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Der Hund und der Wolf

von

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Teil III

Teil III
 

Es säuselt der Wind in den Blättern,

Es spricht der Eichenbaum:

Was willst du, törichter Reiter,

Mit deinem törichten Traum?
 

Einige Meter vor sich konnte sie den Hound leise fluchen hören. Die Nacht war sternenklar und der halbe Mond hatte mit seinem bleichen Licht den Hof vor der Goldenen Linde und die Straße, die von dort aus nach Süden führte, erhellt. Doch hier, unter dem dichten Blätterdach des Waldes herrschte Finsternis. Sie waren gezwungen gewesen abzusteigen und die Pferde zu führen, aus Angst, die Tiere könnten sich ein Bein brechen.

Der Hound hatte Lesters cremefarbenen Hengst hinter Stranger gebunden. Dahinter folgte Arya mit Craven am Zügel. Vorwärtskommen war schwierig und sie waren viel zu langsam, wie der Hound ihr bereits mehrmals vorgehalten hatte. Doch auch er musste einsehen, dass man seine Schritte vorsichtig setzten musste, wollte man nicht über eine verdeckte Wurzel stolpern, oder in einem unvermuteten Erdloch hängen bleiben.

Arya hätte sich kaum weniger für diese Problematik interessieren können. Ihre Gedanken waren noch immer bei dem, was der Mönch gesagt hatte. Im Licht der tiefstehenden Mittagssonne in Winterfell, hatten Sansas Haare oft geleuchtet, wie rotes Feuer. Ihr Farbton war viel heller als der von Bran und Robb und Rickon, genau so, wie ihr Augen auch von einen klareren Blau waren. Wie oft hatte Arya sie um ihre Augen und ihre Haare und ihre Art, alle für sich zu gewinnen, beneidet.

Sie hat rote Haare und ist ein bisschen älter als du.

Und unterwegs mit einer Spielmannstruppe aus King’s Landing.

Und Sansa war vom Hof des Königs verschwunden.

Arya kaute auf ihrer Unterlippe, bis sie Blut schmeckte. Sansa hatte Dutzende Lieder gekannt und es geliebt, sie mit ihrer reinen Stimme vorzutragen. Sie hatte sogar Harfenspielen gelernt. Auch wenn Sansa Dreck und Reisen über alles hasste, konnte Arya sie sich bei einer Spielmannstruppe vorstellen. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihre Schwester in ihrem hübschen, blauen Kleid, eine zierliche Harfe in der Hand in der Halle irgendeines Lords sitzen und das Lied von Florian und Jonquil singen.

Es passte alles zu gut zusammen. Es konnte kein Zufall sein. Der Mönch hatte gelogen, was seine Schwester anging. Wenn er überhaupt eine hatte, war sie bestimmt längst tot und er ein Spitzel der Königin. Auf der Suche nach Sansa. Er hatte ja auch nicht ausgesehen, wie ein Nordmann.

So weit war Arya allerdings auch schon vor einer Stunde gewesen.

Wenn es Robb auf der Kingsroad gewesen wäre, oder Bran oder Rickon, Mutter oder Vater, sie hätte keine Sekunde gezögert, sie zu suchen. Aber das war Sansa. Und so sehr sie sich dafür schämte, sie konnte sich nicht vorstellen, dass Sansa sie so akzeptieren würde, wie sie gerade war. Dreckig, mager, abgerissen. Sie hatten sich nie gut verstanden, aber jetzt würde es noch schlimmer sein, denn selbst in den schlimmsten Tagen ihres alten Lebens, war sie niemals auch nur annähernd so dreckig gewesen, wie jetzt. Und damals hatte sie noch niemanden auf dem Gewissen gehabt.

Sie war mit Lord Beric Dondarrion geritten und mit den Brüdern der Nachtwache. War Gregor Cleganes Gefangene gewesen, der Geist in Harrenhal und Roose Boltons Dienstmädchen. War sie überhaupt noch Arya Stark? Würde Sansa sie überhaupt als ihre Schwester erkennen, besonders, nachdem Arya sie in King’s Landing zurückgelassen hatte?

Der nächtliche Wald war voller Geräusche. Eine Eule rief zweimal hintereinander, in den Baumkronen raschelte es und aufgeschreckt von den schweren Schritten des Hounds stob eine Maus aus ihrem Versteck, um im Unterholz zu verschwinden.

Würde der Hound sie begleiten, wenn sie ginge?

Irgendwie bezweifelte sie es. Er war hinter einer Sache her, die ihm so wichtig war, dass er mitten in der Nacht durch einen stockdusteren Wald stolperte, auf der Suche nach der Anführerin der Banditen. Wenn sie ging, um Sansa zu finden, wäre sie wieder allein. Und wenn sie Sansa nicht fand ...

Sie erinnerte sich daran, dass sie denn Hound hasste, aber irgendwie änderte das nichts an dem beklemmenden Gefühl, das sie beschlich, wann immer sie daran dachte, alleine durch den Wald zurück zu reiten.

Wenn der Schnee fällt und der eisige Wind heult, stirbt der einsame Wolf, doch das Rudel überlebt.

Konnte ein Hund denn Teil eines Wolfsrudels sein? Sie wünschte ihr Vater wäre hier. Er hatte immer gewusst, was zu tun war.
 

Hinter den dünnen Zweigen des Schlehdorn tat sich eine Lichtung auf. Das Mondlicht fiel auf die Gräser, die sie bedeckten. Mit zwei schnellen Schritten trat er zwischen den Bäumen hervor, die Pferde hinter sich. Am Stand des Mondes konnte er ungefähr abschätzen, wie viel Zeit schon vergangen war. Es war bereits spät in der Nacht. Sie brauchten zu lange.

Kaum spürten die beiden Pferde des Gras unter ihren Füßen, senkten sie den Kopf und begannen zu fressen. Sogar Stranger, der über eine unglaubliche Ausdauer verfügte. Der Hals des Rappen war schweißnass und Sandor erkannte, dass er – zumindest um der Pferde willen – eine Pause einlegen musste, so wenig ihm das auch behagte.

Es war nicht nur der dunkle Wald, der ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte, obwohl die Tatsache, dass hinter jedem Baumstamm ein Bandit lauern konnte, nicht gerade zu seiner Beruhigung beitrug. Vielmehr war es die Furcht, er könnte es nicht rechtzeitig schaffen.

Lester hatte ihm alles erzählt, was er wusste. Wenn sie Todesangst hatten, gaben auch die stärksten Männer klein bei, das hatte jahrelange Kampferfahrung ihn gelehrt. Und Lester war da keine Ausnahme gewesen. Es war ein glücklicher Zufall gewesen, dass der Bandit völlig unvorbereitet gewesen war, denn sonst hätte der Hound ihn nicht so schnell und leise überwältigen können.

Wenn Lester Recht hatte, würde Lady Stoneheart sich dort am folgenden Abend in einem kleinen Dorf einfinden, das zwischen der Grünen und der Blauen Gabel lag, um einen „Angeklagten zu richten”. So hatte der Bandit sich ausgedrückt. Dem Hound was es völlig gleich, was die Bruderschaft ohne Banner dort mit ihren Gefangenen machte. Von ihm aus, konnte Lady Stonheart sich wie dieser Dondarrion mit jedem einzeln duellieren, solange er nur vor ihr dort war und nah genug an die Lady herankam, um sie zu töten.

Das war sein Plan. Genaueres würde sich dann ergeben, sobald er das Dorf erreicht hatte. Wenn er es überhaupt noch rechtzeitig erreichen würde.

Hinter ihm trat Arya aus dem Wald. Sie sah so müde aus, wie er sich fühlte. Seit ihrem Aufbruch von der Goldenen Linde, und dem folgenden Streit, hatte sie gehorsam den Mund gehalten und war ihm wortlos gefolgt. Jetzt erwartete er, dass sie ihn noch einmal fragen würde, wohin sie unterwegs waren, doch scheinbar war sie viel zu sehr mit sich selber beschäftigt. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. Craven gesellte sich zu Stranger und Lesters Pferd und graste gierig.

Sie mussten eine Pause machen, wenigstens eine klein. Völlig übermüdet am Treffpunkt anzukommen, um dann von den frischen Banditen überwältigt zu werden, würde ihnen nichts nützen. Aber Zeit war kostbar und Sandor wusste, dass er nicht vor dem Morgen aufwachen würde, wenn er sich jetzt erlaubte, zu schlafen.

„Wir halten hier kurz”, teilte er dem Mädchen mit. „Versuch, dich eine wenig auszuruhen.”

Sie blieb einfach stehen, als hätte sie ihn nicht gehört. Er fragte sich, ob sie im Stehen eingeschlafen war. Doch dann hob sie auf einmal den Kopf und sah ihn an, aufmerksam diesmal.

„Ihr habt gesagt, meine Schwester hätte für Euch gesungen.”

Er runzelte die Stirn und zuckte die Schultern. „Das hat sie. Und?”

„Was hat sie gesungen?”

„Ein kirchliches Lied, über die Mutter. Gentle Mother, font of mercy ...so ähnlich. Warum?”

„Ihr habt auch gesagt, dass Ihr sie gerettet habt.”

Langsam wurde er ungeduldig. „Was soll diese Fragerei? Deine Schwester interessiert gerade nicht.”

„Also habt Ihr gelogen?”

„Über was?”

„Dass Ihr sie gerettet habt.”

„Das ist die Wahrheit, kleine Wölfin. Der verdammte Mob hätte sie in tausend Stücke zerrissen, wenn ich nicht gewesen wäre.”

Sie schaute ihn an und schwieg, überlegte.

„Sansa ist aus King’s Landing geflohen.”

„Wo hast du das gehört?”

„Der Mönch vorhin, im Gasthaus, der war auf der Suche nach ihr. Er muss einer von Cerseis Männern gewesen sein. Sie ist auf der Kingsroad irgendwo.”

Sein eigenes, bellendes Lachen klang ihm schmerzhaft in den Ohren, als es durch den ruhigen Wald schallte. „Das hat er dir erzählt? Was für ein Narr! Und du glaubst ihm auch noch.”

„Das hat er mir nicht erzählt”, erwiderte sie wütend. „Er hat mir etwas von einem rothaarigen Mädchen erzählt, das angeblich seine Schwester ist, aber das muss sie sein, ich bin mir ganz sicher.”

Er schnaubte. „Du bist übermüdet, das ist alles. Wir müssen weiter. Komm.”

Sie rührte sich nicht. „Sansa ist die einzige, die noch von meiner Familie übrig ist.”

Für einen kurzen Moment stand ihm das Bild des Mädchens vor Augen. Rotbraune Haare, blaue Augen. Er versuchte ihre Züge in Aryas Gesicht zu finden, doch der Mond warf ein unregelmäßiges Licht auf die Lichtung und er konnte keine Ähnlichkeit ausmachen.

„Wir müssen gehen, und sie befreien.”

Sandor legte eine Hand auf sein Schwert. „Und warum sollte ich das tun, Wölfin?”

„Wenn Ihr sie gerettet habt, dann kann sie Euch nicht egal sein.”

Sie hatte für ihn gesungen.

„Ich habe nur das getan, was die Ritter der Königsgarde eben tun, nicht mehr. An deiner Schwester liegt mir so wenig, wie an dir.”

„Dann ...” Sie zögerte und zog nervös an Cravens Zügel. Die Stute hob unwillig den Kopf und trat näher zu ihrer Reiterin. „Dann werde ich alleine gehen. Und Ihr könnt Eure Banditen jagen.”

Langsam aber bestimmt drehte sie sich um und lief in Richtung des Waldes.

„Sei kein Narr”, hörte er sich rufen. „Du wirst draufgehen da draußen, ganz allein.”

„Ich kann auf mich aufpassen.” Sie drehte sich nicht um.

„Du kannst nicht einfach gehen. Was glaubst du denn, wer du bist?”

„Arya Stark aus Winterfell.”
 

Mit jedem Schritt wurde der Wald dunkler und die Bäume rückten näher und näher zusammen, als wollten sie ihr das Vorwärtskommen zusätzlich erschweren. Nicht, dass es nicht schon schwer genug gewesen wäre. Ihre nackten Füße fanden nicht immer Halt zwischen den Wurzeln und Blättern und mehr als einmal stolperte sie. Craven war ohne die gewohnte Gesellschaft von Stranger noch schreckhafter als sonst, und scheute bei jedem Geräusch. Und in Aryas Kopf rasten die Gedanken.

Wenn ich hier nicht bald rauskomme ...

Ohne nachzudenken schwang sie sich auf den Rücken ihrer Stute und gab dem Pferd die Sporen.

„Lauf, Craven”, wisperte sie ihr ins Ohr. „Wir müssen Sansa finden. Wir müssen sie finden, wir müssen!”

Das Pferd scheute und weigerte sich, sich zu bewegen. Arya zwang sie mit fester Hand vorwärts, was Craven jedoch nicht zu mehr, als einem stolpernden Schritt brachte. Arya presste ihr die Fersen in die Flanken, doch die Angst vor der Dunkelheit überwog.

„Jetzt mach schon, du Feigling!”, schimpfte sie. Sie spürte Tränen in ihren Augenwinkeln.

Ich muss hier weg ich muss sie finden ich muss Sansa finden ich darf nicht zurückschauen wenn ich –

Ein dumpfes Knurren ertönte hinter ihnen, gefolgt von einem Chor weiterer Knurrer. Es klang, als lauere ein ganzes Wolfsrudel im Unterholz. Was Arya zuvor nicht geschafft hatte, erreichten diese Tiere sofort. Craven machte einen Satz nach vorne und stob davon, ungeachtet der Dunkelheit und der Hindernisse. Arya konnte nichts weiter tun, als sich an ihr festzuklammern und zu hoffen, dass die Stute sich kein Bein brach. Der Wald flog rechts und links an ihr vorbei, ab und zu von einem hellen Streifen Mondlicht erhellt. Blätter peitschten ihr Gesicht, Äste schienen nach ihr zu greifen und hinter sich hörte sie die schweren Sätze der Jäger, die sie verfolgten.

Sieh dich nicht um!

Der Hufschlag tönte ihr dumpf in den Ohren. Craven war ein gutes Pferd, schnell und stark, trotz ihrer ängstlichen Natur. Sie konnte es schaffen. Sie musste.

Arya hört einen dumpfen Aufprall, ohne den genauen Ursprung des Geräusches ausmachen zu können. Dann explodierte ein furchtbarer Schmerz in ihrem Kopf und sie fiel.
 

Die Bäume waren grau und schwarz und weiß, wo das Himmelslicht sie beleuchtete, und in der Luft lag der Geruch von Angst. In ihrem Mund sammelte sich Geifer. Ihre kleinen Brüder und Schwester hechelten aufgeregt.

Auch in der Nacht fand sie sich im Wald problemlos zurecht. Ihre Nase führte sie, ihre Ohren warnten sie und ihre Augen erspähten, was vor ihr lag. Ihre Brüder hatten das braune Pferd eingekreist, in dessen Auge sich das Weiße zeigte. Es scheute und stellte sich auf die Hinterläufe, wann immer sie sich ihm näherten. Es war das Pferd, das den Angstgeruch verströmte, der schwer und süß in der Luft waberte. Geduldig umkreiste das Rudel es, und warteten auf einen Moment zum Zupacken. Sie wusste, dass dieser Moment kommen würde. Jede Kreatur hatte einen Moment, in dem die Aufmerksamkeit nachließ und sie hatte ihre grauen Brüder gelehrt, diesen zu erkennen und auszunutzen.

Ein kleines Stück weiter weg lag der Mensch. Ihre Brüder und Schwestern ließen ihr zumeist die Menschen, denn nicht alle trauten sich, von den gefährlichsten Raubtieren zu fressen oder sich ihnen überhaupt zu nähern.

Ihr war das einerlei. Alles war Beute.

Und dieser Mensch würde keine Gefahr sein. Vermutlich war er tot, denn er hatte sich seit er gefallen war nicht gerührt. Als sie sich dem kleinen Körper näherte, stieg ihr ein vertrauter Geruch in die Nase. Er weckte Bilder in ihr, heißes, loderndes Licht, graue Wände und die nackten Füße eines Menschen, denen sie folgte.

Unsicher beobachtete sie den Menschen. Es war offensichtlich noch ein Junges, denn es war geradezu winzig klein. Wieder prüfte sie die Luft. Da war er wieder, dieser Geruch. Und diesmal roch sie ihre Brüder darin und ihre tote Schwester. Nicht die Brüder, die gerade das Pferd umkreisten, sondern ihre richtigen Geschwister, mit denen sie im Schnee gelegen hatte. Ein Winseln entstieg ihrer Kehle, als sie an sie dachte.

Inzwischen war sie dem Menschen so nahe, dass sie seinen Arm mit einem Biss vom Körper hätte trennen können. Doch wieder stiegen Bilder in ihr hoch: Ein eisernes Menschending, Steine, die sie trafen, der Wald, das Gefühl alleine zu sein.

Nymeria?

Wieder winselte sie und leckte dem kleinen Menschen über das Gesicht. Es war warm und sie konnte das Blut unter der Haut pulsieren hören. Er lebte noch.

Das Pferd wieherte panisch und trat nach einem besonders kecken grauen Bruder, der jedoch zurücksprang, hechelnd, lauernd, die Zähen gebleckt. Sie fuhr herum und knurrte, scheuchte ihre Brüder durch den Wald davon, bis sie alleine war. Dann rollte sie sich neben dem Menschen zusammen. Ihr dichtes Fell schmiegte sich an die dünne Haut. Geduldig wartete sie auf den Morgen. Ihr Bauch rumpelte, doch heute Nacht würde sie nicht fressen.
 

Wills neuer Reisegefährte hatte sich als Bal vorgestellt und nachdem er Wills Kutte angezogen hatte, bestand er darauf, mit „Bruder Bal” angesprochen zu werden. Obwohl die Kutten der Mönche von der Stillen Insel so geschneidert waren, dass sie fast allen passten, merkte man bei genauerem Hinsehen, dass dem falschen Mönch die Kutte zu eng war. Eigentlich war Will nicht besonders klein oder schmächtig, aber Bal war ein großer, breitschultriger Mann. Über seiner Brust spannte sich der Stoff, die Ärmel waren zu kurz und unten konnte man seine Fußknöchel sehen. Nur wenn er nicht genau hinsah, würde ein Reisender den großen Mann für einen Mönch halten.

Will war mit einem neuen Hemd und einer neuen Hose aus dem Tausch hervorgegangen. Neu waren die Kleidungsstücke eigentlich nur für ihn, denn sie hatten vorher Bal gehört und waren in einem entsprechenden Zustand. Aber nachdem er Ärmel und Beine hochgekrempelt und sich an den Geruch gewöhnt hatte, fand er es gar nicht so schlecht, mal wieder ohne die sperrige Kutte unterwegs zu sein.

Sie waren noch in derselben Nacht aufgebrochen. Bal hatte ihm gerade genug Zeit gelassen, die Rechnung zu bezahlen und sich die neuen Kleider überzustreifen, bevor er ihn aus der ‚Goldenen Linde’ gezerrt hatte. Jetzt waren sie wieder auf der Kingsroad unterwegs und folgten ihr Richtung Norden, Wills treuen Esel im Schlepptau. Der trug jetzt allerdings nicht mehr nur Wills arg geschrumpften Proviantvorrat, sondern auch das spartanische Gepäck seines Begleiters: Die neu erworbenen Güter und vor allem, unter einer Decke in den Satteltaschen versteckt, Bals Eineinhalbhänder. Unter der Kutte konnte er es nicht verbergen und es offen am Gürtel zu tragen kam nicht in Frage. Darum hatte er sich schweren Herzens davon getrennt und es Will gegeben, damit er es sicher verstaute.

Bei Nacht war die Kingsroad gespenstisch still und verlassen, sodass Will manchmal das Gefühl hatte, sie wären die einzigen noch lebenden Menschen. Sie gingen in Stille. Bal brütete die ganze Zeit über etwas nach und ab und zu konnte Will ihn unter der Kapuze leise vor sich hin fluchen hören. Er überlegte, ihm zu sagen, dass er so kein besonders überzeugender Mönch war, doch er ließ es bleiben. Sein Gefährte war bestimmt nicht ungefährlich, und das seltsame Angebot, auf das er sich eingelassen hatte, trug nicht gerade dazu bei, ihn vertrauenswürdiger zu machen. Mehrfach ertappte er sich dabei, dass er sich den Sonnenaufgang herbeiwünschte, damit wieder mehr Menschen um ihn herum wären und er nicht mehr alleine mit dem falschen Mönch war.

Nach einer schier endlosen Zeit ging zu ihrer Rechten, im Osten, die Sonne auf. Mit einem plötzlichen Stick im Herzen dachte Will an die Sonnenaufgänge auf der Stillen Insel. Wenn die Sonne langsam über den fernen Horizont kroch, wobei ihre goldenen Strahlen auf dem Wasser der Bucht tanzten und die Mönche gegen das helle Licht die Augen zusammenkneifen mussten. Er fragte sich, was seine Brüder jetzt wohl machten. Und er wünschte, er wäre wieder bei ihnen.

Wenn die Götter mir hold sind, werde ich Sansa Stark bald finden, dachte er hoffnungsvoll.
 

Während er sich durch den dunklen Wald schlug, ertappte er sich ein paar Mal dabei, wie er sich umdrehte, um zu kontrollieren, dass Arya noch hinter ihm war. Er verfluchte sich dann jedes Mal deswegen, und er verfluchte sie, dass sie einfach abgehauen war und er verfluchte den verdammten Wald, weil er dunkel und unwirtlich war. Und manchmal verfluchte er auch ihre Schwester, auch wenn er nicht genau wusste, warum.

Die Dunkelheit und das spärliche Mondlicht, das immer dann aufzutauchen schien, wenn er es am wenigsten erwartete, spielten seinen Augen Streiche. Einmal meinte er, das entstellte Gesicht von Beric Dondarrion in den Runzeln eines Baumstammes zu erblicken. Oder Joffreys Gesicht mit den wulstigen Lippen in einem Strauch mit glänzenden, grünen Blättern. Da waren Robert Baratheon und Cersei. Tyrion Lannister war dabei und manchmal das trotzige Gesicht von Arya oder das verschreckte Lächeln ihrer Schwester. Und Gregor. Immer wieder Gregor.

Und wann immer er Gregor zu sehen glaubte, tanzten die roten Flammen vor ihm und schienen ihn noch einmal aufzufressen. Gnadenlos und zerstörerisch.

„Wenn ich dich erstmal umgebracht habe”, erklärte er einer Tanne, deren stoppelige Nadeln ihn an Gregors Bart erinnert hatten, „dann wirst du mich nicht mehr verfolgen. Dann wirst du mein Gesicht überall sehen und was du mir angetan hast.”

In seinen Gedanken hatte Lady Stoneheart ebenfalls das Gesicht seines Bruders. Bleich, aufgequollen und tot. Er wusste, es würde ihm nicht leidtun, wenn er sie getötet hatte.

Seine Füße zertraten die Blätter auf dem feuchten Waldboden.

Er war kein echter Ritter.

Er dachte an die Nacht nach dem Tournier der Hand des Königs, als er das kleine Vögelchen nach Hause eskortiert hatte. Als er ihr von seinen Verbrennungen erzählt hatte. „Er war kein echter Ritter” hatte sie auf seine Geschichte geantwortet und er hatte gelacht. Und jetzt wollte Arya ihn glauben machen, dass das Vögelchen aus seinem Käfig geflattert war, um nach Hause zu fliegen. Er konnte sich Sansa beim besten Willen nicht alleine auf der Kingsroad vorstellen. Sie, die hübsche Kleider und hübsche Lieder und hübsche Lügen so sehr geliebt hatte.

Ich hätte sie damals mitnehmen sollen.

Aber was hätte er ihr schon bieten können? Wohin hätte er mit ihr fliehen sollen?

Die Ironie, ausgerechnet Arya Stark in den Riverlands zu begegnen, war beinahe zu viel für ihn. Aber vielleicht hatten die Götter ja ein Einsehen gehabt, selbst mit jemandem, der nicht an sie glaubte. Vielleicht hatten sie ihm Arya geschickt, damit er Lady Stonheart finden und seinen Bruder töten konnte. Zweifelsohne wäre die Welt ein besserer Ort ohne ihn.

Die Morgendämmerung kroch leise und unbemerkt über den Horizont. Sandor war so in Gedanken versunken gewesen, dass er erstaunt aufblickte, als er die Zweige der Bäume um sich herum ausmachen konnte. Die Pferde hinter ihm schnauften. Stranger war in Ordnung, doch Lesters Hengst lahmte am linken Hinterhuf. Als er nachsah, entdeckte er einen harten Dorn, der sich zwischen Huf und Eisen geschoben hatte, und zog ihn heraus.

Er hatte keine Ahnung, wie weit er gekommen war, doch die aufgehende Sonne im Osten verriet ihm, dass er in der richtigen Richtung unterwegs war. Um sich und den Pferden einen Moment Ruhe zu gönnen, setzte er sich mit dem Rücken zu einem Baumstamm und ließ die Tiere an dem dünnen Gras knabbern, das hier und da zwischen den Wurzeln spross.

Die Sonne stieg höher und gab der Welt ihre Farben zurück. Sandor beobachtete wie die Blätter ihre Farbe von Dunkelblau zu Dunkelgrün und schließlich zu einen kräftigeren Grün veränderten und konnte sich nicht dazu bewegen, aufzustehen und weiterzugehen.

Nach einer Weile war ihm, als höre er jemanden singen. Er kannte das Lied nicht, doch je länger er lauschte, desto sicherer war er sich, dass seine Fantasie ihm keinen Streich spielte. Wer auch immer da sang – er kam näher. Vermutlich waren es nur Spielleute und er war im Dunkeln in die Nähe eines Weges gekommen, auf dem tagsüber Bauern und andere Menschen unterwegs waren. Er beschloss, still sitzen zu bleiben, und zu warten, bis die Gruppe an ihm vorbeigezogen war, bevor er erneut aufbrach.

Es dauerte nicht mehr lange, dann konnte er die einzelnen Worte des Liedes ausmachen, das auch noch von Harfenspiel begleitet war. Es ging um einen Ritter, dessen Frau sich in ein Murmeltier verwandelt hatte. Nach jeder Strophe kam ein Refrain, in dem das Wort „Murmeltier” gegrölt wurde, bei dem mehrere Männerstimmen mit einstimmten.

„Jetzt halt doch endlich mal die Klappe, Tom”, rief auf einmal eine tiefe Stimme. „Man kann dich ja meilenweit hören.”

Der Gesang brach ab und kurz darauf erklang die klare Stimme des Sängers: „So wissen die Leute, dass ich komme und haben genügend Zeit, mir aus dem Weg zu gehen.”

„Ich würde dir auch aus dem Weg gehen, wenn ich könnte”, kam es von jemand anderem, begleitet von lautem Gelächter.

Die Gruppe musste jetzt ganz in der Nähe sein, denn der Hound konnte ihre Stiefel auf dem erdigen Grund der Straße knirschen hören. Dem Geräusch nach zu schließen, waren es mindestens vier.

„Du könntest ja wenigstens mal was Vernünftiges singen”, brummte die tiefe Stimme, die den Sänger am Anfang unterbrochen hatte.

Die Schritte wurden bereits wieder leiser.

„Ach, was findest du denn vernünftig? Vielleicht ein Lied der Mönche?” Ein Akkord erklang auf der Harfe.

„Gentle mother, font of mercy,

save our sons from war we pray ,

stay the swords and ...”

Sein Gesang wurde von lautem Rufen seiner Gefährten übertönt und als sie sich wieder beruhigt hatten, waren sie schon so weit weg, dass der Hound keine Worte mehr ausmachen konnte.
 

Arya wachte mit stechenden Kopfschmerzen auf. Ihre Stirn fühlte sich an, als hätte jemand versucht, einen Nagel hinein zu hämmern und der Schmerz war von dort über ihren Schädel bis in den Nacken gewandert. Außerdem war die Sonne längst aufgegangen.

Ruckartig setzte sie sich auf und bereute es sofort wieder, als ein gleißender Blitz durch ihre linke Schläfe schoss und ihr schwarz vor Augen wurde. Bis sie sich wieder gefangen hatte, dauerte es einen Moment, doch schließlich war sie in der Lage, sie umzusehen.

Craven graste in einiger Entfernung, auf einer winzigen Lichtung, die von einigen Bäumen freigegeben wurde. Arya selber saß auf dem Waldboden, unter ihr eine knorrige Wurzel, die sich schmerzhaft in ihren Oberschenkel bohrte. Sie hatte wieder von den Wölfen geträumt. Es war seltsam gewesen, denn sie hatte ihren eigenen Körper hier liegen gesehen. Beunruhigt blinzelte sie und kämpfte sich auf die Beine, um zu Craven hinüber zu laufen. Von Wölfen war glücklicherweise nichts mehr zu sehen.

Wenn ich wirklich ein Wolf wäre, müsste ich vor niemandem mehr Angst haben.

Zunächst wich die Stute vor ihr zurück und scheute, doch am Ende bekam Arya dann ihre Zügel zu fassen und beruhigte sie, indem sie ihren Hals streichelte. Während sie das tat wurde ihr bewusst, dass sie großes Glück gehabt hatte. Ein Ast musste sie am Kopf getroffen haben und sie war dabei von einem galoppierenden Pferd gefallen, ohne sich ernsthafte Verletzungen zugezogen zu haben. Abgesehen von den Schmerzen in ihrem Kopf natürlich.

Die Sonne war am Himmel hinter ihr aufgegangen, also musste sie sich nach links wenden, um wieder zurück auf die Kingsroad zu kommen. Bevor sie in den Sattel kletterte, suchte sie sich einen markanten Punkt aus – eine besonders hohe Tanne – die sie als Ziel im Auge behalten konnte, damit sie nicht versehentlich die Richtung verlor. Dann setzte sie ihren Weg fort.

Bis zum Mittag ritt sie zügig. Bald entdeckte sie die ‚Goldene Linde’ zwischen den Bäumen und gab Craven die Sporen, erleichtert, auf dem richtigen Weg zu sein. Als die Sonne begann, langsam gen Westen zu wandern, wandte sie sich ebenfalls nach Westen, um schließlich auf die Kingsroad zu stoßen. Wenn sie aufpasste, würde sie niemandem auffallen, schließlich hielten die meisten Menschen sie für einen zerlumpten Bauernlümmel. Und wenn Sansa tatsächlich mit einer Spielmannstruppe unterwegs war, dann musste sie ebenfalls auf der Kingsroad sein. Spielmannstruppen hatten Wagen, Ochsenkarren oder ähnliches, und seit sie mit Yoren unterwegs gewesen war, wusste sie, wie viel Ärger diese Art Gefährt auf unbefestigten Waldwegen machte.

Die breite Straße war zu dieser Tageszeit gut besucht. Die Sonne hatte die Erde trocken gebrannt und die vielen Füße wirbelten Staub auf, der sich in Aryas Kleidern und ihren Haaren festsetzte. Sie hielt Ausschau nach Gruppen, die nach Musikern oder Narren aussahen, doch sie wurde immer enttäuscht. Die einzigen Karren, die sie entdecken konnte, waren die Wagen von Bauern beladen mit Stroh. Und die Leute, die ihr entgegenkamen nach einem rothaarigen Mädchen zu fragen, traute sie sich nicht. Man wusste nie, auf wessen Seite die Leute standen. Ihr Bruder Robb war von seinen eigenen Getreuen hinterrücks ermordet worden.

Gegen Abend wurden die Reisenden immer spärlicher und noch immer gab es kein Anzeichen, von Spielmännern oder Sansa. Nach einem Tag im Sattel wurde ihr Kopfweh wieder stärker und bald bereitete ihr jeder Hufschlag Schmerzen. Ihr Kopf begann sich zu drehen und ein hohes Summen klang ihr in den Ohren. Sie wusste, dass sie sich besser irgendwo einen Unterschlupf suchen sollte, um zu rasten, doch noch wollte sie nicht aufgeben. Bei jedem Schritt ihres Pferdes sagte sie sich, dass sie nur noch einen weitern Schritt ertragen musste. Und noch einen, und noch einen ...

Ein gutes Stück vor ihr kam auf einmal ein breiter Wagen in Sicht, der von zwei Ochsen gezogen wurde. Er war von einer weißen Plane überspannt, auf der etwas geschrieben oder gemalt worden war, allerdings war es zu klein, um für sie lesbar zu sein. Der Wagen war offenbar liegengeblieben, denn mehrere Leute standen um ihn herum und redeten miteinander. Bei genauerem Hingucken, erkannte sie einen zweiten, kleineren Wagen hinter dem ersten. Dessen Plane war ebenfalls bemalt, allerdings war sie grau.

Die Leute sahen nicht aus, wie Narren oder Musiker, befand Arya, die Moonboy aus King’s Landing vor Augen hatte. Enttäuscht überließ sie sich wieder dem tranceartigen Zustand, den sie seit dem späten Nachmittag eingenommen hatte, eine Mischung aus Schmerz und Erschöpfung und Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit war immer noch besser, als Verzweiflung.

Als sie das nächste Mal aufsah, bemerkte sie erschrocken, wie sehr sie sich dem Wagen genähert hatte. Genug um zu erkennen, dass die Hälfte der Männer Soldaten in Kettenhemd und Helmen war. Einer der Soldaten sprach mit einem Mann mit orangeroten Haaren, die ihm auf die Schultern fielen. Der Mann gestikulierte aufgebracht, während der Soldat nur mit strenger Miene zuhörte und ab und zu den Kopf schüttelte. Sie richtete sich im Sattel auf und kniff die Augen zusammen, um das Wappen des Trupps auszumachen, doch dazu war sie noch zu weit entfernt. Allerdings bildete sie sich ein, ein blaues Feld auf den grauen Gewändern ausmachen zu können.

Das können keine Freys sein, dachte sie verunsichert, dafür bin ich doch noch nicht nah genug an den Zwillingen.

Trotzdem hielt sie es für besser, abzusitzen und die Gruppe zu umgehen. Soldaten bedeuteten immer Ärger, das hatte ihr der Hound oft genug eingeschärft. Selbst wenn sie nicht als Arya Stark erkannt wurde, konnten sie ihr immer noch Craven wegnehmen. Auf der linken, der westlichen Seite, war die Kingsroad von einem dichten Wald gesäumt, während rechts ein par abgeerntete Felder brachlagen. Sie schwenkte möglichst beiläufig nach links, um zwischen den Bäumen zu verschwinden, als in ihren Augenwinkeln plötzlich etwas rot aufblitzte. Instinktiv riss sie den Kopf herum, um nachzusehen.

Die Abendsonne stand tief am Himmel und schien nicht mehr gleißend hell wie am Nachmittag, sondern hatte einen freundlicheren, wärmeren Schein angenommen. Hinter dem Wagen war ein Mädchen hervorgetreten, dessen Haare rot in der Sonne leuchteten. Sie sprach ein paar Worte mit dem Soldaten, der wieder den Kopf schüttelte.

Arya hielt den Atem an. Sie war mitten auf der Straße stehengeblieben und starrte in Richtung des Wagens. Konnte es ...? Sie war größer, als sie sie in Erinnerung hatte, aber es war ja auch eine Menge Zeit vergangen. Ihr Haar war röter, als sie gedacht hatte, doch das war bestimmt nur das Abendlicht.

Es musste, ja, es konnte nur Sansa sein.

Sansa auf dem Weg nach Norden. Und jetzt hatten die verdammten Freys sie geschnappt und würden sie auch noch umbringen, wie Robb. Bestimmt hatte sie den Wagen nur deswegen angehalten.

Das ist meine Schwester, mein Rudel.

Sie verschwand mit einer fließenden Bewegung, wie Syrio es sie gelehrt hatte, im Unterholz.
 

Als es langsam Abend wurde, begann Will sich zu fragen, wo sie die Nacht verbringen würden. Alleine hätte es ihm nichts ausgemacht, sich unter einem Baum zusammenzurollen, doch mit Bal machte ihn diese Vorstellung nervös. Obwohl es um die Mittagszeit ziemlich warm gewesen war, hatte er die Kapuze der Kutte keinen Augenblick abgenommen. Seine stechenden Augen schauten unter dem dunklen Schatten, den der Rand warf, hervor und schienen alles zu sehen.

Will hätte gerne gewusst, wovor dieser Mann davonlief, doch Bal hatte ihm klar gemacht, dass er keine Fragen dazu beantworten würde. Es war sowieso schwer, ein Gespräch mit ihm in Gang zu bringen, egal über was, und so hatten sie sich die meiste Zeit des Weges angeschwiegen.

„Da sind Soldaten.”

Bal sagte das, als sei es eine Nebensächlichkeit. Will schaute auf und sah in einiger Entfernung einen größeren Planwagen und dahinter, halb verborgen einen kleineren. Auf einem der Wagen stand etwas geschrieben. Er kniff die Augen zusammen, um es besser lesen zu können. Es sah fast aus wie ... „’Die Tanzenden Drachen’! Das sind Gaukler!”

Bal sah ihn an, als wäre er verrückt geworden.

„Das sind Soldaten”, wiederholte er nur, etwas eindringlicher. „Wir sollten einem Bogen um sie machen.”

Doch Will hatte zwischen den Gauklern bereits ein Mädchen gesehen. Ein Mädchen mit roten Haaren. Das musste sie sein! Er beschleunigte seinen Schritt, seinen Esel hinter sich herziehend. Beinahe rannte er schon auf die Gruppe zu.

„Hey!”, rief Bal überrascht. „Was zum Teufel habt Ihr vor?”

Ein Mann mit langen Haaren deutete auf den Wagen und das Mädchen, Sansa, verschwand darin.

Er will nicht, dass die Soldaten sie sehen!

Alles passte perfekt zusammen. Er hatte sie gefunden. Nun musste er sie nur noch zur Stillen Insel bringen, damit die Mönche auch in Zukunft in Frieden und Stille leben konnten, ohne sich um den Krieg sorgen zu machen. Seine Füße schlugen rhythmisch auf den Boden und der Wind fuhr ihm durch die Haare. Hinter sich konnte er Bal höchst unmönchisch fluchen und irgendwas über sein Schwert brüllen, doch er kümmerte sich einfach nicht darum. Unter dem ungewohnten Gewicht der Kutte, deren Schnitt das Rennen massiv erschwerte, blieb der Söldner bald hinter ihm zurück.

Einer der Soldaten zeigte auf Will, als er ihn kommen sah und auf einmal fiel ihm glühend heiß ein, dass er keine Ahnung hatte, was er den Männern sagen sollte, wenn er erst einmal da war. Aber wenn die Götter ihn hierher geführt hatten, dann würden sie ihm auch die richtigen Worte in den Mund legen. Schließlich war seine Mission berechtigt.
 

Ruhig wie stilles Wasser.

Der Busch, hinter dem sie kauerte, hatte rote Blüten und Dornen. Als sie zu ihrem Versteck geschlichen war, hatte sie ausversehen in die Dornen gegriffen und sich mehrere Stiche im Handballen geholt. Zum Glück war es nur ihre rechte Hand, sodass sie in ihrer linken, der guten Hand, den Dolch halten konnte. Der Griff schmiegte sich kühl und beruhigend an ihre Handfläche.

Der hintere Teil des Wagens war ungefähr drei Fuß von ihr weg. Eine Distanz, die sie in zwei Schritten zurücklegen konnte, wenn sie es darauf ankommen ließ. Auf beiden Seiten des großen Wagens, der selbst einen Mann wie den Hound überragte, stand „Die tanzenden Drachen” in geschwungener Schrift. Tatsächlich also eine Spielmannstruppe. Unter dem Schriftzug befand sich die Abbildung eines tanzenden Drachen, passend zum Namen. Dieselbe Zeichnung war auch auf dem kleineren Wagen. Er sah leichter und wendiger aus, weshalb er auch von Pferden und nicht von Ochsen gezogen wurde.Zwischen den beiden Wagen, zumindest soweit Arya sehen konnte, standen die Soldaten und die Schauspieler und stritten. Von ihrem Platz hinter dem Dornenbusch konnte Arya zwei Soldaten sehen, zwei junge Burschen, die gerade erst ihren ersten Bartwuchs hatten, und zwei Spielleute. Der Rest der Gruppe war hinter dem großen Karren, und damit ihrem Blick verborgen.

Der Wortführer der Gaukler verhandelte fieberhaft mit den Soldaten. Anscheinend waren die „Tanzenden Drachen” unterwegs, um auf einer Hochzeit aufzutreten, doch die Freys ließen sie nicht passieren.

„Ich kann Euch nicht durchlassen, bis wir nicht Eure Ladung kontrolliert haben”, erklärte einer der Hauptmann energisch. „Da könnt Ihr Euch aufregen, so viel Ihr wollt.”

„Wir sind einfache Gaukler”, ereiferte sich der Mann, für Arya hinter der Plane verdeckt. „Das ist Schikane! Was könnten wir geladen haben, das Euch interessieren könnte?”

„Wenn dem so ist, dann könnt Ihr uns doch einfach in Euren Wagen sehen lassen.”

Arya vermutete, dass die Spielleute Angst hatten, die Soldaten würden sie ihres Besitzes berauben. Und damit hatten sie vermutlich auch recht. Allerdings war es jetzt sowieso schon zu spät, denn die Freys hatten bereits ein Auge auf die Ladung geworfen. Am Ende würden den Spielleuten nichts anderes übrigbleiben, als ihre Habe aufzugeben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das geschah.

Unglücklicherweise hatte sie noch keinen Blick auf Sansa erhaschen können, da sie hinter dem großen Wagen verdeckt gewesen war. Nach einer Weile hatte der Wortführer der Spielleute sie in den großen Wagen geschickt, vermutlich um sie zu schützen. Dem Geräusch nach zu schließen, befand sie sich jetzt auch genau dort. Sie war zwar mit „Liane“ angesprochen worden, aber das verwunderte Arya nicht. Sie selbst hatte ja auch schon die verschiedensten Namen gehabt, warum sollte Sansa da eine Ausnahme sein.

Der hintere Teil des Wagens war mit Holz verkleidet, ungefähr bis auf Brusthöhe von Arya. Darüber spannte sich die Plane, allerdings war sie nicht unten am Holz befestigt. Vielmehr konnte sie sehen, dass es sich um ein entfernbares Stoffstück handeln musste, das je nach Bedarf geöffnet oder geschlossen werden konnte. Ein geschickter Mensch konnte sich über die hölzerne Rückwand schwingen und so von hinten in den Wagen gelangen. Seit sie hier saß, hatte Arya mit den Augen abgemessen, wie sie es anstellen könnte, in den Wagen zu gelangen, und war zu dem Schluss gekommen, dass sie es schaffen könnte. Allein, sobald sie ihr Versteck verließ, würde sie in voller Sicht der beiden Soldaten sein, die hinter der Menschenansammlung standen und offenbar dafür Sorgen sollten, dass kein Gaukler sich durch den Wald davonmachte. Die beiden waren jung und bartlos, vielleicht 15 oder 16 Jahre alt. Außerdem waren sie relativ plump und vermutlich nicht zu raschen Bewegungen in der Lage. Beide hatten Kurzschwerter und einen Schild. Und obwohl sie nicht gerade aufmerksam waren, würde es ihnen bestimmt auffallen, wenn Arya versuchte, von hinten in den Wagen zu klettern.

Aber wenn sie noch länger zögerte, dann würde der Spielmann bestimmt den Soldaten nachgeben und Sansa würde erkannt und verschleppt werden.

Sie kaute auf ihrer Lippe und überlegte angestrengt.

Je länger sie zögerte, desto unwahrscheinlicher wurde es, dass sie Sansa befreien konnte. Irgendetwas musste ihr doch einfallen!

Ruhig, wie stilles Wasser. Angst schneidet tiefer als Schwerter.

Konzentriert schaute sie vom Wagen zu den Soldaten und zurück zum Wagen. Sie musste es einfach versuchen und wenn sie geschnappt wurde, dann würde sie ihnen zeigen, was in ihr steckte. Sie spannte ihre Muskeln und machte sich bereit zu springen.

„Schau mal da, hat der Bengel dem Mönch seinen Esel geklaut?” Einer der Freys zeigte auf etwas, das hinter dem Wagen verdeckt war.

„Er kommt hierher.”

Die beiden Soldaten machten einen Schritt nach vorne, um besser sehen zu können. Das war ihre Gelegenheit. Solange die Ablenkung andauerte, musste sie handeln. Ohne lange nachzudenken hechtete Arya aus ihrem Versteck. Der Boden federte unter ihren Füßen. Ein Schritt, zwei, und sie war hinten am Wagen und zog sich mit der rechten Hand hinauf, trotz der Stiche. Ihre Beine katapultierten sie nach oben und sie fiel beinahe über die Rückwand in den Wagen hinein, den Dolch immer noch in der Hand.

Sie landete in einem großen Stoffberg, der hauptsächlich aus bunten Kostümen bestand. Sofort war sie wieder auf den Beinen, obwohl das auf dem weichen Untergrund gar nicht so leicht war, und schaute im schummerigen Licht, das durch die Plane fiel, um sich. Im Wagen saß eine junge Frau mit roten Haaren und blauen Augen. Sie starrte Arya entsetzt an und Arya starrte genau so entsetzt zurück. Das war nicht Sansa.

Und dann fing das Mädchen an zu schreien.
 

Der Schrei aus dem Wagen ging allen Anwesenden durch Mark und Bein, doch am meisten zuckte der junge Mann mit den langen Haaren zusammen. Ohne zu zögern hastete er zum Wagen und riss die Plane hoch, die das Innere vor neugierigen Blicken schützte. Will war dicht hinter ihm, und schaute ihm entsetzt über die Schulter. Der ältere Soldat mit dem Vollbart trat ebenfalls hinzu.

„Liane!”, rief der langhaarige Spielmann. Sansa Stark stolperte aus dem Wagen, die Augen immer noch in Panik aufgerissen. Will erhaschte einen Blick auf eine kleine Person, vielleicht einen Jungen, die hinten im Wagen gesessen hatte. Einen kurzen Moment glitzerte ihre Klinge auf, dann drehte sie sich um, und kletterte die Rückwand hinauf.

„Bist du verletzt?”, rief der Mann und hielt Sansa in den Armen. „Was ist passiert?”

„Der Junge!”, schrie gleichzeitig ein anderer Gaukler und deutete auf die kleine Gestalt, die versuchte, in den Wald zu rennen. Einer der hinten stehenden Soldaten, ein junger Bursche ungefähr in Wills Alter, warf sich zur Seite und bekam den Eindringling am Knöchel zu fassen. Das Kind stolperte, fuhr herum und hackte mit eine Messer nach dem Gesicht seines Gegners. Blutstropfen spritzten. Der junge Soldat schrie auf und versuchte seine Augen mit beiden Händen zu schützen, wobei er das Bein zwangsläufig loslassen musste. Fast wäre der kleine Junge tatsächlich entkommen, hätte der Kamerad des Opfers sich nicht auf ihn gestürzt und ihn so heftig zu Boden gerissen, dass der Dolch ins Unterholz geschleudert wurde.

„Lass mich los!”, schrie das Kind, sich wild im Griff des Mannes windend.

„Idiot!”, zischte Bal hinter ihm. Er hatte ihn in all der Aufregung gar nicht kommen hören.

Doch Will hatte überhaupt keine Zeit, sich weiter damit auseinanderzusetzen, warum das Kind ihm so bekannt vorkam, denn direkt vor ihm stand Sansa Stark und er musste sie doch mitnehmen, doch er wusste nicht, wie er sie glauben machen sollte, dass er ihr wohlgesonnen und ein Mönch war, ohne seine Kutte. Und vor all diesen Leuten, die nicht wissen durften, wer sie war.

Die Gaukler redeten wild durcheinander, Sansa schluchzte und der junge Mann, der sie festhielt, versuchte verzweifelt, sie zu beruhigen. Der junge Soldat rang mit dem Jungen, der ihn anfauchte wie eine Katze und trat und biss. Es war ein heilloses Chaos.

„RUHE!”, brüllte der Hauptmann der Soldaten. Sein Vollbart wackelte. „SCHLUSS MIT DEM MUMMENSCHANZ!”

Augenblicklich verstummten alle – bis auf den Jungen – und schauten verschämt aus der Wäsche. Die Soldaten nahmen Haltung an und der Soldat mit den Stichwunden im Gesicht versetzte dem Jungen einen heftigen Schlag aufs Ohr sodass dieser aufhörte, sich zu winden und um sich zu schlagen. Sansa Stark schluchzte leise, ansonsten war es still.

Dann zog Bal mit einem schleifenden Geräusch sein Schwert aus den Satteltaschen von Wills Esel.

Entsetzt drehte Will sich um.

„Steckt das Schwert weg, Mönch“, sagte der Hauptmann, die Hand ebenfalls auf dem Schwertknauf. „Ihr wisst nicht was ihr tut.“

Bal hatte die Kapuze nicht von seinem Gesicht gezogen, doch er hob jetzt das Schwert und zeigte auf den Jungen, der mit Sansa im Wagen gewesen war.

„Ich will das Kind”, sagte er leise und bedrohlich, „dann werde ich keine Schwierigkeiten machen.“

„So einfach ist das nicht”, knurrte der Hauptmann. „Dieses Kind ist vermutlich ein Bandit. Wir werden es mitnehmen müssen.”

„Ich bin kein Bandit!”, widersprach der Junge energisch. Niemand schenkte ihm Beachtung.

Zum ersten Mal sah Will sich den Kleinen genauer an und erkannte erstaunt das Kind aus dem Gasthaus. Er schaute zurück zu Bal hinter sich und dann wieder auf den Jungen. Arry war sein Name gewesen. Wie kam er hierher?

Schleichend überkam ihn die Vermutung, dass er hier in etwas Größeres hineingeraten war, als er zunächst gedacht hatte. Unsicher schielte er zu Sansa. Sie hatte aufgehört zu weinen und lehnte sich jetzt haltsuchend an den jungen Gaukler. Will kam nicht umhin, sie unglaublich hübsch zu finden, mit den roten Haaren, den klaren Augen und den straffe Brüsten, die sich unter ihrem Mieder abzeichneten. Allerdings sah sie nicht wirklich aus wie ein dreizehnjähriges Mädchen, eher wie 15 oder 16. Das war kein Kind mehr, das war eine erwachsene Frau. Und ihre Augen waren auch nicht blau, sondern grün. Hatte er das falsche Mädchen erwischt? Verzweiflung kroch ihm den Rücken hinauf und schnürte ihm die Kehle zu.

Bal verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen ohne die Augen von Arry zu nehmen, aber er sagte nichts mehr.

„Wer bist du, Junge?”, verlangte der Hauptmann zu wissen. Es dauerte einen Moment, bis Will verstand, dass die Frage an ihn gerichtet war.

„William”, antwortete er wahrheitsgetreu. „Ein Mönch von der Stillen Insel.”

„Wie kommt es, dass du keine Kutte trägst und dein Begleiter schon?”

„Ich ... Bruder Bal hat ... er ...” Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

Mit einer Handbewegung brachte der Soldat ihn zum Schweigen und musterte Bal genauer.

„Nehmt Eure Kapuze ab, Bruder Bal”, verlangte er im Befehlston.

Bal rührte sich nicht.

„Ich sagte, nehmt Eure Kapuze ab.” Die Stimme des Hauptmanns war schneidend wie kalter Stahl. Er nickte leicht, und zwei seiner Männer machten einen Schritt nach vorne. Sie führten eine Klammerbewegung aus, sodass Will, ebenso wie sein kurzzeitiger Begleiter, zwischen ihnen standen.

Als Bal immer noch keine Anstalten machte, dem Befehl nachzukommen, trat auch der Hauptmann einen Schritt näher.

„Ich kenne Euch”, sagte er leise. „Ihr seid kein Mönch. Ihr seid ein Gefolgsmann von Lady Stoneheart.”

„Und Ihr von Lord Frey.”
 

Zuerst hatte sie gedacht, ihr schmerzender Kopf würde ihr einen Streich spielen. Der junge Kerl mit dem Esel sah nämlich aus, wie der Mönch aus der ‚Goldenen Linde’. Dafür schien der Mann, der die Kutte trug, das Gesicht von Lester zu haben. Aber das konnte nicht sein. Der Hound hatte ihn getötet!

Erst als der Hauptmann ihn als Banditen bezeichnete, erkannte sie, dass sie Recht haben musste. Deshalb war er auch an ihr interessiert gewesen. Vermutlich glaubte er, der Hound sei in der Nähe und er wollte sie als Geisel nehmen. Sie versuchte zu überlegen, wie sie entkommen konnte, doch ihr Kopf tat so furchtbar weh.

Lester hatte unterdessen sein Schwert gehoben und duckte sich, als die drei Soldaten der Freys gleichzeitig auf ihn losgingen. William stolperte aus dem Weg und fiel hin.

Einer der Freys hatte Lesters Schwert im Bauch, bevor er überhaupt wusste, wie ihm geschah. Noch während er sein Schwert aus dem Körper des Mannes herausriss, wobei Blut in alle Richtungen spritzte, duckte er sich unter dem Angriff des anderen Soldaten weg, indem er um den Körper des gerade Gefallenen herum hechtete. Als der Soldat ein zweites Mal anstürmte, trat er ihm den Körper seines Kameraden vor die Füße, und nutzte die kurze Unsicherheit des anderen, um sein Schwert von oben in seinem Schädel zu versenken.

Der Mönch aus der ‚Goldenen Linde’ stolperte mit weit aufgerissenen Augen zur Seite und wischte sich einige Blutspritzer aus dem Gesicht. Der Griff des Soldaten, der Arya gepackt hatte, lockerte sich, als er den Tod seiner Kameraden verfolgte. Sie nutzte die Gelegenheit, indem sie ihre linke Hand aus seinen Fingern wand und ihm ihren Ellbogen in die Weichteile zu ramme. Heulend ließ er sie los und krümmte sich zusammen. Doch schon war der zweite junge Soldat da. Die Schnittwunden, die sie ihm an Gesicht und Händen zugefügt hatte, bluteten heftig. Anstatt zurückzuweichen wie er erwartete hätte, sprang sie auf ihn zu, wich seinen Armen aus und versuchte das Schwert an seiner Seite aus der Scheide zu reißen. Leider war es viel zu groß und bevor sie es auch nur zur Hälfte heraus hatte, schlossen sich seine Finger um ihren Oberarm. Sie wirbelte herum und biss ihn in die Hand. Als sie losließ schmeckte sie Blut und ihr Arm war frei.

Sie stolperte rückwärts über den Körper des ersten Soldaten, dessen weitaufgerissene Augen leer waren. Unter seinem Kinn klaffte ein breites, rotes Loch. Arya fiel auf ihren Hosenboden, sah, wie sich die zerschnittenen Hände nach ihr Ausstreckten, und dann bohrte sich die Klinge von Lesters Schwert zwischen Hals und Schulterblätter und fraß sich einige Handbreit ins Fleisch hinein. Er klappte zusammen wie die Stoffpuppe des kleinen Mädchens aus Hillside.

Keuchend versuchte sie sich vom Boden abzustützen, um wieder auf die Beine zu kommen. Die Erde unter ihr war mit dem Blut der Freys benetzt und ihre Hände waren feucht und klebrig. Angstschweiß trat auf ihre Stirn.

Lester focht mit dem letzten stehenden Soldaten, dem Anführer mit dem dichten Bart. Ihre Klingen kreuzten sich, verhakten sich, kreuzten sich wieder. Aryas ausgefranster Wams hatte sich im Kettenhemd des gefallenen Soldaten verfangen und ließ sie wieder auf den Boden fallen, als sie versuchte, aufzuspringen. Ihr Fuß rutschte in einer Pfütze aus Blut zur Seite und sie verlor wieder den Halt. Ihr Kopf hämmerte, und Schmerzwellen verbreiteten sich rhythmisch von ihrer Stirn über ihren Schädel aus. Die Welt schwankte. In ihren Ohren schepperte das metallische Surren und Klirren der Schwerter.

Nur noch ein bisschen. Halt nur noch ein bisschen aus!

Einer der beiden Kämpfenden gab einen luftleeren, stöhnenden Ton von sich, ähnlich einem Fass, aus dem der Stöpsel gezogen wird. Ohne Nachzudenken drehte sie sich um und sah einen Dolch aus dem Hals des Hauptmannes ragen. Allerdings ragte nicht der Griff zwischen dem strähnigen Bart hervor, sondern die Klinge. Hinter dem Soldaten stand einer der Gaukler und schaute ungefähr so entsetzt, wie sie sich fühlte. Lester hatte ihr den Rücken zugewandt, das Schwert zum Schlag erhoben, den er nicht mehr auszuführen brauchte. Sie schnappte nach Luft. Lester wirbelte herum, Arya fand ihre Füße wieder und sprang auf, rannte zum zweiten Mal auf den Wald zu. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen und sie stolperte. Doch da sah sie den Dornenbusch vor sich.

Gleich ...!

Die flache Seite des Schwertes traf sie ein Stück unterhalb ihrer rechten Schulter und schleuderte sie auf die Seite. Wäre es die Klinge gewesen, ihr Arm wäre sauber vom Körper getrennt worden, dessen war sie sich sicher. Die Luft wurde aus ihrem Brustkorb gepresst, als sie auf dem Boden aufschlug. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte das Schwindelgefühl abzuschütteln.

Dann wurde sie grob auf die Beine gezerrt und roch den faulen Atem des Banditen.

„Was für ein glücklicher Zufall”, knurrte er leise. „Wo ist denn dein Papa?”

Ungeschickte wand sie sich und versuchte, sich seinem festen Griff zu entziehen, doch er war noch stärker als der Soldat vorher und Arya spürte ihre Kräfte schwinden. Hilflos sah sie zu den Gauklern hinüber, die allesamt zurückgewichen waren. Sie standen dicht beieinander vor dem kleineren Wagen. Die angespannten Pferde wieherten und scharrten aufgeregt. Der Blutgeruch machte sie unruhig. Auf allen Gesichtern lag Angst. Nur einer der fünf Männer schaute zu Arya, die anderen konnten den Blick nicht von den Leichen der Soldaten wenden. Die Frau mit den roten Haaren hatte sich einigermaßen gefangen und wischte sich die Hände an ihrem Kleid ab, als wären sie dreckig geworden. Der rostige Geruch von Blut lag in der Luft und es tauchten bereits die ersten Fliegen auf den Wunden der Gefallenen auf. Einer der Gaukler stolperte hinter den Wagen und erbrach sich. Ein wenig abseits stand der junge Mönch, der keine Kutte mehr trug. Auch sein Gesicht war bleich.

Lester legte Arya einen Arm um den Hals und zerrte sie rückwärts hinter sich her. Sein von Muskeln gestählter Unterarm drückte Schmerzhaft auf ihre Kehle und der grobe Stoff der Kutte rieb an ihrer Haut. Nach Luft schnappend bemühte sie sich, mit seinen Bewegungen mitzuhalten.

Ein dumpfes Pochen und eine leichte Erschütterung verrieten ihr, dass er mit dem Rücken zum größeren Planwagen stand. Sein Griff wurde enger. Arya würgte und zerrte vergeblich an seinem Ärmel. In ihren Ohren pochte es leise, wie ein weit entfernter Hufschlag.

„Ihr da!”, sprach Lester die Gaukler an. Die kleine Gruppe fuhr zusammen, wie ein Gehege Kaninchen, die das Bellen eines Hundes vernehmen. „Ihr solltet besser verschwinden. Und nehmt die da mit.” Aus dem Augenwinkel sah Arya ihn mit dem Schwert in Richtung der Leichen gestikulieren.

„Das ... das ist nicht unser Werk”, gab einer der Männer zurück. „Das wart Ihr.”

„Aye. Aber ich nehme nicht an, dass ihr auch so enden wollt?”

Die Männer schauten sich unentschlossen an. Sie hatten Angst vor dem brutalen Banditen in der Mönchskluft, doch sie fürchteten auch, mit der Ermordung von fünf Soldaten der Freys in Zusammenhang gebracht zu werden.

„Der da ist nicht mal meiner.” Lesters Schwertspitze deutete auf den Hauptmann, dessen Bart rot und blutverklebt war.

Einer der Schausteller, vermutlich derjenige, der dem Hauptmann das Messer in den Hals gestoßen hatte, bückte sich halbherzig und machte sich an der Leiche zu schaffen.

„Mönch!” Lester wandte sich ohne eine Reaktion der Gaukler abzuwarten an William. „Den Esel werde ich brauchen, deine Sachen kannst du runternehmen.”

„Lasst den Jungen frei, Bal”, erwiderte er langsam. „Dann könnt Ihr das Tier von mir aus haben.”

Bal?

„Daraus wird wohl nichts.” Lester zerrte Arya in Richtung des Tieres. An den Rändern ihres Sichtfeldes begannen schwarze Punkte zu tanzen.

„Lasst .. lasst mich los”, krächzte sie schwach. Zur Antwort bekam sie ein freudloses Lachen.

„Den Teufel werde ich tun.” Und an den Mönch gewandt: „Wird das bald was mit dem Vieh?”

Hastig machte William sich an dem Gurt, der die Taschen hielt, zu schaffen. Trotz der einsetzenden Dunkelheit konnte Arya sehen, dass seine Finger zitterten und sein Atem schnell und flach ging. Unterdessen war das Pochen in ihren Ohren lauter geworden, sodass es sich inzwischen anhörte, als gallopierten mehrere Pferde direkt auf sie zu. An den Reaktionen der anderen konnte sie sehen, dass das Geräusch anscheinend nicht ihrem angeschlagenen Kopf zuzuschreiben war. Die Gaukler blickten auf etwas hinter ihr. Auch Lester sah sich um, doch der breite Wagen versperrte ihm die Sicht. Arya versuchte ihren Kopf zu drehen. Der breite Arm des Banditen hielt ihn jedoch in einer unerbittlichen Starre und selbst als sie die Augen ganz nach rechts verdrehte, konnte sie lediglich das lethargische Ochsengespann und die andere Straßenseite sehen.

„Das ist ein Reiter”, erklärte Will, der von seiner Position aus freie Sicht die Straße hinab hatte. „Aber mit zwei Pferden.”

„Sieben Höllen, das darf doch nicht wahr sein!”, fluchte Lester. „Dieser Bastard.”

Es ist der Hound!, dachte Arya. Ihr Herz flatterte. Es ist der Hound! Er ist gekommen!
 

Als er den Ochsenkarren mitten auf der Straße quer stehen sah, wusste er bereits, dass sie dort sein musste. Die hereinbrechende Nacht hatte die Reisenden von den Straßen gefegt und er ritt jetzt nun schon seit geraumer Zeit alleine. Der Hufschlag von Stranger donnerte ihm in den Ohren, mit dem ständigen Echo der Schritte des zweiten Pferdes kurz dahinter. Er war sich sicher, dass er Hämmern auch dann noch hören würde, wenn er sich neben der Straße in den Graben legen und die Augen schließen würde.

Nachdem er die Wagen erblickt hatte, gab er seinem treuen Schlachtross noch ein letztes Mal die Sporen. Es musste sich um Arya handeln, denn viel weiter konnte sie nicht gekommen sein, nicht in so kurzer Zeit. Und er war geritten wie der Teufel. Er hatte die Pferde abgewechselt und war dadurch noch schneller gewesen. Und er hatte sich diesmal nicht durch die unwirtliche Wildnis geschlagen, sondern hatte die Kingsroad gewählt, trotz der Gefahr entdeckt zu werden.

Und jetzt schien es, als hätte er sie gefunden. Das Problem war, dass die Wagen verdeckten, was immer sich dahinter befand. Es musste eine größere Gruppe von Menschen sein, denn niemand sonst reiste mit so schwerem Gefährt.

In seinem Kopf mischten sich die Bilder der beiden Stark-Mädchen zu einem Gesicht, zu einer Person. Er hoffte, dass er sie finden würde. Und sein Instinkt sagte ihm das gleiche wie damals in King’s Landing, als der Mob sich um ihn geschlossen hatte: Dass er sie retten musste.

Die Tatsache, dass er hier war, und nicht am Treffpunkt der Banditen, kam ihm immer noch seltsam unwirklich vor. Er kannte sich. Er hatte sein ganzes Leben lang nach einer Sache gestrebt: Gregor zu töten. Auf dem Weg zu diesem Ziel, war es ihm immer offensichtlich gewesen, welche Abzweigung er nehmen musste. Doch jetzt ritt er in die falsche Richtung, jetzt ritt er nicht mehr auf sein eigentliches Ziel zu. Und das Sonderbare war: Er ritt auch nicht davon.

Kein Wunder, dass er immer noch nicht glauben konnte, was er da tat.

Stranger hatte die Strecke zu den beiden Wagen in kürzester Zeit zurückgelegt, trotz seiner eigenen Erschöpfung. Er lenkte ihn ein wenig nach rechts, um einen besseren Einblick hinter den Karren zu erlangen. Da stand ein junger Mann mit einem Esel und eine Gruppe anderer Leute. Auf dem Boden lagen die Leichen von mehreren Soldaten. Wenn die seltsame Position der Wagen nicht schon eine Warnung gewesen war, jetzt hatte er Gewissheit: Irgendetwas war schiefgegangen. Und mit wem immer er es zu tun bekommen würde, war gefährlich. Einer der Männer kletterte in den hinteren, kleineren Wagen, ein zweiter war nach vorne zum Kutschbock gegangen, doch er achtete kaum darauf, denn das kurze Aufblitzen einer metallenen Klinge hinter dem Wagen zog seinen Blick auf sich. Jemand lauerte auf ihn.

Er zügelte Stranger zu einem langsameren Tempo, und ließ ihn die letzten Meter im Schritt gehen. Selbstverständlich war er längst entdeckt worden, deshalb hatte es keinen Sinn, kopfüber in einen möglichen Kampf zu stürzen. Als er den größeren Wagen fast erreicht hatte, trat ein Mönch dahinter hervor. Er erkannte ihn sofort, trotz der Kutte.

Ich hätte den Bastard umbringen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.

Lester hatte seinen linken Arm um Aryas Hals gelegt und hielt die Klinge seines Schwertes an ihre Kehle. Die kleine Wölfin zappelte nicht, sie schaute ihn nur mit großen, grauen Augen an. Kinderaugen. Trotz allem.

„Sieh an, dem Hund ist sein Welpe davongelaufen”, höhnte Lester und gab Arya einen Stoß, der sie zusammenzucken ließ. Der Hound biss die Zähne zusammen.

„Lass sie los, Lester.”

„Ich glaube nicht”, erwiderte der und lächelte. Das letzte Sonnenlicht fing sich auf seiner blanken Klinge.

Ohne den Blick von den beiden zu wenden, saß Sandor ab und zog ebenfalls sein Schwert. Man konnte auf den ersten Blick sehen, dass es nicht so gut war, wie die Waffe seines Gegners.

Ich hätte die Axt behalten sollen.

„Lass sie los”, sagte der Hound noch einmal, so ruhig er konnte. „Sie hat dir nichts getan.”

„Ach, das ist ein Mädchen?”, fragte Lester süffisant. „Hätte ich gar nicht erkannt.”

Arya reagierte nicht. Ihre Augen waren geschlossen. Sandor begann, sich ernsthafte Sorgen um sie zu machen. Er trat einen Schritt auf den Banditen zu.

„Hör zu, wenn du nicht ...”

Augenblicklich hob der sein Schwert wieder an Aryas Hals und grinste. „Nicht zu nah, Hund. Du willst doch nicht, dass der Kleinen was passiert?”

Er ließ seinen Blick über die anderen Anwesenden schweifen. Eine junge Frau mit roten Haaren stand bei den Männern und schaute mit großen Augen zwischen ihm und Lester hin und her. Er lächelte schwach. Das war nicht Sansa Stark. Das war nur irgendein rothaariges Mädchen, genau wie er es von Anfang an vermutet hatte. Und dafür war er hierhergekommen.

Er senkte sein Schwert.

„Das Mädchen ist mir völlig gleichgültig”, sagte er mit einem leisen Lachen. „Mach mit ihr, was du willst.”

„Aber ...” Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Bandit sein Schwert von Aryas Hals nahm. Sie hob ganz leicht den Kopf. „Warum bist du dann ...”

Mit einer schnellen, eleganten Bewegung wirbelte er herum und zielte einen Streich auf Lesters Kopf. Der konnte seine Klinge gerade noch hochreißen, um zu blockieren. Im selben Moment biss Arya ihm in die Hand und riss sich von ihm los. Der Hound packte sie grob am Kragen und stieß sie zur Seite.

„Aus dem Weg!”

Sie landete auf allen Vieren und entfernte sich hastig von dem Kampf. Von links stieß Lester auf ihn ein und er konnte gerade noch einen Ausfallschritt zur Seite machen. Oberhalb seine linken Ellenbogens erwischte die Kante ihn und hinterließ eine kleine Wunde.

Mit zwei großen Schritten nach hinten brachte er sich aus der Gefahrenzone. Er und der Bandit standen sich mit erhobenem Schwert gegenüber, schnaufend und bebend.

„Diesmal wirst du mich nicht überrumpeln”, knurrte Lester. „Diesmal kriege ich dich.“
 

Kaum hatte William sie auf die Füße gezogen, fuhr sie auch schon herum, um die Kämpfenden zu sehen. Noch standen sie sich unbewegt gegenüber, die Ruhe vor dem Sturm. Die Gaukler hinter ihr flüsterten leise miteinander und huschten hin und her, doch sie selber stand mucksmäuschenstill da und sah zwischen den beiden Kontrahenten hin und her.

Der Hound sah müde aus, sein Gesicht schien im Abendlicht eine fast graue Farbe zu haben. Doch auch Lester war nicht ganz frisch. Er hatte bereits gekämpft und obwohl die Leichen seiner Opfer von seinem Sieg zeugten, bemerkte sie jetzt mehrere kleine Schnittwunden und Risse in der Kutte.

Der Hound wird ihn fertigmachen, dachte sie.

Auf einmal stürmte Lester nach vorne und griff an. Klirrend trafen die Klingen aufeinander, zuckten hierhin und dorthin, die Bewegungen der beiden Männer nur verschwommene Linien in der Luft. Der Hound hatte die untergehende Sonne in den Augen und wich geblendet immer weiter zurück, während Lester Schläge auf ihn niederprasseln ließ. Plötzlich befand sich der Esel direkt hinter dem Hound. Fluchend wich er zur Seite und versuchte um das Tier herumzukommen, doch da kam ein weiterer Schlag des Banditen von oben. Der Hound konnte ihn abfangen. Das Bastardschwert rutschte an seiner Klinge hinab und bohrte sich in den Nacken des Esels. Mit einem beinahe menschlichen Schrei knickten dem Tier die Vorderbeine ein.

Will schrie entsetzt auf und Lester fluchte lauthals. Es dauerte eine Sekunde zu lang, bis er das Schwert wieder unter seiner Gewalt hatte und das kostete ihn eine Wunde an der Schulter.

Plötzlich rumpelte es hinter ihr. Die Schauspieler hatten sich auf den kleineren Wagen geflüchtet, der von Pferden gezogen wurde und darum schneller war. Vorne schnalzte jemand mit den Zügeln und das Gespann setzte sich in Bewegung.

Der junge Mönch riss sich vom Anblick seines sterbenden Esels los und fuhr herum. „Nein! Nicht! My Lady ...!“ Er machte Anstalten, ihnen hinterherzulaufen.

Es ist tatsächlich nicht seine Schwester, dachte Arya. Er hat auch nach Sansa gesucht. Aber warum?

Ohne Nachzudenken rief sie: „Das Mädchen ist nicht Sansa!”

Hinter ihr klirrten die Klingen aneinander und verstummten. William drehte sich um. Er schien nicht wirklich überrascht über diese Nachricht. Doch dann weiteten sich seine Augen, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen. „Arry ...”

Der Wagen wurde kleiner hinter ihm. Seine Konturen begannen bereits, im Dunkeln zu verschwimmen.

Der Hound und Lester hatten sich wieder voneinander getrennt und standen sich jetzt gegenüber. Der Hound atmete schwer. An seiner rechten Schulter prangte ein tiefer Schnitt. Lester hatte eine zweite tiefe Wunde am Oberschenkel und schien sein Gewicht nicht vollständig tragen zu können. Trotzdem machte er einen weiteren Vorstoß, schien zuerst einen Schritt an seinem Gegener vorbei zu machen, nur um dann seine Klinge von unten in Richtung seiner Brust zu stoßen. Der Hound blockte den Stoß mit seinem eigenen Schwert ab, musste dafür aber einen Schritt zurück machen. Dabei verlor er den Halt und krachte schwer gegen die Wand des Wagens. Sofort war Lester über ihm und holte aus.

„Du bist Arya Stark.” Will achtete nicht auf die Kämpfenden, sondern hatte sie am Arm gepackt und schüttelte sie.

„Nein, ich bin nicht –”

Mitten im Schlag hielt Lester inne, um sie anzusehen. „Arya Stark?”, wisperte er. Sie schaute zwischen den beiden hin und her, suchte nach einer Antwort, als der Bandit keuchte und sein Schwert sinken ließ. Aus seiner Brust schaute die Schwertspitze des Hounds heraus. Verwirrt beobachtete Lester das Blut, das aus der Wunde floss, zwei dünne rote Bänder, kaum zu sehen in dem roten Stoff. Mit einer kräftigen Bewegung zog Sandor Clegane das Schwert wieder heraus und jetzt sprudelte das Blut nur so hervor.

„Du ... du bist Arya Stark?”, flüsterte Lester kaum verstehbar, während er langsam in die Knie ging.

„Ich bin ein Wolf”, sagte Arya leise.
 

Es war bereits stockdunkel als sie die Kingsroad wieder hinabritten, dieselbe Strecke, die er nur wenige Stunden zuvor zurückgelegt hatte. Arya saß auf ihrer Stute, zusammengesunken und mit halb geschlossenen Augen. Er konnte nicht sagen, dass er selbst besonders gut fühlte. Die Wunde an seiner Schulter schmerzte und die harte Reise forderte ihren Tribut. Jeder Knochen im Leib tat ihm weh. Trotzdem hatte er darauf bestanden, dass sie heute Nacht wieder aufbrachen. Sie mussten so weit von dem Wagen und den Leichen weg wie nur möglich.

Der junge Mönch ohne Kutte hatte darauf bestanden, dass sie die Leichen begruben, doch Sandor war dagegen gewesen.

„Dazu ist keine Zeit, Junge. Und wenn du klug bist, dann siehst du auch zu, dass du Land gewinnst.”

In einem Anfall von Großzügigkeit hatte er ihm Lesters Pferd überlassen, da sein Esel ja gestorben war. Sein Kopf war zu dem Zeitpunkt seltsam leicht gewesen, als hätte er zu viel Wein getrunken. Er schob es auf den Schlafmangel.

„Hey”, sagte Arya plötzlich. „Warum habt Ihr ihn nicht umgebracht?”

Erstaunt, dass sie das Wort an ihn gerichtet hatte, schaute er auf. „Wen?”

„Den Banditen. Lester.”

Er schnaubte. „Du scheinst eine entscheidende Wendung nicht mitbekommen zu haben, Wölfin.”

„Nein, ich meine vorher. Im Gasthaus. So wie den Dornishmann.”

Unter ihm zog die staubige Straße vorbei und über ihm begannen Wolken die Sterne zu verdecken. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Sie wartete, doch als klar wurde, dass keine Antwort von ihm kommen würde, ergriff sie wieder das Wort:

„Und warum seid Ihr zurückgekommen?”

„Mir ist aufgefallen, dass es weniger Arbeit ist, dich dem Blackfish zu verkaufen.”

„Aber wir können es doch wieder versuchen. Wir können Lady Stoneheart einfach wieder aufspüren und dann könnt Ihr sie umbringen”, sagte sie, als wäre das eine Selbstverständlichkeit.

Nachdenklich schüttelte er den Kopf. „Nein, wir hatten großes Glück, dass wir genau im richtigen Augenblick auf ihre Leute gestoßen sind. Ich glaube nicht, dass das nochmal passieren wird.”

„Was hättet Ihr denn überhaupt für ihren Tod bekommen?”

Er schlug sie sanft auf den Hinterkopf. „Das geht dich immer noch nichts an.”

Sie schwieg eine Weile. Ab und zu schaute er besorgt zu ihr herüber weil er fürchtete, sie sei eingeschlafen und würde aus dem Sattel kippen. Doch ihre Augen waren offen und begegneten seinem Blick jedes Mal ohne Furcht.

„Warum seid Ihr dann zurückgekommen?”, fragte sie schließlich leise.

„Weil du und deine Schwester zusammen mehr Lösegeld gegeben hätten”, brummte er nach kurzem Zögern.

Sie nickte. Die Straße zog unter ihnen dahin. Der Mond wanderte stumm durch die Wolken und sah milde auf die Welt hinunter.

Als Sandor wieder zu Arya schaute, hatte sie die Augen geschlossen und schwankte bedenklich im Sattel. Er streckte die Hand aus, um sie wachzurütteln, doch dann zögerte er.

Mit einer leichten Bewegung der Zügel brachte er ihr Pferd zum Anhalten. Er stieg von Strangers Rücken und schwang sich vorsichtig hinter Arya in den Sattel. Ihr Atem ging noch immer regelmäßig, als er ihr die Zügel aus der Hand nahm. Sie war nicht aufgewacht.

Er presste der Stute die Fersen in die Seite und machte sich auf nach Süden.



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