Unaussprechliche Empfindungen
Lost Angel
Kapitel 32 – Unaussprechliche Empfindungen
Jemil’s PoV
Ich wusste nicht, ob er es wahrgenommen hatte. Doch etwas änderte sich bei mir.
Oder wohl eher an mir. Zu gut wusste ich auch an was das lag. Die
Wintersonnenwende kam näher. Von Nacht zu Nacht. Bald würden wir den kürzesten
Tag des Jahres haben. Doch für mich würde es nur der gefährlichste im ganzen
Jahr sein.
Ich war mir sicher, dass Pio sich dem auch im Klaren war. Viel zu oft hatte er
gerade diese 24 Stunden genutzt, um wie ein Raubtier über mich herzufallen.
Wahrscheinlich würde er es in diesem Jahr ganz anders ausnützen. Auch wenn ich
genau genommen ja meinen Beschützer hatte. Und der würde es sich nicht nehmen
lassen Pio den Hals umzudrehen, wenn er mich noch einmal anrührte. So kam mir
der junge Wolf zumindest vor.
Eigentlich sollte ich es wohl Jesko auch sagen. Damit er sich darauf einstellen
könnte. Doch etwas hinderte mich daran. Vielleicht weil ich mir nicht im Klaren
sein konnte, wie er darauf reagieren würde. Einen Tag lang könnte ich für ihn
nur ein Klotz am Bein sein. Ich könnte mich weder gegen Vampire noch gegen
Werwölfe wehren. Wie ein Mensch. Und mehr würde ich wohl auch nicht sein. Nur
das Futter der Wesen der Nacht.
Jedes Jahr war es an diesem einen Tag das Gleiche. Ich musste mir dann meines
schwachen Teiles bewusst werden. Einfach dem Klar werden was ich war. Halb
Vampir und halb Mensch. Doch gerade das konnte ich so einfach nicht ändern. Egal
wie sehr ich es vielleicht wollte. Wie sehr ich doch lieber ein vollblütiger
Vampir wäre. Aber es ging einfach nicht. Nicht einmal die kleinste Möglichkeit
gab es für mich.
Ein Seufzen verließ gerade meine trockene Kehle, als Sotunagai ein – für mich –
erlösendes Wort aussprach. „Pause!“ Jetzt könnte ich mich zumindest einmal
hinsetzen und meinen Füßen etwas Ruhe gönnen.
Doch Jesko hatte mich noch im gleichen Moment am Arm gepackt und hinter sich her
in den naheliegenden Wald gezogen. Richtig realisierte ich nicht einmal, wo er
ich genau hinbrachte. Dafür war mir das Unterholz hier aber wohl auch zu
unbekannt.
„Hier haben wir unsere Ruhe“, meinte der Werwolf, als er sich vor mir in den
Schnee setzte. Ich blieb einige Sekunden wie gebannt stehen und blickte ihn nur
an. Bis er auf seinen Schoss klopfte. „Kannst dich schon zu mir setzen.“ Ein
breites Grinsen bildete sich auf seinen Lippen, als ich mich endlich neben ihm
auf den eisigen Waldboden niederließ. Immer aber darauf bedacht, dass etwas von
meinem Mantel auch wirklich unter meinem Hintern landete.
Ich wagte es nicht ihn anzusehen. Mit ziemlicher Sicherheit konnte ich sagen,
dass ihm schon jemand gesagt hatte, wie ich ihn im Arm gehalten hatte.
Vielleicht wäre es besser für mich gewesen, wenn ich es nicht getan hätte. So
würde es mir jetzt wohl um einiges besser gehen. Das Fieber der vergangenen
Nacht hatte ganz schön an meinem Körper gezehrt. Doch jetzt ging es eigentlich
wieder.
Ich spürte einen von Jeskos Armen um meine Schultern. Kniff auf einmal die
Augen zusammen, als ob die Berührung mir unangenehm wäre. Doch eigentlich war
sie das genaue Gegenteil. Sie fühlte sich gut an. Und egal wie kalt mir zuvor
war, jetzt wurde mir auf alle Fälle richtig warm. Bei ihm wurde mir das aber
auch immer.
Völlig unbewusst kuschelte ich mich an Jesko. Sog jedes bisschen seiner Nähe in
mir auf. Empfand alles als so verdammt gut. Es war wohl doch nur das Einzige was
ich wirklich brauchte. Nur etwas Nähe und Zuwendung. Und gerade das konnte mir
der junge Wolf so gut geben.
Ich fühlte die Nase des Werwolfes an meinem Hals. Selbst nahm ich den extremen
Menschengeruch, der den des Vampires langsam überdeckte, schon längst war.
Vielleicht würde ich jetzt erfahren, wie das bei ihm war. Doch eigentlich müsste
seine feine Wolfsnase den Geruch schon längst erschnüffeln können. Viel mehr
würde es mich schon wundern, wenn es nicht so wäre.
„Du riechst so seltsam“, flüsterte der junge Wolf. Immer noch mit der Nase an
meinem Hals, an den auch sein warmer Atem schlug. Doch der ließ mir jetzt eine
Gänsehaut auflaufen.
Ein leises Seufzen gab ich von mir. Somit roch er es also. Ich sollte es ihm
dann wohl auch sagen. Es wäre wohl das beste. Doch gerade als ich zum Reden
ansetzen wollte, zog Jesko mich auf seinen Schoss. Schlang die Arme eng um mich.
Sanft mit den Fingern über meinen Rücken glitt.
„Wieso?“, hauchte er mir ins Ohr. Also erwartete er erst jetzt eine Erklärung
von mir. Doch jetzt konnte ich nicht mehr. Schmiegte mich nur an ihn und genoss
seine Wärme. Mehr brauchte ich überhaupt nicht.
„Du willst es wohl nicht sagen.“ Da verstand er dann doch sehr schnell. Nur bei
meinen Empfindungen war er scheinbar langsam. Und dabei wollte ich, dass er
gerade die anfing zu spüren. Leider tat er das wohl nicht. Noch nicht.
Ein Schauer fuhr mir durch jedes Glied, als Jeskos Lippen meinen Hals berührten
und er seine Hände über meine Schultern gleiten ließ.
Ganz langsam entspannte ich mich bei seinen Berührungen. Wie sollte es aber auch
anders sein, wenn er schon so sanft zu mir war?
Ich gab einen erschöpften Laut von mir. Drückte meinen Kopf gegen die Brust des
Werwolfes, der mir nun schon die ganze Zeit über leise Liebkosungen ins Ohr
flüsterte. Immer und immer wieder. Wiederholte dabei aber wohl nie ein einziges
Wort.
Langsam hievte Jesko mich hoch. Ich schwankte im ersten Moment leicht. Konnte
mich dann aber an dem Dunkelhaarigen abstützen. Der gab mir genug Halt.
„Geht es dir auch wirklich gut?“ Die Frage kam für mich eigentlich ganz
unverhofft. Nickte aber schließlich doch kurz.
Ich müsste nur alles schön langsam angehen lassen. Dann würde mir das schon
insgesamt nicht zu schwer werden. Aber ich war eigentlich nicht der Typ, der
irgendetwas langsam machte.
„Weißt du eigentlich wo Sotunagai hin will?“ Ich blickte Jesko fragend an. Der
zuckte aber nur mit den Schultern. „Irgendwas von Transsilvanien hat Felix
gestern erwähnt, als du noch geschlafen hast“, meinte der Werwolf schließlich.
Seine Arme lagen jetzt um meine Schultern und seine Hände glitten langsam über
meinen Rücken.
Transsilvanien, das Land meiner Ur-Väter. Was sollten dort Werwölfe und Hybride
wollen. Eigentlich war es der völlig falsche Ort für sie. So würden sie nur noch
mehr zur Zielscheibe von Vampiren. Obwohl gerade die in Transsilvanien wohl
anders auf sie eingestellt waren.
„Dracula nannte Werwölfe 'Kinder der Nacht'.“ Ich sah zu Jesko auf. Eigentlich
wusste ich gar nicht, dass er den ältesten aller Vampire kannte.
„Woher weißt du das?“, fragte ich. Suchte weiter die Nähe und Wärme des Wolfes.
Und die gab er mir sogar. Ganz freiwillig.
„Ich hab mal ein paar Vampiren zugehört, wie sie über ihn geredet haben. Klang
ziemlich herablassend.“ Etwas Irritiertes lag in seiner Stimme. Er konnte sich
wohl nicht vorstellen, wie man so über seinen ältesten Verwandten reden konnte.
„Seit fast jeder weiß, dass er eine Menschenfrau geliebt hatte und sogar von ihr
getötet wurde, wird er nicht mehr sehr edel erwähnt. Dabei sind die meisten
geborenen Vampire Nachkommen von ihm.“
Jetzt blickte er mich erst recht verwirrt an. Es ist aber auch nicht gerade
einfach zu verstehen, wie es bei einem einzigen Vampir noch reinblütige
Nachfahren geben kann.
„Inzest“, meinte ich nur. Vorstellbar war das wohl fast nicht. Doch das wurde
nur getan und eben die Reinheit des Vampirblutes zu bewahren. Auch wenn es
anfänglich öfters auch vorgekommen sein musste, dass Kinder mit Menschen, die
vorher gebissen worden waren, gezeugt wurden. Pio war – so weit ich es wusste –
ein solches Kind. Bei seiner Mutter hatte mein Vater eben noch alles richtig
gemacht, was er bei meiner vergessen hatte.
„Das Vampire so etwas tun würden.“ Jesko schüttelte langsam den Kopf. Drehte
mich schließlich herum und schob mich etwas voran. Doch ich stemmte mich schon
im selben Augenblick gegen ihn.
„Ich möchte noch ein bisschen mit dir allein sein.“ Den flehenden Unterton hörte
sogar ich selbst aus meiner Stimme heraus. Wie weit war ich jetzt nur schon?
Jeskos Hände glitten über meine Schultern und an meiner Brust hinunter. Zärtlich
küsste er meinen Hals. Leckt über mein Schlüsselbein. Ich unterdrücke ein
unnötiges Keuchen, obwohl mein Körper vor Erregung bebt.
Ein weiteres Mal streifte die Nase des Werwolfes meine Kehle. Ich wusste, dass
er den Geruch wahrnahm. Er wollte aber wohl nur von mir hören, wieso ich so
duftete. Doch ich brauchte es nicht über die Lippen. Schwäche gestand ich mir
einfach nicht gerne ein. Und immerhin würde er es von selbst auch noch merken.
Wer wusste aber auch schon, wie viele von den anderen es schon bemerkt hatten?
„Lass uns wieder zurück gehen“, flüsterte mir Jesko ins Ohr. Jeder Gedanke an
meine Veränderung zu jeder Wintersonnenwende verflog abrupt. Rein bei der
ruhigen Stimme des jungen Werwolfe.
Für einen Moment konnte ich noch mit den Fingern über die seinen fahren, die
immer noch auf meiner Brust lagen, unter der mein Herz wie wild schlug. Das
spürte er sicherlich.
„Sag mir erst, was du für mich empfindest!“ Es klang von mir so sehr wie ein
Befehl. Dabei sollte es das gar nicht. Ich wollte es doch nur hören. Aus seinem
Mund.
„Ich bin mir irgendwie noch nicht so sicher.“ Das war doch nur eine Lüge von
ihm. Er wusste es. Traute er es sich etwa auch nicht aussprechen. Eigentlich
waren es doch nur drei kleine, einfache Worte. Und gerade die waren nicht so
einfach.
„Und wie sieht es bei dir aus?“ Seine Finger waren bis zu meinem Bauch hinunter
gewandert. Vorsichtig streichelte er darüber. Für eine Sekunde ließ ich das
einfach nur auf mich wirken.
Ich atmete einmal tief durch. Wenn er damit nicht anfangen wollte, dann sollte
ich das vielleicht tun. So schwer konnte das doch eigentlich gar nicht sein.
„Ich ... ich ... ich ... na ja ...“ - Verlegen kratzte ich mich am Handgelenk. -
„... ich glaube, dass ich ... ... ... wie soll ich sagen ... ich ...“ Er
unterbrach mich einfach in dem er seine Wange an die meine drückte.
„Wenn du nicht kannst, musst du es mir nicht sagen.“ Sanft klang seine Stimme in
meinen Ohren. Ließ mein Herz höher schlagen. Schneller. Ich fühlte mich
erleichtert, dass ich es nicht unbedingt aussprechen musste. Er zwang mich wohl
zu gar nichts.
„Tu es einfach, wenn du kannst.“ Das er beim Sprechen ein sanftes Lächeln auf
den Lippen hatte, musste ich nicht einmal sehen. Man hörte es fast schon aus
seiner Stimme heraus.
Leicht drehte ich den Kopf zu ihm. Vielleicht verstand er mich ja doch auch so.
Ganz ohne Worte. Möglicherweise waren wir uns ganz einfach auch schon so nahe,
dass ich es nicht einmal selbst merkte, was er fühlte.
„Jetzt gehen wir aber wirklich zurück“, flüsterte er. Und ich nickte auch
zustimmend. Was hätte ich aber auch anderes tun sollen. Mich weigern? Wäre wohl
eine dumme Idee.
Behutsam hob Jesko mich hoch. Wie mir die Röte ins Gesicht stieg spürte ich nur
im Ansatz. Ich würde doch selbst laufen können. Da brauchte ich doch nicht so
sehr seine Hilfe.
„Das muss doch nicht sein“, murmelte ich. So schwach war ich nun nach meinem
Fieber über die letzte Nacht hinweg auch wieder nicht. Eigentlich erholte ich
mich von so etwas aber auch schnell. Zumindest kam es mir selbst so vor.
„Ich mach es aber gerne“, säuselte Jesko. Das sanfte Lächeln, das sich dabei auf
seinen Lippen bildete, ließ mich nur noch mehr erröten. Eigentlich war ich mir
noch nicht mal darüber bewusst, dass sich so viel Blut in meinem Körper befand.
Wie konnte ich überhaupt dann so rot werden?
„Felix wird sich ohnehin um dich Sorgen machen. Also ist es besser.“ Irritiert
blickte ich auf. Mochte mich denn der kleine Hybride auch so sehr? Ich war mir
dem die ganze Zeit gar nicht bewusst. Dass sich Jesko überhaupt um mich sorgte
reichte mir eigentlich schon völlig. Früher war es immerhin so gut wie niemand,
dem ich einmal etwas wert gewesen wäre. Die Einsamkeit hat mich damals manchmal
so sehr zerfressen. Jesko konnte diese Wunden schon heilen. Und Felix ist nur
noch das Balsam, das noch zusätzlich aufgetragen wird, damit keine zu sehren
Narben entstehen.