Und wieder ist er da
Lost Angel
Kapitel 25 – Und wieder ist er da
Jesko’s PoV
Ich hätte ihm vielleicht zumindest sagen sollen, wo ich hin wollte. Doch jetzt
war es auch schon zu spät. Er würde wohl schon viel zu weit weggelaufen sein.
Hoffte ich zumindest. Er würde doch auf mich hören.
Ich wollte diese Werwölfe zurückhalten. Zurückhalten von Jemil. Wenn er den
gespürt hatten, den ich dachte, dann wäre es wohl wirklich das Beste, wenn ich
mich hier um diese Werwölfe kümmern würde.
Ein Jaulen durch zog die Stille, die eigentlich nur vom Knistern der Feuer
gestört wurde. Das klang nach keinem von den Werwölfen, die bei Jamils Familie
lebten. Da war ich mir fast sicher.
Ich drehte mich kurz um. Natürlich sah ich den Vampir nicht mehr. Wendete mich
dann wieder in Richtung Dorf. Es waren nur noch wenige Meter bis zu den ersten
Häuser. Und die Standen schon in Flammen. Was, wenn es wirklich nicht die
Werwölfe waren, die bei Jemils Familie lebten. Dann war er da draußen jetzt ohne
Grund alleine.
Da spürte ich aber schon den Schlag einer Pranke. Stolperte einige Schritte
zurück. „Fuck!“, zischte ich. Tastete an meine Wange. Blut lief daran herunter.
„Was willst du?“, brüllte mich ein Mädchen mit tiefschwarzem Haar an. Sie hatte
sich gerade zurück verwandelt. Ich durfte mich wohl glücklich schätzen, dass mich
kein Mann erwischt hatte.
„Haut von hier ab!“, erwiderte ich nur fast schon gekonnt kühl. Irgendwie hatte
wohl Jemil etwas auf mich abgefärbt.
„Ich lasse mir doch von einem Schossköter nichts sagen.“ Das Knurren von noch
mehr Wölfen hörte ich, als sie das sagte. Ich kannte keinen einzigen von diesen
Werwölfen. Dann hätte ich es mir wohl eigentlich sparen können zurückzukommen.
Aber wiederum musste ich sie auch davon abhalten, dass sie hier einfach alles in
Schutt und Asche legten. Obwohl es nicht mehr viel half.
Ich ging einige Schritte zurück. Schnee knirschte unter meine Füßen. Wenn sie
mich anfallen würden, dann könnte ich mich ohnehin nicht wehren. Nicht gegen
alle. Und wenn ich jetzt einfach sterben würde, hätte ich auch noch das
Versprechen gegenüber Jemil gebrochen.
„Ich will mich wirklich nicht mit euch streiten“, versuchte ich ruhig von mir zu
geben, aber etwas Angst stieg schon in mir hoch. Die meisten der Werwölfe hatten
Blut verschmierte Hände. Von ihren Gesichter einmal ganz abgesehen.
„Dann verschwinde wieder und lauf zu deinem Fledermäuschen.“ Einer der Werwölfe,
die um mich standen hatte das gesagt. Woher wussten sie von Jemil? „Denn sollten
wir doch nicht erwähnen“, fauchte ihn schon ein anderer an.
Ich blickte mich verwirrt um. Waren sie – so zu sagen – auf das Dorf angesetzt
worden um mich von Jemil wegzulocken? Ich wirbelte herum und lief los. Wer sollte
so etwas tun? Pio? Er sollte sich trauen und Jemil noch einmal anrühren. Dann
wäre er totes Fleisch!
Die Werwölfe verfolgten mich nicht. Also gehörte ich wohl wirklich nicht zu ihren
Zielen. Besser für mich.
Von weiten nahm ich schon den Geruch eines zweiten Vampirs war. Es war eher schon
ein beißender Gestank.
Das Dorf hatte ich bald weit hinter mir gelassen, als ich eine Blutspur
entdeckte. Ich war mir im Klaren, dass das von Jemil war. Er hatte ihn also
wieder angerührt. Dieses verfluchte Schwein.
Mit etwas Mühe konnte ich der Blutspur folgen. Mit der Zeit hörte ich auch immer
wieder ein und dieselbe Stimme. Jemil! Jeder Schrei von ihm ließ mich nur
schneller laufen. Dabei war ich schon längst außer Puste.
Immer mehr kam ich ihn die Nähe des Waldes. Und wieder durchschnitt ein Schrei
die Nacht. Er brüllte vor Schmerzen. Das Pio es wirklich wagen würde ihn wieder
anzurühren.
„Bruder.“ Darauf folgte nur ein Ächzen. Aber ich konnte einfach nicht definieren,
woher es kam. Es war, als würden die Bäume jeden Laut widerhallen lassen.
Nicht einmal seinen Geruch konnte ich mehr wahrnehmen. Dabei war meine Nase
eigentlich gerade dafür geeignet irgendjemanden rein wegen seines Duftes zu
finden.
Es blieb auf einmal für eine ganze Weile ruhig. Nur noch das gelegentliche
Knirschen des Schnees, wenn ich von einem Bein auf das andere trat, erfühlte den
Wald. Wieder schnupperte ich ihn die Nacht hinein. Aber nichts. Es war wie, wenn
sie gar nicht hier gewesen wären.
„Jesko!“ Dieser Schrei ließ mich zusammen fahren. Ich war doch so nah bei ihm und
dennoch konnte ich ihn nicht finden. „Jemil“, flüsterte ich. Einfach loszulaufen
wäre wohl nicht das Wahre, was ich tun könnte. So würde ich ihn nur noch weniger
aufspüren können. Und seine werten Bruder erst recht nicht.
Doch da stieg mir endlich wieder der Geruch von Blut in die Nase. Jemils Blut. Es
war nicht schwer der Spur wieder folgen zu können. Ich schlich um einige Bäume
herum. Pio musste mich ja nicht unbedingt sehen – und erst recht nicht hören –
wenn ich kurz davor war ihn in der Luft zu zerreißen. Und das nur, weil er meinen
kleinen Vampir wieder angerührt hatte.
Ich hörte ein Wimmern und leises Flehen. Und das erste Mal auch Pio. „Du kleiner
Idiot wirst dafür bezahlen, dass du einfach weggelaufen bist.“ Jemil jaulte auf.
Ich atmete einmal tief durch.
„Lass ihn los!“ Gerade fühlte ich mich irgendwie, wie so ein Hollywood-Film-Held,
der seine Geliebte vor den Bösewichten rettete. Nur das hinter mir nicht das
Heldengesetzt § 7 „Der Held kann nicht verlieren“ stand. Eigentlich hatte ich das
Pech, dass keines dieser Gesetze für mich galt.
Pio sah mich mit einem kalten Blick an. „Da ist ja das Wölfchen. Dabei dachte
ich, diese Straßenköter hätten dich zerfetzt.“ Dann hatte er sie also auf dieses
Dorf gehetzt. Wieso war ich nur so verdammt blöd gewesen und bin zurückgelaufen?
Ich hätte Jemil nicht alleine lassen sollen.
Apropos Jemil. Er wurde von seinem älteren Halbbruder gegen eine Baum gedrückt.
Sein Shirt war aufgerissen. Dann hatte wohl Pio das gleiche wie beim letzten Mal
mit ihm vor. Ich fletschte die Zähne. Knurrte überdeutlich.
„Ich habe gesagt: Lass ihn los!“, zischte ich. Doch dafür erntete ich nur ein
überhebliches Grinsen. „Zwing mich doch.“ Er erhöhte den Druck auf Jemil. Machte
sich aber schon in der nächsten Sekunde über dessen Brustwarzen her. Der jüngere
Vampir keuchte.
„Lass ihn los!“, brüllte ich jetzt. Irgendwie konnte ich mich noch zurückhalten,
dass ich mich nicht auf ihn stürzte. Lange würde das nur nicht mehr herhalten.
Jemils Blick war glasig. Er würde wohl bald einfach zusammensacken. Es sah nicht
einmal so aus, als ob er überhaupt jetzt noch etwas wahrnehmen würde. Es wirkte
nur so, als ob er irgendetwas immer und immer wieder vor sich hinmurmeln würde.
Aber ich versuchte es gar nicht erst von seinen Lippen abzulesen.
„Was willst du denn jetzt tun, Wölfchen? Vielleicht dich verwandeln und ihn
gleich mit umbringen, wenn du dann auf mich losgehst? Ich kann mir kaum
vorstellen, dass du das mit deinem Gewissen vereinbaren kannst.“ Ich hätte kotzen
können bei diesem verfluchten Grinsen.
Doch einen Plan hatte ich wirklich nicht. Was sollte ich denn auch machen? Ein
falscher Schlag mit meine Klauen und ich könnte Jemil auch mit treffen. Also
konnte ich zumindest schon einmal meine Wolfsform außen vorlassen. Auch wenn ich
nicht einmal richtig wusste, wie ich mich überhaupt verwandelte. Immer wieder
ohne den Vollmond.
Ein Schlucken verlor sich in meiner Kehle. Eigentlich war ich doch genauso
hilflos wie Jemil. Nur das ich gerade nicht an einen Baum gedrückt wurde.
Pio konnte jetzt eigentlich mit ihm machen was er wollte. Mir waren doch
sprichwörtlich die Hände gebunden. Nur löste sich dieses fast schon Selbstmitleid
auf, als der ältere Vampir wieder begann Jemil mit seiner Zunge zu berühren. Ich
knurrte erneut. Das könnte ich doch jetzt nicht einfach so mit ansehen, wie
dieses Arschloch über meinen Jemil herfiel. Ihn einfach so missbrauchte.
„Ach hör doch auf, Wölfchen. Genieß es lieber!“ Das könnte und würde ich nicht
einmal wollen. Ohne weiter darüber nachzudenken stürzte ich mich doch auf ihn.
Ich hatte wohl so etwas wie eine Überraschungseffekt. Mit gerade zu spielerischer
Leichtigkeit riss ich Pio zu Boden.
Leider hielt das nicht lange. Er gab mir einfach einen Stoß von sich weg. Als ich
etwas schmerzhaft auf dem zugeschneiten Waldboden landete, blickte ich mich erst
einmal nach Jemil um. Er war zusammengesunken und zitterte am ganzen Leib.
Mein Blick schweifte sofort wieder zu Pio. Und genau das tat der mir gerade
gleich. Wütend funkelte er mich an. „Du kleine Missgeburt“, zischte er.
Ich packte nur schnell Jemil am Arm und zog ihn zu mir. Sammelte auch gleich
seinen Mantel mit von der Erde auf und warf ihm diesen um die Schultern. Als er
sich an mich lehnte hörte er sogar auf zu zittern. Ob er es spürte, dass ich es
war? Zärtlich strich ich ihm über die Wange. Ließ dabei Pio keinen Moment aus den
Augen.
„Du kleines, dummes Wölfchen. Er kommt doch ohnehin immer zu mir zurück.“ Ich hob
eine Augenbraue. „Wird er nicht! Wieso sollte er auch?“ Ich drückte Jemil noch
etwas enger an mich. Dabei auf eine Antwort wartend.
„Weil er es doch mag.“ Meine Augen weiteten sich. „Du spinnst doch!“ Gerade
deswegen würde er doch nie zu diesem Irren zurückgehen. Nicht deswegen. Er hasste
es doch. Daran würde er nur zerbrechen. Oder war es eigentlich schon. So wie er
aber auch in meinen Armen hing. Nichts mehr wirklich spürend.
Ich nahm Jemil schließlich hoch. Gerade als Pio auf mich zukam. Dass er sich das
jetzt überhaupt traute. Nur noch ein paar Meter waren zwischen uns. „Er wird
zurückkommen. Er braucht es manchmal ein bisschen härter“, flüsterte der ältere
Vampir. Gerade wollte er die Hand nach dem Jüngeren ausstrecken, als ihn ein
Jaulen zusammen zucken ließ. Das hatte ich doch schon irgendwann einmal gehört.
„Verflucht“, zischte Pio. Ging wieder rückwärts von mir weg. Blickte mich dabei
wütend an. „Dich dreckige Missgeburt werde ich schon noch erwischen“, zischte er.
Ich drückte Jemil an mich, als ich einen warmen Atem an meiner Wange spürte. Kurz
darauf auch eine feuchte Nase. Mir würde der Werwolf vielleicht nichts tun, aber
dem Vampir vielleicht. Möglicherweise würde er aber auch Pio erwischen. Doch als
ich wieder zu dem sah, war er weg. Natürlich hatte er sich verzogen. Wer wurde
aber auch gerne von einem netten Werwolf zerrissen.
„Ihr schon wieder!“ Die Stimme kannte ich doch. Der Wolf von gestern aus dem Dorf
an dem Jemil seine Blutlust ausgelassen hatte.
Ich drehte mich herum. Immer noch den Vampir an mich gepresst. Nie im Leben würde
ich ihn jetzt einfach loslassen.
„Entschuldigung“, nuschelte ich, „wir sind schon wieder weg.“ Ich wollte mich
schon zum Gehen abwenden. Da meinte der andere: „Wieso verfolgt er euch?“ Ich
blieb stehen. Warf einen kurzen Blick auf Jemil. Es schien, als würde er
schlafen. „Wegen ihm“, erwiderte ich schließlich.
Ich vernahm ein Auflachen. „Ein Vampir verfolgt einen anderen Vampir. Diese
Blutsauger sind doch wirklich krank. ... Na ja, und du beschützt einen von ihnen
sogar.“ Das musste wohl wirklich seltsam klingen. „Ich hab meine Gründe“,
entgegnete ich nur. Wollte jetzt endgültig gehen. Doch wieder wurde ich
aufgehalten.
„Es ist gefährlich hier alleine unterwegs zu sein. Vor allem wohl mit einem
geschwächten Vampir.“ Wollte er auf etwas hinaus? Sollte ich Jemil vielleicht
nach seiner Ansicht besser zurücklassen? Das wäre wohl das Letzte, was ich tun
könnte.
„Willst du auf etwas hinaus?“, zischte ich. Möglicherweise hatte ich den falschen
Ton erwischt. „Ein bisschen Unterstützung könnet ihr wohl brauchen. Und ihr wollt
in die gleiche Richtung, wie wir.“
Ich zog die Augenbrauen zusammen, als ich mich umdrehte. Doch da bemerkte ich sie
erst. Eine ganze Schar Werwölfe. Und wieder keine, die ich kannte. Ob das wilde
waren? Richtig freie?
„Die lassen euch hier ohnehin nicht mehr lebend weg.“ Er hatte wohl erkannt, dass
ich die anderen Wölfe bemerkt hatte. War aber auch nicht so schwer. Das Knurren
von ihnen musste man wohl sogar im ganzen Wald hören.
„Ihr könntet mit uns kommen.“ Der Werwolf kam auf mich zu. Streckte die Hand nach
Jemil aus. Ich wollte schon zurückweichen, doch er streifte nur leicht die Wange
des Vampirs. „Er ist kochend heiß.“ Das hätte ich selbst auch gewusst.
„Oh, Entschuldigung. Ich heiße Sotsuganai. Und du, kleiner Wolf.“ Er berührte
meinen Hals. Wanderte daran herunter. „Je ... Jesko“, flüsterte ich. Mir wurde
schwindelig, je langer ich Sotsuganai in die Augen sah.
„Und der Vampir?“, fragte er. „Jemil“, brachte ich noch heraus, bevor ich
zusammen sank. Was war nur plötzlich los? Ich durfte doch nicht einfach so
bewusstlos werden. Ich musste Jemil beschützen. Meine kleine Fledermaus, die
niemand anrühren durfte solange es mich noch gab.
„Schlaf etwas“, wurde mir ins Ohr gehaucht. Das Letzte was ich für eine ganze
Weile hörten würde.