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Der Hund und der Wolf

von

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Teil I

Teil I
 

Der Herbstwind rüttelt die Bäume,

Die Nacht ist feucht und kalt;

Gehüllt im grauen Mantel,

Reite ich einsam im Wald.
 

Die Stille Insel lag im Licht der untergehenden Sonne malerisch schön in den ebbenden Wassern der Bay of Crabs. Hinter ihr erhoben sich die Türme von Saltpans, der kleinen Hafenstadt, in deren umfriedeten Hafen einige Schiffe lagen, darunter eine Handelskogge aus Braavos, die neben den vielen kleinen Fischerbooten groß und mächtig aussah. Fremdländisch und unbekannt. Das Meerwasser hatte sich innerhalb der letzten zwei Stunden zurückgezogen und genauso lang standen auch schon Septon Merribald, sein vollbeladener Esel und ein großer Hund am Ufer und wartete darauf, den Walk of Faith zum Kloster auf der Insel zurücklegen zu können. Hier und da waren zwischen den flachen Wellen bereits Sandbänke und kleinere trocknende Schlammflecken zu sehen. Während die Sonne sich weiter dem Horizont näherte, hob der gealterte Septon seinen Blick, um zu seinem Ziel hinüberzusehen.

Das Kloster war zweifelsohne ein erhabener Anblick. Es hatte vier Türme, die an je einer Seite des quaderförmigen Gebäudes standen, und deren grober Stein im Abendrot golden und weich schien. Ganz oben, unter den spitz zulaufenden Schindeldächern, befanden sich mehrere kunstvoll gemeißelte Wasserspeier, die in je eine der vier Himmelsrichtungen schauten. Die Insel war im Grunde ein besonders großer Hügel im Wasser. Das sah man besonders deutlich jetzt, wo sich das Meer langsam zurückzog und den sandigen Boden darunter freilegte. An den sanft abfallenden Hängen der Stillen Insel befanden sich fruchtbare Felder, die im vollen Korn standen. Die letzte Ernte vor dem Winter, wie Septon Merribald besorgt schätzte. Daneben gab es Obsthaine mit Apfel- und Birnbäumen, und einige Wiesen, auf denen Schafe grasten. Hier und dort standen kleine Hütten und Häuser, denn obwohl der Großteil der Brüder im Hauptgebäude wohnte, zogen es einige vor, direkt bei ihrer Arbeitsstätte zu schlafen und zu leben. Außerdem wurden in den Hütten Gebrauchsgegenstände und Teile der Vorräte gelagert.

Dem diesseitigen Ufer zugewandt befand sich ein kleiner Fischersteg, an dem zwei Boote vertäut waren. Weitaus mehr Boten lagen auf der anderen Seite der Insel, Saltpans zugewandt, denn dort waren die Bedingungen in See zu stechen, weitaus besser als hier, wo Ebbe und Flut viel stärkere Auswirkung zeigten. Neben dem Steg begann ein schmaler Weg, der sich in zahlreichen Windungen, vom Strand aus den Hügel hinauf zum Kloster schlängelte.

Der große, zottige Hund neben dem Geistlichen - er wurde Dog genannt, in Ermangelung eines anderweitigen Vorschlag des Tieres - wurde unruhig. Merribald riss seinen Blick von der Insel fort und richtete ihn stattdessen wieder auf die Fläche vor ihm. Während er seine Gedanken hatte schweifen lassen, war der Grund vollständig freigelegt worden, nur noch einige Gezeitentümpel, in denen Krabben, kleine Fische und Muscheln die Flut abwarteten, waren übrig geblieben. Die rote Sonne spiegelte sich in ihnen, als wären sie nicht mit Wasser, sondern mit flüssigem Metall gefüllt. Viel rauer und durchbrochener, aber doch vorhanden, reflektierte sie auf dem groben Sand und dem Schlick, der die Brücke vom Land zur Insel sein würde.

Der Septon fasste seinen Esel am Zügel, nahm ihn dicht zu sich heran, damit das Tier nicht ausversehen in ein Loch mit Treibsand trat, und begann seinen Abstieg hinab zum Ufer. Dort angekommen entledigte er sich seiner Schuhe und begann seinen Weg in Richtung des Klosters.

Walk of Faith wurde der schmale begehbare Pfad von den Brüdern der Stillen Insel genannt, und das nicht ohne Grund. Ein unwissendes Auge konnte den sicheren Weg nicht von trügerischen Prielen, Schlammlöchern und dem allgegenwärtigen Treibsand unterscheiden. Ein falscher Schritt und man war darin gefangen, hilflos, und angewiesen auf die Hilfe der anderen. Walk of Faith hieß der Weg allerdings auch deshalb, weil er nicht gerade verlief. Er verlief in unzähligen Windungen und Biegungen, hierhin und dorthin, sodass man über eineinhalb Meilen zurücklegen musste, um die Insel zu erreichen, die auf direktem Weg nicht einmal halb so weit vom Ufer entfernt war.

Merribald hatte keine Angst. Beinahe von selber fanden seine Füße den Weg, den er schon so viele Male gegangen war. Er wusste, wohin er treten musste. Der Hund folgte ihm, sprang nicht wie sonst in weiten Kreisen um ihn herum. Auch er wusste, wem er in dieser Sache vertrauen musste. Wann immer Merribald sich nicht ganz sicher war, testete er den Grund mit seinem langen Stab. Und so bewegte sich das Dreiergespann langsam aber stetig auf die Insel zu.

Der Septon hatte im letzten Jahr so viel Leid gesehen, dass er es kaum erwarten konnte, endlich im Frieden, den diese Insel immer noch bewahren konnte, ruhen zu dürfen, und sei es auch nur für eine Nacht. Leid hatte er schon immer zu Gesicht bekommen, denn bei seiner Arbeit als Septon der kleinen Leute sah er sich oft mit ihren Nöten konfrontiert. Krankheit, Not, Hunger, Missernten und Brände, all das war ihm bekannt und er hatte es viele Male gesehen. Aber nichts, nicht einmal seine eigene Vergangenheit als Soldat hatten ihn auf die Gräuel des Krieges vorbereiten können, die gerade die armen Bauern trafen. Er hatte vergewaltigte Frauen, Waisen mit hungrigen Augen, trauernde Eltern und verschreckte Kinder gesehen. Sie brauchten ihn, doch allzu oft wusste er nicht, wie er ihnen helfen sollte. Wie sollten seine frommen Worte, seine kleinen Gaben etwas an dieser katastrophalen, tiefgehenden Not ändern? Die Bilder des Leides hatten sich tief in seinen Geist gebohrt, verfolgten ihn bei Tag und Nacht.

Doch vor ihm thronte das Kloster.

Er kam sich vor wie ein Ertrinkender, der an Land gezogen wird, als er die schmalen, hölzernen Stufen des Steges am Ufer der Stillen Insel hinaufstieg. Oben warteten vier Mönche auf ihn. Es waren allesamt niedere Brüder, denen ihr Schweigegelübde nicht erlaubte, mit ihm zu sprechen, doch ihre offenen, freundlichen Gesichter waren ihm Gruß genug. Sie bedeuteten ihm mit einer einladenden Handbewegung, ihnen zu folgen und führten ihn zum Kloster hinauf. Das Abendgebet musste gerade vorbei sein, denn langsam füllten die Hänge sich wieder mit Brüdern, die im letzten Licht der Sonne ihrer Arbeit nachgingen. Da wurde Vieh in die Ställe getrieben, Körbe mit Früchten zum Kloster getragen und der Fang des Tages in Kisten gepackt, eingesalzen und gelagert. Auch das Kloster bereitete sich auf den nahenden Winter vor, der lange Sommer war endgültig vorüber. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der erste Schnee fiel und die Menschen noch mehr litten, als es bereits der Fall war.

Am Tor zum Innenhof des Klosters stand der Altbruder, ein kräftiger Mann mit prominentem, eckigem Kinn und einer großen Nase, die ihm ein grobes Aussehen verliehen. Seine Augen jedoch glänzten vor verborgener Schläue, eine Eigenschaft, die ihm – neben seinen Verdiensten als Heiler – sicherlich den Platz an der Spitze des Klosters eingebracht hatte. Sein Kopf war kahl rasiert. Ihm war es als einzigem von den Mönchen erlaubt, ständig zu sprechen. Er lächelte freudig, als er den Besucher sah. Er und Merribald begrüßten sich mit einer Umarmung.

„Septon Merribald, es ist schön, Euch wiederzusehen”, begrüßte ihn der Altbruder.

„Und Euch, Alinardus”, entgegnete der Angesprochene. „Ihr wisst, ich kehre immer gerne zu Eurer beschaulichen Insel zurück. Besonders in Zeiten wie diesen.”

Der Altbruder nickte ernst und strich sich über den Bart. „Ja, wir sind hier verschont geblieben. Noch. Das Wasser schützt uns und unsere Lage. Aber ich nicht mehr lange und ...” Er unterbrach sich abrupt und schüttelte den Kopf. „Aber jetzt ist nicht die Zeit, um über solcherlei Dinge zu reden. Kommt, Bruder, Ihr habt zwar das Abendessen versäumt, doch ich kann Euch trotzdem eine warme Schüssel Krabbensuppe mit Brot und einige Stücke geräucherten Fisch anbieten. Ihr seid doch hungrig, nicht wahr?”

Erleichtert nickte Merribald und folgte dem Altbruder - nachdem er den Esel und Dog in der Obhut der stummen Brüder gelassen hatte - , der ihn zu einer kleinen Zelle im Ostturm führte. Es war eine der Zellen, die für die Besucher des Klosters reserviert waren, aber Merribald bezeichnete sie gerne als seine eigene, denn er bewohnte sie jedes Mal, wenn er die Insel besuchte.

„Ihr könnt Eure Sachen hier abstellen, das Essen wartet in meiner Kammer auf Euch, wenn es Euch nichts ausmacht”, sagte der Altbruder. „Ich würde gerne hören, was es Neues von der Welt da draußen gibt. Manchmal vergisst man sie ganz, so abgeschottet wie wir hier leben.“

„Im Moment ist das eindeutig die bessere Wahl”, murmelte Merribald, bevor er seinem Gastgeber für die Gastfreundschaft dankte. Er stellte seine wenigen Habseligkeiten neben das spartanische Bett, das mit frischem Stroh gefüllt war und herrlich duftete. Man hatte das Zimmer eigens für ihn hergerichtet, wie er bemerkte, denn es stand eine hölzerne Schale mit Wasser, das sogar noch warm war, auf einem kleinen Tischchen und ein bestückter Kerzenständer stand daneben.

Erleichtert, sich Staub und Schmutz der langen Reise von Gesicht, Händen und Füßen waschen zu können, schöpfte er Wasser aus der Schale. Als er damit fertig war machte er sich auf, um den Altbruder zu sehen.

Wann immer er die Insel aufsuchte, führten sie ein langes Gespräch über die Ereignisse in Westeros, denn trotz seiner abgeschiedenen Lebensweise, war der Vorsteher des Klosters ein neugieriger und weltoffener Mensch, der sich für alles interessierte, was außerhalb seiner Insel vor sich ging. Merribald war ein willkommener Gast, denn als Heckenpriester, der von Ort zu Ort zog, bekam er am meisten mit, sah alles, hörte alles, denn die Bauern waren aufmerksame Beobachter und oft kristallisierte sich ein Gerücht, das noch aus einem Mund unmöglich und seltsam geklungen hatte, zu einer klaren Begebenheit heraus, wenn man es erst in den Versionen mehrerer Dörfer gehört hatte.

Das Zimmer des Altbruders lag am Fuße des Klosters. Mitten in den Hügel war eine hölzerne Tür eingelassen worden, die in das Quartier des Altbruders führte. Der erste Eremit, der auf die Insel gekommen war, hatte in genau dieser Höhle gelebt. Inzwischen war sie angemessen eingerichtet, mit einem Tisch, Stühlen und Bücherregalen. Allein die Möbel hatten eine seltsame Form, da sie ausschließlich aus Treibholz hergestellt wurden.

Auf das deutliche Klopfen des Septons, öffnete ein junger Mönch die Tür, der dem Altbruder offenbar als Gehilfe diente. Er hatte die frechen Augen der Kinder - tatsächlich konnte er noch nicht viel älter als 16 sein - und dichte, schwarze Haare. Hätte er nicht die typische Mönchstonsur gehabt und eine alte, abgewetzte Kutte getragen, wäre er durchaus hübsch gewesen. Zur Begrüßung nickte er Merribald ehrerbietig zu, eine andere Begrüßung erlaubte ihm sein Schweigegelübde nicht. Mit einem unbehaglichen Schaudern fragte Septon Merribald sich, wie grausam es für ihn gewesen wäre, hätte er als Junge bereits ein solches Leben führen müssen.

Weisheit und Genügsamkeit kommen mit dem Alter, dachte er. Man sollte sie den Kindern nicht aufdrängen.

Doch es war nicht an ihm, die Gepflogenheiten des Klosters zu kritisieren und so bedankte er sich bei dem Jungen und nahm sich vor, ihm bei seinem Aufbruch eine der kostbaren Orangen zu schenken, die er in seinem Reisebeutel verstaut hatte.

Der Altbruder saß im Hinterzimmer, hinter dem langen Tisch aus Treibholz. Lange, wächserne Kerzen tauchten den Raum in ein warmes, flackerndes Licht. Merribald nahm auf einem hölzernen Hocker zur Rechten des Altbruders Platz. Kaum saß er, brachte der Junge die Schale mit der Krabbensuppe, sowie Fisch und frisches Brot herein, Becher mit Wasser befanden sich bereits auf dem Tisch.

“Vielen Dank, William. Du kannst jetzt gehen”, sagte der Altbruder und winkte den Jungen fort. Dieser deutete noch einmal eine leichte Verbeugung an und verließ dann den Raum, allerdings nicht durch die Eingangstür, sondern durch eine Tür am hinteren Ende des Raumes, die in ein Hinterzimmer führen musste.

Merribald machte sich über die Suppe her. Es war lange her, dass er etwas Warmes gegessen hatte, und sie schmeckte köstlich. Es waren genügend der großen, dicken Garnelen darin und sie war gut gewürzt, besonders mit einem bestimmten Pfeffer, den die Brüder selber anpflanzten.

„Es ist lange her, seit Ihr das letzte Mal hier wart”, sagte der Altbruder.

„Beinahe ein Jahr”, bestätigte Merribald, ohne von seiner Suppe aufzuschauen. „Hier hat sich nicht viel geändert.”

„Hier ändert sich selten etwas.” Der Altbruder nahm einen Schluck aus seinem Glas, als müsse er seine wenig gebrauchte Stimme ölen. “Aber ich habe Angst, dass auch uns bald der Krieg einholen wird.”

Merribald nickte. “Es ist furchtbar. Die vielen Könige tragen ihre Streitereien auf dem Rücken ihrer Untertanen aus, und die, die es schon vorher schwer hatten, trifft es am härtesten. Es wundert mich, dass Ihr hier so unberührt seid, wo doch Saltpans einen größeren Hafen hat.”

„Bisher schützt uns der Glaube”, antwortete der Altbruder. „Aber mit der neuen Religion, die Stannis praktiziert ... wer weiß wie lange wir hier noch so leben können. Aber erzählt, was habt Ihr erlebt?”

Merribald merkte, dass sein Gastgeber das Thema des Krieges und der drohenden Zerstörung meiden wollte und er ging diesem Wunsch nur zu gerne nach, denn auch ihn plagten diese Gedanken in letzter Zeit viel zu sehr. Stattdessen erzählte er von den Menschen, die er in den Riverlands getroffen hatte, von den traurigen, lustigen und ergreifenden Geschichten, und versuchte all das Übel, das er ebenfalls gesehen hatte, zu verdrängen. Je später es jedoch wurde, desto spärlicher wurden die Geschichten, bis die beiden Männer schließlich in ein brütendes Schweigen verfielen.

„Sagt”, setzte der Altbruder schließlich an, „habt Ihr etwas über den Tod König Joffreys gehört?”

Merribald wiegte den Kopf. „Es sieht alles danach aus, dass Tyrion Lannister, sein Onkel, der Mörder ist.”

„Er hat sein eigen Fleisch und Blut erschlagen?”, rief der Altbruder entsetzt. „Das kann ich mir nicht vorstellen! Nicht einmal bei einem Mann wie ihm!”

„Es gibt leider zahlreiche Anzeichen, die gegen ihn sprechen. Seine Frau, Lady Sansa Stark ... ach nein, jetzt heißt sie ja Lannister, ist in der Nacht seines Todes aus King's Landing geflohen.”

„Geflohen? Wie hat sie das geschafft? Wer hat ihr geholfen?”

„Man weiß nichts, es scheint, als habe sie sich in Luft aufgelöst. Einige behaupten sie hätte ein Rudel Wölfe herbeigerufen und sei auf dem Rücken der riesigen Leitwölfin aus dem Saal geritten. Andere sagen, sie selber habe sich in einen Wolf mit ledernen Schwingen verwandelt, und sei davongeflogen. Wieder andere sagen, der Geist ihres Vaters habe sie mit sich genommen, oder ihr Mann habe sie versteckt. Es gibt viele Gerüchte. Ihr kennt ja das einfache Volk.”

„Sie muss Freunde bei Hof gehabt haben”, mutmaßte der Altbruder und zupfte sich am Bart. „Alleine hätte das Mädchen es nicht geschafft. Bestimmt ist sie bei einem der Untergebenen des Königshauses versteckt, der jetzt darauf wartet, dass der Krieg vorübergeht, damit er mit ihrer Hilfe zu Geld und Macht kommt. Schließlich ist sie die rechtmäßige Erbin von Eddard Stark.”

Merribald zuckte die Achseln. „Als ich auf dem Königsweg unterwegs war, habe ich ein junges Mädchen getroffen. Sie reiste mit einer Truppe von Gauklern. Es muss eine reiche Truppe gewesen sein, denn sie hatten zwei Wagen und Vieh. An ihren Namen kann ich mich allerdings nicht erinnern. Sie waren unterwegs nach Norden zu der Hochzeit eines Edelmannes.” Er rieb sich die Stirn, die Erinnerung schmerzte ihn immer noch. „Erst hinterher dachte ich, dass es vielleicht Sansa Stark gewesen sein könnte. Es würde alles zusammen passen.”

Der Mönch hatte seiner Rede aufmerksam gelauscht, und jetzt kam eine seltsame Energie in ihn. „Seid Ihr Euch sicher?”

„Wie kann ich mir sicher sein? Ich habe Sansa Stark nie gesehen. Ich weiß nur, dass sie rote Haare gehabt haben soll, und das hatte dieses Mädchen. Auch das ungefähre Alter könnte stimmen. Wenn sie es gewesen wäre, hätte ich ihr helfen müssen.”

„Was geschehen ist, ist geschehen, Ihr könnt es nicht rückgängig machen“, tröstete der Altbruder. „Wie lange ist es her, dass Ihr sie gesehen habt?”

Septon Merribald drehte den mittlerweile leeren Becher in den Händen und dachte nach. „Nicht mehr als drei, vier Wochen. Als mir aufging, um wen es sich gehandelt haben könnte, kehrte ich um, aber ich fand sie nicht mehr. Und danach machte ich mich auf den Weg hierher.”

Der Altbruder nickte abwesend. Es war ihm anzusehen, dass er angestrengt über etwas nachdachte und Merribald wollte ihn nicht länger behelligen.

„Wenn es Euch recht ist, werde ich mich nun schlafen legen”, sagte er, während er sich bereits erhob. „Ich bin müde und möchte morgen weiterziehen.”

Sein Gegenüber erhob sich ebenfalls. „Ich wünsche Euch eine gute Nacht, Septon.”

„Euch ebenfalls.”

Als er am nächsten Tag die Stille Insel verließ drückte ihm der Altbruder herzlich die Hand und sagte ernst: „Vielen Dank für Euren Besuch, Merribald, Ihr habt uns sehr geholfen. Ich wünsche Euch alles Gute. Mögen die Sieben Götter mit Euch seien.”

„Und mit Euch und Eurer Insel”, erwiderte Merribald.

Dann bestiegen er, Dog und der Esel das Boot, mit dem die Brüder nach Saltpans hinübersetzten. Neben ihm selber enthielt es Güter zum Verkauf, sogar einige lebende Tiere. Mehrere Schafe und ein Esel. Merribalds Blick war auf die Stadt am Ufer gerichtet, sonst hätte er vielleicht unter den rudernden Mönchen den Novizen entdeckt, der ihn am vergangenen Abend in der Behausung des Altbruders bedient hatte. Der Junge hatte einen Stoffsack unter seinen Sitz geklemmt und hielt den Kopf gesenkt.
 

Hillside lag ungewohnt friedlich im schweren, wolkenverhangenen Nachmittag, der sich über den Ausläufern des Gebirges festgesetzt hatte und erst allmählich begann, vor dem Abend zu weichen. Die Wolken hüllten die Spitzen der Mondberge ein, drückten auf die Gemüter der Menschen und machten sie träge und langsam. Auch Arya litt unter einer Mattigkeit, die sie sonst nicht von sich kannte. Sie war auf eines der Dächer des Dorfes geklettert und hing ihren Gedanken nach. Die Feuchtigkeit in der Luft sog sich in ihre Kleider, die ihr feucht und klamm am Leib hingen. Aber wenigstens war sie heute nur wenigen Menschen begegnet, denn bei dem Wetter bewegte sich niemand vor die Tür, der nichts Dringendes zu erledigen hatte. Nur die Männer, die an der Palisade arbeiteten, waren draußen und gingen ihrer Arbeit nach. Doch sie waren viel zu weit weg, als dass sie Arya hätten stören können. Leise hörte sie von ferne ihre tiefen Stimmen und das Krachen von Holz auf Holz, das Schlagen der schweren Hämmer. Der Klang mischte sich träge mit der tropfenden Stille.

Hier auf dem Dach war sie alleine. Mit angezogenen Beinen, das Kinn auf die über den Knien gefalteten Arme gelegt, schaute sie hinauf zu den Bergen.

Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie beinahe die Festung sehen, in der ihre Tante Lysa wohnte. Zumindest stellte Arya sich das vor. Der Hound hatte gelacht, als sie ihm davon erzählt hatte, und sie eine dumme Gans genannt. „Hohenehr ist Meilen von hier entfernt, irgendwo mitten in den Bergen. Das, was du siehst, sind nichts als die Ausläufer des Gebirges.”

Obwohl sie am Anfang dagegen gewesen war, wünschte sie sich jetzt, der Hound hätte sie zu ihrer Tante gebracht. Lysa Arryn war nicht Mutter, und Vater war sie schon gar nicht, aber sie war ein Teil von Aryas Familie. Und so, wie die Dinge standen, war nicht mehr viel von ihrer Familie übrig. Und alles war besser als Hillside, das kleine, dumme Dorf, in dem sie festsaß. Sie wollte gehen, jeden Abend wollte sie weglaufen. Aber wohin sollte sie fliehen? Ihre Brüder waren tot, Vater und Mutter waren tot, Sansa war in King's Landing, und Jon im Norden, viel zu weit weg, als dass sie ihn alleine hätte erreichen können. Wie sie sich nach Winterfell sehnte, nach dem Sommerschnee, nach den grauen Mauern und vor allem nach den vertrauten Gesichtern! Sie wünschte, sie wäre nie fortgegangen.

Von hier oben konnte sie das ganze Dorf überblicken, aber das war wahrlich keine Meisterleistung. Wenn sie schnell ging, hatte sie es in nicht einmal einer Stunde durchquert. Hillside war ein winziger Marktfleck zu Füßen der Mondberge, mit einem einzigen Rasthof und ein paar Häusern. Die wenigen Männer, die der Krieg dem Dorf gelassen hatte, verdienten ihr Brot indem sie das karge Land bestellten. Wenige sahen je etwas anderes, als ihr Heimatdorf. Zur Zeit arbeiteten allerdings alle an der hölzernen Palisade, die das Dorf bald völlig umspannen würde, um Wölfe und Clansmänner aus den Bergen abzuhalten. Arya bezweifelte, dass ein kleines hölzernes Ding irgendjemanden, der etwas größer war als sie, aufhalten würde.

Und Nymeria könnte mit einem Satz drüberspringen, dachte sie unglücklich. Nur für so ein kleines, abgemagertes Mädchen wie sie es war, war es ein ernstzunehmendes Hindernis. Sie wünschte sich, sie wäre ein Wolf. Oder dass Nymeria hier wäre. Oder Vater. Oder zumindest irgendjemand, der nicht der Hound war.

Sie konnte ihn sehen zwischen den anderen Arbeitern. Er war leicht zu erkennen an seiner großen Statur, den breiten Schultern und den kräftigen Armen. Er überragte die meisten Männer um eine Handbreit oder mehr. Aber auch ohne diese Merkmale, wäre es einfach gewesen, ihn auszumachen. Allein daran, wie alle einen großen Bogen um ihn machten, wie sie ihre Blicke abwandten, wie keiner ihm ins Gesicht sah.

Arya hatte keine Angst vor ihm, das sagte sie sich zumindest. Sie schaute ihm in sein grässlich verstümmeltes Gesicht und dachte an Mycah, den Metzgerjungen.

Während sie ihren Gedanken nachgehangen hatte, hatte der Abend den Nachmittag verdrängt und Dunkelheit begann sich über die sanften Hügel um das Dorf herum zu legen. Als schließlich die ersten Arbeiter die Palisade verließen, um nach Hause zu ihren Familien und einem warmen Herd zurückzukehren, rutschte auch Arya vom Rand des Daches und hangelte sich an hervorstehenden Steinen hinab zum Boden. Ihre nackten Füße berührten die kalte, festgetretene Erde, aus der fast alle Straßen in Hillside bestanden. Die Kälte ließ sie ein wenig erschauern. Doch inzwischen waren ihre Fußsohlen hart und ledern, ebenso gut, wie die dünnen Schuhe, die sie irgendwann hatte wegwerfen müssen, da sie durchgelaufen waren und auseinanderfielen.

Sie hatte es nicht eilig, ins Gasthaus und zum Hound zurückzukehren. Er war auch nüchtern keine besonders angenehme Gesellschaft und der Schankraum war voll mit gescheiterten Existenzen wie ihm. Die Betten waren hart und voller Ungeziefer und die Wirtin eine hartherzige Frau, mit kräftigen Händen und einer Angewohnheit, erst zuzuschlagen und dann Fragen zu stellen. Ihr Mann war nur wenig besser, aber mit ihm hatte Arya kaum zu tun, denn er war für den Ausschank verantwortlich und sie verbrachte ihr Abende selten mit Trinken.

Da sie nichts anderes zu tun wusste, ging sie nach den Pferden sehen. Stranger, das monströse, schwarze Schlachtross von Sandor Clegane, stand zusammen mit ihrer eigenen Stute, Craven, in einem Stall neben dem einzigen Werkhaus im Dorf, das Schmied, Tischler und Schneider zugleich war. Es waren noch andere Pferde darin, klapprige alte Mähren und verbrauchte Ackergäule, keine Tiere, die auch nur annähernd mit Craven oder Stranger mithalten konnten.

Auf dem Weg zum Stall hielt sie sich dicht an den Hauswänden und spähte aufmerksam um sich. Diese Verhaltensweise hatte sie sich während ihrer Zeit in Flea Bottom angeeignet, wo ein falscher Blick den Tod bedeuten konnte. Damals hatte sie Needle gehabt. Jetzt hatte sie den Dolch, den der Hound dem Bogenschützen abgenommen hatte, den sie schwer verwundet in der Nähe der Zwillinge gefunden hatten. Und mit den feigen Dorfbewohnern, die allesamt furchtbare Angst vor den beiden Fremden hatten, gab es eigentlich keinen Grund Angst zu haben. Aber Arya war seit dem Tag, an dem sie aus dem Palast hatte fliehen müssen, vorsichtiger geworden. Und die feindseligen Blicke der Dorfbewohner machten ihr mehr aus, als sie sich eingestehen wollte. Da war es besser, gar nicht gesehen zu werden. Besonders nach dem Vorfall mit der Tochter des Dorfältesten hielt sie das für das Beste. Nicht, dass sie Gesellschaft gebraucht hätte, sie kam wirklich gut alleine zurecht. Sie brauchte nicht mal den Hound. Sie blieb aus Gewohnheit bei ihm, und weil sie nun mal niemand anderen mehr hatte, aber sonst gab es keine Verbindung zwischen ihnen. Er war nicht Teil ihres Rudels, denn sie war ein Wolf, wild und frei, und er war Joffreys Hund gewesen.

Craven wieherte leise, als Arya den Stall betrat, von Stranger kam nur ein ungeduldiges Schnauben. Der Hengst hatte das Temperament seines Herrn. Bei Clegane war er sanft wie ein Lamm, aber bei allen anderen biss und trat er. Arya war froh, dass sie ihn inzwischen füttern konnte, ohne Bisswunden davonzutragen. Trotzdem hatte sie es sich zur Regel gemacht, Stranger so fern wie möglich zu bleiben, nur um sicherzugehen.

Craven hingegen trug ihren Namen zurecht. Sie war ein ängstliches Tier, aber abgesehen davon ein gutes Pferd. Arya streichelte ihr über die samtene Nase und lächelte, als die Stute ihre Hand anstupste und warmen Atem aus ihren Nüstern blies. Arya stahl den Ackergäulen der Dorfbewohner ein wenig Heu aus ihren Futterbehältern und hielt es Craven hin, die es mit weichen Lippen aus ihrer Hand nahm. Stranger warf sie eine Handvoll vor die Hufe; ihm das Futter hinzuhalten, hätte sie vermutlich eine Hand gekostet.

Sie blieb noch ein bisschen bei den Pferden, denn sie schätzte die Gesellschaft der stummen Tiere. Mit ihren großen, sanften Augen sahen sie bedeutend freundlicher aus, als die meisten Menschen, die Arya bisher getroffen hatte. Außerdem war es warm und trocken im Stall, mehr, als man von ihrem eigenen Zimmer im Gasthof sagen konnte. Zwar war auch der Stall bei weitem nicht in bester Verfassung – es gab einige Löcher im Dach und das Holz war alt und morsch – , doch die Leiber der Pferde strömten eine Wärme und Freundlichkeit aus, die sonst nirgendwo im Dorf zu finden war. Arya hielt sich gerne hier auf.

Als schließlich ein einzelner Stern durch ein besonders großes Loch in der Rückwand schien, erhob sie sich von ihrem Platz zwischen den Boxen und machte sich auf den Rückweg zum Gasthof. Es war bereits ziemlich spät. Sie konnte sich ins Bett legen und vielleicht einen ihrer Wolfsträume träumen.

Vor dem Stall hatte sich eine Gruppe älterer Männer versammelt, um über die Ernte im Allgemeinen und ihr Leben im Besonderen zu klagen. Sie mussten eine Fackel haben, denn ein orangener Lichtschein flackerte bis vor den Stall und malte tanzende Schatten an die spröden Holzwände. Arya blieb mit dem Rücken an die Stallwand gelehnt stehen und lauschte ihnen, wartete, dass sie sich wieder entfernten.

„Eine Schande, dass der König gestorben ist!”, brummelte einer der Männer. „Er war zwar nur ein Junge, aber alles ist besser, als ’ne Frau auf’m Eisernen Thron!”

Arya dachte zuerst, er spräche von Robert Baratheon, aber dann fiel ihr ein, dass wohl eher Joffrey gemeint war. Es hatte einige Gerüchte über seine Ermordung gegeben, und Arya wünschte sich nichts mehr, als ihnen Glauben zu schenken. Sie hasste Joffrey von ganzem Herzen, denn er hatte Vater umgebracht und Lady und irgendwie auch Mycah, und wegen ihm hatte sie Nymeria vertreiben müssen. Er verdiente den Tod, genauso wie Königin Cersei und Polliver und Raff und ...

„Joffrey hat aber doch 'n kleinen Bruder”, brummelte eine zweite Stimme. „Tommen. Der is’ doch jetzt König.”

„Tommen ist doch noch 'n Kind!” Es war wieder der erste Mann. „Die wahre Herrscherin is' doch eindeutig Cersei Lannister. Die hat doch die Zügel in der Hand.”

„Und ihren Bruder den Königsmörder gefickt.”

Die Männer lachten.

„Die würd ich auch nicht von der Bettkante stoßen”, erklärte einer und kicherte. „Schwester hin oder her.“

„Na, lass das aber nich' deine Martha hörn, die zieht dir das Fell über die Ohren.”

Wieder lachten die Männer auf, und einer schlug dem Angesprochenen auf den Rücken.

„Aber dass der Zwerg nur Ärger machen kann, das hätt ich denen auch schon früher sagen könn'n”, warf einer der Männer in die Runde. „Von so einem kann man doch nichts andres erwarten. Wie soll der sich auch sonst durchsetzen, ne?”

Tyrion Lannister bot einen seltsamen Anblick mit seinen verschiedenfarbigen Augen und Haaren und seiner kleinen Statur. Damals in Winterfell war er ihr wegen seiner scharfen Zunge aufgefallen, ebenso wie aufgrund seiner Körpergröße. Sie war damals erst acht gewesen, und trotzdem bereits mit ihm auf Augenhöhe.

„Hat den Jungen wahrscheinlich aus Neid umgebracht, weil der Kleine jetzt schon 'n größeren Schwanz hatte, als er je haben wird.”

Die Gruppe brüllte laut los. „Da kannst du Recht haben, Walder!”, grölte einer.

„Is' doch wahr”, fuhr Walder fort, angestachelt vom Lob seiner Freunde. „Und sein kleines Frauchen hat das auch gleich erkannt, sonst wäre sie ja kaum abgehauen.”

Arya spitzte die Ohren. Als der Hound gehört hatte, dass Sansa Tyrion Lannister geheiratet haben sollte, hatte er seinen Krug gegen die Wand geschmettert, sodass er in unzählige Scherben zerbrach und der Ale die wurmstichigen Bretter der Schänke hinabrann, um auf dem Boden eine dreckige Pfütze zu bilden.

Sie hatte nicht verstanden, warum er sich darüber so aufgeregt hatte, schließlich war Sansa nicht seine Schwester, sondern ihre. Und sie hatte keinen Alekrug an die Wand geworfen. Aber vielleicht, dachte sie, hat er mit Tyrion Lannister noch eine Rechnung offen.

Ihr selber war der Zwerg ebenfalls suspekt gewesen, doch Jon hatte einiges von ihm gehalten. Aber das war auch gewesen, bevor sie und Vater und Sansa nach King’s Landing aufgebrochen waren, damit Vater die Hand von König Robert werden konnte. Damals hatte Lady noch gelebt und Robb, und sie waren eine richtige Familie gewesen.

Während sie an Winterfell gedacht hatte, war das Gespräch der Männer zu einem anderen Thema übergegangen. Sie sprachen jetzt von Sansa.

„Ich hab gehört, sie soll sich in einen Drachen verwandelt haben. Und nachdem sie den König mit ihrem eigenen Blut vergiftet hat, ist sie aus dem Fenster geflogen.“

„Was für ein Unsinn!“, widersprach Walder. „Sie ist doch keine Targaryen! Ein Wolf war’s. Mit Flügeln wie eine Fledermaus.“

Arya konnte sich Sansa bei weitem nicht mit Feldermausflügeln vorstellen. Und noch weniger dabei, wie sie Joffrey umbrachte. Sie war verrückt nach ihm gewesen.

„Fest steht auf jeden Fall, dass sie nicht mehr in King’s Landing ist“, schloss jemand. „Wie auch immer sie das angestellt hat.“

Diese Information war neu für Arya. Wie hatte Sansa es wohl geschafft, aus den Fängen der Königin zu entkommen? Immerhin war es Sansa, die gerne stickte und sang und immer höflich war. Nach Flea Bottom würde sie wohl kaum gegangen sein.

„Die wird irgendwer mitgenommen haben um sie ... auszubilden”, feixte einer der Männer mit einem dunklen Kichern. „Soll ja hübsch gewes’n sein, die Kleine.”

„Würd mich echt nicht wundern, wenn sie's war, die Joffrey erledigt hat. Bei dem Vater.”

Bei diesen Worten musste Arya sich zusammenreißen, um nicht aus ihrem Versteck zu kommen und die Männer anzuschreiben. Ruhig wie stilles Wasser, sagte sie sich. Ruhig wie stilles Wasser. Ihre linke Hand hatte sich um den Griff des Dolches gekrallt.

“Einmal Verräter, immer Verräter”, stimmten die anderen zu. “Die ganze Stark-Sippe war ja schon immer kaum zu ertragen. Sitzen da oben und halten sich für was Bess’res, nur weil’s bei ihnen ein bisschen kälter is’, als bei uns.”

“Ich wette als Stark nach King's Landing ging, um die Scheiße von seinem König Robert aufzuwischen, hat sein Weib ganz schnell ’n Neuen im Bett gehabt.”

Die Männer bekundeten hämisch ihre Zustimmung und waren auch gleich mit einigen Vorschlägen zur Stelle. Ihr Kastellan, Littlefinger aus King’s Landing, einer der Riverlords... Die Liste schien gar nicht mehr aufzuhören.

Bevor Arya richtig erfasst, hatte, was sie tat, war sie hinter der Stallwand hervorgetreten. In ihrer linken Hand blitzte der Dolch. Ihre grauen Augen leuchteten im Schein der Fackel.

“Lügner!”

Es waren vier, allesamt ziemlich alt. Arya schätzte, dass sie mehr als 40 Namenstage gesehen hatten. Die Männer waren typische Dörfler: Muskulös und braun gebrannt vom langen Sommer, die Haare und Bärte lang und verfilzt. Die Augen in den eingefallenen, wettergegerbten Gesichtern waren müde und dumm. Einer der Männer - vermutlich der Jüngste - lehnte sich auf einen großen Hammer, den er beim Bau der Palisade benutzt hatte. Arya kannte ihm vom Sehen. Er spuckte große Töne, aber auch er traute sich nicht, dem Hound ins Gesicht zu sehen, nicht mehr als alle anderen. Vor ihm musste sie keine Angst haben, sagte sie sich.

„Was willst du, Wiesel?”, knurrte er und an der Stimme konnte sie hören, dass es Walder sein musste, der Wortführer des Quartetts.

Ruhig wie stilles Wasser.

Sie wollte ihm entgegenschreien, dass ihre Mutter niemals so etwas getan hätte. Sie wollte ihm sagen, dass ihr Vater kein Verräter war. Aber alles, was sie rausbrachte war ein weiteres „Lügner!”

Das harte Metall des Dolches in ihrer Hand gab ihr Mut. Wütend funkelte sie Walder an, dessen Miene so etwas wie Furcht zeigte. Ein Hochgefühl erfüllte sie. Sie war kein Schaf mehr, oder eine Maus. Sie war wieder Wiesel, und Wiesel hatten scharfe Zähne und fraßen Mäuse.

„Was weißt du schon, du dummes Gör?”, brummte einer der älteren Männer. Ihr Kopf fuhr herum, um den neuen Gegner ins Auge zu fassen. Er hatte nur noch vier Zähne, zwei oben zwei unten, der Rest war ihm abgefault. Sein Haar wäre weiß gewesen, wenn es nicht vor Dreck gestarrt hätte.

„Mehr als du! Ihr redet über Sachen, von denen ihr keine Ahn-”

Ihr Kopf flog zur Seite als Walder ihr eine Ohrfeige gab und sie taumelte ein Stück zurück. Ihre Wange brannte. Seine Augen waren immer noch aufgerissen. Auf einmal erkannte Arya, dass Angst Menschen manchmal dazu treiben kann, Dinge zu tun, die sie sonst nicht getan hätten. Nicht jede Angst lähmte. Und jetzt war der Damm gebrochen. Ein Grinsen breitete sich auf den Gesichtern der anderen Männer aus. Der Mann zu ihrer Linken stieß sich von der Stallwand ab, an der er gelehnt hatte, und machte einen Schritt auf sie zu. Sie war ja nur ein kleines Mädchen. Es war der Hound, den sie fürchteten, nicht sie.

Angst schneidet tiefer als Schwerter.

Arya schnürte es die Kehle zu, während sie bebend in die Haltung der Wassertänzer ging, den Dolch in der linken Hand vor sich.

Angst schneidet tiefer als Schwerter.

Aber es waren vier.
 

Der Hound saß an seinem Stammplatz und tat das, was er immer tat, wenn er mit der Arbeit fertig war: Er trank. Der Schankraum des kleinen Gasthofes war voll mit Männern wie ihm. Die Arbeit an der Palisade war für heute beendet. Und wenn der Hound den Fortschritt der Arbeit richtig einschätzte, würde die Palisade in den nächsten zwei oder drei Tagen vollständig fertig sein. Schon jetzt umspannte sie das ganze Dorf. Nach außen sollten zugespitzte Holzpfähle Eindringlinge fernhalten und innen wurde die Wand von kräftigen Balken gestützt.

Die gewöhnlichen Stammgäste waren alteingesessene Dorfbewohner, die sich in größeren oder kleineren Runden an den Tischen zusammengefunden hatten und auf den Feierabend, den Krieg, den Winter oder irgendetwas anderes anstießen. Dazwischen saßen vereinzelt Männer wie der Hound, brütend und schweigend, nur hier um sich zu betrinken. Niemand wagte es, sich zu ihnen zu setzen, und so verbrachten sie den Abend mit sich und ihren eigenen, trüben Gedanken. So schnell sie ihre Beine trugen, eilte das Dienstmädchen, ein plumpes, blondes Mädchen von 17 oder 18 Jahren, von Tisch zu Tisch und schleppte die schweren Steinkrüge voll mit Ale zu den Gästen. Ab und zu griff jemand nach ihren Brüsten oder ihrem Hintern, wurde jedoch mit einem Klaps auf die Finger und einem bösen Blick abgestraft.

Der Ale, der serviert wurde, war eine fade, braune Brühe, die man nur mit sehr viel gutem Willen als Ale bezeichnen konnte. Oder wenn man sehr betrunken war. Aber genau das hatte der Hound ja vor. Es war noch nicht mal völlig dunkel draußen, und er hatte bereits seinen zweiten Krug vor sich stehen, und bei dem Tempo, mit dem er trank, würde diesem in Kürze ein dritter folgen. Gerade wollte er den Krug zu einem weiteren kräftigen Schluck ansetzen, da ging die Tür auf und der Dorfälteste kam herein.

Der Dorfälteste war von der Sorte Mann, die der Hound auf den Tod nicht leiden konnte. Selber ein dicker, untersetzter Kerl mit Glatze und breitem Schnurrbart, mischte er sich immer und überall ein, hatte überall mitzureden und spielte den ehrenvollen, verantwortungsvollen Vater des Dorfes. Dabei hatte er noch keinen Finger bei der Arbeit an der Palisade krumm gemacht, wenn man mal von seinen ständigen Anweisungen und Verbesserungsvorschlägen absah. Wann immer Sandor ihm begegnete, wurde sein Gesicht eine Maske des Abscheus und er wandte schnell den Blick ab, um die Narben des Fremden nicht sehen zu müssen. Deshalb versuchte der Hound dem Ältesten aus dem Weg zu gehen, so oft es ging. Denn obwohl dieser ihn eingestellt hatte, verabscheuten sie sich gegenseitig, und der Hound wollte keinen Streit provozieren. Und er wollte in diesem Dorf bleiben, zumindest bis Krieg und Winter vorüber waren. Es war immer noch besser, als in den Riverlands herumzuirren.

Der Dorfälteste war ein seltener Anblick in der Dorfschänke, weshalb einige Männer überrascht aufschauten, als sie den fülligen Mann in der Tür stehen sahen. Der sah von einem Mann zum anderen, bis er Sandor entdeckte und zu ihm stapfte. Der Hound fragte sich, was die kleine Wölfin jetzt schon wieder verbrochen hatte. Als sie “Ser Soldier”, die Puppe des kleinen Töchterleins vom Dorfältesten kaputtgemacht hatte, hätte man meinen können, sie habe dem Mädchen selber den Bauch aufgeschlitzt. Das Dorf war außer sich gewesen. Damals hatte der Dorfälteste seine Körpermasse auf eine ähnliche Art und Weise auf ihn zugewuchtet. Das Getue mochte ja bei Dörflern wirken, die noch nie aus ihrem erbärmlichen Zuhause herausgekommen waren, aber auf den Hound machte das keinen Eindruck. Und so stützte er seinen Kopf in die Handfläche und verzog seinen unversehrten Mundwinkel zu einem grotesken Lächeln, um zu sehen, wie der Alte beinahe augenblicklich seinen Blick zu Boden sinken ließ.

Dieser hier hat mehr Angst vor mir als alle anderen vor ihm.

Mit einem pfeifenden Atemgeräusch ließ sich der Dorfälteste ihm Gegenüber auf einen Stuhl fallen, den er zuvor ein großes Stück vom Tisch weggerückt hatte, um Platz zu haben. Ohne eine Miene zu verziehen, warf er einen roten Geldbeutel mit einer hübschen goldenen Stickerei am Rand zwischen ihnen auf die Tischplatte. Einige Münzen klimperten leise darin, kaum hörbar über den Lärm, der im Schankraum herrschte.

„Die Palisade ist fertig”, erklärte er, als der Hound ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen ansah. „Ihr könnt jetzt gehen. Nehmt Euren Lohn und Eure Tochter und verschwindet. Ihr werdet hier nicht mehr gebraucht.”

Da er offenbar der Meinung war, dass damit alles gesagt sei, stützte er seine dicken Hände mit gespreizten Wurstfingern auf die Tischplatte, um sich wieder aus dem Stuhl zu drücken. Pfeilschnell schoss Sandors Hand vor und schloss sich um den Unterarm des Dörflers. Für einen Moment entglitt diesem die steinerne Miene und man sah die Angst in seinen Augen. Sein Schnurrbart zitterte.

„Was soll das heißen?”, knurrte der Hound mit rauer Stimme. „Ich bleibe den Winter über hier.”

“Wir brauchen keine von Eurer Sorte hier, Hund!”, erwiderte der andere abfällig. Erstaunt hob Sandor die Augenbrauen. Er wusste, wer er war? Die Überraschung war ihm wohl anzusehen, denn der Dorfälteste grinste. Offenbar gewann er seine Fassung wieder.

„Glaubt Ihr, wir sind so dumm, Euch nicht zu erkennen? Klar, hochwohlgeborene Lords und Ladies kommen hier nicht hin, aber wir haben Märkte und Händler und ein Gesicht wie Eures ist kaum zu übersehen und leicht zu erkennen.”

Wie seltsam, dachte Sandor, wo Ihr Euch doch nie getraut habt, mir wirklich ins Gesicht zu sehen.

„Mit Leuten wie Euch wollen wir nichts zu tun haben. Wir sind ehrenvolle Untertanen des rechtmäßigen Königs.”

Welchen Königs?

„Aber um Eure verdammte Palisade zu bauen, war ich Euch gut genug.”

„Ihr könnt froh sein, dass ich Euch überhaupt Arbeit gegeben habe!”

„Wir hatten etwas anderes vereinbart.” Seine Finger bohrten sich ins weiche Fleisch des Mannes. „Arbeit und einen Platz für den Winter.“

„Seid froh, dass ich Euch überhaupt bezahle und Euch nicht sofort an den König ausgeliefert habe!” Mit einer ruckartigen Bewegung riss sich der Dorfälteste von ihm los. „Macht, dass Ihr wegkommt! Und nehmt Euer Gör mit!“

Damit stand er vom Tisch auf und verließ er das Gasthaus. Die Tür fiel mit einem dumpfen Schlag ins Schloss. Für einen Moment war es gespenstisch still in der Gaststätte, alle Augen waren auf den Hound gerichtet. Das dicke Dienstmädchen stand mit drei Krügen in jeder Hand vor der Theke und glotzte. Ihr Mund stand offen. Sandor packte den Beutel und steckte ihn sich ohne nachgezählt zu haben in den Gürtel.

Angewidert schob er mit der anderen Hand den Krug ein Stück von sich weg. Die Lust auf Ale war ihm vergangen. Nichts hätte er in diesem Moment lieber getan, als aufzustehen und zu verschwinden. Aber dann würden die Leute ihn für einen Feigling halten und es gab bereits genug Geflüster, er habe die Lust am Kämpfen verloren nach der Schlacht am Blackwater. Nein, er musste bleiben, zumindest bis nicht mehr alle zu ihm hinüberstarrten. Und so griff er doch wieder nach dem Becher und zwang sich, einen Schluck zu nehmen.
 

William hatte seine eigene kleine Zelle in der Behausung des Altbruders, schließlich war er sein persönlicher Assistent. Sein Zimmer war klein und verfügte nur über eine schmale Pritsche und einen siebenzackigen Stern aus Metall, der an der Wand hing, und vor dem er jeden Abend betete. Trotzdem mochte er seine Unterkunft. Früher hatte er im Trakt der Novizen gewohnt, wo alle angehenden Mönche zusammen in einem Raum nächtigten. Da war ihm sein eigenes Zimmer, das er jetzt hatte, doch bedeutend lieber. Nicht, dass er sich je beklagt hätte. Im Kloster ging es ihm so gut wie es ihm in den Riverlands nie gegangen war, wo er sich nur mit Müh und Not über Wasser hatte halten können. Es war pures Glück gewesen, dass der Altbruder ihn gefunden hatte. Ein Waisenjunge ohne Zukunft, der sich mit kleinen Diebstählen zu ernähren versuchte. Jedes Schweigegelübde und jede Messe war besser als der nagende Hunger und die Frage, ob es am nächsten Morgen etwas zu Essen geben würde.

Seit knapp zwei Jahren war er bereits im Kloster und ihm gefiel das Leben als Mönch. Der Glaube war in ihm gewachsen wie eine zarte Pflanze. Mit jedem Tag verstand er mehr von dem, was der Septon immer gepredigt hatte. Von den sieben Gesichtern des einen Gottes und von Vergebung und Sühne. Außerdem war Will ein aufgeweckter Junge, der wusste, wie man sich einen Vorteil verschafft. Das bewies auch seine Stellung als Assistent des Altbruders. In einem normalen Kloster hätten die Mönche gemunkelt, dass er der Nachfolger des Altbruders werden würde, aber hier war das nicht der Fall, denn niemand sprach oder tuschelte. Aber denken taten sie es.

Will lächelte, als der Meister ihn aus dem Raum schickte, damit er sich ungestört mit dem gerade angekommenen Septon unterhalten konnte. Ja, seine Zelle war winzig, aber sie hatte einen gewaltigen Vorteil gegenüber allen Zellen, die das Hauptgebäude zu bieten hatte: Der Empfangsraum des Altbruders war nur durch eine dünne Wand aus Treibholz von ihr getrennt. Will ließ sich auf den Boden sinken, mit dem Rücken zu dieser Wand und lauschte. Wenn man immer schweigt, lernt man irgendwann das Zuhören ganz von selber. Und zur Abwechslung einmal menschliche Stimmen zu hören, anstelle vom gewohnten Vogelgezwitscher und Rauschen der Wellen, ließ den jungen Mönch an seine Kindheit bei seiner Familie denken.

Andächtig lauschte er den Geschichten, die der fremde Septon zu erzählen hatte, vom Krieg von den einfachen Menschen, von seiner Heimat den Riverlands. Es war gar nicht so lange her, da war Will selber jemand gewesen, dem Merribald auf seinen Reisen hätte begegnen können. Jemand, der von Merribald eine Orange oder etwas Brot bekam, um nicht zu verhungern.

Es war weit nach Mitternacht, als der Altbruder den Septon entließ und Will war zwischenzeitlich ein paar Mal eingenickt. Als er die Tür ins Schloss fallen hörte, schreckte er auf und erhob sich von seinem Platz auf dem Fußboden, um sich schlafen zu legen. Bevor er sich jedoch Schuhe und Kutte ausziehen konnte, hörte er, wie der Altbruder seinen Namen rief.

Ob er gemerkt hat, dass ich gelauscht habe? , fragte Will sich besorgt, denn die Stimme des Mönches klang ernst und gewichtig.

Was auch immer der Grund war, es hatte keinen Sinn zu warten, und so trat er eilig aus seiner Zelle in das Empfangszimmer, wo der Altbruder immer noch am Tisch saß. Genau so, wie er ihn zurückgelassen hatte. Will bewegte sich in sein Blickfeld und verneigte sich leicht, was ungefähr einem „Ihr wünscht?” gleichkam.

„Nimm dir etwas zu trinken, William”, sagte der Altbruder und gestikulierte in Richtung des Kruges, der auf dem Tisch stand, „und schenk mir auch noch etwas ein.”

Will kam der Aufforderung nach, nahm sich selber ein Glas und füllte es, nachdem er zunächst seinen Meister versorgt hatte.

„Setz dich.”

Unsicher ließ er sich auf einem Stuhl nieder. Ihm war ein wenig unwohl. Die Situation war mehr als seltsam. Normalerweise rief der Altbruder ihn um diese Zeit nie zu sich. Rasch ging er in Gedanken durch, welches Verhalten der letzten Monate eine strenge Unterhaltung herbeigeführt haben könnte, aber ihm fiel nichts ein.

Der Altbruder zupfte sich am Bart und sah an ihm vorbei auf die Tür.

„Ich nehme an, du hast gelauscht, nicht wahr?”, sagte er dann mit einem schelmischen Lächeln.

Will überlegte erst, zu verneinen, entschied sich dann aber für die Wahrheit und nickte leicht, wobei er versuchte, möglichst schuldbewusst auszusehen. Der Altbruder würde viel ärgerlicher sein, wenn er ihn beim Lügen erwischte, als wenn er sein Vergehen gleich eingestand.

„Dann hast du bestimmt auch gehört, dass Sansa Stark in den Riverlands gesehen wurde?”

Den letzten Teil des Gespräches hatte Will leider in einer Art Halbschlaf verbracht. Er hatte den Namen zwar gehört, konnte ihn aber nicht genau zuordnen. Er machte eine Handbewegung, die bedeutete, dass er sich nicht ganz sicher war.

Sein Gegenüber nickte. „Sansa Stark ist die Tochter von Eddard Stark. Du wirst von ihm gehört haben. Er wurde von König Joffrey hingerichtet, nach dem Tod von König Robert.”

Will erinnerte sich an diese Geschichte, damals war sie in aller Munde gewesen, jedes Fischerweib hatte sie anders erzählt, aber letztendlich war sicher: Die Hand des Königs war getötet worden und der Junge Joffrey würde König werden. Will, der damals nur wenig älter als der König gewesen war, hatte oft gedacht, dass er bestimmt einen besseren König abgeben würde, als irgend so ein hochwohlgeborenes Knäblein. Zögerlich nickte er.

„Sein Sohn, der Junge Wolf, ist tot. Ermordet von den Freys während der sogenannten Roten Hochzeit. Die Nachricht ist sogar bis zu uns vorgedrungen. Seine jüngeren Brüder sind ebenfalls gestorben.”

Es war erstaunlich, wie viel der Altbruder über die Vorgänge in den Sieben Königreichen wusste. Allerdings kamen auch auf der Stillen Insel dann und wann Raben an, die Botschaften trugen. Wie zum Beispiel den Wechsel der Jahreszeiten, oder die Botschaft von König Stannis, die von Inzest und Sünde in den hohen Häusern erzählte. Trotzdem, Will fragte sich, wie der Vorsteher an diese Information gekommen war.

Er ist gerissener, als ich man meinen könnte, dacht er. Sicher hat er seine Informationsquellen, von denen wir nichts wissen.

“Sansa Stark ist seine älteste Tochter. Sie hat eine jüngere Schwester, Arya Stark, aber die ist verschollen. Vermutlich tot. Aber selbst wenn Arya Stark noch am Leben ist, Sansa ist die ältere und somit die Erbin.”

Die Erbin einer ausgebrannten Ruine, dachte Will. Winterfell war schon lange nicht mehr in der Hand der Starks und Gerüchten zufolge lag die alte Festung in Schutt und Asche.

Der Altbruder beugte sich vor und stützte seine Ellenbogen auf der Tischplatte ab, um seinem Novizen besser in die Augen sehen zu können.

„Sie ist aus King's Landing geflohen, und die Königin wird sie wiederhaben wollen. Sie wird wegen Verrat gesucht, aber sie ist auch die Erbin von Winterfell. Egal welche Seite diesen Krieg gewinnt, dieses Mädchen ist allen von Nutzen. Verstehst du das?”

Will nickte wieder. Warum erzählt er mir das alles? , fragte er sich. Was habe ich damit zu tun?

Schwer stützte sich der Altbruder auf dem Treibholztisch ab, als er sich erhob. Er machte einen Schritt in den Raum hinein, aber es war nicht genug Platz, um weit zu gehen. Er stellte sich mit dem Rücken zu Will, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Es waren grobe, kräftige Hände. Die Hände eines Arbeiters, eines Bauern. Oder eines Kriegers, dachte Will plötzlich.

„Ich habe für Aerys Targaryen gekämpft, Junge. Hier, am Trident. Aerys wusste meinen Namen nicht, er wusste überhaupt nicht, dass es mich gibt. Es war ein Krieg zwischen hohen Lords, aber jeder musste darunter leiden. Ich habe die Schrecken gesehen, damals, als ich bis über die Knöchel im Fluss stand, dessen Wasser sich langsam rot färbte. Vom Blut, nicht von den Rubinen, wie die Sänger uns Glauben machen wollen. Vom Blut von Menschen wie dir und mir.” Er schwieg lange, nur sein schwerer Atem war zu hören, und weit, weit weg das Rauschen der Wellen, das Rauschen des Trident. Will konnte sein Gesicht nicht sehen, aber er war sicher, dass es schmerzverzerrt war. „Ich hatte Glück”, fuhr der Altbruder schließlich fort, “dass ich hier gelandet bin, als ich damals fiel. Es hat mich gerettet, genau wie dich. Ich kenne den Krieg, William. Und ich möchte seine Schrecken nicht noch einmal erleben müssen.”

Worauf will er hinaus?

„Wir sind nur Mönche, wie sollen wir uns gegen die Willkür der Obrigkeit schützen? Wie hätte ich mich damals schützen sollen? Aber wenn wir das Mädchen hätten ....” Er brach ab, rieb sich die Stirn. „Das Mädchen ist der Garant für Frieden.” Er drehte sich zu Will um, und sah ihm eindringlich in die Augen. „Und du wirst gehen und sie hierherbringen.”
 

Obwohl der Hound sich vorgenommen zu gehen, sobald sein Krug leer war, fand er sich schon bald bei einem dritten und vierten. Die Vorstellung, in die feuchte, unwirtliche Dunkelheit hinauszugehen, die Pferde zu satteln, und Arya zu sagen, dass sie aufbrechen würden, ließ den Ale besser schmecken und Wärme und Lärm des Schankraumes gemütlich und angenehm werden. Irgendwann musste er gehen, das war ihm bewusst. Aber noch hatte er Zeit, es gab keinen Grund, die Dinge zu überstürzen, vor allem wenn er durch sein Bleiben den Dorfältesten provozieren konnte.

Als der vierte Krug noch nicht ganz geleert war, stellte das Dienstmädchen ihm einen fünften hin. Es roch nach Schweiß und Alkohol.

„Den habe ich nicht bestellt”, brummte er unwirsch.

„Der Herr da drüben hat gesagt, ich soll ihn Euch bringen, m'Lord”, erwiderte sie und zeigte auf einen dünnen, drahtigen Mann, der allein in einer der vier Sitznischen auf der anderen Seite des Schankraums saß. Als er merkte, dass das Mädchen auf ihn deutete, hob er eine Hand zum Gruß und lächelte. Die beiden vorderen Schneidezähne waren ihm ausgeschlagen worden, und sein Lächeln hatte etwas Verschlagenes und Hinterhältiges. Der Hound lächelte nicht zurück.

Das Mädchen verschwand wieder, um einer Ansammlung grölender Bauern eine neue Runde zu servieren. Sandor starrte den Krug vor ihm an, ohne ihn anzurühren. Am anderen Ende des Raumes fädelte der Fremde sich aus seiner Sitznische und durchquerte den Raum mit einigen schnellen Schritten. Er hatte einen großen, dreckigen Beutel über der Schulter, den er neben dem Stuhl, auf dem eben noch der Dorfälteste gesessen hatte, abstellte. Dann ließ er sich selber nieder und faltete die knochigen Arme auf der Tischplatte, immer noch grinsend. Der Hound beschloss, ihn nicht zu beachten.

Seltsam, wie viele Leute heute etwas von mir wollen, dachte er, sonst belästigt mich immer nur Arya.

Der Fremde bestellte sich ein weiteres Ale und nachdem es gebracht worden war, schob er den Krug, den der Hound vorher bekommen hatte, zu ihm herüber und sagte: „Trinken wir zusammen!”

„Ich trinke nicht mit Männern, die ich nicht kenne.”

„Aber Ihr kennt mich.”

Der Hound wandte den Kopf, um den Fremden zu mustern. Er hatte schüttere, hellblonde Haare und einen etwas dunkleren, dünnen Bart, der seinen Mund einrahmte. Die Augen waren von einem blassen Blau, auch sein Gesicht war auffällig bleich.

Vielleicht ein Albino, dachte er, wie der weiße Direwolf von Ned Starks Bastard.

Der Fremde zeigte wieder seine unvollständigen Zähne bei einem Lächeln, das seine hohen Wangenknochen und sein spitzes Kinn nur noch mehr betonte. Er musste zugeben, dass der Fremde ihm bekannt vorkam, zumindest war er sich sicher diesen Mann - oder jemanden, der ihm sehr ähnlich sah – schon mal irgendwo getroffen zu haben. Wo und wann das gewesen war, konnte er allerdings nicht sagen.

„Wer seid Ihr?”, fragte er mit einem tiefen Grollen in der Stimme, nicht unähnlich dem Knurren eines Hundes, dem er seinen Namen verdankte.

„Ihr könnt mich Dennett nennen, Ser Sandor.”

„Ich bin kein Ser”, spuckte er aus.

„Natürlich nicht.” Überheblich tippte der Mann sich an die Wange. „Ich wollte nur sichergehen, dass Ihr es auch tatsächlich seid. Wobei Euer Gesicht da eigentlich keine Zweifel lässt.”

Langsam begann Sandor zu verstehen, warum Dennett die Schneidezähne fehlten.

„Was wollt Ihr von mir?”

„Wisst Ihr nicht, wer ich bin?” Dennett schien enttäuscht.

„Wenn ich wüsste, wer Ihr seid, hätte ich Euch das bereits mitgeteilt.”

„Ich war mir sicher, Ihr würdet mich erkennen.”

Der Hound knetete seine Augenlider mit Daumen und Zeigefinger. Was für ein Selbstdarsteller. Und ich dachte, die gäbe es nur bei Hof. „Sagt mir was Ihr wollt und verschwendet nicht meine Zeit.”

„Aber wenn Ihr wüsstet, wer ich bin, dann – “

„Das tue ich aber nicht, verdammt nochmal”, fluchte der Hund und schlug mit der Faust auf die Tischplatte, sodass Ale aus seinem Krug schwappte und eine braune, klebrige Lache auf dem Holz bildete. „Und wenn Ihr nicht langsam zur Sache kommt, wird euch bald nicht mal mehr Eure eigene Mutter erkennen!”

„Schon gut”, lenkte Dennett ein. Er hob einen Finger, um seine spitze Nase zu kratzen, und faltete dann beide Hände auf der Tischplatte. „Ich war damals bei Beric Dondarrion in Hollow Hill, als Ihr Euren Prozess hattet.”

Sandor konnte sich an die Höhle erinnern, den Priester Thoros aus Myr, Dondarrions übel zugerichtetes Gesicht, die umstehenden Banditen, die in der Dunkelheit verschwommen waren, an das Feuer, das brennende Schwert. Vor allem an das brennende Schwert.

„Viele waren da. Ich kann mich nicht an jeden einzelnen aus Eurem Pack erinnern.”

„Der Lightning Lord ist tot.” Dennett sagte das, indem er mit einem Ausdruck größten Bedauerns die Augen auf die rechte Ecke des Tisches richtete. Beinahe hätte der Hound ihm seine Trauer tatsächlich abgenommen.

„Ist er diesmal auch wirklich tot? Wer hat es geschafft, dass er endlich mal liegen bleibt?” Er lachte krächzend. Er selber hatte sich ja schließlich daran versucht und war gescheitert.

Hoffentlich war es nicht Gregor, schoss es ihm durch den Kopf. Sein älterer Bruder hatte Dondarrion gleich zweimal auf dem Gewissen, aber offenbar hatte Thoros von Myr ihn immer wieder zurückgeholt. Die meisten Outlaws dachten, dass er nur ein außergewöhnlicher Heiler sei, aber der Hound wusste, dass das nicht der Fall war. Er hatte gelernt, zu sehen. Und er hatte am Hof in King's Landing einige Male Rote Priester aus den Freien Städten bei ihren magischen Ritualen gesehen, aus Lys, Braavos oder Myr. Thoros musste eine große magische Begabung gehabt haben, denn dass Beric Dondarrion tot gewesen war, nachdem der Hound selber sein Schwert in seiner Schulter versenkt hatte, daran bestand kein Zweifel. Und trotzdem war er nur wenig später wieder am Leben gewesen, um ihn freizusprechen.

„Er ist unwiederbringlich verloren”, bestätigte der Bandit nickend.

„Wie ist das passiert?”

„Habt Ihr von Lady Stoneheart gehört?”

„Ein Weib hat ihn erledigt?” Sandor grunzte amüsiert. „Wie hat sie das angestellt?”

„Wir fanden Sie an den Ufern des Trident, einige Tage nach der Roten Hochzeit. Sie war tot und ans Ufer getrieben worden. Eine Menge Wölfe strich um sie herum, aber niemand hatte sie angerührt.” Dennett beugte sich weiter vor, um seine Geschichte interessanter zu machen. Als Antwort darauf lehnte sich der Hound zurück, täuschte Desinteresse vor. „Lord Beric wollte, dass Thoros sie rettet, aber Thoros weigerte sich. Sagte, sie sei bereits zu weit auf der ‚anderen Seite’. So hat er's gesagt. Sie haben sich gestritten, die beiden. Keine Ahnung, warum Beric so einen Aufstand um das Weib gemacht hat. Und dann hat er sie einfach selber ...” Er stockte, suchte nach den richtigen Worten.

„Wiederbelebt?”, schlug Sandor vor.

Dennett nickte. „Aber dafür hat er sein eigenes Leben gelassen.”

Der Hound lachte kurz und scharf auf, ein bellendes Lachen. „Der Narr war einfach zu ehrenhaft, um zu leben! Was für ein Idiot! Im Grunde hat er's nicht anders verdient.”

Sein Gegenüber schien wenig erfreut über diese Reaktion.

„Sagt das nicht!”, zischte er. „Lord Beric war der beste Mann, den Westeros je gehabt hat! Es ist eine Schande, dass er tot ist!”

„Und das Weib, das ihn endgültig erledigt hat?”, fragte der Hound. „Was habt ihr mit der gemacht? Sie gleich wieder umgebracht?”

„Hätten wir das doch nur getan!”

Sandor schnaubte verächtlich.

„Thoros und Lem und die anderen haben sie zur neuen Führerin der Bruderschaft ohne Banner erklärt!”

Die Leute im Schankraum zuckten zusammen, als der Hound den Kopf zurücklegte und schallend lachte.

„Darauf können wir trinken”, prustete er und hob seinen Krug. Dennett reagierte nicht. Seine blassen Wangen hatten sich zornesrot gefärbt.

„Sie verrät die Bruderschaft!”, knurrte er. „Unter Lord Beric waren wir groß und ehrenhaft, aber sie missbraucht uns für ihre persönliche Rache.”

Der Hound nahm einen kräftigen Schluck Ale und stellte den Krug polternd auf dem Tisch ab.

„Als ob Leute wie Ihr überhaupt so etwas wie Größe und Ehre hätten.”

Dennett funkelte ihn aus seinen blassen Augen böse an, ohne etwas zu erwidern. Sie schwiegen beide eine Weile, während der Hound seinen Krug zur Hälfte leerte. Schließlich ergriff er wieder das Wort, da der Bandit keine Anstalten machte, wieder zu verschwinden: „Eine wirklich fesselnde Geschichte, die Ihr mir da erzählt habt, Dennett. Aber ich weiß leider immer noch nicht, was das mit mir zu tun hat”

„Ich brauche Euch.” Der blasse Mann sprach so leise, dass der Hound sich nach vorne lehnen musste, um ihn zu verstehen.

„Ach. Und warum sollte ich Euch helfen?”

„Ihr seid der einzige, der mir geeignet scheint.”

„Tatsächlich.” Sandor war nicht beeindruckt. „Und was soll ich für Euch tun?”

„Lady Stoneheart umbringen.”

Der Hound faltete seine Arme auf der Tischplatte und senkte seinen Kopf. Da er um einiges größer als der Bandit war, befand er sich nun auf Augenhöhe mit ihm. „Und nun sagt mir bitte, Freund, warum ich das tun sollte.”

„Weil ich weiß, wo sich Gregor Clegane aufhält. Und weil ich weiß, wie Ihr ihn umbringen könnt.”

Sandor lehnte sich wieder zurück, die Arme vor der Brust verschränkt. Sein entstelltes Gesicht zeigte keinerlei Gefühlsregung, lediglich sein rechter Mundwinkel zuckte ein wenig, als amüsiere er sich über einen Witz, den nur er verstehen konnte. Seine durchdringenden Augen waren auf einen der breiten Balken geheftet, die die Decke des Schankraumes stützten. So verharrte er eine Weile, bis er schließlich fragte: „Und warum glaubt Ihr, würde ich Gregor töten wollen? Er ist mein Bruder.”

„Ich würde meine Bruder auch töten wollen, wenn er mir so etwas angetan hätte.” Dennett deutete mit seinem spitzen Kinn auf Sandors Brandnarben.

Der Hund knurrte, sagte aber nichts.

„Und wenn wir ehrlich sind, dann verdient er es auch zu sterben, oder?”, fuhr der Bandit fort. „Denkt nur, all die verbrannten Dörfer, die gefolterten, abgeschlachteten Menschen, die vergewaltigten Frauen, die verstümmelten Kinder ...” Er machte eine theatralische Pause, bevor er noch einmal betonte: „Er verdient den Tod.”

„Wenn Ihr dieser Meinung seid, warum tötet Ihr ihn dann nicht einfach selber?” Das Gesicht von Sandor hatte sich in eine steinerne Maske verwandelt.

„Seht mich doch an!” Dennett gestikulierte mit den Händen vor seiner Brust. „Ich bin wohl kaum in der Lage, jemandem wie Gregor Clegane, dem Reitenden Berg, das Wasser zu reichen. Da braucht es schon jemanden wie Euch.”

„Und was hält mich dann davon ab, Euer angebliches Wissen nicht mit Gewalt aus Euch herauszuholen?”

Als der Hound das breite Grinsen auf dem Gesicht des anderen sah, wusste er, dass er in die Falle gegangen war. Er hatte zugegeben, dass er an der Information interessiert war, die Dennett ihm geboten hatte.

„Ihr braucht mich, um Gregor zu erledigen. Ich habe einen Plan, in dem ich selber eine wichtige Rolle spiele”, erklärte dieser und faltete seine langen, dünnen Finger zu einer Pyramide, indem er die Fingerspitzen aneinanderlegte. „Aber zuerst einmal wegen Lady Stoneheart ...”

„Wieso sollte ich Euch glauben? Woher wollt Ihr so viel wissen?” Wenn er schon am Haken war, dann würde er so viel aus der Situation rausholen, wie möglich. Und zur Not konnte er den aufdringlichen Mann immer noch töten. Bei Morgengrauen würde er sowieso aus Hillside verschwunden sein.

„Lasst es mich so ausdrücken: Ich habe meine Informationsquellen.”

Sandor schüttelte den Kopf und lächelte furchteinflößend. „Das wird leider nicht reichen. Wenn Ihr nichts Stichhaltigeres zu bieten habt, dann verschwendet Ihr nur meine Zeit. Wenn Ihr mich bitte entschuldigen wollt.” Er machte Anstalten, sich zu erheben.

„Euer Bruder hat Euch Eure Narbe zugefügt, nachdem Ihr ihm seinen Holzritter geklaut habt.”

Sandor hielt inne. „Woher wisst ihr das?”

„Es war mir klar, dass Ihr Euch nicht an mich würdet erinnern können.”

„Das hatten wir bereits, Ihr seid einer der Banditen von Beric Dondarrion.”

„Ich war Zimmerjunge bei Eurem Vater, als Ihr und Euer Bruder jung wart. Ich war für Gregor verantwortlich, habe seine Betten gemacht, ihm beim Ankleiden geholfen und ihm seine Waffen poliert.”

Noch einmal musterte Sandor Dennett von oben bis unten. Das Gesicht des Mannes rief keinerlei Erinnerungen in ihm wach, und sicherlich hätte er sich einen solch auffällig blassen Jungen gemerkt. Aber es war so lange her und er war nicht mehr als ein Kind gewesen. Sicher hatte auch Dennett anders ausgesehen als jetzt. Und da er ihn als etwas älter als sich selber schätzte, konnte es zumindest vom Alter her passen. Trotzdem, so eine Sache war viel zu heikel, als dass er sich auf das Wort eines Banditen und ein paar Informationen, die er wer weiß woher haben konnte, verlassen konnte.

„Beweist es.”

„Das habe ich doch bereits. Ich weiß wie Ihr zu Euren Verbrennungen gekommen seid.”

„Das reicht nicht.”

„Niemand, der damals nicht auf Clegane’s Keep gearbeitet hat, weiß davon. Euer Vater-”

„-hat verboten, dass davon gesprochen wird, ich weiß. Trotzdem. Dienstboten klatschen und Gerüchte verbreiten sich schnell. Das genügt nicht, um Euch glaubwürdig zu machen.”

Es schien, als zögere Dennett einen Moment, um seine Chancen abzuwiegen. Dann griff er in seinen Umhang, in eine der dort eingenähten Taschen, und holte eine Holzfigur hervor. Ein Ritter mit beweglichen Armen und Beinen, kunstvoll geschnitzt und bemalt. Die Jahre hatten die Farbe verbleichen und abblättern lassen, doch Sandor erkannte immer noch den gelben Schild mit den drei Hunden darauf, dem Wappen des Hauses Clegane.

Vorsichtig nahm er das Spielzeug in die Hand und drehte es langsam hin und her, um es von allen Seiten zu betrachten. Er bewegte sacht die Arme und Beine, verstellte sie, wie er es damals als Kind getan hatte. Die Gelenke waren brüchig geworden, aber sie funktionierten immer noch.

Er stellte den Ritter mit erhobenem Arm auf den Tisch und sah Dennett lange und hart an. Dann nickte er langsam.
 

Arya spürte, wie ihr Blut übers Kinn lief. Mühsam fuhr sie sich mit dem Handrücken darüber, um es wegzuwischen. Es musste eine beträchtliche Menge gewesen sein, denn ihre Hand war jetzt ebenfalls blutig. Ihr Kopf hämmerte schmerzvoll. Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie zu den vier Männern auf. Für einen Moment verschwamm das Bild, dann sah sie wieder scharf. Zumindest Walders Gesicht, das sie fixiert hatte. Sein Lächeln war verächtlich.

Sie hatte nicht lange durchgehalten. Syrio hatte mehrere Ritter in Rüstung mit einem Holzschwert überwältigen können, doch sie war nicht Syrio und sie war auch kein Wassertänzer. Sie war jetzt Wiesel. Ihr Dolch lag unter dem Stiefel des alten Mannes mit den vier Zähnen. Der Fackelschein spiegelte sich auf der Klinge wider. Immerhin hatten sie ihn nicht benutzt. Noch nicht. Aber jetzt bückte der Alte sich danach. Arya versuchte auf die Beine zu kommen und wegzulaufen, wie sie es von Anfang an hätte tun sollen. Was für eine Chance hatte sie gegen vier ausgewachsene Männer?

Aus den Augenwinkeln sah sie eine Bewegung, wollte sich umzudrehen -

Einer der Männer stolperte zur Seite, als sich eine große Gestalt zwischen ihm und seinem Nachbarn hindurch drängte. Zwei schwere, lederne Stiefel schoben sich in Aryas Blickfeld. Dann packte sie jemand am Kragen und wuchtete sie in die Luft. Ihre Füße fanden Halt und sie stand wieder.

„Wie mutig, ein kleines Mädchen zu verprügeln”, schnaubte der Hound. Nicht laut und wutgeladen, wie sein Bruder es getan hätte, sondern ruhig und gefasst. Mit einer Pranke schob er Arya in Richtung der Stalltür. „Sattle die Pferde, Wölfin. Wir verschwinden.”

Es kostete sie ihre ganze Selbstbeherrschung, um nicht loszurennen. Stattdessen schritt sie so langsam wie möglich davon. Sie war sich ihres schutzlos entblößten Rückens schmerzhaft bewusst, und auf halber Strecke begann sie sich doch misstrauisch umzusehen. So weit ging ihre Selbstbeherrschung dann doch nicht.

Kaum war sie außer Sichtweite, stemmte sie das hölzerne Stalltor auf und rannte hinein. Stickiger Pferdegeruch schlug ihr entgegen, und die von der Bewegung und dem Blutgeruch aufgescheuchten Pferde wieherten nervös und traten unruhig hin und her. Arya führte Stranger und Craven in die Gasse zwischen den abgetrennten Boxen und sattelte und zäumte sie in Windeseile. Ihr rechter Arm tat zwar weh, wenn sie ihn höher als ihre Schulter hob, und ihre Finger waren immer noch ein wenig zittrig, aber sie war trotzdem beinahe so schnell wie immer.

Kaum hatte sie Strangers Sattelgurt festgezurrt, kam auch schon der Hound in den Stall mit einem großem Sack in der einen und ihrem Dolch in der anderen Hand. Er warf ihr die Waffe zu.

„Hab ich dir nicht gesagt, du sollst keinen Ärger machen?”

Arya antwortete nicht, sondern tat so, als prüfe sie Strangers Sattelgurt.

„Dich mit vier Dorfbewohnern anzulegen ist nicht unbedingt intelligent.” Er packte Stranger am Zaumzeug und zerrte ihn zur Stalltür. Arya schnappte sich Cravens Zügel und folgte ihm, achtete dabei aber darauf, sich Stranger von hinten nicht zu sehr zu nähern. Seine Zähne waren schmerzhaft, seine Hinterhufe jedoch tödlich.

„Wohin gehen wir?”

„Das geht dich nichts an.”

„Warum brechen wir jetzt auf?“

Sie erhielt keine Antwort.

Stattdessen saß der Hound auf und ritt in Richtung des Dorfeingangs. Arya bemühte sich ihm zu folgen, um ihn in der Dunkelheit nicht zu verlieren. Wie sie erwartete hatte, waren die Männer verschwunden. Sie hoffte, dass der Hound ihnen wehgetan hatte.

Kaum hatten sie das Dorf hinter sich gelassen, stieß sie Craven die Fersen in die Seiten, sodass sie zum Hound aufschloss.

„Wohin gehen wir?”, fragte sie noch mal. “Ich dachte, Ihr wolltet den Winter hier verbringen.”

„Meine Pläne haben sich geändert. Wir reiten nach Riverrun.”

„Riverrun?”

„Vielleicht gibt mir der Blackfish ein paar Kupferstücke für deinen Hintern”, knurrte der Hound. „Jedenfalls wäre ich dich dann los.”

„Ich habe den Blackfish nie gesehen, er kennt mich nicht.”

„Ich werde dafür sorgen, dass er dich kennt”, knurrte der Hound und damit war das Gespräch beendet. Er gab Stranger die Sporen und trottete voraus.

So froh sie war aus dem Dorf herauszukommen, machte ihr doch die Vorstellung, nach Riverrun zu reiten, keine Hoffnung. Sie hatte schon so oft versucht, nach Riverrun zu kommen. Mit Gendry und Hot Pie, mit Beric Dondarrion ... Es schien, als täte sie nichts anderes, als nach Riverrun zu reiten, ohne jemals anzukommen. Was wollte sie in Riverrun, wo es der Norden war, wo sie hingehörte? Sie waren so weit gewesen, und jetzt ritten sie wieder nach Süden und damit in die falsche Richtung.

Doch dem Hound das zu sagen, besonders nachdem er sie vor den Dörflern hatte retten müssen, schien ihr keine gute Idee. Und so schwieg sie und ließ zu, dass die Nacht sie verschluckte.



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