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I Wanna Tell My Story

(Live In Living Color)
von

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catch me if you can

Die Nacht beginnt so, wie alle Nächte beginnen, die verdammt dazu sind, furchtbar zu werden. Es sind diese Nächte, wegen denen man Jahre später noch wach liegt und sich fragt, was man hätte besser oder einfach anders hätte machen können.
 

Es klingelt.
 

Dan stöhnt. Er sitzt über seinen Schreibtisch gebeugt, vergraben unter Akten und Karten und Fotos und noch mehr Akten. Durch seine Adern fließt schon seit Stunden nur noch pures Koffein. Er ist trotzdem todmüde.
 

Es klingelt wieder, ungeduldiger dieses Mal, länger. Dan macht nicht auf. Er weiß, wer da ist. Er weiß auch, dass diese Person einen Schlüssel hat, den sie eigentlich nicht mehr haben sollte.
 

Roman stolpert in die Wohnung und donnert die Tür hinter sich zu.

„Ich weiß, dass du da bist.“

„Die Frage ist: Warum bist du da?“, meint Dan und nippt an seiner Kaffeetasse. Ih, kalt. Er verzieht das Gesicht und sieht Roman zu, wie er in Dans Küche – Dans Küche – herumkramt.
 

„Was machst du da?“ Kaum hat er die Frage gestellt, weiß er, dass er die Antwort bereuen wird. Dass er sie gar nicht wissen will.

„Du hattest mal hier irgendwo einen… ha!“ Triumphierend hält Roman eine Flasche in die Höhe. Es ist einer dieser guten Weine, die Dan gekauft hat, als er noch mit Roman zusammen war.

Auf einer Reise irgendwo in Spanien. Lang ist’s her. Da hatte er noch tatsächlich Zeit für Urlaub.
 

„Ich muss kurz auf ner Party vorbei“, erklärt Roman ungefragt. „Danach noch irgendwohin. Willst du mit?“

Dan starrt bedeutungsvoll auf die Berge von Arbeit vor sich.

Roman verdreht die Augen. „Workaholic“, sagt er.

„Weißt du doch“, meint Dan. Zuckt mit den verkrampften Schultern. Verzieht wieder das Gesicht.
 

Diesmal bemerkt es Roman. Er kneift die Augen zusammen.

„Wie lange sitzt du da schon?“

„Eine Weile.“

„Hast du was gegessen?“

„Bist du meine Mutter?“

Warum antwortet er eigentlich noch? Schlimm genug, dass Roman da ist. Er muss ihn nicht auch noch ermutigen.
 

Natürlich hält der Blick in Romans Gesicht Einzug. Der Blick, den Dan schon gefürchtet hat, da konnte er ihn noch besänftigen mit Alkohol und Sex und Filmen mit Colin Firth.

Der Blick. Unbarmherzig, entschlossen und gegen Dan gerichtet.
 

„Du kommst mit“, sagt Roman.
 

Dan rollt mit den Augen. „Ich arbeite.“

„Es ist Freitagabend und du bist nicht auf dem Revier. Wenn nicht in den nächsten zehn Sekunden ein Wagen mit Blaulicht vor deiner Tür vorfährt, kommst du mit.“

Ganz kurz überlegt Dan, was er tun muss, um einen Wagen mit Blaulicht anzufordern. Aber Roman wirft ihm schon Hemd, Hose und Unterwäsche an den Kopf.

„Geh duschen.“

„Ich muss nicht duschen.“

„Wann hast du das letzte Mal geduscht?“

Dan zögert zu lange.

„Was ist mit deiner Party? Ich bin da sicher nicht eingeladen.“

„Dich will auch keiner da haben“, ruft Roman und öffnet mit gekonnten Griffen die Weinflasche. „Ich überspring die Party, die kommen auch ohne mich klar.“

„Ich komm auch ohne dich klar.“

Roman schnaubt. Dann deutet er mit dem Korkenzieher Richtung Badezimmer. „Ich warte.“

„Du musst mir noch den Schlüssel zurückgeben“, sagt Dan und rührt sich nicht von der Stelle.

„Geh duschen“, grinst Roman und schenkt sich Wein ein.
 


 

Drei Stunden später ist Dan leicht betrunken und schlecht gelaunt. Roman hat ihn sitzen lassen für irgendeinen Kerl mit Nasenpiercing, der ihm schöne Augen gemacht hat.

Jetzt sitzt Dan allein an der Bar und versucht, den Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen. Mit wenig Erfolg.
 

„Scheiß Laden“, knurrt er und starrt in sein leeres Bierglas.

Er hätte zu Hause bleiben sollen. Vielleicht hätte er was gefunden, vielleicht wäre ihm heute endlich mal ein Muster aufgefallen, ein versteckter Hinweis, ein winziger Fehler in einer ansonsten makellosen Reihe von Einbrüchen.
 

„Jo.“ Ein Kerl tritt neben ihn. „Zwei Jackie Cola.“

Der Barkeeper nickt.

Dans Laune sinkt weiter.
 

Als der Typ seinen Blick bemerkt, kneift er die Augen zusammen und starrt zurück.

„Ist was?“

Zuerst will Dan einfach den Kopf schütteln, mit den Schultern zucken, aber er ist nur noch müder als vor ein paar Stunden und schlecht drauf.

„Ich versuch seit zehn Minuten noch n Bier zu kriegen“, sagt er. Anklagend. Ja, er ist kindisch. Nein, es interessiert ihn nicht.
 

Kurz sieht der Typ ihn an. Seine Augen sind schwarz wie die Nacht, es ist das erste, das Dan auffällt.

Schwarze Augen, Dreitagebart und ein T-Shirt mit irgendeinem Superhelden drauf.
 

„Bist du überhaupt schon alt genug um zu trinken?“, fragt Dan. Sein Blick klebt immer noch auf dem T-Shirt.

„Ich bin dreiundzwanzig, danke“, schnaubt der Kerl. Dann dreht er sich noch mal zum Barkeeper um. „Mach noch n Bier für den hier, ja?“
 

Dan hebt die Augenbrauen.

Superhelden-Shirt guckt zurück und zuckt mit den Schultern. „Was dagegen?“

Beschwichtigend hält Dan beide Hände in die Höhe. „Ich sag nichts“, sagt er.

„Gegen ein Danke hätte ich nichts“, entgegnet der Kerl, nimmt zwei Gläser Jackie Cola, die der Barkeeper ihm zuschiebt, und geht.
 

Dan braucht ein paar Sekunden bis er merkt, dass er ihm hinterher sieht.

Gut, ja, er war lange nicht mehr abends weg. Hat immer Entschuldigungen gefunden, erst für Roman, der ständig bei ihm auftaucht und von One Night Stands und zweiwöchigen Beziehungen schwärmt, dann für sich selbst.
 

Arbeit.

Müde.

Arbeit.

Kopfschmerzen.

Elternbesuch.

Arbeit.

Arbeit.

Arbeit.
 

Warum er heute hier ist, warum er sich hat überreden lassen, warum Roman dieses Mal nicht locker gelassen hat. Er weiß es nicht.

Aber jetzt sieht er einem Typen hinterher, der fast fünf Jahre jünger ist als er, und er sieht die Muskeln unter seinem T-Shirt, sieht die Hände um, die Lippen an seinem Glas, und für einen winzigen Moment denkt er nicht an die Akten, die sich auf seinem Schreibtisch stapeln.
 

„Hier“, reißt der Barkeeper ihn aus seinen Gedanken. Schiebt ein Bierglas über den Tresen.

Dan nickt nur, reicht ihm das Geld.
 

Was ist nur in ihn gefahren?
 

Es kommt ihm nicht wirklich vor, die ganze Situation. Er sitzt hier, friedlich, und am anderen Ende der Stadt wird vielleicht grade wieder jemand ausgeraubt.

Das letzte Mal, vor knapp zwei Wochen war das, haben sie das ganze Haus leer geräumt. Nicht nur Fernseher und Computer und Schmuck, selbst Küchengeräte kann Dan irgendwie nachvollziehen. Es war alles weg. Schränke, Sofa, Bilder, Bett, Lampen.

Ein seltsamer Anblick.

Davor waren die Diebe (und inzwischen kann Dan zumindest das sicher sagen, es müssen mehrere sein) anders vorgegangen, hatten die kleinen, wertvollen Sachen eingepackt, tragbares Zeug.
 

Aber die Diebstähle müssen zusammenhängen, er weiß, dass sie zusammenhängen, er…
 

„Schmeckt’s nicht?“ Superhelden-Shirt deutet auf Dans Bier, fast unangetastet, der Schaum dagegen vollständig verschwunden.

„Hab anderes im Kopf“, sagt Dan.

Der Kerl zieht die Augenbrauen hoch. Sein Lächeln ist ein bisschen anzüglich, ein bisschen spöttisch und sehr von oben herab.

Mit knirschenden Zähnen sieht Dan ihn an. Er spürt richtig, wie sein Gesichtsausdruck immer finsterer wird.
 

„Arbeit“, knurrt er. „Viel zu tun. Ich hab keine Zeit für diesen Mist.“

Das Lächeln wird zu einem breiten Grinsen und Superhelden-Shirt setzt sich auf den Stuhl neben Dan.

„Warum bist du dann hier?“
 

Weil mein Ex-Freund ein Idiot ist und mich gezwungen hat, will Dan sagen.

Weil es besser ist, in Alkohol zu ersticken als in Akten, will er zugeben.

Was geht dich das an, will er fragen.
 

„Ich hab keine Ahnung“, meint Dan, hebt prostend sein Glas und trinkt mit großen Schlucken, leert es um mehr als die Hälfte.

Ehrlichkeit entwaffnet. Ob er das jetzt aus seinem Job weiß oder weil er zu lange mit Roman gelebt hat, ist ihm auch nicht ganz klar. Die Grenzen verschwimmen da manchmal.
 

Und er hat wirklich keine Ahnung. Dieses ganze Nachtleben-Ding hat ihn noch nie gejuckt. Warum versucht er jetzt damit anzufangen.
 

Der Typ neben ihn sieht ihn immer noch an, als er sein Glas wieder absetzt. Um seine Lippen tanzt ein schmales Lächeln und Dan könnte schwören, dass seine Augen ein paar Sekunden zu lange an seinem Adamsapfel kleben.

Er fühlt sich beobachtet.
 

„Hör auf.“

„Womit.“

„Mich anzustarren.“
 

Das Lächeln breitet sich aus, leuchtet dunkel in seinem Gesicht. Weiße Zähne. Volle Lippen. Eine Zunge, die kurz herausschnellt, den Mundwinkel befeuchtet.
 

„Wenn du auch aufhörst“, sagt Superhelden-Shirt.

Schnell senkt Dan den Blick. Die Spannung spürt er dennoch, heiß und prickelnd in der schummrig-stickigen Barluft.
 

Dan denkt an seine Arbeit. An die Akten und Fotos und Zeugenaussagen, die alle nicht verwendbar sind. Denkt an Romans laute Sexgeschichten, an den Hintern des Rettungssanitäters, von dem er unangenehm lange die Augen nicht abwenden konnte. Er fühlt die Müdigkeit in seinen Knochen, das Pochen hinter seinen Schläfen.

Und fragt sich: Was mach ich hier eigentlich.
 

„Du bist nicht oft hier, oder?“, fragt Superhelden-Shirt. Es klingt unbeteiligt. Er betrachtet die Flaschensammlung hinter der Bar. Fast gelangweilt. Fast. Fast.

Dan verkneift sich gerade so das Seufzen, streicht sich über die Stirn und durchs Haar. Mit Smalltalk kann er nicht umgehen.
 

„Wo wohnst du?“, meint er, fängt den Blick des nicht mehr ganz Fremden und hält ihn fest.

Wieder das Lächeln.

„Nah genug.“
 


 

Es sind zwanzig Minuten. Zu Fuß, weil keiner von ihnen Auto fahren sollte. Verbracht in Schweigen. Dan kann sich nicht entscheiden, ob das nun angenehm oder unerträglich ist. Aber er versucht auch nicht, es zu ändern.

Er ist nicht gut im Smalltalk. Es hat ihn einen Monat und einen Haufen Peinlichkeiten gekostet, bis er Roman auch nur angesprochen hatte.

Gott, warum vergleicht er die beiden? Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Er will nur den Sex. Nur das gute alte Körper an Körper, danach wieder gehen. Er ist nicht interessiert an Kuscheln oder Frühstück oder irgendeinen anderen Quatsch.

Nur ein wenig Ablenkung. Das wäre nett.
 

„Hier“, sagt der Typ schließlich. Er hat auf dem Weg auch seine Klappe gehalten. Hat hin und wieder zu Dan rübergesehen, gegrinst, nichts weiter.

Jetzt kramt er ein Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und schließt die Tür zu einem Mehrfamilienhaus auf, das aus den 50ern stammen muss. Drinnen riecht es auch so.

„Vierter Stock.“ Er deutet auf die Treppe.
 

Die Wohnung selbst ist klein und dunkel, aber der Geruch nach alt und modrig ist lange nicht so stark.

Plötzlich geht das Licht an. Dan blinzelt. Zum ersten Mal sieht er den Kerl, den er sich da aufgegabelt hat, richtig.

Dunkle Augen, helles Haar. Wangenknochen, an denen man sich schneiden kann, und ein Schlüsselbein, das Dan von Nahem sehen will. Von ganz nah. Also macht er einen Schritt vorwärts.
 

Da ist es wieder, das Grinsen. Der Typ schält sich aus seiner Jacke, schmeißt sie in eine Ecke und Dan macht es ihm nach.
 

„Schlafzimmer ist die Richtung“, sagt er, wispert es.

„Zeig’s mir“, sagt Dan.
 


 

In seinem Leben hatte Dan bisher drei One Night Stands.

Das erste auf einer Party, noch vor dem Abitur, er kannte sie nicht und hat sie danach auch nie wiedergesehen. Sie hatten Sex in irgendeinem Zimmer, in irgendeinem Bett, es ging schnell und war nichts Besonderes.

Das zweite Mal war sein erstes Mal mit einem Kerl, kurz nach dem Abitur. Er kann sich nicht mehr richtig daran erinnern und bereut es. Andererseits kann das dann ja wohl auch nichts Weltbewegendes gewesen sein.

Das dritte Mal war anders. Er: unglaublich schön. Dan: unglaublich nüchtern. Eine Fortbildung, ein paar geladene Blicke, ein Hotelzimmer, eine lange Nacht. Vielleicht hat sich Dan ein bisschen verknallt in ihn. Ein bisschen, sonst nichts.
 

Kurz gesagt: Dan hatte bisher mehr One Night Stands als Beziehungen. Irgendwie traurig. Und jetzt kommt noch einer drauf.
 

Danach blinzelt Superhelden-Shirt ihn an, träge, zufrieden, mit seinem Tigerlächeln. Kurz bleibt Dan neben ihm liegen, atmet und atmet und lebt.

Lebt.

Fast will er zurückgrinsen. Er hatte ganz vergessen, wie sich das anfühlt.
 

„Willst du noch mal?“, fragt der nicht mehr Fremde.

Dan schüttelt den Kopf und richtet sich auf. „Muss morgen früh raus. Viel zu tun.“ Es ist ein bisschen gelogen, aber das wird der Kerl nie erfahren. Er weiß ja nicht mal Dans Namen.

„Kann ich noch schnell duschen?“

„Zweite Tür rechts“, meint Superhelden-Shirt. Das Shirt liegt schon lange vergessen auf dem Fußboden, aber Dan kommt immer noch nicht über das Teil hinweg. Und irgendwie muss er ihn in seinem Kopf ja nennen.
 

„Vielleicht sieht man sich ja mal wieder“, meint er, als Dan aus der Dusche kommt und seine Klamotten zusammensucht.

„Vielleicht.“

Vielleicht auch eher nicht. Aber er hatte grade ziemlich guten Sex, da wird er so was garantiert nicht sagen.

Der Typ sieht ihn an, als wüsste er, was Dan denkt, und grinst trotzdem.

„Ich freu mich drauf.“
 


 

Am Montag platzt Roman wieder in Dans Wohnung, unangemeldet und unerwünscht, denn halb fünf Uhr morgens ist selbst für Dan zu früh.
 

„Du hattest Sex!“, brüllt Roman und wirft die Kaffeemaschine an.

Dan flucht wüst in sein Kissen hinein. Er weiß echt nicht, was er mal an ihm gefunden hat.

… Okay, das ist gelogen, aber in Momenten wie diesen fällt es ihm sehr schwer, sich daran zu erinnern.
 

Knurrend quält er sich aus dem Bett, bereit zu Mord und Totschlag, wenn Roman ihm nicht wenigstens eine Tasse Kaffee bereit gestellt hat. Ohne das Zeug ist er zurzeit vollkommen unbrauchbar.

Roman weiß das. Natürlich.
 

„Morgen, Zombie“, flötet Roman und hält Dan eine Tasse hin. Es ist die große blaue mit den Kaffee trinkenden Monstern drauf. Dans Lieblingstasse. Natürlich weiß Roman auch das.

„Grrr“, macht Dan.

„Ich würde ja sagen, raus mit der Sprache, aber“, er hebt eine Augenbraue, „da du morgens sowieso nicht ansprechbar bist, gebe ich dir noch zehn Minuten.“

„Warum kommst du überhaupt her, wenn du das weißt?“, murrt Dan.

Ah, Kaffee. Das wahre schwarze Gold.
 

Schulterzuckend nippt Roman an seiner eigenen Tasse. „Wäre möglich, dass ich meinen Haustürschlüssel vergessen hab.“

„Aber meinen hast du dabei?“

Noch ein Schulterzucken.

Dan kneift die Augen zusammen. „Warte. Du kommst grade erst nach Hause?“

„Manche von uns gehen am Wochenende aus“, wirft Roman ein. Schon sein Tonfall sagt Dan, dass dieses Gespräch unangenehm wird, wenn er es nicht bald stoppt.

„Manche von uns arbeiten. Und überhaupt, es ist Montag.“

„Manche von uns haben Spaß. Und ein Leben!“
 

Na ja. Das ist die Sache mit Roman und Dan und unangenehmen Gesprächen. Sie stoppen nie.

Dan ist sich manchmal nicht ganz sicher, warum er mit Roman zusammengekommen ist, aber er ist sich immer sicher, dass es besser war, sich zu trennen.
 

So ein Scheiß. Dafür ist es echt zu früh.
 

Mit einem Seufzen setzt sich Dan an den Küchentisch, streicht sich die Stirnfalten glatt, von denen er schon viel zu viele hat.

„Ja, ich hatte Sex.“

„Wie war’s?“ Auf so einen Themenwechsel lässt Roman sich meistens gerne ein.

„Geht dich einen Scheißdreck an.“

„So schlecht also.“

„Darauf antworte ich nicht.“

„Wow.“
 

Kopfschüttelnd sieht Dan ihn an.

Roman erwidert den Blick herausfordernd. Aber nein, dieses Mal nicht, dieses Mal wird Dan nicht einknicken.
 


 

„Es war eine einmalige Sache“, knickt Dan ein.

Roman nickt verständnisvoll. „Ein guter Anfang.“

„Was soll das denn heißen?“

„Du musst hier mal raus“, sagt Roman. Deutet auf die Klebezettel, die an den Küchenschränken hängen. Auf denen Sachen stehen wie Motiv: Geld? Rache? Spaß? oder Auftraggeber? oder Müssen in der Nähe wohnen.
 

„Dein ganzes Leben besteht nur aus Arbeit. Du hattest keine Beziehung seit ich ausgezogen bin.“

„Ausgezogen, haha“, macht Dan.

Roman verdreht die Augen. „Du hattest keinen Sex seit wir nicht mehr zusammen sind. Du vereinsamst hier. Irgendwann endest du als alte Frau mit vielen Katzen.“
 

Dan sieht ihn unbeeindruckt an. Trinkt weiter seinen Kaffee, weil mehr tun sowieso unsinnig wäre.
 

„Wenn du einen Ausgleich hättest, müssten wir uns nicht so viele Sorgen machen. Und ich könnte dir deinen Schlüssel zurückgeben.“

„Das wirst du nicht.“

„Nein, wahrscheinlich nicht“, grinst Roman. Dann wird er wieder ernst. „Aber jetzt ehrlich. Dan, du kannst dich nicht ewig so vergraben.“
 

Natürlich hat Roman recht. Irgendwie. Aber.
 

„Meine Arbeit ist wichtig. Ich kann da nicht einfach… nur fünfzig Prozent geben. Sonst sitz ich noch mal so lange an einem Fall.“
 

„Du machst dich kaputt, Dan.“
 

Er klingt besorgt. Ehrlich besorgt.

Und Dan hat das noch nie so sehr angekotzt. Er verdreht die Augen und pustet in seine Tasse, einfach nur um etwas zu tun zu haben.
 

„Ich hab gehört, Schlaf sei die beste Medizin“, sagt er.

„Lügen der Pharmaindustrie…“

„Das macht keinen Sinn.“

„Freundschaft, das ist der wahre Saft des Lebens!“ Romans Gesicht leuchtet wie ein Feuerwerk. Ein bisschen viel, ein bisschen bunt, ein bisschen laut und… betrunken.
 

„Verschwinde“, stöhnt Dan. Er bekommt Kopfschmerzen. Vielleicht ist er auch schon mit ihnen aufgewacht, wie mit einem alten Freund. In diesem Zustand kann er Romans Leuchtgesicht nur noch weniger ertragen.
 


 

Ein Polizist, ein Ladendieb und ein Rodeoclown gehen in eine Bar. Das ist der Stoff aus dem die wirklich schlechten Witze sind, denkt Dan. Versucht, das Geplapper seiner Kollegen auszublenden, aber irgendwie werden sie nur noch lauter.

Sie stehen in einem kleinen Grüppchen direkt vor Dans Bürotür, grelle Stimmen und anstrengende Gespräche, die sie anscheinend nirgendwo anders führen können.
 

Normalerweise würde Dan sie einfach zur Hölle jagen.

Heute nicht. Heute sitzt der Kopfschmerz tief und lässt nicht los. Wie Worte, die einem auf der Zunge liegen. Er weiß, dass sie da sind, aber kann sie nicht orten, kann sich nicht die Schläfen massieren oder die Schultern kreisen lassen, um es zu erleichtern. Nichts hilft.
 

Vor seiner Tür die Kollegen, in seinem Kopf die Schmerzen und in seinen Händen eine einzige Akte, aus der er nicht schlau wird, egal wie lange er auf die Buchstaben stiert.
 

Er muss hier raus.
 

Oder es muss irgendwas passieren. Etwas besonderes, das ihn wieder daran erinnert, warum er überhaupt diesen Job jemals machen wollte.

Das ist wie mit Roman.

Gleichzeitig ist es ganz anders. (Roman war weniger Papierkram. Roman war auch mehr Action.)
 

„Yo“, sagt Ricarda, stößt den Leuten vor seiner Tür unsanft die Ellbogen in die Rippen, damit sie durchkommt, eine Akte im Arm. „Das Protokoll von der Hausbefragung vorletzte Woche.“

„Warum hat das so lange gedauert?“

„Ich hab auch noch andere Sachen zu tun, weißt du“, sagt sie. Ihr Lächeln ist Schwefelsäure pur.

Dan sagt besser nichts.
 

Manchmal würde er gerne. Würde ihr gern sagen, dass sie die beste Partnerin ist, die er je hatte. Dass sie besser ist als alle Kerle da draußen zusammen.
 

Er sagt besser nichts.
 

Stattdessen sieht er auf das Protokoll, ohne wirklich etwas zu sehen. An dem Tag haben er und Ricarda an fünfzehn Türen geklingelt, haben mehr als dreißig Leute befragt und es ist nichts dabei rausgekommen, anscheinend hatten die Einbrecher…
 

Dan stutzt. Blinzelt. Blättert das Protokoll durch. Versucht sich zu erinnern, sich zu erinnern, wo er… was… es war dunkel und… er war betrunken, aber…
 

„Da fehlt was.“

„Was?“ Ricarda sieht ihn verständnislos an. „Nein, da fehlt garantiert überhaupt nichts.“

„Aber in jedem Stockwerk sind drei Wohnungen. Es sind fünf Stockwerke, also müssten das fünfzehn Berichte sein. Sind aber nur…“ Er zählt noch mal. „Dreizehn.“

Mit wenigen Schritten steht Ricarda hinter ihm, sieht ihm über die Schulter, er spürt ihr Stirnrunzeln in seinem Nacken.

„Die eine Wohnung war leer. Und der da war im Urlaub, hat die Nachbarin gemeint.“ Sie deutet auf einen Namen.
 

Magnus.
 

„Jetzt ist er wieder da.“

„Wer. 4A?“ Kurz zögert sie. „Ich will nicht wissen, woher du das weißt, stimmt’s?“

Dan sieht konsequent weiter auf das Papier. In seinen Füßen kribbelt es.
 

Er muss raus.
 

„Ich geh noch mal zurück.“

„Du spinnst“, seufzt Ricarda. „Der weiß doch nichts, der war doch gar nicht da.“

Jetzt begegnet Dan ihrem Blick doch. Er besagt nichts Gutes, aber er war schon immer herausragend gut darin, Ratschläge zu ignorieren, wenn es um seine Arbeit geht.

Sonst wäre er jetzt nicht da, wo er eben ist.
 


 

Das Klingeln fällt ihm erstaunlich leicht.

„Du könntest auch einfach anrufen!“, hat Ricarda noch hinter ihm hergebrüllt, aber da war Dan schon fast am Wagen.

Jetzt bereut er das.
 

Vielleicht ist er gar nicht da. Jeder vernünftige Mensch arbeitet um diese Zeit. Vielleicht arbeitet er auch. Vielleicht ist er gar nicht da.

So ganz entscheiden, ob er sich davor fürchtet oder darauf hofft, kann Dan sich nicht. Es wäre einfacher. Wenn er nicht da wäre. Wenn er ihm nicht noch mal begegnen würde.
 

Trotzdem fällt es auch leicht, ein zweites Mal auf den Knopf zu drücken.

Seine Füße kribbeln noch immer.
 

Und dann knackt es kurz in der Gegensprechanlage, die Tür summt und lässt sich aufdrücken. Ganz problemlos. Genau wie die Stufen in den vierten Stock.

Er erkennt das Treppenhaus. Jetzt, wenn es hell ist, und er klar im Kopf. Erkennt es von diesem Besuch vor zwei Wochen, als die Wohnung im Erdgeschoss komplett leer geräumt worden war.

Erkennt es von diesem Besuch vor zwei Tagen.
 

Dan ist fast auf dem letzten Treppenabsatz, als eine Tür sich öffnet.

Superhelden-Shirt (ein anderes als letztes Mal) zieht überrascht die Brauen fast hoch bis an den Haaransatz. Er macht den Mund auf, wieder zu, schüttelt den Kopf.
 

Dann grinst er.
 

„Du siehst nicht aus wie jemand, der Pakete ausliefert.“ Das Grinsen wird breiter. „Obwohl du natürlich ein ganz hübsches Paket hast.“
 

Er hat ihn nicht erwartet. Gut. Also geht es ihm nicht anders als Dan. Und Dan hatte zumindest ein bisschen Zeit, sich auf diese Begegnung vorzubereiten.
 

„Ich bin beruflich hier“, sagt Dan.

„Hab ich letztes Mal vergessen zu bezahlen?“

Dan hält ihm seinen Ausweis unter die Nase.

„Oh“, macht Super…

Magnus. Dan kennt seinen Namen jetzt. Das ist komisch.

„Ich sollte aufhören zu reden, bevor ich wegen Beamtenbelästigung verhaftet werde“, sagt Magnus. „… Hast du Handschellen?“
 

Dan will lachen.

Er will aber auch in diesem Fall vorwärts und in die Wohnung kommen. Deshalb schnaubt er nur.
 

Als Antwort erhält er wieder ein Grinsen.
 

„Darf ich reinkommen? Ich hab ein paar Fragen“, sagt er, versteckt sein Lächeln, indem er geschäftig seinen Ausweis zurück in die Tasche steckt.

„Ich schätze, nicht wegen Samstagnacht?“ Magnus tritt zur Seite.
 

Am liebsten würde Dan jedes Stück der kleinen Wohnung genauestens unter die Lupe nehmen, will jedes Bild ansehen, durch jedes Buch blättern.

Er hat nur Zeit für rasche Blicke. Sekunden für einen Streifzug durch ein Leben, das er für eine Nacht geteilt hat.

Eigentlich ist er in diesem Leben nicht drin. Warum fühlt er sich dann, als sollte er es sein?
 

Die Schlafzimmertür steht einen Spalt offen. Das Bett ist zerwühlt. Dan versucht, sich an den Geruch der Laken zu erinnern, aber alles ist verwischt und grau. Er weiß nur noch von den Händen, von den Geräuschen, von Atmen und Flüstern, von Schweiß und Nacht.
 

Er erhascht nur einen Blick im Vorbeigehen. Hat kurz Zeit für das Poster, das an einer anderen Tür hängt. Hitchcocks Psycho. An der gegenüberliegenden Wand hängt Vertigo. In der Küche starrt ihn Jack Nicholson in The Shining an.
 

Dan starrt zurück. „Wie kannst du da essen?“

Magnus zuckt nur mit den Schultern. „Ich hab auch schon überlegt, ob ich Clockwork Orange ins Schlafzimmer hängen soll, aber das fand ich dann doch ein bisschen makaber. Das da geht da noch. Kann ich dir was anbieten?“
 

Dans Gehirn muss kurz den Weg vom Schlafzimmer zurück in die Küche finden, dann schüttelt er den Kopf.
 

Sie stehen ein bisschen komisch in der Küche herum. Dan will ihn ansehen und irgendwie auch nicht. Will ihn anspringen, aber Gott, er muss jetzt mal professionell sein.
 

„Du bist also nur beruflich hier, ja?“, flüstert eine Stimme in seinem Kopf, die vertraut nach Ricarda klingt.
 

Dan will sich schütteln. Wenigstens ist es nicht Roman.
 

„Ähm“, fängt er an.

„Bist du…“, sagt Magnus.
 

Noch mehr betretenes Schweigen.

Fuck, reiß dich zusammen, Dan.
 

„Im Erdgeschoss wurde eingebrochen, hast du vielleicht gehört“, sagt er schließlich, räuspert sich.

Magnus verdreht die Augen. „Das ganze Haus redet nur noch darüber.“

„Du warst im Urlaub?“

„Geschäftsreise“, sagt er. „Wer hat dir das erzählt? Frau Lundgreen von nebenan? Der darfst du nicht alles glauben, was sie sagt.“

„Meine Kollegin hat das vierte Stockwerk übernommen“, meint Dan. „Warum darf ich ihr nicht glauben?“
 

Kurz starrt Magnus ihn an, ohne zu blinzeln. Bei Tageslicht sind seine Augen genauso dunkel. Vielleicht sogar ein bisschen mehr, weil das Licht um ihn herum dagegen so hell erscheint.

Wow. Und den hat er sich geangelt. Roman wäre stolz auf ihn.
 

„Demenz“, sagt Magnus schließlich. „Schon so lange ich denken kann. Sie erzählt immer von ihrem Mann, den sie pflegen muss, aber sie wohnt allein.“
 

Dan nickt.
 

„Musst du dir das nicht aufschreiben oder so?“

„Bis jetzt nicht. Und wahrscheinlich hat meine Kollegin das schon irgendwo vermerkt.“
 

Jetzt ist Magnus dran mit dem Nicken.
 

„Und“, macht Dan weiter. Zwingt sich, den Faden nicht zu verlieren. Egal wie hübsch Magnus ist. „Und seit wann bist du wieder zurück? Von der Geschäftsreise?“

„Bin drei Tage nach dem Einbruch nach Hause gekommen.“

„Irgendwas Auffälliges gesehen? Bevor du gegangen bist? Oder als du wieder hier warst?“

„Kehren Einbrecher auch an den Ort des Verbrechens zurück? Ich dachte, das machen nur Mörder.“

„Es gibt nichts, das es nicht gibt“, zuckt Dan mit den Schultern und denkt sich insgeheim, dass er vermutlich recht hat.
 

Warum sollten die Leute zurückkommen. Dafür gab’s vorher keine Indizien. Mal ganz abgesehen davon, dass sie zu gewitzt sind.
 

Im Gegensatz zu Dan. Dan hat es zurückgezogen an diesen Ort.
 

„Ich hab nichts bemerkt“, sagt Magnus. Er lehnt sich gegen die Küchenzeile, lässig, zufrieden, und Dan denkt schon wieder an Samstagnacht. An diesen Gesichtsausdruck, selbst im Dunkeln der gleiche.

„Keinen ominösen Lieferwagen oder einen Typ mit Sonnebrille und Schlapphut oder so, wenn du das meinst. Warum bist du wirklich hier?“
 

Warum fragt er das?
 

„Das ist mein Job“, sagt Dan. Sieht Magnus stirnrunzelnd an.

Magnus zieht spöttisch einen Mundwinkel hoch, als würde er Dan nicht ganz glauben. Er sieht amüsiert aus.
 

Und trotzdem hält er die Arme vor der Brust verschränkt.
 

Erst jetzt fällt Dan auf, wie schwer er Magnus lesen kann. Wie seine Körpersprache sich widerspricht. Als würde er versuchen, gegen sich selbst zu kämpfen. Als würde er etwas verstecken.

Es ist seltsam.
 

„Ich hab die Chance gesehen und sie ergriffen“, sagt Dan, lehnt sich zurück und zuckt gezwungen lässig mit den Schultern. „Du warst die einzige Person im Haus, die wir noch nicht befragt haben. Und… wir haben sonst nichts.“
 

„Nichts?“
 

Dan weiß nicht, was er von ihm halten soll. Ihm, der einen winzigen Schritt auf ihn zumacht, und Dan will gar nichts von ihm halten. Er will, dass das hier… nicht nur sein Job ist.

Verdammte Scheiße.
 

„Absolut nichts“, sagt Dan. Er schnaubt und wiederholt das Schulterzucken. „Sag das nicht der Presse, die kleben sowieso schon an meinen Hacken.“

Magnus lacht.

Das hat er bisher nicht getan. Dan starrt. Er merkt, dass er starrt und starrt weiter. Weiße Zähne, großer Mund, weiche Haut, unter Dans Lippen schlägt ein Puls, er erinnert sich, erinnert sich und…
 

„Warum bist du hier?“, fragt Magnus wieder.

„Ist mein Job“, wiederholt Dan, aber Magnus schüttelt langsam den Kopf und macht noch einen Schritt auf Dan zu.

„Du hättest auch jemanden schicken können. Oder nicht?“

Ein Kopfschütteln wie ein Reflex, weil ihm sonst nichts anderes einfällt. Weil Magnus jetzt direkt vor ihm steht und heilige Scheiße, in Dans Bauch flimmert etwas auf.
 

Aufregung oder Erregung, ein Wunsch, ein Gedanke.
 

Du bist im Dienst, verdammt.
 

Er weicht zurück.
 

Magnus lacht. Es ist hypnotisierend. Der Klang, der Anblick, und Dan spürt, wie seine Mauern fallen. Obwohl die vielleicht nie da waren. Denn ehrlich mal, er hätte auch Ricarda fragen können.
 

„Wieso? Er war doch gar nicht da“, hört er ihre Stimme in seinem Kopf und sie hat recht, alle beide haben recht und deshalb ist er… auch nicht… auch nicht wirklich hier. Nicht wirklich.
 

Bevor Magnus nur einen Schritt zurück machen kann, macht Dan einen nach vorn und presst ihre Münder aufeinander.
 


 

„Two Nights Stand“, sagt Magnus und sein Grinsen vibriert durch das viel zu helle Schlafzimmer. Es ist hell und Dan kann seine Klamotten trotzdem nicht sehen. Sie sind über den ganzen Flur verteilt.
 

„Was?“, fragt er, abgelenkt von dem riesigen Poster an der gegenüberliegenden Wand. „Das Schweigen der Lämmer. Und das ist besser als Clockwork Orange?“

Magnus folgt seinem Blick. Dan spürt nur, wie er neben ihm mit den Schultern zuckt. Spürt, wie die Haare auf seinen Armen sich aufstellen bei der samtweichen Berührung.

„Hätte ich einen Film über Hannibal Lecter in die Küche hängen sollen?“
 

„Du bist verrückt.“

„Du bist zurückgekommen“, kontert Magnus.
 

Die Luft ist schwer vom Geruch nach Schweiß und Sex. Es ist warm und trotzdem fröstelt es Dan, als Magnus’ Blick ihn von der Seite fixiert.
 

„Two Nights Stand“, sagt Dan und nickt. Schüttelt den Kopf. Seufzt. „Ich hab noch nie ein One Night Stand wiedergesehen.“

„Ich auch nicht“, meint Magnus. Es klingt amüsiert, fröhlich.

Dan wird einfach nicht schlau aus dem Typen.
 

Eine Weile lang sagen sie nichts und zum Geruch von Schweiß und Sex kommt der des Schweigens. Der Stille. Auch wenn Magnus’ Finger einen schnellen Rhythmus auf sein Bein trommeln, dem Dan nicht ganz folgen kann.

Es stört ihn ein bisschen, aber er konzentriert sich lieber darauf als auf das Nichtssagen, das nur durchbrochen wird von seinem viel zu lauten Atem, der seine eigene Geschichte erzählt.
 

„Ich sollte gehen“, sagt Dan, als er die dunklen Augen auf dem Plakat gegenüber nicht mehr aushält.

Es hat etwas von einem Déjà-vu, als Magnus darauf nur fragt: „Willst du noch duschen?“
 

Kurz sieht Dan ihn an und überlegt. Dann schüttelt er den Kopf und steht auf, sucht seine Sachen zusammen.

Als er im Flur sein Hemd anzieht, steht Magnus plötzlich vor ihm. Noch splitternackt. Und obwohl Dan ihn schon mal so gesehen hat – schon zweimal –, muss er schlucken.
 

Sein Grinsen ist lasziver als die Art wie er sich gegen die Wand lehnt, unbekümmert, sorgenfrei.

„Vielleicht sehen wir uns ja wieder“, sagt er.

Jetzt, als Dan seinen Blick sehen kann, nichts verhüllt ist von Nacht und Nebel, versteht er nicht, wie er vor ein paar Tagen das Angebot für eine zweite Runde ausschlagen konnte.

Dann denkt er, Reiß dich zusammen.
 

„Three Nights Stand?“, sagt Dan und lässt es absichtlich wie eine Frage klingen. Vorsichtig. Er muss wieder auf sicheren Boden zurück.
 

Magnus lächelt nur und zwinkert. „Drei ist meine Glückszahl, Baby.“
 


 

Nein, Dan denkt nicht die ganze folgende Woche an Magnus. Er denkt nicht an seine langen Finger oder die Art, wie sie auf Dans nacktem Bauch aussehen. Er denkt nicht daran, wie er einmal mitten im Küssen die Augen aufgemacht und in Magnus’ Augen gestarrt hat als wären es zwei Universen. Er denkt nicht dran.
 

Fast gar nicht.
 

Er hat besseres zu tun, ehrlich.
 

Und spätestens eine Woche später (eine Woche, in der er Romans wissendem Grinsen und Ricardas genervten Seufzern ausweichen muss) hat er wirklich was zu tun.
 

Der Tatort sieht dieses Mal noch furchtbarer aus, aber in eine völlig andere Richtung.

Es herrscht Chaos.

Kein Stuhl, kein Tisch, nicht mal mehr die Schränke stehen noch an ihrem Platz. Überall liegen Klamotten verstreut als hätte grade jemand eine Piñata in die Luft gejagt, und durch die ganze Wohnung spannen sich Bahnen aus Toilettenpapier wie bizarre Spinnweben.

Es sieht eher aus wie eine aus dem Ruder gelaufene Party, nicht wie ein Einbruch.
 

„Die Besitzer können noch nicht sagen, was fehlt“, meint Ricarda, als Dan im Storchenschritt auf sie zukommt. „Aber Fernseher und Stereoanlage sind noch da.“

„Safe?“, fragt Dan.

Ricarda schüttelt den Kopf. Wäre auch zu schön gewesen. So einfach.
 

„Das ist jetzt der vierte in zwei Monaten“, meint Ricarda und runzelt die Stirn. „Die sind schnell.“

„Die wollen was“, stimmt Dan ihr zu.
 

Das ist so eine Sache mit Dan und Ricarda. Nicht ein Mensch auf dem Revier glaubt, dass die Einbrüche zusammenhängen. Nur sie beide sind fest davon überzeugt.

Am Anfang hat ihnen jeder ziemlich offen den Vogel gezeigt. Ricarda kann sehr überzeugend sein. Jetzt machen sie es nur noch hinter vorgehaltener Hand.
 

„Die Spurensicherung wird ewig brauchen.“ Ricarda schüttelt den Kopf und verzieht den Mund.

„Hast du die Nachbarn schon befragt?“

„Hab auf dich gewartet. Drei Stockwerke voller Leute, die eh keine Ahnung haben. Uh.“ Sie rümpft die Nase. „Ich überlass dir zu gern die Hälfte.“
 

„Vielleicht finden wir ja dieses Mal was.“

Ricarda breitet demonstrativ die Arme aus. „Hier?“ Sie kickt mit der Schuhspitze eine leere Klopapierrolle zur Seite und rümpft die Nase.

„Irgendwann müssen wir was finden. Die halten uns jetzt schon alle für bescheuert, dass wir nach Zusammenhängen suchen.“

„Es muss was da sein. Ist so ein…“

„… Gefühl, ja. Ich weiß.“
 

Mit einem Mal ist Dan wahnsinnig müde. Er streicht sich durchs Haar und sieht sich um. Die Leute von der Spurensicherung wuseln herum und machen Bilder.

So langsam verliert Dan die Hoffnung. Er braucht irgendetwas, was ihn ein Stück weiterbringt. Und wenn es nur ein winziges Stück ist, ein kleiner Schritt.
 

„Komm, machen wir die Befragung“, sagt er.
 


 

Auf der Türmatte steht „Fuck off“. Dan starrt einige Sekunden auf die Wörter und seufzt. Das ist erst die dritte Wohnung und er fühlt sich schon mehr als gerädert.

Die Klingel schrillt unangenehm laut hinter der Tür und sofort fängt ein Baby an zu schreien. Jemand flucht, farbiger als Dan es jemals gehört hat.
 

„Was“, schnauzt die Frau an, die ihm schließlich die Tür öffnet, aber so aussieht, als wolle sie sie ihm gleich wieder vor der Nase zuschlagen. Sie hält ein Baby im Arm, das an der Pfote eines Stofftigers lutscht, ihre Haare lösen sich aus dem Knoten auf ihrem Kopf – und trotzdem kommt sie ihm gefährlich vor.

„Ehm“, sagt Dan und muss sich räuspern. „Ich bin von der…“

„Ugh, Polizei? Jetzt?“ Die Frau wirft einen genervten Blick hinter sich und nickt dann. „Gut.“

Sie dreht sich um und geht in die Wohnung zurück. Dan zögert kurz und folgt ihr.
 

„Ich hab nicht viel Zeit“, sagt die Frau, setzt das Baby in einen Stuhl am Küchentisch und verschränkt die Arme vor der Brust. „Was wollen Sie?“

„Ich kann auch später wiederkommen, Frau…“ Mit hektischen Fingern durchsucht er seine Akte.

„Lena reicht“, meint sie ungeduldig. „Und später hab ich auch nicht mehr Zeit, also schießen Sie los.“
 

„Im Stockwerk unter Ihnen wurde eingebrochen“, fängt Dan an. „Das ist eine reine Routinebefragung, Sie…“

No shit“, brummt Lena. Aber zum ersten Mal klingt es eher belustigt als absolut angepisst. „Ihr Typen rennt seit Stunden um und durchs Haus, war ja klar, dass Sie irgendwann vorbeikommen. Schießen Sie schon los, ich hab nicht ewig Zeit.“
 

Dan atmet durch. Okay. Gut. Das kann er auch. Er ist nicht erst seit gestern im Dienst, echt jetzt, reiß dich zusammen.
 

„Haben Sie irgendwas mitbekommen heute Nacht? Geräusche, auffällige Menschen oder Autos?“

Sie schüttelt den Kopf. „Ich war die ganze Nacht nicht hier.“

„Warum?“

Ein Stirnrunzeln. „Date.“

„Wann sind Sie wiedergekommen?“

„So vor vier, fünf Stunden.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Konnte den Babysitter ja nicht ewig allein lassen.“

„Babysitter?“

„Mh.“

„Könnten Sie mir ihren Namen geben? Vielleicht hat sie was gesehen.“

„Er“, sagt Lena. Der Blick, den sie Dan zuerst, trieft vor Verachtung. „Mein kleiner Bruder hat auf den Teufel hier aufgepasst.“
 

Sie stupst das Kind an. Es lacht ihr zahnlos entgegen, quietscht. Lenas Seufzen wird ein bisschen weicher.
 

„Ich geb Ihnen seine Nummer, warten Sie.“ Und sie drängt sich an Dan vorbei in irgendein anderes Zimmer der Wohnung.
 

Dan bleibt zurück.

Das Baby starrt ihn an. Gluckst.
 

Unruhig verlagert Dan sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Mit Kindern kann er eigentlich ganz gut, aber Lena ist ihm unheimlich. Vielleicht hackt sie ihm den Kopf ab, wenn er ihrem Kind zu nahe kommt.
 

Stattdessen sieht er sich in der Küche um.

Auf dem Tisch liegen Bonbonpapiere und aufgerissene Briefumschläge, eine Zeitung von vorgestern. Am Kühlschrank hängen Notizzettel und Magnete in der Form von Totenköpfen. Ansonsten ist der Raum fast unpersönlich leer. Nur an einer Wand hängt ein weißer Rahmen wie von IKEA und präsentiert eine einzelne Spielkarte. Karo sieben.
 

„Brauchen Sie sonst noch was?“, fragt Lena und drückt ihm im Vorbeigehen eine Visitenkarte in die Hand.
 

„Nein, eigentlich…“ Er zögert. „Sind Sie gerade erst eingezogen? Ist so leer hier.“

Lena zuckt mit den Schultern. „Ich bin langsam mit dem Auspacken. Also?“
 

„Was? Ach so. Nein, das wäre alles. Danke. Melden Sie sich bitte, falls Ihnen doch noch was einfällt.“

„Wahrscheinlich eher nicht“, meint sie.
 

Mit einem Knall fällt die Tür hinter Dan ins Schloss.
 


 

Die restlichen Bewohner sind zwar freundlicher, helfen aber auch nicht weiter. Niemand hat etwas gesehen, nur ein schrulliger alter Mann behauptet, er habe mitten in der Nacht Geister heulen hören.

„Der sieht auch Hitler, wenn er abends genug getrunken hat“, sagt seine Nachbarin mit einem anklagenden Kopfschütteln.
 

Alles in allem also ein absolut ereignisloser Tag. Mit einem ungeklärten Einbruch mehr, aber was soll’s.
 

Dan ist es leid. Es sind Tage wie diese, wenn er sich wünscht, einen eintönigen Bürojob zu haben oder Taxifahrer zu sein oder irgendetwas, nur nicht Polizist.

Sein Vater ist Koch. Ein ziemlich guter sogar. Dafür ist er ständig nur am Arbeiten. Heute beneidet Dan ihn trotzdem.

Kochen ist leicht. Kochen bedeutet, einen klaren Plan vor sich zu haben. Natürlich kann mal was schief gehen. Aber in der Regel… wenn man dem Plan folgt und der Plan ist gut, geht nichts schief.
 

Dan will nur einen Tag lang wissen, was ihn erwartet.
 

Roman lacht ihn aus, als er mitten in der Nacht in Dans Wohnung poltert.

Dan liegt auf dem Sofa, Akten auf dem Sofa, auf seinen Beinen, auf dem Boden, auf dem Couchtisch, neben einer Tasse kaltem Kaffee. Er schreckt aus dem Schlaf hoch und wirft Roman einen wütenden Blick zu.
 

„Was willst du?“

„Mit dir – was läuft da? – Grey’s Anatomy gucken“, sagt Roman mit einem Blick auf den Fernseher. Er kichert.

Mist. Als Dan eingeschlafen ist, lief noch In Teufels Küche mit Gordon Ramsey.
 

„Wie spät ist es?“

„Früh genug“, ist Romans kryptische Antwort. „Willst du Kaffee?“
 

Dan seufzt und nickt. Er richtet sich auf dem Sofa auf und schaut auf das Chaos, das er um sich herum ausgebreitet hat.

„Hast nen neuen Fall?“, ruft Roman aus der Küche.

„Geht dich nen Scheiß an“, ruft Dan zurück. Seine Stimme klingt rau und müde.
 

„Also nicht.“ Roman lehnt sich in den Türrahmen und deutet auf die Papierhaufen. „Habt ihr das nicht digital oder so?“

„Wir sind hier nicht bei CSI“, brummt Dan. Das ist immer seine Standartantwort, wenn Roman ihn was zu seiner Arbeit fragt.

(Dan muss zugeben, dass er ziemlich nervig ist, was Polizeiserien angeht. Mit ihm kann man nicht mal Tatort gucken, weil er schon nach zehn Minuten genervt ist vom absolut unrealistischen Verhalten der Kommissare.)
 

„Pah“, schnaubt Roman. „Das guck ich eh nicht mehr. Kaum noch. Die haben im Grunde jede Folge die gleiche Story gehabt.“

Er verschwindet kurz und kommt dann mit zwei Tassen wieder.
 

„Besser als Grey’s Anatomy ist es vielleicht trotzdem“, gibt Dan zu und runzelt die Stirn in Richtung Fernseher. Wenn er das richtig versteht, steckt da eine Ärztin bis zum Ellbogen im Bauch eines Typen… weil der eine Bombe in sich drin hat? Nein, das kann nicht stimmen…
 

„Hey!“, protestiert Roman. „Die haben wenigstens noch halbwegs coole Charaktere. Bei diesen ganzen Crime-Sachen wiederholen sich die Leute irgendwie immer. Es gibt immer einen mit Problemen in der Vergangenheit und ein Supergenie und eine badass Frau.“ Er nippt an seinem Kaffee. „Ganz nett am Anfang, aber es ist immer wieder das gleiche. Navy CIS, Criminal Minds, egal.“
 

„Uh“, macht Dan und steht auf. „Wenn du nur hier bist, um über Serien zu reden, geh ich ins Bett.“

„Ist das eine Einladung?“

„Ich will meinen Schlüssel wieder, Roman!“, sagt Dan. Er schließt seine Schlafzimmertür hinter sich ab. Zur Sicherheit.
 

Die Erleuchtung kommt in dieser Nacht. Vielleicht sollte er Roman den Schlüssel doch behalten lassen.
 


 

„Wir sind so blöd!“, sind Dans erste Worte, als er am nächsten Morgen ungeduscht und unrasiert ins Revier stürmt. Jemand schnaubt spöttisch, aber Dan beachtet ihn nicht.

Ricarda starrt ihn an, als wäre er verrückt geworden; es ist ein Anblick, an den Dan sich gewöhnt hat.
 

„Schließ mich da bitte aus, ja?“, sagt sie. Trotzdem steht sie auf, als Dan mit einer seiner Akten wedelt. „Warum bist du blöd?“
 

„Die Charaktere!“, keucht Dan und es ist ihm egal, wie bescheuert er aussieht, wenn er die Akte über Ricardas Schreibtisch ausschüttelt und dann auf ein paar markierte Stellen zeigt.

„Es sind die Charaktere. Die Bewohner. In jedem Haus. Mindestens drei Familien, drei Leute über 70 und drei WGs. Mindestens eine Wohnung steht leer. Es wiederholt sich alles.“
 

Ricarda kneift die Augen zusammen. „Okay.“ Sie zieht das Wort in die Länge. „Und was soll uns das jetzt genau sagen? Wir können nicht durch die Gegend ziehen und Rentner aus ihren Wohnungen vertreiben.“
 

„Was?“, fragt Dan.

„Was?“, fragt Ricarda zurück.
 

Dan schüttelt den Kopf. „Die Häuser sind genau ausgewählt. Es geht nicht um die Wohnungen an sich, es geht um das drum herum. Als würden die Häuser bestimmte Kategorien erfüllen müssen.“

So langsam kommt Leben in Ricardas ausdrucksloses Ich-bin-nicht-beeindruckt-von-dir-Dan-Gesicht.
 

„Der erste Einbruch war im fünften Stock. Ein bisschen Schmuck, ein paar teure Bücher. Aber im fünften Stock. Kein Zeichen von gewaltsamem Eindringen.“
 

„Der zweite im dritten“, sagt Ricarda langsam, sieht sich die Akte an. „Bei dieser Frau, die grade den Müll runter gebracht hat. Zehn Minuten aus dem Haus, maximal.“
 

Ein Grinsen breitet sich auf Dans Gesicht aus. Jetzt fühlt er sich so wahnsinnig wie er wahrscheinlich aussieht.

„Die leer geräumte Wohnung. Das absolut größtmögliche Chaos“, sagt er. „Das sind keine einfachen Einbrüche. Kein normaler Diebstahl.“
 

„Kategorien“, nickt Ricarda. „Wie Anforderungen, die erfüllt werden müssen.“

„Ein Spiel“, sagt Dan. „Ein großes Spiel.“
 

Sie atmen. Sie sehen sich an.
 

„Aber“, sagt Ricarda dann und Dan spürt, wie das Wort in seine Hoffnung sticht wie eine Nadel in einen Luftballon. „Was bringt uns das.“
 

Sie sehen sich an. Sie atmen. Durch.
 

„Hm“, macht Dan. Es wäre gelogen, würde er sagen, er hätte noch nicht darüber nachgedacht. Was bringt ein Durchbruch, wenn sie direkt vor der nächsten Mauer stehen.

Er sieht runter auf das Chaos auf Ricardas Tisch.

„Sie müssen sich irgendwie absprechen“, sagt er schließlich. „Internet?“
 

Ricarda zuckt mit den Schultern. „Einen Versuch ist es wert. … Oder…“ Sie runzelt die Stirn, nimmt wieder die langen Listen mit den Hausbewohnern in die Hand.

„Oder sie kennen sich“, schließt sie ab. Sieht erwartungsvoll zu Dan hoch.
 

„Persönlich? Unwahrscheinlich.“

„Nicht unwahrscheinlicher als ein großer Wettbewerb, wer den blödesten Einbruch aller Zeiten auf die Beine stellt“, kontert Ricarda.
 

„Das ist Wahnsinn.“
 

Dan reibt sich mit den Handballen über die Augen.

Warum sollten sie sich kennen? Wie sollten sie sich kennen? Hätten sie nicht eine Verbindung bemerken müssen?
 

„Die machen das nicht erst seit gestern, Dan“, meint Ricarda. „Das ist durchgeplant bis ins letzte Detail…“

„Wir machen das auch nicht erst seit gestern.“ Dan stöhnt. „So schwer sollte das doch nicht sein. Wir sind hier nicht beim FBI oder so.“ Er vergräbt das Gesicht jetzt ganz in den Händen. So hat er sich das nicht vorgestellt.
 

Noch eine Weile stecken sie ihre Köpfe tief in Aktenberge, vergleichen Versicherungsfirmen und Vermieterbünde, suchen nach gemeinsamen Dachdeckerfirmen und Schornsteinfegern.

Es ist lächerlich.

Es ist lächerlich, weil sie das schon zehnmal gemacht haben, weil auch beim elften und zwölften und dreizehnten Mal nichts dabei rauskommen wird.
 

Da ist sie also tatsächlich. Die Wand hinter dem Durchbruch.
 

Dan hat Kopfschmerzen. Ricarda sieht mit jeder Stunde griesgrämiger aus, aber vielleicht auch ein bisschen entschlossener. Er wird sie nie ganz verstehen. Das ist womöglich ganz gut so.
 

„Ich gehe“, sagt Dan, als er auf die Uhr sieht und es schon weit nach Mitternacht ist. Wenn er jetzt nach Hause geht, hat er vielleicht die Chance auf ein paar Stunden Schlaf bevor Roman wieder in seine Wohnung einbricht und Dan ihm dafür danken muss, dass er ihn zumindest ein Stück weitergebracht hat.
 

Ricarda legt den Stift zur Seite, den sie seit einer halben Stunde gedankenverloren zwischen ihren Fingern herumwirbelt.

„Wir schaffen das, Dan. Wir kriegen sie.“
 

„Ich weiß“, sagt Dan. Auch wenn er sich grade ganz anders fühlt. Sein Kopf will die Hoffnung nicht aufgeben. Sein Kopf ist müde. Und tut weh. „Ich muss jetzt trotzdem ins Bett.“
 


 

Natürlich schafft er es nicht so weit. Genauer gesagt schafft er es nicht mal vom Parkplatz runter. Sein Auto heult mitleiderregend auf, hustet ein bisschen und gibt dann den Geist auf.
 

Dan lehnt seine Stirn gegen das Lenkrad. Dabei hatte der Tag doch so gut angefangen.

Er steigt mit ächzenden Gliedern aus dem Wagen. Wann hat er das letzte Mal Sport gemacht? Irgendeine Art von Training? Die Erinnerung ist blass und verschwommen genug, dass er seine Jacke enger um sich schlingt und sein Auto auf dem Parkplatz stehen lässt. Kann er sich morgen drum kümmern.
 

Es ist Wochenende. Die meisten Busse und Straßenbahnen fahren noch und wenn er Glück hat, erwischt er vielleicht eine, die ihn nach Hause bringt.

Wenn er Pech hat… eben nicht, aber im Moment ist es Dan auch egal. Er saugt die kalte Nachtluft tief in seine Lungen, lässt die Lichter der Stadt am Rande seines Sichtfelds schimmern und schaltet das Denken ab.
 

Dan ist Polizist geworden, weil sein Vater kein Polizist war. Er kann es sich nicht anders erklären. Vielleicht war es in seinem Leben die einzige Revolte, die er je gegen seine Eltern durchgezogen hat.

Von Anfang an hatte er keine hohen Erwartungen an den Job, aber umso höhere Erwartungen an sich. Er wollte ihnen zeigen, dass er das sein konnte, was er wollte. Dass er keinen vorgeschriebenen, geerbten Lebenslauf brauchte, um erfolgreich, um gut zu sein.
 

Jetzt ist er es. Jetzt ist er gut. Richtig gut sogar.

Und trotzdem läuft er durch die Straßen und fühlt sich wie ein Verlierer. Ein Verlierer gegen sich selbst, wie will er dieses Rennen auch gewinnen?
 

Dabei sieht er die Ziellinie, er sieht sie direkt vor sich. Und trotzdem ist sie soweit weg, er braucht nur noch…
 

„Ah, fuck.“
 

Jemand rempelt ihn von der Seite an, Dan taumelt und kann sich grade noch so an den Schultern des Jemand festhalten.
 

„Scheiße“, flucht er weiter. „Sorry, ich wollte nicht…“
 

Er bricht ab.
 

Dan blinzelt.
 

„Du“, sagt Magnus und sieht noch überraschter aus als vor knapp einer Woche, als Dan vor seiner Tür stand und ihm einen Kripo-Ausweis unter die Nase gehalten hat.

Der Schockmoment ist schnell vorbei. Dann grinst Magnus und seine Augen fangen das Licht der Bar auf, aus der er gestolpert ist.
 

„So sieht man sich wieder“, sagt er, fröhlich und ein bisschen angetrunken vielleicht. Dan kann Bier riechen, er steht so nah. „Siehst scheiße aus.“
 

„Es ist dunkel“, erwidert Dan. Und stellt fest, dass seine Hände immer noch auf Magnus’ Schultern liegen. Er lässt sie dort.

„Im Dunkeln ist gut munkeln“, grinst Magnus. Sein Atem wispert warm über Dans kalte Haut.
 

„Haben wir beide die gleiche Definition für munkeln?“, fragt Dan. Er fühlt sich angezogen von diesen Augen, von diesem Atem, von diesem Mann.

„Noch nicht.“
 

Mit einem Mal erscheint Dan dieser Tag nicht mehr so furchtbar. Gut, vielleicht schiebt er die deprimierenden Gedanken auch einfach nur zur Seite, aber es genügt. Es genügt, um ihm einen Schauer über den Rücken zu jagen, als Magnus sich vorbeugt und seine Lippen Dans streifen.
 

„Ich hab auf dich gewartet“, flüstert er, so leise, dass Dan es über die Musik aus der Bar kaum versteht.

Er versteht die Berührung. Das Lippen auf Lippen, Magnus’ viel zu weiche Haut unter seinen rauen Fingern.
 

Der Kuss gräbt sich so tief in Dans Körper, dass er nach Luft schnappen muss, als Magnus ihn schließlich loslässt. Er blinzelt und nickt.
 

„Munkeln“, sagt er.
 

Magnus lacht.
 


 

Dan fährt Magnus’ Wagen, wohl wissend, dass er von Magnus’ Wohnung aus noch länger nach Hause brauchen wird. Trotzdem scheint es richtig zu sein. Es fühlt sich richtig an.

Zumindest glaubt er, dass es sich so anfühlt. Schwer zu sagen, wenn eine Hand schon während der Fahrt unablässig über seinen Oberschenkel streift.
 

Magnus grinst ihn von der Seite an. Er ist vielleicht ein bisschen zu betrunken, aber sein Lächeln blendet Dans Verstand. Und seine Vernunft und überhaupt alles.
 

Er braucht das jetzt.
 

Der Weg die Treppe hoch in Magnus’ Wohnung kommt ihm dieses Mal viel länger vor. Liegt wahrscheinlich an Magnus. Und an Dan, der Magnus nicht widerstehen kann (oder will), wenn er ihn mit seinem ganzen Körper gegen das Treppengeländer drückt und küsst als würde es kein Morgen geben.
 

Und Dan will, dass diese Nacht nie endet. Will, dass er ewig seinen Mund über Magnus’ Mund legen kann, ihn schmecken unter dem ganzen faden Bier. Will seine Zähne über seine Haut ziehen und diese Stimme hören, diesen stockenden Atem, dieses Geräusch, das er macht, wenn…
 

Dan will, dass er in diesem Moment leben kann.

Ein Moment, der dunkel ist und er sieht nichts außer Magnus und hört nichts außer Magnus und denkt an nichts außer Magnus.

Das vor allem.
 

Nicht denken.
 

Nur.
 

Ah.
 

In dieser Nacht geht er nicht nach Hause. Zu müde. Ob auf eine schlechte oder eine gute (wirklich gute) Art, das kann er nicht wirklich sagen.

Er ist müde.
 

Und Magnus grinst schläfrig, als Dan einen Arm über seinen Bauch legt.

„Morgen krieg ich endlich“, murmelt er und gähnt, „meine zweite Runde.“ Er zieht Dan ein Stück zu sich ran.
 


 

Dan wacht auf. Langsam, Muskel für Muskel. Er braucht keine drei Sekunden, um sich zu erinnern, wo er ist.
 

Er grinst. Die Sonne scheint durch die Vorhänge auf sein Gesicht.
 

Das Bett neben ihm ist leer. Von irgendwo her hört er Geschirr klirren, eine Kaffeemaschine schnurrt leise.

Schon lang hat er sich nicht mehr so gut gefühlt.
 

„Na, auch schon wach?“, meint Magnus, der ihm Türrahmen auftaucht. Sein Lächeln ist heller als das Tageslicht, wärmer in Dan drinnen.

„Warum bist du schon auf?“, brummt er. „Du warst ziemlich voll gestern.“
 

Magnus zuckt lässig mit den Schultern. „Ich werde zum Frühaufsteher, wenn ich getrunken hab.“

„Oh Gott.“ Dan verzieht das Gesicht.
 

„Wenn du Frühstück willst, komm in die Küche“, lacht Magnus. Lacht ihn aus, aber es stört Dan herzlich wenig.

„Was ist mit der zweiten Runde?“, fragt Dan und streckt sich. Kann sich ein selbstgefälliges Lächeln nicht verkneifen, als er sieht, wie Magnus’ Augen über seinen Körper huschen.

„Später“, sagt er. Kratzige Stimme.
 

Daran könnte Dan sich gewöhnen.
 

„Okay. Ich zieh mir nur noch was an.“

„Tu dir keinen Zwang an“, sagt Magnus, zwinkert und verschwindet wieder.
 

An normalen Tagen kommt Dan kaum ohne Kaffee aus dem Bett. Egal zu welcher Tageszeit. Heute fühlt er sich, als könne er einen Marathon laufen. In der Horizontale am besten.
 

Er grinst in sich hinein, schiebt sich langsam vom Bett.
 

Woher kommt diese verfluchte gute Laune.

Vielleicht kommt sie ihm nur so gut vor, weil es ihm gestern so dreckig ging. Vielleicht ist nur der Kontrast so überwältigend. Vielleicht…

Vielleicht mag er Magnus auch einfach. Sex mit Magnus. Magnus. Egal.
 

Und vielleicht… vielleicht bedeutet es ja was, dieses ständige Aufeinandertreffen.

Einmal ist ein Vorfall, zweimal ist ein Zufall, dreimal ist ein Muster.

Ein Muster. Das er gerne weiterführen würde.
 

Gedankenverloren sammelt er seine Klamotten vom Boden auf. Er kann seine Hose nicht finden. Und es ist zwar verlockend, sich einfach so in die Küche zu setzen, aber… nein. Noch nicht. Ein anderes Mal.
 

Dan bekommt das Grinsen gar nicht mehr von seinem Gesicht. Ein anderes Mal. Ja.
 

Als er seine Jeans unter dem Bett hervorzieht, rutscht noch etwas anderes mit ans Tageslicht.

Dan will es schon zurückschieben, nur…
 

Er kennt das.
 

Wie von selbst greifen seine Finger danach. Was zum…
 

Ein weißer Rahmen. Wie von IKEA.
 

„Karo sieben“, murmelt er. Das hat er schon mal gesehen, genau das, aber wieso…

Einmal ist ein Vorfall, zweimal ist ein Zufall.
 

Dreimal?
 

Was zur Hölle geht hier vor.
 

Dan setzt sich aufs Bett. In seinem Kopf rast es. Sein Herz rast. Und alles dreht sich.

Wie kennen sich die Einbrecher? Wie wissen sie von den Häusern? Wer sind sie?

Wer sind sie.
 

Etwas schließt sich um Dans Arm. Etwas klickt.
 

„Tut mir leid“, sagt Magnus und klingt tatsächlich so, als er Dans Arm an das metallene Fußende des Bettes kettet. Mit Handschellen. „Das war nicht ganz so geplant.“
 

„Nicht ganz so“, wiederholt Dan. Er kann immer noch keinen klaren Gedanken fassen. Magnus’ Lächeln macht es nicht leichter.
 

Die Handschellen dafür umso mehr.
 

„Ja“, seufzt Magnus. Er deutet auf den Rahmen mit der Karte, den Dan jetzt so fest umklammert hält, dass seine Knöchel weiß hervortreten. „Ich hab’s abgehängt, nachdem du zum zweiten Mal hier warst. Dachte… na ja…“ Er zuckt mit den Schultern. Dann wendet er sich von Dan ab und zieht eine Reisetasche aus dem Schrank. Beginnt zu packen.
 

„Drei ist deine Glückszahl“, meint Dan. Verwirrt. Es ist grade der einzige Satz, den er fassen kann.

„Man darf hoffen“, entgegnet Magnus. „Ich meine…“ Er dreht sich wieder um. „Ich wusste, dass wir irgendwann geschnappt werden. Ich dachte nur nicht, dass derjenige so gut aussehen würde.“ Ein Zwinkern.
 

Atmen, Dan, sagt er sich. Atmen.
 

„Aber du wusstest, dass ich auf den Fall angesetzt war, du wusstest…“

Magnus schnaubt. „Jaja. Lena hat’s mir auch schon gesagt.“
 

Lena. Die unheimliche Frau mit dem Kind.
 

No risk, no fun“, summt Magnus. „Das hat dich nur noch attraktiver gemacht.“
 

Dan kommt sich vor wie in einem schlechten Film. Wenn er das Roman erzählt… oder Ricarda… fuck.
 

„Damit kommt ihr nicht durch“, knurrt Dan, zieht an den Handschellen, obwohl er weiß, dass es vergeblich ist.

„Sind wir doch schon.“ Fast überrascht sieht Magnus ihn an. „Wir sind durch. Wir haben’s geschafft.“
 

„Vier Wohnungen? Was wollt ihr damit? Dieses ganze Spiel…“
 

„Oh.“ Jetzt ist er wirklich überrascht. „Das hast du rausgefunden. Bist ehrlich gut. Wirst noch weit kommen.“
 

„Aber was ist der Sinn dahinter?“ Dan brüllt fast. Er will aufspringen, aber die Fesseln zwingen seinen Oberkörper in einen eigenartigen Winkel.
 

„Es gibt keinen“, zuckt Magnus mit den Schultern. Dann verzieht er das Gesicht. „Oder… das stimmt nicht ganz. Es gibt schon einen. Würdest du nicht verstehen. Aber es hat Spaß gemacht.“ Er grinst. „Darf ich?“
 

Er will Dan den Bilderrahmen aus den Händen zieht, aber Dan hält fest. Und zieht selbst, mit einem Ruck, den Magnus nicht erwartet. Dann liegt er auf ihm.

Sein Gesicht so nah.
 

Dan will ihn beißen. Und nicht auf die gute Art.
 

„Es tut mir wirklich leid“, sagt Magnus leise. Presst seine Lippen auf Dans, erst fast keusch, nur Lippen auf Lippen, dann plötzlich. Hungrig.

Dan versucht mitzuhalten, die Oberhand zu gewinnen, aber es ist schwer.
 

So schwer.
 

Keuchend löst Magnus sich wieder. Nimmt ihm den Rahmen jetzt doch ab.

Dan hat gar nicht bemerkt, wie er ihn losgelassen hat.
 

So eine Scheiße. So eine verdammte…
 

Magnus packt den Bilderrahmen zu seinen Klamotten in die Tasche. „Wenn ich weg bin, ruf ich deine Kollegen. Die sollen dich abholen.“ Er richtet sich auf und zum ersten Mal sieht Dan wirklich… sieht Dan ihn.
 

Er weiß nicht, wie er es beschreiben soll.

Da ist Magnus der Einbrecher, der Dieb, der ihn an ein Bett fesselt.

Da ist Magnus der Verführer, der ihn küssen kann bis ihm die Luft ausgeht.
 

Und jetzt ist da Magnus. Der Typ im Superhelden-Shirt, der plötzlich Sinn macht.
 

„Vielleicht“, sagt Magnus und zögert sichtlich. „Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.“
 

Warum sollte er das sagen? Warum sollte er das auch nur hoffen? Wenn Dan ihn das nächste Mal sieht, dann wird er ihn in die hinterste, dunkelste Zelle verfrachten, er wird dafür sorgen… er wird… er…
 

„Vielleicht“, meint Dan. Will seine Stimme kühl klingen lassen, aber es gelingt ihm nicht ganz. Nicht ganz.
 

Magnus strahlt. „Ich freu mich drauf.“
 


 

ENDE



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Finkel
2019-10-28T11:30:45+00:00 28.10.2019 12:30

Die Stelle zum Aufhören war fies aber genau richtig.
Ich mag die Geschichte, auch wenn schon nach der Hälfte zu spekulierten beginnt, wer der Einbrecher sein könnte.
Aber darum geht es ja nicht.
Eher dabei dem Charakter beim Auftauen zuzuschauen :)

Hat jetzt wenig damit zutun aber kennst du „ der Joker“ von Markus Zusak wegen der Spielkarte musste ich dran denken.




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