auf dem Fensterbrett, starrte auf die Welt zu seinen Füßen.

Als er den späten Besucher ankommen sah, schwante ihm Übles. Kogorô Môri stapfte den Weg entlang, seine Gesichtszüge wie aus Stein, seine Bewegungen abgehakt, aber entschlossen. Der schlafende Meisterdetektiv blieb vor dem Gartenzaun stehen, betrachtete die Fassade nachdenklich. Shinichi rutschte vom Fensterbrett, trat in die Finsternis des Zimmers zurück, merkte, wie sein Puls zu rasen anfing.

Er konnte sich denken, warum der Mann hier war. Er hatte schließlich seiner Tochter das Herz gebrochen, gestern. Shinichi schluckte, fühlte, wie in ihm etwas aufriss und zu schmerzen begann, als er daran dachte; an den Blick in ihren Augen, gestern. An ihre Stimme, an die Tränen, an ihre verzweifelten Versuche, ihm zu helfen.
 

Kogorô, geh weiter, ich bitte dich. Du wirst mir noch danken, auch wenn du mich jetzt hasst…
 

Seine stumme Bitte wurde nicht erhört, wenige Minuten später klingelte es an der Tür. Er hörte die Schritte seiner Mutter in der Eingangshalle, hörte das leise Quietschen der Tür, öffnete seine Zimmertür einen Spalt und hielt den Atem an.

Lauschte angespannt, was unten vor sich ging.

„Hallo, Kogorô. Welch‘ eine Überraschung zu solch… unerwarteter Stunde. Wie kann ich dir behilflich sein?“

Shinichi verbeugte sich innerlich vor der Kontenance seiner Mutter; wie diese Frau die Fassung behielt, verdiente höchsten Respekt. Kogorô seinerseits schien sich nun doch unwohl zu fühlen.

„Yukiko…“

Kogorôs Stimme stürzte hörbar ab.

„Entschuldige bitte mein Auftreten zu dieser Uhrzeit, dazu noch unangemeldet. Mein… aufrichtigstes Beileid.“

Er räusperte sich.

„Aber ich muss mit deinem Sohn reden, fürchte ich.“

Yukiko zog die Augenbrauen hoch, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie war blass, das konnte er sehen, ihre Finger zitterten leicht.

„Danke für deine Anteilnahme, Kogorô. Aber ich fürchte, dass du mit meinem Sohn sprichst, heute, ist gänzlich ausgeschlossen.“
 

Shinichi atmete gepresst aus.
 

„Yukiko, du verstehst nicht… es geht um…“

„Ran, das ist mir sehr wohl klar.“

Sie schluckte, schüttelte dann sacht ihren Kopf.

„Und mir ist auch klar, dass du, als ihr Vater, um ihr Wohl besorgt bist. Ich weiß nicht, was gestern vorgefallen ist zwischen den beiden, aber aus dem Verhalten meines Sohns und der Tatsache, dass Ran heute nicht hier war, folgere ich, dass er sie darum gebeten hat, ihn im Moment in Ruhe zu lassen. Sie scheint diesen Wunsch zu respektieren. Warum du nicht?“
 

Kogorô zögerte merklich mit seiner Antwort, und sie nutzte die Gelegenheit, ihren Blick kurz nach oben wandern zu lassen, bemerkte den geöffneten Türspalt.

„Da ich… seine Mutter bin, wird es dich nicht wundern, dass ich um sein Wohl besorgt bin. Und ich denke, aufgrund der gestrigen Ereignisse sollten wir seinen Wunsch akzeptieren, ihn eine Weile allein zu lassen. Wie Ran.“

„Er hat ihr das Herz gebrochen, Yukiko!“

Kogorôs Stimme war harsch geworden.

„Nicht so sehr, wie er seins gebrochen hat, mit seinen eigenen Worten, als er sie bat, zu gehen, verdammt!“

Sie zischte ihn an.

„Denkst du, es geht ihm gut dabei!? Er liebt sie! Dass er es für besser hält, sie von sich fern zu halten, muss einen gewichtigen Grund haben. Ja, deine Tochter mag jetzt traurig sein. Vielleicht auch wütend. Aber glaub mir, das ist kein Vergleich zu dem, was Shinichi fühlt.“

Sie schielte erneut nach oben.

„Ich kann dich verstehen. Allerdings ist momentan mit ihm kaum zu reden, er hat… einfach zu viel Schreckliches gesehen und erlebt. Komm meinetwegen morgen wieder, aber heute wirst du ihn in Ruhe lassen. Guten Abend, Kogorô.“

Er sah sie an, nachdenklich.

„Nein.“

Yukiko starrte ihn ungläubig an.

„Nein?“

„Nein.“

Kogorô schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich bin nicht gekommen um zu gehen, ohne mit ihm geredet zu haben. Und genau das werde ich jetzt tun. Du vergisst, dass dein Bengel die letzten Jahre bei uns gelebt hat, wenn auch unter anderem Namen, und ich denke, ich hab ihn leidlich gut kennengelernt. Und das, was er jetzt veranstaltet, ist nicht typisch für ihn. Ihr so weh zu tun… ist nicht typisch für ihn. Ich will nur wissen, warum er ihr und sich das antut. Mehr nicht.“
 

Die blonde Schauspielerin sah ihn lange an. Erst jetzt wurde ihr langsam gewahr, dass vor ihr ein Mann stand, der in den letzten Jahren deutlich mehr Kontakt zu ihrem Kind gehabt hatte, ihren Sohn mindestens genauso gut kannte, wie sie selbst. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, blickte ihm ins Gesicht, sah seine Augen, die ihren Blick erwiderten, stur.
 

„Mach es kurz, und treib es nicht zu weit. Erster Stock, dritte Tür links.“

Sie schluckte, dann ging sie in die Küche. Kogorô nickte ihr dankbar zu.

Shinichi sank gegen die Tür, die sich durch sein Gewicht sanft schloss, vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Hörte Schritte, die sich näherten und seufzte.

Sekunden später klopfte es, und obwohl er darauf gewartet hatte, erschrak er sich. Er atmete durch, stieß sich von der Tür ab, griff nach der Klinke und zog sie auf. Kogorô trat wortlos ein; und ebenso stumm gab er dem Lichtschalter einen Klaps, machte aus dem Schatten, der vor ihm stand, eine Person.

Shinichi musterte ihn, fühlte sich seinerseits seltsam ausgeliefert, was an der plötzlichen Helligkeit liegen mochte. Er drehte sich um, lehnte sich gegen die Fensterbank, beobachtete ihn abwartend, während Kogorô sich im Zimmer umsah; Tatsache war, er sah nichts. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber außer den Dingen, die er erwartet hatte, war hier rein gar nichts persönlich.

Nichts, außer ein Bild auf dem Schreibtisch.

Das gleiche Foto stand auch bei Ran.

Er griff danach, merkte, wie nun zum ersten Mal Bewegung in Shinichi kam.

„Stellen Sie es wieder hin.“

„Mhm?“

Kogorô wandte sich ihm zu, das Bild in der Hand, zog die Augenbrauen fragend hoch. Dann drehte er den Rahmen um, bemerkte die Eintrittskarte, lächelte bitter.
 

Conans Geburtstag… und euer erstes echtes Date. Du hast die Eintrittskarte doch nur deswegen aufgehoben.
 

Er spürte, wie etwas am Rahmen zog, ließ das Bild los, und sah Shinichi zu, der es wortlos wieder auf dem Schreibtisch platzierte – allerdings diesmal mit der Bildseite flach nach unten. Der Detektiv bemerkte es, zog unwillig die Augenbrauen zusammen, ehe seine Stimme ihn aus seinen Gedanken riss.

„Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Môri? Ich muss gestehen, ich bin etwas überrascht, ich kann mich nicht erinnern, dass Sie mich jemals zuhause…“

„Du weißt genau, worum es geht, Shinichi.“
 

Kogorô ließ sich nicht auf das Spielchen ein, unterbrach ihn mit ruhiger Stimme.

„Sie hat heute den ganzen Tag geweint.“

Er ließ den Satz wirken. Der Oberschüler wandte den Blick ab, kaute auf seiner Unterlippe.

„Das dachte ich mir.“, murmelte er schließlich tonlos.

„Aber warum sagen Sie mir das…? Sie sind doch nicht extra gekommen, um mir das vorzuwerfen? Was…“

„Nein, ich bin nicht hier, um dir deshalb einen Vorwurf zu machen.“

Shinichi blickte auf, verständnislos.

„Warum dann?“

„Weil ich mich wundere… ihr kennt euch seit Jahren, und wer weiß wie lange ihr euch liebt. Ihr beide wart immer zusammen, wie Pech und Schwefel, schon als Kinder. Immer wenn es einem von euch beiden schlecht ging, dann kam er zum anderen. Ran kam immer zu dir, wenn sie etwas belastete. Immer. Selbst als du Conan warst, ein kleiner Junge, wohlgemerkt, ging sie mit ihren Sorgen eher zu dir, als dass sie sich an mich oder ihre Mutter wandte. Und du… bestes Beispiel: die Nacht vor zwei Tagen. Vielleicht war es dir nicht bewusst was dich führte, aber du wusstest, wo du Ruhe fandest. Bei ihr. Immer schon.“

Er bemerkte zufrieden, wie sich der Oberschüler ertappt abwandte.

„Als du an diesem Morgen unsere Wohnung verlassen hast, wusstest du bereits, dass dein Vater der Boss war. Du wusstest, worauf du dich einlässt, wenn du versuchst, diese Organisation zu zerstören. Du wusstest das alles, aber du warst entschlossen, ruhig, abgeklärt. Gut, du hast nun deinen Vater verloren, unter tragischen Umständen. Du hast Grauenhaftes gesehen und erlebt. Aber all das…“

„Würde eher darauf hindeuten, dass ich bei ihr um Hilfe suche, ist es das, was Sie sagen wollen?“
 

Shinichi unterbrach ihn hitzig; wunderte sich selbst, woher die Erregung in seiner Stimme kam. Ärgerlich funkelte er Kogorô an, der abwartend, mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen vor ihm stand – die Ruhe selbst.

„Das haben Sie sehr schön alles rekonstruiert. Nun, sind Sie in Ihren Analysen denn nie darauf gekommen, dass ich ihr das alles einfach nicht mehr zumuten will? Mein kaputtes Leben, meine Dramen, meine Katastrophen, meine Gefahren,… mich!“
 

Kogorô sah auf, nickte. Ihm fiel auf, wie blass der Junge war; wie fahrig seine Bewegungen. Er sah den Verband an der Hand, bemerkte die Blessuren in seinem Gesicht, und er sah dieses Dunkel in seinen Augen, als er aufblickte. Ein Schauer rann ihm den Rücken hinab, und es fröstelte ihn, unwillkürlich.
 

Wer weiß, vielleicht ist es wirklich besser, du hältst dich fern von ihr…

Andererseits…
 

Die Worte des jungen Mannes vor ihm rissen ihn aus seinen Gedanken. Kogorô fuhr hoch, bemerkte den ernsten Blick seines Gegenübers auf sich ruhen, hörte seine Stimme. Sie klang eindringlich und gequält gleichermaßen.
 

„Sie sieht so wunderschön aus, wenn sie lächelt… aber wie oft bin ich der Grund dafür? Ich will, dass sie lächelt, dass sie glücklich ist. In Sicherheit. Unbeschwert. Vielleicht will ich sie einfach nicht mehr damit belasten, mit mir und meinen Dämonen. Das hat sie doch nicht verdient, das ist alles nicht ihre Sache, das…“

„Das hat dich bisher auch nicht groß gekümmert. Du hast von ihr alle Gefahren ferngehalten, so gut es ging, aber dein sicherer Hafen war sie trotzdem. Jetzt stößt du sie von dir, in dem Moment, in dem du sie am dringendsten brauchst. Sei ehrlich!“

Kogorô brauste auf, als er sein Kopfschütteln bemerkte.

„Verdammt, sei wenigstens Manns genug, um das zuzugeben! Du brauchst sie! Jetzt.“

Shinichi zuckte zusammen, drehte sich um.

„Was geht es Sie eigentlich an?! Es ist mein Leben, Sie sollten mir dankbar sein, dass ich Ihre Tochter da nicht weiter…“

„Verdammt, sie ist doch schon mitten drin!“

Shinichi wandte sich wieder um, sah dem erzürnten Kogorô Môri ins Gesicht. Er atmete schwer, sah, dass auch Môri sichtlich in Rage geraten war; sein Kopf war rot, seine Augen zusammengekniffen, seine Haltung verspannt. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn der Mann ihm eine Ohrfeige gegeben hätte.

„Glaub mir nur, ich würde mir wünschen, dass es so einfach ist. Dass du sie aus deinem Leben streichen kannst, sie das akzeptiert und glücklich wird. Tatsache ist, sie ist in deinem Leben, sie wird sich nicht rausstreichen lassen, und glücklich wird sie nur mit dir. Erst wenn du wieder glücklich bist, wird sie auch lächeln.“

Kogorô schluckte, räusperte sich, fuhr sich durch den Bart, immer wieder.

„Und wenn das dein Ziel ist, dann weißt du nun, was du zu tun hast.“

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht, ob…“

Shinichi biss sich auf die Lippen, erneut und fester, wandte den Kopf ab. Kogorô fuhr ungerührt fort.

„Sie wird sich fragen, so lange, bis du es ihr sagst, was es ist, dass dich so verändert hat. Ran wird dir helfen wollen, egal ob sie es kann oder nicht, sie wird es versuchen, bis sie daran zugrunde geht. Weil sie so ist. Weil sie dich liebt. Verstehst du denn nicht? Auf ihre Weise ist sie bereit das Gleiche für dich zu geben wie du für sie. Du weißt, wo das enden kann. Du. Weißt. Es. Verdammt nochmal, willst du das?“
 

Shinichi starrte ihn an. Kogorô konnte sehen, dass er verstand, was er ihm sagen wollte; dass seine Botschaft angekommen war.
 

„Nein.“

Rans Vater trat näher, langsam.

„Ich fürchte, ich habe dich nicht verstanden.“

Shinichi sah auf, fand sich dem immer noch von Zorn gezeichnetem Gesicht Kogorôs gegenüber.

„Nein, das will ich nicht. Das wissen Sie. Ich dachte, wenn ich…“

Kogorô wandte sich ab.

„Herrgott nochmal, hör endlich das Denken auf.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust, schaute kurz nachdenklich zu Boden, ehe er dem Oberschüler wieder seine Aufmerksamkeit schenkte.

„Du denkst eindeutig zu viel. Nimm es hin – du bist der, den sie sich ausgesucht hat. Selbst wenn du sie nicht mehr willst, was, seien wir ehrlich, auch nicht so wirklich der Wahrheit entspricht, wird sich daran nichts ändern. Sie wird nicht gehen, nur weil du es willst. Nicht, solange sie einen eigenen Willen hat, und dass sie den hat, weißt du. Du wirst es ihr sagen müssen, was du erlebt hast, und abwarten müssen, wie sie reagiert.“

Seine Stimme war ruhiger geworden mit den letzten Worten. Seine Augen ruhten abwartend auf dem Oberschüler, der vor ihm stand, ans Fenster gelehnt, als ob er allein nicht stehen könnte und den Boden zu seinen Füßen studierte, als könne er aus dem Teppich die Antworten für seine Fragen herauslesen.
 

„Es geht nicht darum, was ich gesehen habe. Was ich erlebt habe.“

Shinichi schluckte hart.

„Das alles ist schlimm genug und würde reichen, um aus einem Menschen ein seelisches Wrack zu machen. Aber das ist es nicht, warum ich mich Ran nicht mehr… zumuten will.“

Er lächelte schief, betrachtete seine Hände, rieb sich die Finger, rubbelte an ihnen, als ob ihm kalt wäre. Kogorô sah ihn fragend an.

„Was ist es dann?“

Shinichi biss sich auf die Lippen, schüttelte den Kopf. Lange sagte er nichts, rang sichtlich mit sich. Kogorô beobachtete ihn stumm, sah den inneren Kampf den er ausfocht, und fragte sich insgeheim einmal mehr, mit wem... oder mit was.

Fragte sich, was es war, das ihn noch so belastete, jetzt, da doch alles vorbei war.
 

Schließlich sprach Shinichi, jedoch ohne den Mann vor ihm anszusehen. Seine Stimme klang leise, zögernd, körperlos.
 

„Entscheidungen, die ich getroffen habe, Herr Môri. Dinge, die ich getan habe. Und mehr… will ich eigentlich nicht sagen.“
 

Er versuchte zu schlucken, merkte, wie trocken sein Hals geworden war, räusperte sich unwirsch. Rans Vater sah ihn lange an, beobachtete ihn genau. Registrierte die fahrigen Gesten, diese scheinbaren Übersprunghandlungen. Bemerkte dieses zweifelnde Flackern in seinen dunklen Augen, bemerkte auch dieses Gefühl an ihm, sich selbst in seiner Haut nicht mehr wohl zu fühlen. Er räusperte sich geräuschvoll, schreckte den Oberschüler damit auf, und wunderte sich erneut.
 

Nein, in einem hast du wirklich Recht. Du bist nicht mehr du, was auch immer passiert ist, Shinichi.

Wir werden sehen, ob es eine Rückkehr gibt, für dich.

Nur eins dürfte sicher sein – allein findest du den Weg nicht.
 

„Gut, du musst es mir nicht sagen. Ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, wie es um sie steht.“

Er suchte nach Worten, fuchtelte unsicher in der Luft herum.

„Denk darüber nach, was ich dir gesagt habe. Lass sie selbst entscheiden, ob sie dich ertragen will oder nicht.“
 

Damit ging er, grüßte Yukiko wortlos, als er ihr auf der Treppe entgegenkam. Shinichi schluckte hart, beobachtete Kogorô, wie er das Grundstück verließ, seufzte tief. Er fühlte sich irritiert, wusste nicht so recht, was er von Kogorô nun halten sollte; einerseits tat es gut zu wissen, dass er bei den Môris willkommen war, andererseits hatte er ja nicht vor, noch einmal von ihrer Gastfreundschaft Gebrauch zu machen.
 

Du hast sicher Recht, Kogorô… aber was ich getan habe…

Was ich getan habe…
 

Der Geruch des Parfums seiner Mutter riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah auf und sah ihre Reflexion neben seinem Spiegelbild in der Fensterscheibe, seufzte.
 

„Er hat Recht, weißt du. Es wird dich zerreißen, das tut es bereits, du spürst es. In tausend kleine Stücke, wenn du es ihr nicht sagst. Du liebst sie. Shinichi.“

Shinichi wandte sich ab, schüttelte den Kopf.

„Wie kann ich ihr in die Augen sehen, und ihr sagen, dass…“
 

Sie seufzte, griff nach seinen Händen, hielt ihn fest.
 

„Ich wage zu behaupten, du liebst sie mehr, als dein Vater mich liebte, und du weißt, was er getan hat, um mich zu schützen. So weit wie du ging er jedoch nie.“

Sie biss sich auf die Lippen, wandte kurz den Kopf ab, dachte nach, suchte nach den richtigen Worten.

„Du musst es ihr sagen. Schon allein, damit sie ihre Entscheidung begründet treffen kann. So fair musst du sein.“

Damit ließ sie ihn stehen und ging fast lautlos die Treppe wieder hinunter.
 


 

Als ihr Vater wieder nach Hause kam, hatte sie fertig abgespült, diesmal mit handwarmem Wasser. Sie hatte auch abgetrocknet, und sie hatte seither nicht mehr geweint; zu beschäftigt war sie mit ihren Gedanken. Sie hatte sich eine Tasse Kakao gekocht und ins Wohnzimmer auf das Sofa verzogen, sich in eine Decke gekuschelt und gegrübelt.
 

So fand sie ihr Vater, der sich ihr gegenüber schweigend in einen Sessel sinken ließ. Lange sagte er nichts, schaute stumm seine Hände an, die in seinem Schoß lagen, ließ seine Daumen umeinander kreisen.

Schließlich brach sie die Stille.
 

„Wie geht es ihm?“

Kogorô sah auf, fand die Augen seiner Tochter auf sich gerichtet, lächelte kurz. Er liebte sie über alles, aber dass er sogar einmal ihretwegen einem Kerl den Kopf zurechtrücken würde, weil er sie verlassen hatte, hätte er nie gedacht. Eigentlich sollte er erfreut sein, schließlich ertrug er den Gedanken, sie an einen anderen zu verlieren, kaum. Sie war seine Prinzessin, sein Mausebein; es erschien ihm immer noch rätselhaft, warum sie sich als kleines Mädchen entschieden hatte, bei ihm zu bleiben, und nicht mit ihrer Mutter zu gehen.
 

Kleine Mädchen gehen doch zu ihren Mamas…
 

Stattdessen war sie hier. Kümmerte sich um ihn, tadelte ihn, war ihm die beste Tochter, die er sich wünschen konnte. Und genau deshalb fiel es ihm so schwer, sie gehen zu sehen, wusste er doch, der Moment rückte näher.

Und dennoch war er heute bei ihm gewesen, weil ihn die Sorge antrieb.
 

Weil er irgendwie zu einem Sohn geworden ist, für dich. Er gehört zu ihr, und damit auch zu dir.
 

„Er sagt, es wäre, weil er nicht ertragen könnte, was er getan hat.“

Ran seufzte, nickte leise.

„Ja, so in etwa drückte er sich auch aus, gestern.“

Kogorô sah sie erstaunt an.

„Denk nach, Ran. Was hat er genau gesagt?“

Sie zog die Augenbrauen zusammen, dachte angestrengt nach, schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht, es fielen so viele Worte gestern, und irgendwie sagte er doch immer das Gleiche, ich…“

„Denk nach!“

Ran sah ihn erschrocken an.

„Glaubst du er hat…“

„Dir gesagt, was es ist? Nicht wörtlich. Aber vielleicht umschrieben, verpackt in etwas anderes…“
 

Sie schluckte, stellte ihre Tasse beiseite, massierte ihre Schläfen. Versuchte, den gestrigen Abend in ihrem Kopf noch einmal Revue passieren zu lassen, wie einen Film, den man zurückspulte.

Bitte, glaub mir, ich musste heute Dinge über mich erfahren, die ich lieber nie erfahren hätte…“ , murmelte sie leise.

"Das hat er gesagt..."

„Ja, das wissen wir…“

Kogorô beugte sich angespannt vor.

"Erinnere dich. Was hat er noch gesagt?!"
 

Ran sah ihn an; dann lehnte sie sich zurück, schloss kurz die Augen, atmete ruhig ein und aus. Sah ihn vor sich in der dämmrigen Eingangshalle, roch den Pulverstaub des Schusses, roch das Blut, das an ihm trocknete, roch die Angst.

Sah seine Augen, unstet, dunkel und leer, gezeichnet von Schmerz und Horror.
 

Sah dieses Gesicht, so blass, verzweifelt, voller Furcht.
 

"Und mir ist… klar geworden, dass ich nicht der Richtige bin für dich. Mit jemandem wie mir sollte so jemand wie du dich nicht abgeben. Ich will…“

„Was meinst du damit, jemand wie du…?“
 

Sie konnte ihn fast hören. Kogorô sah sie angespannt an, beobachtete, wie ihre Augen hin und her huschten, als würde sie vor ihrem inneren Auge ihr Gespräch nachlesen. Sie hingegen schwieg weiter, rief sich ihre Worte ins Gedächtnis, was schwierig genug war.
 

„…Ich lass nicht zu, dass du dich gehen lässt. Dass du dich diesen falschen Vorstellungen von dir selber hingibst. Du bist kein Mörder. Merk dir das, Shinichi Kudô.“

Die Selbstbeherrschung fiel ihm langsam aus dem Gesicht - sie konnte richtiggehend zusehen, wie diese Fassade langsam abbröckelte.
 

Kraftlos sank sie in die Kissen, als sich in ihr eine Ahnung manifestierte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell, sie merkte, wie bleierne Schwere ihre Glieder ergriff, eine nicht greifbare, körperlose Kälte sich ihrer bemächtigte, als sie sich an seine Antwort erinnerte. Seine Stimme klang in seinem Ohr, voll Furcht, voll Ekel und Abscheu vor sich selbst, voll Verzweiflung – und noch mehr Furcht.
 

„Das kannst du nicht wissen.“
 

In Rans Kopf überschlugen sich die Gedanken.
 

Shinichi…?
 

Sie zitterte, kurz, als sie sich der möglichen Tragweite dieser Worte bewusst wurde. Sie hatte ihnen kaum Bedeutung beigemessen, angesichts seines verheerenden Aussehens, aber jetzt – jetzt saß sie da, und diese fünf Worte erschlugen sie fast, lähmten sie, seelisch und körperlich.
 

Das kannst du nicht wissen.
 

„Ran?“

Kogorô sah seine Tochter beunruhigt an. Ran sah ihn an, kurz, zwang sich ein entschuldigendes Lächeln auf die Lippen.

„Es tut mir Leid, ich kann mich nicht genau daran erinnern.“

Sie schluckte.
 

„Gute Nacht, Paps.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von: abgemeldet
2013-01-27T14:25:46+00:00 27.01.2013 15:25
Gottchen...
Beim Titel war ich schon wahnsinnig verwirrt. Bevor ich überhaupt zu lesen angefangen hatte, dachte ich mir, wieso 'einem'? Ich dachte, vielleicht kommt jetzt ein Brief von Yusaku... oder so. Und die Idee sprach mich absolut nicht an. Dann begann ich endlich, dieses Kapitel zu lesen und dachte mir... Ja... du hast den Platz als beste Autorin verdient... Müsste nur mal auch endlich offiziell bestätigt werden ;D
Also... ein sehr emotionales Kapitel. Die beiden zusammen zu sehen, wie du sie zusammen führst, wahnsinnig bewegend und unglaublich gut gelungen. Ich liebe diesen Stil einfach... du lässt dir für alles Zeit, es hetzt nicht und man hat das Gefühl, dass alles so verläuft, wie es soll.
Toll.
Ich bin begeistert.
Aber ganz ehrlich... das ist mittlerweile Standard bei dir. Du bist gut, sogar mehr als das und das ist eine schlichte Tatsache...
Naja, das lasse ich mal so im Raum stehen und wünsche dir einen schönen Sonntag
Liebe Grüße
M.B.
Von:  Misses_SI
2013-01-24T15:03:10+00:00 24.01.2013 16:03
Dein Schreibstil macht süchtig - das ist wirklich unglaublich wie du die Geschehnisse schildern kannst. Ich hoffe, du hörst nie auf zu schreiben, denn deine Art mit Worten umzugehen ist unfassbar.

Freu mich auch schon besonders auf das nächste Kapitel. Hab das Gefühl, uns erwartete eine Konfrontation. ;) Kogoro hat in diesem Kapiel wieder einmal bewiesen, dass er im Grunde ein wirklich guter Vater ist und Shinichi zu überzeugen ist weiß Gott nicht einfach. *gg*
Von:  Black_Taipan
2013-01-22T22:22:53+00:00 22.01.2013 23:22
Salü,
die Szene zwischen Ran und ihrem Vater fand ich sehr schön. Auch wenn Kogoro häufig übertrieben reagiert oder die Lage nicht richtig einschätzen kann, so hat er hier, bei persönlichem Bezug, mal wieder völlig richtig gehandelt. Und natürlich auch der späte Besuch in der Villa Kudo gehört dazu.
Ich denke nur gerade darüber nach - wir und die Protagonisten wissen zwar alle, dass die Ran und Shinichi sich lieben und er einfach selbstzerstörerisch agiert. Gleichzeitig finde ich den Satz, dass Ran auch noch zu entscheiden hat, ob sie nun zusammen sind oder nicht, etwas heikel. Klar, in der Situation hier passt es eigentlich schon und später kam dann noch der Satz, dass Ran entscheiden muss, ob sie das ertragen will oder nicht. Aber grundsätzlich braucht es meiner Meinung nach schon beide, nicht?
Übrigens freu ich mich darüber, dass die Technikprobleme im Hause Toyama-Hattori endlich beigelegt sind. Endlich haben es die beiden geschafft. :)
Und nun wird wohl Ran einiges zu verdauen haben. Ich weiss nicht, ob sie direkt zu Shinichi rennt - andererseits: vielleicht am besten mit ihm darüber reden?
Wir werden sehen. :)
lg
taipan
Von: abgemeldet
2013-01-20T19:41:41+00:00 20.01.2013 20:41
Man kann über Kogoro sagen was man will, aber als Vater hat er sich in dieser Lage sozusagen Lobeeren verdient!
Ich bin gespannt, wie es zwischen Ran und Shinichi weitergeht...ich traue es Ran durchaus zu, dass sie - späte Stunde oder nicht - als Nächste bei ihrem Detektiv vor der Tür stehen wird.
Shinichis noble Ansichten in allen Ehren, aber in diesem Fall sollte er doch auf den Rat Kogoros und seiner Mutter hören (auch wenn es fast schon wie ein Befehl klang...).
Von:  Kati
2013-01-20T13:20:14+00:00 20.01.2013 14:20
Das wird noch spannend ;)
Kogoro is ja schon ein cooler Vater. Aber warum Ran zu ihm gegangen ist und nicht zu ihrer Mutter... Darüber hab ich nie nachgedacht..
Naja, hoffentlich wird das jetzt bald was mit Angel^^ Freu mich schon drauf.
Bis dann!


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