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Amnesia

Wer ist man noch, wenn man sich selbst vergisst?
von

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Kapitel 37: Me, myself and I

Meine Lieben…
 

Bald ist es soweit, und auch diese Geschichte hat ein Ende. Ich tippe auf zwei bis drei Kapitel, die diesem noch folgen – dann ist Schicht im Schacht.

Dieses Teilchen hier hat lange gegoren- ich hoffe, es gefällt euch. Und vergesst nicht, Leute – eure Meinung dazu interessiert mich nach wie vor.
 

Liebe Grüße,

eure Leira

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Kapitel 37: Me, Myself and I
 

Shinichi seufzte, lehnte kurz mit der Stirn gegen die Tür. Unwirsch klopfte er auf den Lichtschalter, tauchte das Zimmer endlich wieder in beruhigendes Dämmerlicht.
 

Die blaue Stunde.
 

Er ließ seinen Blick nach draußen schweifen, sah, dass die Sonne schon fast untergegangen war, doch die Sterne zeigten sich noch nicht auf dem Firmament. Es würde auch noch ein wenig dauern, bis es dunkel genug war, dass sich die ersten gegen die Helligkeit dieser lebendigen, vor Licht nur geradezu pulsierenden Stadt Tokio durchsetzen konnten.

Nur die hellsten würde man sehen.
 

Alle anderen verschluckt von den Lichtern der Reklameschilder, der Straßenbeleuchtung, der Häuser… und dem Licht des Monds. Nur die Hellsten wird man sehen…
 

Unwillig zuckte er mit den Achseln, atmete aus, tief. Sein Kopf dröhnte ein wenig, Schmerz pulsierte dumpf hinter seinen Schläfen, machte ihm das Denken noch schwerer, als es ihm ohnehin fiel, in diesen Tagen – dennoch hatte er die vage Ahnung, dass es so nicht weitergehen konnte. So wie er die letzten beiden Tage hatte verstreichen lassen, konnte er es nicht sein ganzes Leben lang praktizieren; und Shiho hatte insofern Recht gehabt, als sie sagte, dass er seins noch besäße.

Sein Leben.

Ein sehr teuer erkauftes Stück Lebenszeit, dass er da sein Eigen nannte, und über das er zu verfügen hatte. Das er nutzen musste.
 

Und das möglichst sinnvoll, Kudô.
 

Aber was war schon sinnvoll in dieser Zeit, in der alles so sinnlos schien?
 

Er stöhnte auf, zerstrubbelte sich dann mit beiden Händen so fest seine ohnehin schon kaum gebändigten Haare, als hoffe er, damit den Gedanken in seinem Kopf, die sich seit zwei Tagen so träge bewegten, dass man fast meinen könne, sie schwämmen durch Gelee, endlich wieder zu mehr Schwung, Dynamik und vielleicht einem Richtungswechsel zu verhelfen.

Genauso abrupt, wie er angefangen hatte, hörte er auf damit, atmete aus, laut. Ruckartig wandte er sich um, einer inneren Eingebung folgend, öffnete die Tür und verließ sein Zimmer, stieg die Treppe hinunter wie ein Schlafwandler. Er durchquerte die Eingangshalle, bemerkte das Licht in der Küche, aber ging nicht hinein; sein Weg führte ihn geradeaus weiter, ins Wohnzimmer. Auch hier blieb er nicht stehen, durchquerte sicheren Schrittes in völliger Finsternis den Raum, ohne mit den Möbeln zusammenzustoßen und stieß die Tür zur Bibliothek auf.
 

Unsicher blieb er stehen, schluckte, merkte, wie ein Schauer über seinen Rücken rann.

Das Zimmer roch danach. Nach seiner Arbeit, seinen Büchern, seiner Tinte, nach dem Holz seines Schreibtischs.

Nach ihm.

Shinichi schloss die Tür, lehnte sich gegen das harte Holz, merkte, wie ihm schier die Luft wegblieb, als er ihn sitzen sah.

Und doch wusste, dass er da nicht sitzen konnte.

Dass es einfach unmöglich war, dass er da war.

Sein Vater.
 

Er rang nach Atem, schnappte nach Luft, verzweifelt, als die Schuld ihn zu erdrücken schien, über ihn hereinbrach und sich so schwer machte in seiner Brust, dass er fast glauben mochte, nie wieder einatmen zu können. Fest kniff er die Augen zusammen, versuchte, wieder Herr über seine Gedanken zu werden, und verlor den Kampf dennoch.
 

Langsam durchschritt Shinichi den Raum, kam sich vor, als würde er durch einen Sumpf waten, ging zum Schreibtisch und ließ sich in den Sessel sinken. Sein Oberkörper sank auf den Schreibtisch, und er vergrub seinen Kopf in seinen Armen.

Er spürte das Holz unter seinen Fingern, roch den Duft der Lederunterlage und verfluchte sich und dieses Leben.
 

Dich hab ich auch auf dem Gewissen…

Aber verdammt, wie hätte… wie hätte das anders enden können?
 

Dennoch fühle ich mich so schuldig…

So entsetzlich schuldig.

Was hab ich getan?

Was hab ich nur getan, als ich in dieses Wespennest stach…

Ich ahnte doch nicht…
 

Verdammt, ich hatte keine Ahnung…
 

Was mach ich nun?
 

Du sagtest, du verzeihst mir und wärst stolz auf mich, aber stimmt das?

Ich hab dich umgebracht.

Hast du das geahnt? Dass ich es sein würde, der dir dein Verderben bringt…?
 

Und was denke ich hier eigentlich… du hörst mich ohnehin nicht…
 

Shinichi seufzte, blickte auf, müde, ließ seinen Blick durch den Raum gleiten.
 

Was mach ich hier bloß.
 

Er streckte die Hand aus, tastete neben sich auf der Schreibtischplatte, fand schließlich, was er suchte; den Schalter der Schreibtischlampe. Shinichi knipste sie an, blinzelte, regelte dann die Lichtstärke runter, bis der sanfte Lichtschein kaum mehr über die Tischplatte reichte, den Rest des Raumes in völliger Dunkelheit beließ. Er biss sich auf die Lippen, starrte in die Finsternis vor sich. Dann setzte er sich auf, ließ sich zurück sinken, seine Hände auf den Armlehnen ruhen, spürte das abgegriffene Holz unter seinen Fingern und versuchte, zu atmen.

Wenn schon nichts anderes möglich war, dann wenigstens das. Atmen.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass er niemals in diesem Stuhl gesessen hatte, und der Gedanke erschreckte ihn so sehr, dass er fast aufgesprungen wäre; er ließ es. Stattdessen betrachtete er die Dinge, die sein Vater zum Arbeiten gebraucht hatte. Es war nicht viel; die abgenutzte Lederschreibunterlage, ein paar Blätter liniertes Papier, ein Diktiergerät, ein Notizblock und in einem Becher stand ein Sammelsurium von Füllern und Federhaltern, darunter auch der Lieblingsfüller seines Vaters. Ein Laptop, der aber nur selten zum Einsatz kam; er wusste, sein Vater hatte immer mit der Hand geschrieben, eine seltsame Angewohnheit im digitalen Zeitalter.
 

Papier lügt nicht, Shinichi. Es vergisst nichts, es löscht sich nicht von alleine und es gibt untrügerisch nicht nur den Inhalt dessen wieder, was der Autor verfasst hat, sondern gibt auch Aufschluss über seinen Zustand, über seine emotionale Anteilnahme an dem, was er schreibt.
 

Er seufzte, stützte seinen Kopf auf eine Hand, griff mit der anderen nach einem Füllfederhalter, betrachtete ihn eingehend.
 

Hast du einmal ein Buch mit der Hand geschrieben, dann weißt du, was du vollbracht hast.
 

Shinichi seufzte, legte den Federhalter vor sich auf den Tisch. Unwillig griff er nach einem weißen Blatt vom Stapel, legte es vor sich und starrte es an.
 

Ich bin kein Autor, Vater.
 

Er schüttelte den Kopf, betrachtete weiter das weiße Blatt, als stünden darauf die Antworten auf die vielen, vielen Fragen, die in völliger Unordnung kreuz und quer in seinem Kopf übereinander lagen.
 

Fangen wir von vorne an.

Du bist mein Vater, und ich bin dein Sohn. Wenigstens das entsprach der Wahrheit.
 

Ein bitteres Lächeln schlich über seine Lippen.
 

Nun ist es aber so… du bist der Boss einer kriminellen Organisation gewesen, und ich… bin wohl einer der Menschen, die am vehementesten gegen diese Organisation gekämpft hat.

Nun, Vater.

Eigentlich sollte uns das zu zwei grundverschiedenen Menschen machen. Stattdessen sitze ich hier und habe schreckliche Angst, dir so viel ähnlicher zu sein, als ich glaubte – und es je sein wollte.
 

Shinichi seufzte, schraubte den Federhalter auf, setzte ihn aufs Papier, bewegte die Feder allerdings nicht über das Blatt. Er sah der Tinte dabei zu, wie sie langsam in die Fasern kroch, sich das Papier mit schwarzer Tusche vollsog.
 

Du sagtest, du wärst ihnen fast so begegnet, wie ich. Durch Zufall auf sie aufmerksam geworden, neugierig geworden… hast du sie verfolgt. Und sie haben dich beobachtet, mit dir gespielt, wie du wohl mit mir. Jeden deiner Schritte verfolgt, vorhergesehen – ach was rede ich – geplant.
 

Und als sie die Zeit für reif erachteten, haben sie es dir gezeigt.

Wie klein du bist.

Wie wenig eine Gefahr für sie.
 

Aber nicht nur das… sie haben dir gezeigt, was aus dir Großes werden könnte… und wie furchtbar dein Leben sein könnte, wenn du dich nicht beugst.

Bis hierher kann ich alles verstehen. Genauso ging es mir doch auch…

Ich war für dich doch auch mehr als kontrollierbar, jeder meiner Schritte vorhersehbar, zu keiner Zeit war ich eine Gefahr für dich, für sie…

Bis…
 

Tja. Bis dieser Tag kam…

Du hättest es wohl ewig so weiterlaufen lassen, wie?
 

Shinichi beobachtete den Klecks, der durch die Fasern blutete, hob die Feder hoch, setzte sie erneut ab. Und noch einmal. Immer weiter, in langsamem, aber regelmäßigem Takt hob und senkte er die Spitze, begleitet vom leisesten aller Klopfgeräusche, als er das Papier mit dunklen Punkten übersäte.
 

Für jeden Punkt einen neuen Gedanken.
 

Beaujolais hat dich in Zugzwang gebracht, du musstest handeln. Aber warum hast du mich nicht Conan bleiben, und mich einfach wieder irgendwo aussetzen lassen?

Ich wusste doch nichts… ich hatte doch keine Ahnung, wie ich ins Hauptquartier gekommen war.

Hast du etwas mitgekriegt?

Hast du das mitgekriegt, wie es lief, zwischen… Ran und mir? Hast du es gesehen, wie ich lebte, die letzten Wochen…?
 

Hattest du Mitleid, und dachtest, du kriegst mich irgendwie raus, nachdem man mir das Gegengift gegeben hatte?

Bitte, so naiv kannst nicht mal du gewesen sein, Vater.
 

Shinichi hielt inne. Seine Augen weiteten sich langsam, als die Erkenntnis ihn traf.
 

Wolltest du es etwa?
 

Er schüttelte den Kopf, immer wieder.
 

„Nein.“, flüsterte er leise. Nur ein einziges Wort, kaum hörbar, sofort verschluckt von der Dunkelheit. Entsetzen packte ihn mit kalten Krallen.
 

„Nein!“
 

Er schüttelte den Kopf, immer wieder. Das passte doch gar nicht. Das… konnte nicht sein. So wie er sich benommen hatte, so unentschlossen, so zögernd…
 

Hatte er am Ende nur gewartet, bis auch er soweit war?
 

Shinichi stand auf, so heftig, dass der Stuhl nach hinten rollte. Er schwankte, hielt sich den Kopf, starrte auf die Tischplatte, auf das von Punkten übersäte Blatt, ließ den Füller fallen. Hörte, wie er auf dem Parkett aufschlug und davonkullerte, und wusste, irgendwo trocknete jetzt ein Tintenfleck ein.
 

Seine Augen glitten suchend über die Tischplatte, dann an ihr entlang nach unten. Seine Hand schnellte vor, griff nach der ersten Schublade, zog sie auf, durchwühlte den Inhalt, fand nicht, was er suchte. Er ging in die Knie, machte mit der zweiten Schublade weiter. Wahllos zog er Blätter und Manuskripte heraus, Korrespondenz mit dem Verlag, bis er zur letzten Schublade kam; sie war abgeschlossen. Er ließ sich rücklings auf dem Boden sinken, stützte sich mit den Händen ab, griff in etwas Nasses, und wusste, dass jetzt Tinte an seiner Handfläche klebte. Er tastete etwas weiter, bekam den Federhalter zu fassen und stand wieder auf.

Hier fand er nicht, was er suchte, und das hätte er wissen müssen.

Er hievte sich wieder in den Sessel, starrte auf die Lederschreibunterlage. Er griff danach, zog sie zur Seite, ließ sie achtlos auf den Boden gleiten; darunter war nichts. Gerade, als er sich erschöpft nach hinten sinken lassen wollte, und sich dem Gedanken hingeben, dass es doch nur ein Hirngespinst war, das ihn ritt, fielen sie ihm auf.
 

Rillen in der Tischplatte.

Fein, kaum zu sehen, und nur auf einer Fläche von einem DIN A5 Format ausgebreitet. Shinichi keuchte, beugte sich nach vorn, tastete mit seinen Fingern angestrengt darüber, drehte dann die Lampe heller. Mit zitternden Fingern griff er nach einem weiteren weißen Blatt und einem Bleistift. Er legte das Blatt auf die Stelle, fing an, die Holzplatte abzufrottieren, sah, wie langsam weiße Schriftzeichen entstanden, dort, wo die Rillen in das Holz eingegraben waren.
 

Die Nachricht war nicht lang, die dort geschrieben stand.
 

Du warst mir nie einen Schritt voraus.

Es kam, wie es kommen musste; und wie es kommen sollte.

BdN, Bd 1, 105
 

Shinichi starrte auf die zwei Zeilen auf dem Papier, schüttelte den Kopf, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
 

Was soll das heißen?
 

Angestrengt untersuchte er die Tischplatte nach einem weiteren Hinweis, fand aber nichts; er blieb mit den beiden kryptischen Zeilen allein.

Die waren an sich ja gar nicht so kryptisch, wenn man so wollte. Zumindest nicht der erste.
 

Dein Plan?
 

Das kannst du nicht gewollt haben. Und auch nicht geplant! Oder…?
 

Shinichi ließ sich zurücksinken, seine Hände mit dem Blatt sanken in seinen Schoß. Unfokussiert schaute er in die Stille der Bibliothek, konnte sie fast wispern hören, all die Bücher, die leise ihre Geschichte vor sich hinmurmelten.

Er schaute noch einmal auf das Blatt, auf die Kombination von Buchstaben und Ziffern und schalt sich im nächsten Moment einen Narren, wie er nur so blind hatte sein können. Er stand auf, schritt die Regale ab, hastig; seine Finger glitten suchend über die Buchrücken, bis er im Dämmerlicht gefunden hatte, was er suchte.
 

Der Baron der Nacht, Band eins.
 

Shinichi zog es heraus, machte sich damit wieder zurück auf den Weg zum Schreibtisch, ließ sich in den Sessel sinken. Als er es auf besagter Seite aufschlug, fand er einen kleinen Schlüssel, der auf der Seite klebte. Er runzelte die Augenbrauen; dann löste er sehr vorsichtig das Klebekreppband, um die Seite nicht zu beschädigen, zog den Schlüssel heraus. Der Schlüssel für die letzte Schublade. Er sperrte sie auf, zog sie auf und schaute hinein. Darin befand sich ein Blatt Papier, das er nun vorschichtig herauszog und auseinanderfaltete. Seine Augen wurden groß, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel.
 

Er betrachtete sich im Spiegel, die Maske in seinen Händen. Sein Blick wanderte zwischen seinen Identitäten hin und her. Hier das menschliche Antlitz, die wachen Augen, die ernste Miene, dort das manische Grinsen einer weißen Fratze, die bösartigen Augen einer blicklosen Maske.
 

Wie hatte es eigentlich je soweit kommen können?
 

Wann hatte das angefangen?

Wann hatte er damit begonnen, als gesichtsloses Monster die Straßen Tokios unsicher zu machen, wann hatte er sich selbst so vergessen, dass er stahl, um des Stehlens willen, Leute umbrachte für Geld oder aus Rache?

Wann war er zu so einem Menschen geworden… oder besser, wann hatte er aufgehört, ein Mensch zu sein?
 

Sie alle wussten es nicht… sie ahnten nicht, wer er wirklich war. Was für ein Monster aus ihm wurde, nachts, wenn sie alle schliefen.
 

Nun hatte er die Chance, das zu ändern.

Er wusste nicht, welchen Preis er dafür zahlen würde… unter Umständen war er horrend.

Unter Umständen bezahlte er mit seinem Leben dafür, jetzt das Richtige zu tun.

Sich gegen sich selbst zu wenden, gegen die Maske, gegen alles, was zu ihr gehörte, und der zu sein, der ihm aus dem Spiegel entgegenblickte.
 

Unsicher fuhr er sich mit einer Hand durch sein kurzes Haar. Ein paar blauer Augen starrte ihn musternd an, genauso, als wollten sie ihn prüfen.

Prüfen, ob er der Richtige war, für diese Aufgabe.

Sehen, ob er mutig genug war, endlich den Schlussstrich zu ziehen.
 

Dem Baron der Nacht den Dolch ins Herz zu stoßen.
 

Er hob die Maske langsam an, sah ihr ins Gesicht, sah die leeren Augen.
 

Noch war er sich nicht sicher.

Auch wenn er, und das ahnte er, eigentlich die Entscheidung schon längst gefällt hatte.
 

Allein der Dolch fehlte noch.
 

BdN, Bd. 13, 451-455
 

Darunter klebte ein weiterer Schlüssel. Ein Safeschlüssel. Seine Hände zitterten, als er das Schriftstück sinken ließ.
 

Du hast nur auf mich gewartet.
 

Shinichi blinzelte, als würde er aufwachen; in seinen Fingern hatte er jegliches Gefühl verloren. Seltsamerweise machte jetzt auf einmal alles Sinn; jedes Stückchen dieses Puzzles fiel an seinen Platz, jetzt, endlich.
 

Als Beaujolais meine Tarnung auffliegen ließ, mussest du handeln, allein wusstest du noch nicht, wie…

Deshalb hast du mir geholfen. Mir das Gegengift gegeben, weil du wusstest, wie ich auch, wie wenig ein kleines Kind ausrichten kann. Deshalb hast du mich beschützt, mich integrieren wollen, damit ich sehen kann, was vorgeht in diesem Laden; wie es läuft, wer darin verwickelt ist, welche Strukturen herrschen. Und das alles musste möglichst unauffällig sein, hätten sie den Braten gerochen, gemerkt, dass du mit mir persönlich Kontakt aufnimmst, wäre alles vorbeigewesen, bevor es angefangen hat.

Zwischendrin war es wohl tatsächlich etwas eng… für dich. Ihnen diese Schmierenkomödie glaubhaft zu verkaufen war sicher nicht einfach; und gleichzeitig waren da ja noch wir. Mama… und ich.

Wahrscheinlich war es gerade Mama gegenüber unglaublich hart für dich.

Wenn du das alles plantest… musstest du dir ja… im Klaren darüber sein, wie das endet.
 

Aber dennoch… ich meine…

Warum hast du mir vorgemacht, du würdest das nicht wollen? Warum bist du mir ausgewichen? Warum…

War das dein Plan?

Wolltest du, dass ich die Achtung vor dir verliere? Warum hast du mir deine Pläne nicht verraten, vielleicht…
 

Shinichi runzelte die Stirn.

Konnte sein Vater das wirklich alles geplant haben? Eigentlich hatte er eher den Eindruck gehabt, sein Vater wäre zu feige gewesen, um etwas zu ändern. Angst vor den Konsequenzen seines Handelns gehabt. Er löste den Schlüssel vom Blatt, sah ihn an. Er hatte keine Ahnung, wo ein Safe stehen könnte, also versuchte er das Offensichtliche – der Schreibtisch hatte nicht nur Schubladen, sondern auch ein Schrankfach.

Shinichi bückte sich ein wenig, griff nach der kleinen Schranktür des Schreibtischs, die auf der anderen Seite angebracht war, zog sie auf. Darin befand sich tatsächlich ein kleiner Tresor.

Ein weiteres Mal glitt er aus seinem Stuhl, kniete sich vor den Tresor, sperrte auf, griff hinein, bekam eine Holzschatulle zu fassen und zog sie heraus. Er zog sich an der Schreibtischkante wieder hoch, ließ sich in den Schreibtischstuhl sinken, betrachtete das Kästchen. Er klappte es auf, fand es unverschlossen vor. Wie er erwartet hatte, fand er dort das Manuskript des letzten Bandes, handschriftlich nummeriert. Er merkte, wie Nervosität ihn ergriff, und eine Anspannung, die ihm die Haare zu Berge stehen ließ, ihm eine Gänsehaut nach dem anderen über den Rücken, die Arme jagte. Er zog die besagte Seite hervor, stellte fest, dass es das Ende war. Er kannte es nicht; dies war der Teil, der wohl gerade erst noch fertig geworden war.
 

Shinichi legte den Kopf in den Nacken, seufzte tief, merkte, wie ihn die Trauer fast überwältigte, versuchte, sich zusammenzureißen. Biss die Zähne aufeinander, bis seine Kiefer knirschten, kämpfte alles runter, was nach draußen wollte, und nahm sich zusammen. Dann widmete er sich den Blättern in seiner Hand, auf denen sich die Schriftzeichen drängten.
 

Hier in dieser Höhe verlor das Nachtleben Tokios seine Hektik, seine Lautheit, alles Grelle und Schrille… und das lag einzig und allein an der Stille.

Kein Ton drang an seine Ohren, nichts weiter außer dem Rauschen des Windes, der um die Fassade pfiff und an seinem Mantel zerrte.

Der Baron zog ihn etwas enger um sich, dann prüfte er kurz noch den Sitz seiner Maske.
 

Sie würde heute fallen…

Allerdings – noch nicht jetzt.

Einen letzten Dienst würde ihm das starre, bösartige, weiße Antlitz noch erweisen müssen, ehe sie ihr Ende fand.

Dann ging die Tür des Treppenhauses auf, Schritte näherten sich - rasche, entschlossene Schritte.
 

Er wusste, dass er es war.

Der Kommissar.
 

„Herr Baron. Guten Abend.“

Er nickte kurz.

„Wie Sie sehen, bin ich Ihrer Einladung gefolgt – nun möchte ich aber doch gerne wissen, was es damit auf sich hat.“

Er klang fest und entschlossen, auch wenn er ihm ansah, dass er Angst hatte. Er war angespannt, der junge Kommissar, und nervös.

Unschlüssig stand der Baron da, seine Finger spielten nervös mit dem Faden, der die Maske davon abhielt, einfach von seinem Gesicht abzublättern wie Farbe von feucht gewordenem Mauerwerk. Schweiß brach ihm aus allen Poren, machte ihm das Tragen der Maske unerträglich, eigentlich. Aber noch wollte er sie nicht ziehen – auch wenn sie heute noch fallen würde. In den nächsten Augenblicken sogar.

Soviel war klar - aber das Timing musste stimmen. Er liebte den großen Auftritt viel zu sehr.

Heute war er hier, um ein Ende zu finden für diesen Alptraum von einer Geschichte.
 

Ihm gegenüber stand er, seine Augen unverwandt auf ihn gerichtet, hielten ihn fest.

Kommissar Koichi Endo.
 

„Sie sprachen von Hilfe, die Sie mir anbieten wollen, in meinem Fall. Ich muss sagen, das macht mich neugierig; ich wüsste nicht, wie Sie mir helfen könnten, Baron.“

Endos Stimme klang leicht spöttisch. Das war etwas, das der Baron an ihm schätzte; selbst im Angesicht eines so mächtigen Gegners wie er ihn abgab, behielt der Mann Haltung. Blieb seinen Prinzipien treu und ließ sich nicht einschüchtern.
 

„Was ist jetzt? Reden Sie heute auch noch mal mit mir? Sie sind doch sonst nicht so schweigsam.“

Der Baron lächelte bitter.

„Ich denke, viel erzählen muss ich Ihnen auch nicht.“

Er sah ihn ruhig an, dankte im Stillen der Maske, die ihm diese Gelassenheit erlaubte.

„Ich will Rache. Und ich will sie heute Nacht. Hier und jetzt. Und Sie werden mir dabei helfen.“

Unbehagen machte sich auf dem Gesicht des Kommissars breit. „Hier und jetzt? Wie darf ich das verstehen?“

Der Baron lächelte zynisch.

„Im Grunde genommen ist es ganz einfach. Ich bin der Kopf dieses Syndikats.“
 

Endo starrte ihn an, auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck namenlosen Entsetzens.

„Bitte, was?! Und wie-…“
 

Der Baron trat näher.

„Das tut jetzt nichts zur Sache. Was viel wichtiger ist - hat es funktioniert?“

Der junge Mann starrte ihn an, mit geöffnetem Mund, nickte dann langsam, als die Frage zu ihm durchdrang.

„Ja. Die Personen der Liste sind alle im Conference Centre, eingesperrt, die Polziei ist unterwegs, um sie zu verhaften. Bis auf zwei. Wie Sie wünschten – oder besser, vorhersagten. Sie sind mir gefolgt und sollten gleich hier sein. Aber was soll ich…“

Der Kommissar schluckte unwillkürlich.

„Sie sehen zu. Hören zu. Und dann tun Sie, was Sie tun müssen.“

Er warf ihm eine Waffe zu.

„Können Sie mit dem Ding umgehen?“

Endo betrachtete sie kurz, nickte dann.

„Bestens. Treten Sie neben mich.“

Unwillig stellte sich Endo neben den Mann mit der Maske, behielt die Tür im Blick.

„Warum das alles?“

Der Baron lächelte; ein Lächeln, das der Kommissar so allerdings nicht sah.

„Ich sagte es bereits. Vergeltung.“

„Könnten Sie sie dann nicht einfach umbringen?“, entgegnete der Polizist patzig. Der Baron warf ihm einen kühlen Blick zu.

„Sicher könnte ich das. Ich könnte auch Sie umbringen.

Ich will aber etwas anderes. Ich möchte, dass Sie hier als Zeuge fungieren. Was Sie mit mir hinterher machen, wird mir egal sein.“

Endo schluckte hart, versuchte, seine Gedanken zu ordnen, einen Grund zu finden, für das Verhalten dieses Mannes. Ihm kam nur einer in den Sinn.

„Wer ist es?“

„Was…?“

„Ihre Frau? Ihre Tochter? Schwester?“

Endo wusste, er wagte sich weit vor. Der Baron, der die Tür, hinter der es langsam laut wurde, nicht aus den Augen gelassen hatte, drehte sich abrupt um.

„Sie werden es erfahren, wenn ich es will. Jetzt will ich es nicht.“
 

Shinichis Augen huschten über die Zeilen, seine Lippen bewegten sich leicht, als er las, einzelne Wörter mit artikulierte. Ihn fröstelte, unwillkürlich, als er noch beim Lesen immer mehr Parallelen zog. Er hatte nie geahnt, wie sehr sein Vater wirklich mit dem Baron verschmolzen war.

Und niemals – niemals wäre er auf die Idee gekommen, sich selbst in der Figur des Kommissars zu suchen.

Yukiko betrat das Zimmer, er merkte es nicht. Sie lehnte sich an den Türrahmen, beobachtete ihn, wie er las, sah an seiner Haltung, wie es ihn mitnahm. Die Blätter lagen vor ihm auf dem Tisch, eine seiner Hände hatte er sin seine Haare gekrallt, mit der anderen hielt er das Manuskript so fest, dass die Blätter knitterten.

Eine Weile blieb sie stehen, wo sie war, beobachtete ihn aus der Finsternis. Ahnte, dass sich seine Gedanken gerade überschlugen. Dann ging sie, ließ ihn alleine, wohl wissend, dass er kommen würde, wenn er fertig war.
 

Der Kommissar keuchte. Er spürte den Rückschlag der Waffe immer noch in der Handfläche brennen. Dann drehte er sich um, sah den Baron, der da stand wie ein steinernes Denkmal, die fratzenhafte Maske unbewegt wie eh und je. Auch er hielt eine Waffe in der Hand.

Es klirrte metallisch, als Endo den Revolver fallen ließ, der kalte Stahl Funken aus dem Betonboden des Flachdachs schlug.

Er biss die Zähne zusammen, dann sah er auf die beiden Männer, die tot auf dem Boden lagen.
 

„Erklären Sie mir jetzt, warum das alles? Denken Sie nicht, ich hab eine Erklärung verdient? Ich wär hier fast draufgegangen! Und -“

Er gestikulierte wild in Richtung der beiden Toten.

„Sie waren sehr tapfer, ja.“

Der Baron der Nacht lachte.

„Oh. Tapfer. Aus ihrem Mund klingt das fast wie ein Ritterschlag.“

Die Stimme des Kommissars troff vor Sarkasmus. Der Baron sah ihn an, gelassen an die Brüstung gelehnt. Endo starrte ihm wütend und genervt entgegen.

„Sagen Sie, warum das alles? Wozu brauchten Sie mich hierfür?“

Wind fing sich in seinen schweißnassen Haaren.

„Das gibt bestimmt ne saftige Erkältung.“, knurrte er. Dann wandte er sich wieder seinem Gegenüber zu.

„Also was ist nun?“

„Weil Sie der Dolch sind, Her Kommissar.“
 

Er atmete schwer, trat dann näher, auf den Baron der Nacht zu, bis er knapp vor ihm zu stehen kam.
 

„Welcher Dolch? Was reden Sie da eigentlich? Die ganze Zeit sind Sie nicht in der Lage, allein gegen ihren Verein was zu unternehmen, und jetzt, auf einmal – stehen Sie hier, helfen mir diesem – IHREM - Syndikat das Handwerk zu legen und faseln etwas von einem Dolch… Habe ich mir nicht langsam mal eine Erklärung verdient?“

„Vermutlich haben Sie das.“

Der Baron seufzte; holte tief Luft.

„Nicht nur vermutlich!“

Der Kommissar klang ungehalten.

Er wusste, jetzt näherte sich alles dem Ende; sein Plan war aufgegangen, seine Mission erfüllt. Sollte der Kommissar nun ruhig die ganze Geschichte wissen.
 

„Mariko Endo.“
 

Der Wind riss die Worte förmlich mit sich.

Endo hörte sie nichtsdestotrotz. Er erblasste, sein Teint wurde noch bleicher, als er ohnehin schon war. Er sah es. Auch wenn es stockdunkel war, er sah es. Er spürte es.

Er hatte ins Schwarze getroffen.
 

„Sie ist tot, seit zwanzig Jahren. Eines der prominentesten Opfer der Black Arrows… Verheiratet mit einem recht erfolgreichen Schriftsteller, Satoshi Endo, um den es seither allerdings etwas still geworden ist, offenbar hat ihn der Verlust hart getroffen. Woher wissen Sie von ihr?“
 

„Ich bin dieser Schriftsteller. Sie war meine Frau. Koichi.“
 

Es klirrte dumpf, als die Maske aus porzellanweißem Gips auf dem Boden zerbarst.
 

Koichi stolperte zurück, starrte den Mann entsetzt an.
 

„Vater.“, flüsterte er leise. Der demaskierte Baron nickte langsam. Ohne seine Maske, das wusste er, sah er längst nicht mehr so furchteinflößend aus, erst recht nicht vor ihm; er wirkte verletzbar, und war es auch. Umständlich zog seinen Hut vom Kopf, warf ihn dem jungen Polizisten vor die Füße. Der Kommissar sah ihm zu dabei, seine Lippen aufeinander gepresst. Seine Gedanken rasten.

Endo hingegen löste mit zitternden Fingern den Umhang, ließ ihn los; der Wind zerrte ihn mit sich, in die Nacht, ein schwarzes Segel, gesetzt und in Fahrt auf dem glitzernden, Schwarzen Meer des Nachthimmels.
 

Als er nun so da stand, ohne Maske, ohne Hut und Umhang, war er kaum wieder zu erkennen. Koichi trat näher, sah dem Mann in die Augen, mit dem er sich so lange schon ein Katz und Maus-Spiel geliefert hatte.
 

Kurz sah es aus, als ob der junge Mann in Ohnmacht fallen würde. Dann fasste er sich, schluckte hart.

„Was hast… was hast du dir dabei gedacht, dabei, wie… wie konntest du…“
 

Satoshi Endo senkte den Blick, schüttelte den Kopf.

„Ich kann es nicht erklären. Ich…“

Hilflos zuckte er mit den Schultern, schaute auf. In seinen Augen stand Reue und Schmerz.

„Ich hatte mir das auch anders gedacht. Du warst noch so klein, kaum fünf Jahre alt. Ich… war Kriminalschriftsteller, wie du ja weißt. Bei Recherchen für einen Roman kam ich Ihnen auf die Spur, und da… ergab leider das eine das andere. Ich hab mich maßlos überschätzt, mit euren Leben gespielt, das deiner Mutter verloren. Ich schwor Rache, und zwar grausame… Rache. All die Leute, die ich getötet habe, waren Mitglieder dieses Syndikats. Sie wusste nichts von meiner Identität als Baron der Nacht; nur dass ich ihr Gegner war. Gleichzeitig hab ich sie als Mitglied infiltriert, hatte meine Informationen immer aus erster Hand. Ich wollte… ich wollte ihnen einen Schlag verpassen, der sie nicht wieder aufstehen lässt.“

Er wandte den Blick ab.

„Ich hab dich zu meiner Schwester gebracht, wie du weißt. Man verstand das, ich war als Mann zu nichts zu gebrauchen, erst Recht nicht zum Großziehen kleiner Kinder. Ich war kaum für dich da, und als Jugendlicher… hast du dich von mir abgewandt, von einem Vater, der dir keiner war, und mir war das Recht.“

Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen.
 

„Ich hatte kein Problem, bis du auf den Plan tratst. Und dann hast du mir all die Fehler in meinen Gedankengängen gezeigt.“
 

Koichi war langsam näher getreten.

„Die da wären?“

Sein Vater sah ihn lange an, ehe er antwortete.

„Der erste war, dich die meiste Zeit allein zu lassen und anzulügen. Ich kann mir das nicht verzeihen. Ich hätte nie mit dieser Geschichte anfangen sollen. Ich hätte bei dir bleiben sollen, aus dieser Katastrophe lernen, und mich um dich kümmern sollen. Das hab ich nicht getan – und das tut mir Leid.“

Als der Kommissar den Mund öffnen wollte, um etwas zu entgegnen, schnitt ihm der Ältere das Wort ab.

„Nein. Ich will keine Vergebung von dir. Das ist nicht zu verzeihen.“

Koichi schluckte, seufzte dann, zog die Augenbrauen hoch.

„Fehler Nummer zwei?“

Der Schriftsteller lächelte müde.

„Nicht viel früher etwas geändert zu haben.“

Er strich sich über die Augen, langsam.

„Lange Zeit hatte ich ziemliche Angst, dass man herausfand, wer ich bin. Weil ich wusste, dass dann auch du und meine Schwester in Gefahr sein würdet. Deshalb ließ ich es laufen, versuchte im Verborgenen, etwas zu tun, aber ich merkte bald, diese Organisation war wie die Hydra – je mehr Köpfe ich ihr abschlug, desto mehr wuchsen nach. Ich brauchte Hilfe.“

„Meine Hilfe.“

„Deine Hilfe, ja.“

Satoshi Endo seufzte.

„Es musste jemand da sein, der dafür sorgte, dass man sie alle kriegte. Jemand, der nicht Mitglied der Organisation war, der den Hebel außen ansetzen konnte. Du warst der Dolch, Koichi. Ein messerscharfer Verstand, ein unbeugsamer Wille, Trefferquote einhundert Prozent. Du erreichst dein Ziel. Immer. Ich brauchte dich, um ihnen das Handwerk zu legen, allein konnte ich es nicht. Ich steckte drin… ich brauchte jemanden von draußen, der sie ablenkte, ihren Blick von mir wandte. Du hast sie provoziert, herausgefordert, wurdest so gefährlich, dass man dich zur Chefsache machte. Ich brauchte jemanden, der dachte wie ich, die gleichen Schlüsse zog wie ich. Und der unbeugsamer war als ich. Und gleichzeitig solltest du mich als deinen Feind sehen… damit du mit mir genauso unbeugsam verfährst wie mit ihnen. Weil ich es verdient habe… und weil du dir diese Schuld nicht aufladen sollst. Du hast keine Schuld an meinem Leben. Und auch nicht an seinem Ende.“
 

Er schritt auf den jungen Mann, streckte seinen Arm, mit der er die Glock umklammerte, aus. Endo erschrak, nestelte an seinem Mantel, versuchte panisch an seine Waffe zu kommen und verfluchte sich, dass er es gewagt hatte, diesem Mörder auch nur zwei Millimeter weit zu trauen.

Dann stutzte er, als er ein leises Klicken vernahm, und das kurze helle Blitzen von Metall in Bewegung. Er sah auf. Vor seiner Nase pendelte die Glock. Der Baron hatte die Hand ausgereckt, die Schusswaffe nur noch gehalten von seinem Zeigefinger, der im Abzugsring steckte.
 

Endo schluckte hart - dann sah er ihm in die Augen, fest. Nahm die Waffe an sich, steckte sie ein.

„Hey?! Geht’s dir eigentlich noch gut? Ich könnte dich festnehmen, wenn ich…“

„Natürlich.“, meinte der Ex-Baron gelassen.

Er steckte gelassen die Hände in die Hosentaschen.

„Und du kannst es gern versuchen, wenn wir unten sind. Ich denke, wir sind hier oben fertig.“

Ein leises Seufzen glitt ihm über die Lippen, als er sich umsah.

„Geh schon mal vor, ich komm gleich nach.“
 

Koichi sah ihn prüfend an. Irgendetwas in den Augen seines Vaters gefiel ihm nicht. Seine Stimme hatte gelassen geklungen; allerdings seine Augen straften diese Gelassenheit Lügen.

Dennoch nickte er, langsam.
 

„Gut. Ich warte drinnen.“
 

Satoshi Endo lächelte kurz.

„Danke.“

Damit streckte er die Hand aus, drückte ihm kurz die Schulter. Koichi schaute ihn überrascht an; dann nickte er ihm knapp zu und ging hinein in das Treppenhaus.

Sollte er seine paar Minuten Freiheit noch haben. Unwillkürlich berührte er seine Schulter, da wo sein Vater ihn angefasst hatte. Und wartete, hing seinen Gedanken nach. Überdachte noch einmal alles, was er heute erfahren hatte, setzte die Puzzleteile ein in das Rätsel, das sein Leben war; und freute sich auf das Gesicht seiner Freundin, wenn er heimkam.

Heute hatte er viel geschafft.
 

Dann stutzte er. Unruhe ergriff ihn, ein ungutes Gefühl keimte in ihm hoch, und er fragte sich, wie er so blöd hatte sein können; er hatte doch geahnt, dass…
 

Er riss die Tür auf, stürzte nach draußen, stolperte in die Mitte der Plattform, sah sich hektisch um. Rannte von Brüstung zu Brüstung, rief und schrie nach ihm.

Er war nirgends zu finden.

Ihm wurde schlecht, als er sein Handy hervorholte, das Team am Boden anrief, es mit der Suche nach einem Toten beauftragte.

Man fand keinen.
 

Der Baron der Nacht war verschwunden, spurlos.
 

Einzig und allein die zerbrochene Maske erinnerte daran, dass der Baron der Nacht hier gewesen war.

Kommissar Koichi Endo sah sie lange an; dann bückte er sich, hob ein Fragment auf, schaute es nachdenklich an, spürte einen seltsamen Kloß in seinem Hals.
 

Worte standen darauf geschrieben.

Hastig sammelte er die anderen Scherben ein, setzte sie zusammen.

Zwei Sätze entstanden; er las sie, wieder und wieder.
 

Dann steckte er die Fragmente ein, starrte hinaus in die Nacht.
 

„Also leb wohl. Vater…“

Der Wind trug seine Worte hinaus in den anbrechenden Morgen, dessen Erwachen ein silberner Streifen am Horizont bereits ankündigte.
 

Shinichi sank zurück, langsam. Legte die Blätter zurück in die Schublade, schob sie zu. Mit Mühe schluckte er den Kloß im Hals hinunter, strich sich über die Augen, fest; so fest, dass kurz schwarze Kreise vor seinem Gesicht zu tanzen schienen.
 

Du bist auf dem rechten Weg.

Lass dich davon nicht abbringen, egal was passiert.
 

Nur schwer konnte er begreifen, was er gerade gelesen hatte. Er fühlte sich erschlagen von allem, was er erfahren hatte – abgesehen davon, dass er ohnehin noch völlig erschlagen war von den Ereignissen der letzten Tage.
 

Du hast es geplant.
 

Er unterdrückte einen Aufschrei, als er merkte, wie der Frust, der sich seit Tagen in ihm anstaute, sich ein Ventil suchen wollte. Er kämpfte mit Macht dagegen an, ballte seine Fäuste so fest, dass seine Fingernägel sich seine Handflächen bohrten, biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte, und genoss den Schmerz fast, der ihm ein wenig seiner seelischen Qualen zu nehmen schien, wie kurz auch immer.
 

Du hast es geplant, verdammt! Du hast mir etwas vorgespielt, du hast…

Und das alles nur, damit…

Das alles nur damit ich es durchziehe. Damit die Gewissensbisse mich nicht abhalten, das mit dir zu machen.

Weil ich es allein getan hätte, hätte ich gewusst, dass du… in voller Absicht auf dein Ende zusteuerst.

Ich dachte nicht daran, ich wollte nicht daran denken, ich weiß nicht, was ich… gedacht habe. Dass es sich in Wohlgefallen auflöst, das Ganze?

Aber du bist nicht verschwunden, wie der Baron der Nacht.

Du bist gestorben!

Und nun sagst du mir, dass es nicht meine Schuld war.

Dass du es geplant hattest.

Jeden Schritt.

Jeden meiner Schritte.
 

Du Idiot!
 

Shinichi stöhnte auf, stand auf, tigerte im dunklen Zimmer auf und ab.
 

Aber was heißt das nun für mich?

Bin ich nun weniger Schuld an deinem Tod?

Du…

Was willst du denn von mir… sag mir, was soll ich nun machen.
 

Er hielt inne, horchte in die Dunkelheit. Hörte seinen eigenen Atem, fühlte nichts, als weiche, samtene Finsternis um sich herum.
 

Du willst, dass ich lebe, ich weiß. Du hast mir mein Leben geschenkt, dreimal, mindestens.

Du willst, dass ich glücklich bin, wie jeder Vater das will.

Und ich will das auch.

Aber dafür…

Dafür muss ich es ihr sagen.
 

Und ich weiß doch nicht, wie…

Ich weiß nicht, wie.
 

Und ich habe Angst.

Nicht Angst, dass sie mich hasst. Das könnte sie nicht…

Ich habe Angst, dass sie mich fürchtet. Oder mich verabscheut.
 

Er seufzte, warf einen Blick aus den Augenwinkeln zum Schreibtisch. Langsam trat er näher, griff nach dem Füllfederhalter, schraubte ihn zu, steckte ihn ein. Dann gab er dem Lichtschalter der Lampe einen kurzen Klaps, verließ die Bibliothek.
 

In der Küche fand er seine Mutter am Küchentisch sitzend; in ihren Fingern hielt sie Sharons Brief, wie er erkennen konnte. Sie hob den Kopf, als er eintrat; er schenkte ihr ein Lächeln, seufzte leise.

„Und, was schreibt sie?“

„Nicht viel, das ich noch nicht wusste.“, murmelte sie leise.

Er zog sich einen Stuhl hervor, setzte sich neben sie.

„Wie… wie geht’s dir?“

Überraschung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.

„Hör auf.“, meinte er langsam.

„Ja, ich hab viel mitgemacht. Du aber auch.“

Sie seufzte, griff nach seiner Hand.

„Du vermisst ihn.“, stellte er mit leiser Stimme fest.

Sie lächelte schief.

„Ja.“

„Ich auch.“

Er rieb sich die Schläfen.

„Es… es tut mir Leid, Mama. Hätte ich nicht den Stein ins Rollen…“

„Shinichi.“ Sie hielt ihm den Mund zu, zog die Augenbrauen hoch und hob den Finger warnend, als er etwas sagen wollte.

„Er war ein erwachsener Mann, der seine eigenen Entscheidungen traf. Du solltest das wissen. Gerade du solltest das.“

Langsam nickte er, atmete gepresst aus.

„Dennoch habe ich das Gefühl, das hier alles zerstört zu haben.“
 

Yukiko lachte leise.

„Aber das hast du nicht.“

„Hm?“

Er warf ihr einen verwirrten Blick zu. Ein breites Lächeln breitete sich über ihr Gesicht aus; sie liebte es immer noch, wenn sie ihn erstaunen konnte.

„Du bist doch noch hier; und ich bin es auch. Dein Vater… ist tot… aber das heißt nicht, dass unsere Familie zerstört ist. Wichtig ist, dass du den Weg nach draußen findest… und wie mir scheint, fängst du an, endlich.“
 

Er seufzte schwer.

„Es gibt nur ein… Problem.“

„Ran.“

Shinichi wurde rot.

„So direkt wollte ich der Sache keinen Namen geben, Mama.“

Sie lachte leise.

„Na, ich war schon immer direkt, das weißt du. Und ich weiß auch, dass du sie liebst. Das ist, weiß Gott, kein Geheimnis mehr.“

Ihr Sohn sah sie aus Halbmondaugen genervt an.

„Danke, Mama.“

Sie tippte ihm auf die Nase.

„Du brauchst sie. Deshalb schützt du sie. Deshalb willst du, dass sie glücklich ist.“

Er ließ sich zurücksinken auf den Stuhl, bis er zwischen Lehne und Sitzfläche hing wie ein nasser Sack.

„Ja.“, gestand er dann unwillig.

„Furchtbar egoistisch von mir. Aber ja. Ich… ich brauche sie.“

Yukiko wandte sich ihm zu.

„Das hat mit Egoismus nichts zu tun, Shinichi. Denn du darfst mir glauben, sie empfindet genauso. Und es ist für sie eine Qual, momentan. Nicht bei dir zu sein, dir nicht helfen zu dürfen, wo sie doch sieht, dass es dir schlecht geht.“

Er drehte den Kopf, sah sie an.

„Damit hast du sicher Recht. Und ich weiß das auch. Aber ich… ich meine… machen wir uns nichts vor. Was ich getan hab…“

„Ja?“

„Was ist, wenn sie mich dafür verabscheut? Oder Angst hat, vor mir? Ich meine...“

Yukiko schüttelte den Kopf, lachte schallend. Shinichi starrte sie an, ein Ausdruck von Ärger auf seinem Gesicht.

„Na, jetzt hör mal, Mama, so lustig ist das nicht…!“

Yukiko räusperte sich, sammelte sich mühsam, lächelte ihren Sohn an, der sie immer noch etwas angesäuert anschaute.

„Shinichi, bei allem Respekt. Du siehst nicht furchteinflößend aus, momentan. Und ich schätze, dass Ran so ziemlich die letzte Person ist, die vor dir jemals Angst haben wird. Und ich sage es dir auch ungern, aber weder du noch ich sind Hellseher. Du musst es ihr sagen, erst dann wirst du wissen, wie sie reagiert.“

Er sah sie empört an, lächelte dann geschlagen, ehe er wieder ernst wurde.

„Aber ich weiß nicht wie ich ihr…“
 

Sie stand auf, tätschelte ihm den Kopf.

„Natürlich weißt du das jetzt noch nicht, Dummkopf. Wenn es soweit ist, wirst du’s wissen. Und bis dahin – geh ins Bett, Shinichi.“

Sie blickte auf die Uhr.

„Es ist spät. Und du weißt, was morgen…“

Er folgte ihrem Blick, seufzte leise.

„Ja, das weiß ich.“

Er stand auf, sah sie an, bemerkte erst jetzt, dass er sie fast einen halben Kopf überragte. Er lächelte, gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Gute Nacht, Mama. Schlaf gut.“
 

Sie starrte ihm hinterher, fasste sich dann an die Wange.

Und lächelte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von: abgemeldet
2013-05-11T08:51:55+00:00 11.05.2013 10:51
Liebe Leira.... es tut mir so leid, dass ich so lange braucht habe. Verzeih mir ^-^'
So, nach Ewigkeiten habe ich mir endlich die Zeit genommen, zu lesen, was du so fleißig geschrieben hast.
Dass es einfach nur Wahnsinn ist, brauche ich ja wohl nicht mehr zu erwähnen... Das sollte sich langsam eingeprägt haben. Ich bin ein Fan von dir und deiner Kunst... fertig ist
Aber mich fasziniert es einfach nur... wie du es immer wieder schaffst, alles aufleben zu lassen, eine Wendung zu bringen, eine Situation zu erfassen und die Charaktere dermaßen zu reflektieren... Es ist einfach nur bemerkenswert.
Zunächst das Kapitel mit Shiho... Davor hat's mir gegraust
Weil ich echt nicht wusste, wie du aus der Nummer rauskommen möchtest. Und ja, du hast es trotzdem geschafft.
Sie kann ihm trotz allem eine gute Freundin sein... und nur sie kann ihm sagen, dass wenn Ran ihm nicht verzeiht, dass sie ihn nicht verdient hat... Auch wenn es irgendwie was trauriges hat, wenn gerade Shiho das sagt
Nun, dazu noch Shinichis Erkenntnis. Dass du den Baron der Nacht eingebaut hast, war unabdinglich, einfach notwendig. Dass du es auf so eine intensive Art und Weise einbringst... woah.
Das war im Grunde eine Geschichte in der Geschichte ;D
Und genau die Art und Weise, wie Yusaku mit Shinichi kommunizieren würde.
Einfach sehr authentisch... und dennoch neu und eigen.
Es war einfach sehr bewegend. Mir kamen die Tränen und ich glaube, dass wird mit dem Ende auch nicht besser werden. Wenigstens überlebt Shinichi in dieser Geschichte... außer, du bringst natürlich noch mal etwas absolut reißerisches... Aber das wäre absolut fies
Auch wenn es kein absolutes happy end wird, denn das, was Shinichi erlebt hat, wird ihn schlicht prägend begleiten, so wünscht man ihm wenigstens in dieser Story, dass er glücklich wird
Wie das Aufeinandertreffen mit Ran wird, ist nervenaufreibend... aber ich werde mich gedulden ;D
Bis dahin viel Spaß beim Schreiben
Alles Liebe
M.B.
Von:  Black_Taipan
2013-04-28T19:36:17+00:00 28.04.2013 21:36
Puh, ich hab das Kapitel jetzt zum zweiten Mal gelesen und dann gemerkt, dass von mir noch ein kommentar dazu fehlt. Dabei ist dies ein sehr wichtiges Kapitel.
Ich finde toll, wie du die Geschichte des Baron der Nacht hier weiter mit Amnesia verknüpft hast. Es ist schön, dass Shinichi sich so langsam wieder aufrappelt und das macht, was er immer macht - Antworten suchen. Und Yusaku gibt ihm genau das, was er braucht, scheint immer genau das passende Puzzlestück auf Shinichis Fragen zu haben. Bewundernswert, ich wüsste nicht, ob ich vorausschauend genauso hätte reagieren können wie er.
Und "lustig" fand ich irgendwie, dass Shinichi irgendwie trotz allem Intellekt doch von seiner Mutter in Sachen Liebe belehrt werden musste. Das nächste klärende Gespräch folgt wohl bald.
Und Yukiko kann wieder lächeln, das ist auch schön. Sie ist eine starke Frau!
Ich freu mich aufs nächste Kapitel!
Liebe Grüsse
taipan

Von:  Maronxxx
2013-04-14T19:22:17+00:00 14.04.2013 21:22
wann gehts endlich weiter??????? :///
Von:  Kati
2013-03-01T15:57:34+00:00 01.03.2013 16:57
Puh, endlich bin ich zum Lesen des neuen Kapitels gekommen :)
War recht interessant mit dem letzten Teil des Barons, hat gut gepasst. Und hat auch Shinichi wieder ein Stückchen weiter aus seinem Loch geholt ;)
So, und im nächsten Kapitel marschiert er doch hoffentlich mal zu Ran rüber, da wart ich schon gespannt drauf! ;)

Bis dann!
Von: abgemeldet
2013-02-26T16:35:26+00:00 26.02.2013 17:35
Ein sehr berührendes Kapitel.
Wenn dieser Band des "Barons der Nacht" veröffentlicht werden sollte, wird er vermutlich mindestens so erfolgreich wie seine Vorgänger werden. Die meisten Leser werden sich auf ein spannendes Finale freuen, mitfiebern und am Ende vielleicht zwischen Fassungslosigkeit, Unglauben und Entsetzen schwanken - nur eine Handvoll Leute (falls diese das Buch überhaupt lesen), werden die tiefere Bedeutung in den Zeilen finden.
Nachdem es in diesem Kapitel wortwörtlich sehr dunkel vor sich ging, macht das Ende für den nächsten Abschnitt Hoffnung auf Licht.
Ich bin schon gespannt darauf!

Liebe Grüße,
Puffie-chan
Von:  funnymarie
2013-02-24T19:05:47+00:00 24.02.2013 20:05
ein super tolles kapitel
der baron der nacht, der einfach verschwunden und die art und weise, wie er sich mit yusaku identifiziert hat, einfach toll
auch wie du es geschrieben hast, ich bin begeistert und freu mich schon auf das nächste kapitel
lg funnymarie


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