Weg hier
Lost Angel
Kapitel 16 – Weg hier
Jemil’s PoV
Ich wusste, dass es eigentlich sinnlos war. Der überaus werte Victor – wenn ich
ihn mal so nennen wollte – hasste mich. Lag nur an meinem menschlichen Blut. Ich
war einfach niedriger dadurch. Zumindest für ihn.
„Wieso ist der überhaupt bei euch?“, fragte Jesko. Gerade, als wir eine riesige
Halle betraten. Ich schlich an der Wand entlang. Ich fühlte mich dort um einiges
sicherer. Und so blieb auch der Werwolf eher am Rand. Der Mond würde bald zu
sehen sein und immerhin war es Vollmond.
„Meine Familie sind direkte Nachkommen von ihm. Deswegen“, gab ich monoton zur
Antwort. Drückte mich noch etwas enger an eine der Wände. Das Mondlicht war einfach
nur eklig. Dabei war der Mond noch hinter einer Wolke verborgen.
„Und er kann wirklich unter der Sonne leben?“ Jesko machte wirklich einen verwirrten
Blick. „Die Ersten konnten das.“ Ich verstand nicht mal, wieso er noch in der
Finsternis lebte, wenn er genauso gut ins Licht könnte. Ich wollte hier unbedingt
raus und konnte es nicht. Aber er könnte und tat es nicht.
„Jemil!“ Eine eiskalte Stimme erfüllte den Raum. Ließ sogar mich erzittern. Jesko
verkroch sich gleich in die nächste Ecke. Eigentlich durfte er auch gar nicht hier
sein.
„Du besudelst diesen Raum schon mit deiner Anwesenheit und dann schleifst du mir
auch noch eine solche Dreckstöle von Werwolf an. Ich kann mir gar nicht vorstellen,
dass du wirklich mein Ur-Enkel bist.“ Er sah kaum 10 Jahre älter aus als ich. War
es aber um einiges mehr. Ein paar Tausend würden es wohl mit Leichtigkeit treffen.
Ich fixierte mit den Augen einen undefinierbaren Punkt auf dem Boden. Er hasste
mich wirklich. „Ur-ur-ur-Enkel“, flüsterte ich. „Was hast du gesagt?“ Victor
drückte meinen Kopf hoch. „Ich bin euer Ur-ur-ur-Enkel.“
Mein Atem begann zu stocken. Jetzt traute ich mich gar nichts mehr zu sagen. Das
Letzte war ohnehin schon falsch. Er würde mich einfach umbringen. Ohne mit der
Wimper zu zucken. Ein ganz typischer Vampir eben.
Ich fuhr zusammen, als er seine riesigen Schwingen spannte. Graue Flügel, die an
die von einem Dämon erinnerten. Mit spitzen Enden. Ohne große Mühe konnte er
damit jemanden aufspießen. Fast Hilfe suchen, wanderte ich mit meinem Blick durch
den Raum. Wo war nur Jesko hin?
„Was willst du hier überhaupt, Missgeburt?“, knurrte Victor. Rammte eine Spitze
seiner Flügel durch meine rechte Hand, die er mir kurz zuvor nach oben gedrückt
hatte.
„Ich … ich wollte fragen, ob ich … von hier … weg darf.“ Mehr als ein Flüstern
war es nicht. Etwas anderes brachte ich auch gar nicht heraus. Wieso half mir den
Jesko nicht?
„Etwa mit dem Werwolf?“ Langsam nickte ich auf die Frage. Versuchte krampfhaft
nicht zu Wimmern.
Blut lief an meinem Arm hinunter. Tropfte ungehindert auf den Boden. Wo sich
schon eine Pfütze bildete. Sich zudem auch durch die Fugen der Fließen floss. Wie
wenn es von hier weg wollte.
Ich begann zu zittern. Sanft viel das Mondlicht durch das riesige Deckenfenster
in den Raum. Mein Blick wanderte zu diesem hoch. Schlagartig weiteten sich meine
Augen. Es war Vollmond. Wieso verängstigte mich das überhaupt? Jesko hatte sich
doch nur verwandelt. Er würde sich nicht unter Kontrolle und mich wohl einfach
mit zerreißen. Wenn er überhaupt so weit kommen würde.
„Lasst mich bitte los“, flehte ich. Erntete aber nur einen bösen Blick. „Wieso
sollte ich?“ Ein knurren Beantwortete aber auch gleich seine Frage. Victor drehte
sich leicht um. Vorstellen konnte ich mir schon, was er sah.
Er zog seinen Flügel aus meiner Hand und ich sank auf den Boden. Kauerte mich für
einen Moment zusammen. Die Wunde würde wohl so bald nicht heilen. Und dennoch
schneller, als bei einem Menschen.
Ein weiteres wütendes Knurren zerstörte die Stille, die sich im Raum breit gemacht
hatte.
„Du Biest wagst es, dich hier zu verwandeln?“, zischte Victor.
Mühsam raffte ich mich hoch. Torkelte einfach an ihm vorbei. Ich konnte mich
nicht richtig auf den Beinen halten. Weiß Gott wieso. Zaghaft schwankte ich auf
Jesko zu. Er hatte wirklich seine Wolfsform angenommen. Fletschte die Zähne.
Knurrte immer noch.
Ich hatte nicht einmal richtig Angst vor ihm. Mein Hündchen würde mir doch nie
wehtun. Das könnte er doch nie.
„Na beruhige dich, Jesko“, murmelte ich. Stand schon direkt vor ihm. Er hatte
sich nicht mehr gerührt. Nur noch diesen eigentlich Angst einflössenden Laut von
sich gegeben. Immer und immer wieder.
Sanft legte ich die Arme um ihm. Das sein Fell so weich war, hätte ich nicht
gedacht. Es war richtig flauschig.
Leicht seufzte ich. Sein Atem raste. War mit keinem Maß zu messen.
Ich wollte mich noch einen Moment an ihn drücken, doch da drückte er mich auf
einmal weg. Ich landete auf dem Boden. Hörte eine Schrei. Sofort presste ich die
Augen zusammen. Victor hatte ihn doch sicherlich umgebracht. Mein Jesko. Und ich
konnte ihm nicht einmal helfen.
Vorsichtig drehte ich mich um. Hätte es aber am Liebsten gleich gelassen. Der
Körper des Vampirältesten lag schlaff auf dem Boden. Sein Kopf war zwischen
Jeskos Klauen. Der ihn aber fast achtlos fallen ließ.
Ich rutschte zurück. Bis ich die Wand spürte. Jetzt hatte ich vor ihm Angst.
Wieso tat er so etwas? Würde er das mit mir auch einfach tun?
Er tapste zu mir. Beugte sich über mich. Sein Atem schlug gegen mein Gesicht.
Roch so dreckig. Meine Augen sprangen zwischen den seinen immer wieder hin und
her. Konnten sich nicht festlegen. Schon eines alleine jagte mir einen Schauer
über den Rücken.
„Jesko“, flüsterte ich, als er an mir roch. Seine eisige Nase wanderte über
meinen Hals. Genauso wie seine schon fast pfotenähnlichen Hände ihren Weg über
meinen Körper suchten.
Ich drückte mich immer enger an die Wand. Presste die Augen zusammen. Spürte
plötzlich seine Zunge. Sie glitt über mein Gesicht. Erkannte er mich? Wusste er
wer ich war?
„Jemil?“ Ich wagte es langsam wieder die Augen zu öffnen. Er blickte mich fast
wie ein treuer Hund an. Doch selbst das ließ nicht gerade Vertrauen in mir wachsen.
Er war noch immer in dieser Form. Und seine Klauen waren Blut verschmiert. Genauso
wie sein Maul. Hatte er sogar etwas von ihm gefressen?
Ich wusste nicht, wie lange wir so da gesessen sind. Ob es nur Minuten oder sogar
Stunden waren. Zumindest rappelte ich mich irgendwann auf. Wollte hier weg. Doch
er schlang die Arme um meine Hüfte.
„Tut mir leid. Ich konnte nicht anders. Er hat dir wehgetan“, flüsterte Jesko.
Schmiegte den Kopf an meinen Bauch. Ich presste die Auge wieder zusammen. Als ich
sie wieder öffnete fuhr ich mit den Fingern über seinen Kopf. Kraulte ihn ganz
leicht hinterm Ohr. Sanft summte er. Ließ seine Hände wieder auf den Boden
wandern.
Binnen weniger Minuten hatte er sich wieder zurückverwandelt. Scheinbar hatte er
es nicht einmal selbst bemerkt. Er blickte mich nur mit großen, traurigen Augen
an.
„Es tut mir wirklich leid“, flüsterte er wieder. Wie oft wollte er sich denn noch
entschuldigen. Jetzt war es doch ohnehin schon zu spät.
Sanft wischte ich ihm übers die Lippen. Etwas von dem Blut musste weg. Es widerte
mich nämlich jetzt schon an. Vor Ekel wischte ich meine Finger an seinem Shirt
ab. Ich wollte das Zeug wieder weg haben.
„Du trinkst es. Willst es aber nicht an den Händen haben.“ Zärtlich lächelte
Jesko. Legte die Arme wieder um mich. Drückte mich vorsichtig an sich. Sein Herz
raste. Natürlich. Er hatte gerade einem Vampir einfach den Kopf abgerissen.
Wahrscheinlich wusste er nicht einmal selbst, dass er so stark war.
„Wir müssen hier weg“, flüsterte ich. Versuchte mich aufzurappeln. Doch er presste
mich wieder auf den Boden. Fuhr mit den Finger an der Innenseite meiner Schenkel
entlang.
„Jesko! Hör auf! Dafür ist jetzt wirklich keine Zeit!“ Ich versuchte mich
krampfhaft von ihm zu lösen. „Es ist jetzt doch egal, wie viel wir von diesem Ort
noch besudeln. Das Blut eines Ältesten haben wir hier schon verteilt.“ Ich zappelte
bei seinen Worten. „Du hast es verteilt. Du hast ihn getötet!“
Mein Atem stockte. Langsam wurde ich panisch. Dieses Gefühl wollte ich gar nicht
bei ihm haben. Zu oft hatte ich es schon in anderen Situationen – die wohl
schlimmer waren – erleben müssen.
„Bitte Jesko! Hier kann jederzeit irgendein Vampir reinkommen. Dann sind wir tot!“
Er löste langsam die Umarmung. Ließ sogar mit seinen Fingern von mir ab. Ich
konnte mich wieder hoch raffen. Schwankte leicht. Immer noch tropfte Blut von
meiner Hand aus auf den Boden. Es wollte wohl gar nicht aufhören zu bluten. Wie
ich diese verfluchte rote Flüssigkeit doch eigentlich hasste. Das Einzige, für
das sie gut war, war um sie zu trinken. Aber das konnte ich weder mit meinem
eigenen noch jetzt mit dem von Victor.
Langsam wanderte mein Blick zu dem Ältesten. Wie kaltblütig war Jesko eigentlich
wirklich? Er konnte immerhin einfach jemanden umbringen.
Der Werwolf stand langsam auf. Stützte sich mit den Armen links und rechts neben
mir ab. So konnte ich wieder nicht weg und hing hier fest.
„Du wolltest gehen“, flüsterte er mir ins Ohr, „aber vorher könntest du dir doch
etwas von seinem Blut holen. Dann könnten wir einfach von hier weg.“ Ich
schüttelte langsam den Kopf. „Jetzt nicht mehr. Ich würde den Tod mit trinken.
Darauf hab ich nicht wirklich Lust.“
Ich legte die Arme über seine Schultern. Sah ihn für einen Moment an, bevor ich
mich mehr oder weniger unter ihm hervor kämpfte. Er blieb noch einen Moment
stehen. Drehte sich dann zu mir. Atmete mit einem Seufzen aus. Ich nahm zärtlich
seine Hand. Zog ihn hinter mir her. Wenn ihn hier jemand erwischen würde, wäre er
tot. Das wollte ich nicht. Er wollte mich doch wieder zum Fliegen bringen. Dazu
sollte er noch kommen. Und das lebendig.
„Seit wann hältst du mich denn so fest?“, fragte Jesko. Ich hatte gar nicht
bemerkt, wie ich krampfhaft seine Hand drückte. Wollte ich ihn denn gar nicht
mehr loslassen? „'Tschuldigung“, nuschelte ich. Wurde aber gleich von ihm sanft
gedrückt. Das kam mir eigentlich mehr so vor, als ob es nicht wirklich wäre. Als
ob es gar nicht passieren würde.
„Komm endlich.“ Ich versuchte mich von ihm zu lösen. Wir mussten einfach von hier
weg. Und trotzdem waren wir erst bis zur Tür gekommen.
Jesko hm-te nur zur Antwort. Ließ sich schließlich gefügig von mir weg ziehen.
Ich stolperte samt ihm auf den Gang hinaus. Blickte mich erst einmal nervös um.
Bis jetzt war niemand zu sehen. Das könnte sich aber binnen Minuten ändern. Es
würde wohl keinem sehr gut gefallen, dass Victor tot war. Und es würde wohl
ohnehin alles auf mich fallen. Selbst wenn ich nichts damit zutun hätte – was ich
leider Gottes hatte. Immer fiel alles auf mich, wenn irgendetwas passierte. Der
Mischling war's. Da hatte ich schon viel zu oft gehört. Und dabei verstand ich
früher dieses Wort nicht einmal. Hatte nicht verstanden, wieso sie mich als
'Mischling' bezeichneten.
„Willst du jetzt auch ohne die Erlaubnis von ... Victor mit mir von hier weg?“
Jesko riss mich aus meinen Gedanken. Fast zaghaft begann ich auch zu nicken. Was
sollte ich auch hier noch zu suchen haben? Wer würde mich auch jetzt noch hier
haben wollen?
Ich hörte Schritte, die ziemlich schnell näher kamen. Hatte es schon jemand
bemerkt? Das ging doch eigentlich nicht. Denn hätten wir doch jetzt sehen müssen.
Mein Herz begann zu rasen. Ich drückte Jesko gegen die Wand. Der ließ das sogar
mit sich machen. Spürte er meine Panik?
„Beruhige dich. Der kommt aus der anderen Richtung“, hauchte er mir ins Ohr. „Ist
doch egal. Dein blutverschmiertes Gesicht würde man aber trotzdem sehen.“ Ich
wischte ihm wieder übers Angesicht. Viel half es ohnehin nicht. Aber zumindest
ein bisschen.
„Das wird doch nichts.“ Wie er mich anlächelte. So unschuldig. Dabei war er das
doch gar nicht. Würde es jetzt sicherlich auch nicht mehr werden.
„Jemil?“ Ich zuckte zusammen. Wirbelte herum. Drückte dabei Jesko noch mehr an
die Wand. Der jaulte kurz auf. „Was machst du denn hier? Wenn dich jemand sieht.
Du weißt doch, dass dich hier keiner haben will. Victor ist doch für dich tabu.“
Wieso musste es gerade Joe sein? Wieso? Der Kerl hatte einen größeren Knall, als
es jede Bombe auf diesem Planeten je haben wird.
Joe zog eine Augenbraue hoch. „Und was macht der Werwolf hier?“ Ich ging einen –
winzig kleine – Schritt nach vorne. Nur damit Jesko nicht ganz so zwischen mir
und der Wand eingeklemmt war. „Von hier wegbringen“, meinte ich sicher. Gelogen
war es doch ohnehin nicht. Er musste sowieso von hier weg. Genauso wie ich.
„Ok.“ Es wirkte nicht so, als ob mir Joe wirklich glauben würde. Damit hätte er
aber auch Recht.
Ich schob Jesko schon wieder vor mir her, als er sich noch einmal an mich wendete.
„Weißt du, wieso Mila geheult hat?“ Abrupt blieb ich stehen. Sie hatte noch mal
geweint? Doch nicht wieder wegen mir und Jesko? Das wäre doch eigentlich dumm.
Schon immer wusste sie doch eigentlich, dass ich nichts von ihr wollte. Gar
nichts. Wir waren doch immer nur Freunde. Mal bessere und mal schlechtere. Und
dann heult sie wirklich wegen mir?
„Nein“, meinte ich schließlich knapp. Drückte den Werwolf weiter. Langsam sollten
wir uns wirklich beeilen. Joe ging jeden Tag zu Victor. Jeden verfluchten Tag.
Nur um sich bei ihm einzuschleimen. Zum Titel 'Lieblings-Ur-ur-ur-Enkel' war er
schon aufgestiegen. Was für ein Glück für mich zumindest, dass er nicht mein
Bruder war, sonder nur irgendein weitläufiger Cousin. Und trotzdem war er manchmal
sogar nützlich. Doch wirklich nur manchmal.
„Willst du wirklich irgendetwas mitnehmen?“ Jesko blickte mich musternd an, als
ich einen Kleiderschrank durchwühlte. „Nur einen langen Mantel“, antwortete ich.
Irgendwie musste ich mich doch vor dem Sonnenlicht schützen. Da würde so etwas
wohl am besten helfen.
Jesko zuckte knapp mit den Schultern. Er brauchte ohnehin nichts. Werwölfe konnten
gut und gerne durch die Sonne marschieren und sich sogar bräunen. Das würde ich
nie können. Die Schatten würden das Einzige für mich bleiben.