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New Reign

Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
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Hinrichtung


 

Tag 109

 

Sie hatten den Trugwald erreicht, und der Schmerz in Tais Augenhöhle war immer noch nicht besser geworden. Taomon trieb sie zur Eile an, aber es machte auch rücksichtsvoll Pausen, wenn seine Gefangenen sie benötigten.

Der stachelige Dornenwald mit seinen rötlichen Ranken lag zu ihrer Linken. Sie hatten ihn nicht durchquert, sondern waren an seinem Rand entlanggegangen. Er stand unter Fürst Wizardmons Obhut und gehörte somit auch zu Leomons Reich, und obwohl Tais Heimat so nah war, konnte er sie nicht erreichen. Den Trugwald wollten sie durchqueren, um in König Takashis Gebiet nicht auf offenem Gelände umherzuwandeln. In der Ferne ragte ein kleines Gebirge auf, wo auf einem Felsvorsprung eine Schlossruine aufragte. Weiter südlich meinte Tai das Riesenrad des berühmten, verlassenen Vergnügungsparks zu sehen, der am Rand des Waldes angelegt war. Und war das daneben nicht schon ein Schwarzer Turm? Sicher war er sich nicht. Es strengte ihn an, sich mit nur einem Auge auf Einzelheiten zu fixieren. Er hätte nie gedacht, dass es ihn derart beeinträchtigen würde.

In der Nacht hatte er von seiner letzten Episode in Soras Schloss geträumt. Es war ein unruhiger Traum gewesen, feurig und rot und blutig und infernalisch, und der DigimonKaiser war darin vorgekommen. Er hatte ihn beim Namen gerufen, und Tai hatte geantwortet. Und in diesem Traum, zwischen Schmerz und Illusion, hatte er das Gefühl gehabt, den finsteren Kaiser zu kennen … Als wüsste er Dinge aus seiner Vergangenheit, als verstünde er, was er dachte. Das beunruhigte ihn.

„Dein Partner ist Piyomon, oder?“, fragte er Sora, um sich abzulenken. Eigentlich sprach er nur mit ihr, um sich abzulenken, von dem beschwerlichen Weg, von seinen Gedanken oder von seinen Schmerzen. Das redete er sich zumindest ein; Tatsache war, dass sie sehr oft miteinander sprachen.

Sora nickte. Fast alles, was er sagt, erzeugte Trauer auf ihrem Gesicht, das nach und nach trotz aller Umstände rosiger wurde. Taomon sorgte dafür, dass es seinen Gefangenen an nichts mangelte. Es verrührte Beeren, Wurzeln, Rinde und andere Früchte zu einer nahrhaften, leicht verdaulichen Paste, die zwar grauenhaft schmeckte, aber stärkte.

„Ich habe sogar es misshandelt“, sagte sie niedergeschlagen. Die wenigen Tropfen, die aus dem Himmel fielen, passten zu ihrer beider Stimmung. „Ich bin eine furchtbare Freundin. Eigentlich kann ich mich gar nicht als Piyomons Freundin bezeichnen. Dabei gab es von Anfang an nur uns …“

„Seine Majestät hat mir gesagt, dass Euch keine Schuld trifft“, mischte sich Taomon plötzlich in das Gespräch ein, was selten bis gar nie vorkam. „Alle Eurer Handlungen entsprangen der Höhle, in die Ihr gingt. Diese Entscheidungen waren nicht die Euren.“

Tai begriff nicht, warum Taomon seine Feinde aufbauen wollte, aber er hatte auch nichts dagegen. Selbst Agumon hatte seinen heißen Hass gegen kalten eingetauscht und trottete eher schweigsam neben ihm her.

„Das macht es auch nicht besser“, murmelte Sora. „Ich werde Piyomon vielleicht nie wiedersehen.“

„Ich bin mir sicher, es hat König Leomon mittlerweile erreicht“, sagte Tai. „Dann wird uns auch bald jemand befreien kommen.“

Dazu schwieg Taomon.

Sie machten sich daran, das breiteste Stück des Trugwalds zu durchqueren. In der Dämmerung fand Taomon wieder zuverlässig einen Unterschlupf. Als es zu heftig regnete, ließ es einen Schutzschild erscheinen, der die Tropfen abschirmte. Im Morgengrauen zogen sie weiter. Die Sonne funkelte auf Tausenden Wasserperlen im Laub und auf den Blättern der Bäume, und Tropfen fielen noch tagsüber auf sie herab und verwandelten den Wald in einen Regenwald. Sie kamen am Rand eines Sees vorbei, den Tai sogar kannte. Am anderen Ufer besaß ein Digitamamon ein Restaurant, das trotz des Krieges hervorragend lief. Hier zwischen den Grenzen das Nördlichen und des Einhornreichs trafen sich oft Deserteure oder Halunken, oder auch einfache Soldaten, denen der Sinn eher nach einem schmackhaften Essen als nach Streitereien stand. Es war eine neutrale Goldgrube für Digitamamon. Tai und Agumon hatten schon einmal hier gegessen, vor ewigen Zeiten, als der Krieg erst frisch entbrannt war, noch bevor er Davis gefangen genommen hatte. Wehmütig dachte er an das Steak in Pilzsoße, das er verdrückt hatte.

Pilze. Hier in der Nähe wuchsen besondere Pilze, von denen er gehört hatte, dass Digimon, die der Realität entfliehen wollten, gerne an ihnen knabberten. Angeblich vergaß man all seine Untaten und Pflichten und lebte leicht und unbeschwert nur für den Augenblick. Vielleicht würde er so seine Schmerzen vergessen. Er betrachtete Sora von der Seite, die niedergeschlagen wie eh und je war. Vielleicht könnte sie sie eher als ich gebrauchen.

Aus der Richtung, die Taomon ansteuerte, konnte Tai ungefähr schließen, wohin sie unterwegs waren. Sie hielten sich vom Westende des Waldes fern, also würden sie Chinatown meiden, und Taomon wirkte auch nicht, als ob es sich im Vergnügungspark blicken lassen wollte. Die nächste große Stadt in dieser Richtung war Masla. War die Sklavenstadt an den DigimonKaiser gegangen? Oder – ihm kam ein neuer Gedanke. Sollte Taomon ihn, Agumon und Sora als Sklaven verkaufen? Gewiss war ein Drachenritter auch im Süden viel wert …

Er sollte es nie erfahren. Als sie einen weiteren Tag mit den immer gleichen Gesprächen und immer gleichen Mühseligkeiten hinter sich gebracht hatten, verließen sie den Wald im Süden, und kaum dass sie die folgende Ebene betreten hatten, hob Taomon die Pfote und die kleine Prozession hielt an.

Eine Sekunde später hörte Tai das Wiehern ebenfalls. Es kam aus der Richtung, in die sie unterwegs waren. „Zurück“, murmelte Taomon, hielt aber nach einem Schritt wieder inne. An der Art, wie es sich umsah, erkannte Tai, dass sie eben eingekreist wurden. Etwas hatte sie ins Auge gefasst, das schneller war als die langsamen Menschen im Wald, sonst hätte sich Taomon nicht dem Kampf gestellt. Es machte eine Handbewegung, und der schwarzweiße Schild erschien wieder um es, Tai, Sora und Agumon herum.

Sie erwarteten das Unimon hier am Waldrand. Tai hörte aus allen Richtungen Laubrascheln und metallisches Gekicher. Es war ein geplanter Hinterhalt gewesen, anders konnte es nicht sein, dass das wachsame Taomon in eine Falle getappt war. Jemand hatte gewusst, dass sie hierher unterwegs waren. Für gewöhnliche Wegelagerer war das hier eine Stufe zu komplex.

Das Unimon landete mit majestätisch ausgebreiteten Flügeln. Sein Horn hob sich blutrot von seinem weißen Leib hervor. Auf seinem Rücken saß jedoch nicht etwa ein Mensch, sondern ein kleines, metallenes Digimon mit kurzen Beinchen und langen Armen – ein Datamon.

Taomon zog mit einer Armbewegung einen gewaltigen Pinsel, den es wohl als Waffe einzusetzen gedachte.

„Gib’s auf“, sagte Datamon in abfälligem Tonfall. „Ihr seid längst umstellt. Nur weil wir momentan im Osten kämpfen, heißt das nicht, dass wir unsere Radarschirme vernachlässigen.“

„Wusstet ihr, dass wir kommen?“, fragte Taomon. Tai hatte sich dieselbe Frage gestellt – selbst der Einhornkönig würde nicht jedes Digimon überwachen, das unregistriert in sein Gebiet kam, und dann auch noch ein solches Empfangskomitee schicken.

„Wir haben es sogar aus erster Hand erfahren. Die Schwarze Rose persönlich hat uns die Pläne des DigimonKaisers offengelegt“, erklärte Datamon.

Die Rose? Hatte sie den Kaiser verraten? Was war alles geschehen, in der Zeit, in der er ein Gefangener gewesen war?

„Ich habe übrigens keine Absicht, dich am Leben zu lassen, Taomon“, sagte Datamon beiläufig. „Ich soll nur die Schwarze Königin und den Drachenritter zu König Takashi bringen, das ist alles. Du kannst dir aber einige Schmerzen ersparen, indem du dich nicht wehrst.“

„Ich habe ebenfalls keine Absicht, aufzugeben“, sagte Taomon entschlossen. „Mein Gebieter gab mir den Auftrag, diese beiden sicher in sein Reich zu eskortieren.“

„Dieses Reich hat den Besitzer gewechselt“, behauptete Datamon. „Die Königin der Schwarzen Rose hat König Takashi einen Waffenstillstand vorgeschlagen. Anscheinend hat sie innerpolitisch zu tun. Sie hat jetzt die alleinige Kontrolle über das Kaiserreich. Dein Gebieter ist tot, oder so erzählt man sich.“

Der DigimonKaiser? Tot? So einfach war dieser Albtraum plötzlich vorbei? Nein, offenbar haben die anderen Fraktionen nicht vor, mit dem Kriegstreiben aufzuhören.

„Tot oder nicht, meine Loyalität gilt nach wie vor seiner Majestät“, legte Taomon fest und schwenkte den Pinsel.

Datamon seufzte blechern. „Bist du anstrengend. Tötet es, aber seht mir zu, dass den anderen nichts passiert.“

Das metallische Kichern und Gackern wurde lauter. Für eine Sekunde öffnete Taomon die schützende Kuppel, um mit seinem Pinsel ein Zeichen in die Luft zu malen, das auf Datamon zuflog, doch Unimon war zu flink und wich aus. Das Zeichen flog geradlinig weiter und verschwand irgendwo am Horizont.

Dann war das Kichern ganz nahe. Aus dem Unterholz brach ein gutes Dutzend Giromon, gehörnte Metallbälle mit grinsenden Fratzen. Ein gutes Dutzend explosiver Bälle wurde auf Taomons Schutzschirm geschleudert, die mit einem hohlen Krachen detonierten. Tai und Sora schrien auf und drängten sich näher an Taomon. Agumon schien nicht recht zu wissen, wem es in diesem Kampf helfen sollte. Ein gutes Dutzend Kettensägen folgte schließlich, als die Giromon heran waren. Sie bohrten sich in den schwarzweißen Schild und ratterten und rissen und zerrten daran. Taomons Miene wurde noch verbissener. Es ließ den gesamten Schild samt seiner Insassen in die Höhe schweben, doch es war zu langsam.

Zentimeter um Zentimeter schoben sich die brüllenden Sägen durch die Membran. Taomon sah ein, dass sein Schutz gegen diese Übermacht von allen Seiten nicht lange halten würde. Um seine Gefangenen – oder waren sie Schützlinge für es? – nicht zu gefährden, sank es mit ihnen wieder zu Boden, ehe der Schild endgültig auseinanderbrach.

Der Kampf, der folgte, war kurz und unbarmherzig. Während zwei Giromon Tai und Sora packten und aus dem Weg zerrten, gingen die anderen mit Bomben und Kettensägen auf Taomon los. Es war zäh, sehr zäh sogar, und schleuderte handgroße Schriftzeichen und Stakkatos von Karten um sich und riss mindestens fünf der kleineren Giromon mit sich, ehe es sein Leben aushauchte. Das Geräusch, mit dem es sich in Daten auflöste, die gen Himmel trieben, hatte nichts Befreiendes, nur etwas Endgültiges und auf seltsame Weise Trauriges.

„Gut“, sagte Datamon knapp. „Ihr seid euren Sold wert.“ Die Giromon nickten zufrieden und grinsten stur weiter.

Tai sah sein DigiVice an der Stelle liegen, wo Taomon gestorben war, doch im nächsten Augenblick fuhren Datamons Arme aus und brachten es an sich. „Was soll das?“, fragte er. Haben wir nur die Wärter gewechselt?

„Nimm es mir nicht übel“, sagte Datamon und entbehrte dabei jedweden Respekt, „aber du sollst dein Digimon nicht sofort digitieren lassen und davonfliegen. Stattdessen darfst du mir danken. Ihr drei erhaltet eine Privataudienz von Takashi, dem großen König der Kaktuswüste. Der, nebenbei bemerkt, ohne mich ein Nichts wäre. Kommt, machen wir uns auf den Weg. Euch erwartet eine nette kleine Mitfahrgelegenheit.“

Und so schnell hat sich alles wieder gewendet. Tai hoffte inzwischen nur noch, dass sie irgendwie wieder ins Nördliche Königreich zurückkamen, aber trotz all der widersprüchlichen Gefühle, die während der Reise auf ihn eingeprügelt hatten, hatte er das Gefühl, dass ihre Lage sich zumindest etwas gebessert hatte. Die Giromon bugsierten sie unsanft in eine Richtung, in die weite Graslandschaft hinaus, hinter der bald die Wüste beginnen würde. Die Manieren unserer Reisegefährten haben sich eindeutig verschlechtert. Aber das ist meine geringste Sorge. Sein fehlendes Auge tat wieder weh, nachdem die Ablenkung des Kampfes vorüber war.

Datamon flog auf Unimons Rücken voraus, und als Tai sich nach Sora umsah, merkte er, dass sie Taomons Datenresten hinterherblickte.

 

 

Die Mitfahrgelegenheit, von der Datamon gesprochen hatte, überraschte Sora ein wenig – ganz einfach, weil sie wirklich eine Mitfahrgelegenheit war. Seit sie ihr Schloss verlassen hatten, waren sie stets zu Fuß gegangen. Nun, da sie sich langsam wieder darum zu kümmern begann, was mit ihr – und ihren notgedrungenen Begleitern – geschah, empfand sie etwas wie Erleichterung, als sich die nächste Etappe ihrer verworrenen Reise als etwas angenehmer herausstellte.

Auch Tai, der seine Schmerzen trotz aller Mühe nicht verbergen konnte, atmete erleichtert beim Anblick des langgezogenen, metallisch blitzenden Wagens auf, der an einen abgerundeten Waggon erinnerte. Eine Wand war seitlich aufgeklappt, und das Innere versprach angenehme Kühle und Schatten. Die Spitze des Waggons war zerkratzt und zeigte das Wappen des Einhornkönigs, das stilisierte orange Unimon auf weißem Grund; allerdings war das Metall an dieser Stelle ungewöhnlich verformt, als hätte es einst ein Gesicht oder etwas Ähnliches darstellen sollen, weswegen das Wappen ein wenig verzerrt wirkte. Vor dem Waggon wartete geduldig ein massiges Monochromon. Sora hatte ein wenig gebraucht, um sich daran zu erinnern, wie man diese schwarzweißen Dinosaurierdigimon nannte.

„Hereinspaziert.“ Alles, was Datamon sagte, klang irgendwie hämisch, aber Sora glaubte nicht, dass es etwas Böses im Schilde führte. Es schien einfach seine Art zu sein – zumal es, sollte es ihnen etwas antun wollen, schon ausreichend Gelegenheit gehabt hätte. Seine langen Arme wiesen einladend ins Innere des Wagens.

Die Giromon achteten darauf, dass Sora, Tai und Agumon brav einstiegen. Man konnte sie nicht gerade höflich nennen, und sie kicherten auch ständig über irgendeinen Scherz, den Sora nicht verstand, aber sie sagte sich, dass sie eigentlich Schlimmeres verdient hätte. Nacheinander kletterten sie über die kleine Rampe ins Innere des Wagens.

Es war nicht nur angenehm kühl, es war so kalt, dass sie fröstelte. War es in ihrem Schloss auch immer so kalt gewesen? Sie konnte sich noch an die Hitze ihrer Badekammern erinnern, aber sonst? Es war alles irgendwie nebelig … Sora ermahnte sich, nicht noch mehr zu vergessen. Sie war es all ihren Opfern schuldig, dass sie sich erinnerte.

„Macht es euch besser bequem“, riet Datamon von draußen. „Es ist noch ein weiter Weg bis zur Pyramide.“ Damit ging die Klappe zischend zu, und wären die bleichen Deckenlampen nicht gewesen, wären sie nun um Dunkeln gehockt, mitsamt ihren rabiaten, mit Motorsägen bewaffneten Aufpassern.

Tai wartete nicht länger, sondern nahm auf einem der Stoffsessel Platz. Es schien sich bei dem Gefährt nicht um ein bloßes Transportmittel zu handeln, viel eher war es eine mobile Kommandozentrale. Eine ganze Wand wurde von toten Bildschirmen eingenommen, und die meisten der fix verankerten Stühle waren so ausgerichtet, dass man die Instrumente darunter bedienen konnte. Unbehaglich blieb Sora stehen und sah sich um.

Ein Ruck ging durch den Waggon, als das Monochromon zu ziehen begann. Schon nach kurzer Zeit erreichte das so schwerfällig aussehende Digimon eine beachtliche Geschwindigkeit, das war zu spüren. Trotzdem ging die Fahrt ruhig und ohne allzu viele Holprigkeiten vonstatten.

„Das gefällt mir nicht, Tai“, sagte Agumon. „Wir sehen überhaupt nicht, wohin wir fahren.“

Tai hatte herausgefunden, wie man seinen Sessel nach hinten kippte, sodass er nun fast waagrecht wie auf einem Feldbett lag. Er schloss grummelnd die Augen. „Und wennschon. Wir geraten ohnehin von einer Falle in die nächste. Es wäre nur alarmierend, wenn es plötzlich anders wäre.“

Sora sah zögerlich den Giromon zu, die in einer Ecke schwebten und unverständliches Zeug brabbelten. Zwei hatten mit dem irrwitzigen Spiel begonnen, sich einen explosiven Ball zuzuwerfen. Hoffentlich fällt ihnen der nicht hinunter, dachte Sora. Sie verdiente es wohl, hier in diesem Waggon eines lächerlichen Todes zu sterben, aber Agumon und Tai sollten leben. Wenigstens sie, die sie ihre Gefangenen gewesen waren. Aber was bildete sie sich ein, Ansprüche an das Schicksal zu stellen?

Der Wagen wackelte ein wenig, als das Monochromon eine breite Kurve einschlug, wohl, um den ersten Dünen aus dem Weg zu gehen. Immerhin wollten sie ins Herz der Wüste. Dem Giromon wäre beinahe der Ball aus den Händen gefallen. Es glotzte dämlich, dann lachten die beiden darüber.

Mutlos seufzend ließ Sora sich ebenfalls auf einem der Sessel nieder. Sie fühlte sich unglaublich müde. Zur Sicherheit krallte sie die Hände in die Armlehnen. Nach einiger Zeit trat das Gekicher ihrer Aufpasser in den Hintergrund, und sie hörte Tais tiefe Atemzüge. Agumon streifte eine Weile im Wagen herum, ehe es sich ebenfalls setzte.

Sie ließ den Blick über die Lampen schweifen und sich vom sanften Auf und Ab schaukeln. Könnte sie auch in den Schlaf finden? Obwohl die Giromon mit ihren Waffen spielten, obwohl sie auf einer Reise in eine ungewisse Zukunft waren?

Sie konnte. Nach nicht einmal einer Stunde war sie eingeschlafen. Vielleicht, weil egal, wie ungewiss ihre Zukunft war, sie nur besser sein konnte als ihre Vergangenheit.

 

 

Karis Träume wurden immer realistischer, aber dennoch verstand sie sie nicht.

Sie stand mitten auf einem Schlachtfeld. Die Erde, nein, viel eher der Sand, der den Boden bedeckte, war düstergrau, und der Himmel war nur eine Nuance dunkler, wolkenverhangen oder finster. Man sah ihn nur schlecht, weil das Funkeln der Datensplitter Tausender Digimon ihn schillern ließ, als würden Blitze hinter der Wolkendecke wetterleuchten.

Kari fröstelte, als sie all die Digimon sterben sah, rings um sich herum. Sie konnte nicht abgestumpft genug werden, als dass sie das allgegenwärtige Leid in der DigiWelt, von dem ihre Träume ihr ein immer schlimmeres Stück zeigten, unberührt lassen könnte, aber diesmal war sie vor allem fassungslos.

Von allen Seiten flogen Attacken, Feuerbälle, Lichtkugeln, sogar Raketen heran, schlugen in ungeordneten Digimonreihen ein, zerschmetterten und versengten Leiber und töteten, schlächterten. Sie sah heulend Apemon sterben, weiter vorne blutüberströmte Monochromon auf eine Reihe Lilamon zustürmen, die sie zielgenau mit ihren Handkanonen aufs Korn nahmen. Überall explodierte etwas, überall starb etwas, überall schrie etwas. Und Kari schritt mitten durch die Schlacht, glitt über weichen grauen Schlamm wie ein Geist, unberührbar und dennoch tief getroffen.

Sie konnte nicht sagen, wer hier gegen wen kämpfte. Mehrere Standarten zeigten Banner, aber die Schlachtformationen waren lange aufgegeben worden, und die Flaggen waren zerfetzt, verkohlt oder zu sehr verschwommen. Nach und nach kristallisierte sich heraus, welches Digimon zu welchem Heer gehörte, und nachdem Kari es aufgegeben hatte, mit den Kämpfenden Kontakt aufnehmen zu wollen, erkannte sie, dass es drei verschiedene Seiten in dieser Schlacht gab.

Mammothmon, Monochromon, Tortomon, Tuskmon, Allomon; etliche Sorten dinosaurierähnlicher oder vierbeiniger Digimon, dazu ein versprengtes Geschwader aus fliegenden Insekten und blutrünstige, drachenähnliche Kreaturen, die Kari nicht kannte, bildeten die klaren Opfer in diesem Kampf. Manche waren mit Schwarzen Ringen bestückt, andere nicht. Ein weiblich aussehendes Digimon mit Adlerschwingen schwebte über allem, erteilte laute Befehle und fegte mit seinen Wirbelstürmen feindliche Flugdigimon hinfort.

Dann waren da Meramon, Starmon, Revolvermon, Lilamon und Tyrannomon auf einer Seite. Auf einem riesigen Digimon, das aussah wie ein Panzer mit den Gliedmaßen eines Reptils und das in regelmäßigen Abständen vernichtende Raketenhagel auf alles Leben auf dem Schlachtfeld niedergehen ließ, stand ein Baronmon, ein hässliches Digimon in weitem Mantel, dessen Zähne kreuz und quer durch sein Maul ragten. Und ein drittes Heer fiel der Truppe der Harpyie in die Flanken; eine Horde Centarumon und anderer berittener Digimon, von denen Kari nicht alle kannte. Sie schossen wahllos in die Menge, und sobald man sich ihnen zuwandte, galoppierten sie wieder davon.

Bei allem Chaos, all dem Schrecken und dem Leid, das über Kari schwappte wie das schwarze Wasser vom Meer der Dunkelheit, irritierte sie ein sonderbarer Umstand. Auf jeder Seite des Schlachtfelds, wo die verschiedenen Truppen herkamen und womöglich ihre Lager oder Ähnliches hatten, ragte Schwarze Türme in den düsteren Himmel, und jedes Heer schien seine eigenen zu besitzen. Centarumon schossen zu zehnt einen Turm in der Mitte nieder und verteidigten ihren eigenen, als ein Mammothmon ihn umrennen wollte. Tortomon versuchten, ihre Rückenstachel auf die Türme hinter den Lilamon hageln zu lassen, und das große Echsengeschütz riss gleichermaßen die Türme in der Mitte und die der Centarumon ein. Irgendwann, als der letzte mittlere Turm fiel, ging eine Veränderung durch die Digimon mit den Schwarzen Ringen, doch die war kaum bemerkbar, da die Schlacht sofort weiterwütete. Kari verlor völlig den Überblick.

Die geflügelte Frau – Kari glaubte, dass eines der Digimon sie vorher Zephyrmon gerufen hatte – flog in die Höhe und hielt auf die vorderen Linien zu. „Baronmon“, rief sie laut und klar. Von ihrem Heer waren nur noch Reste übrig. „Wir sind geschlagen. Wir bieten Euch unsere Kapitulation an.“

„Abgelehnt!“, rief Baronmon zurück und hob den Arm. Das Echsenwesen feuerte eine Raketensalve auf Zephyrmon. Kari konnte gerade noch sehen, wie es den ersten Geschossen auswich, dann veränderte sich der Traum.

Es folgte wieder eine der rätselhaften Phasen, von denen sie sich sicher war, dass sie etwas bedeuteten, aber den Sinn noch weniger verstehen konnte als die Schwarzen Türme in den drei verschiedenen Lagern. Auch nun sah sie wieder Schwarze Türme, Reihe um Reihe ragten sie auf, in einer Hügellandschaft, unheilvoll und verlassen. Und irgendwo zwischen ihnen, auf verbrannter Erde, sah sie sich selbst und ihre Freunde liegen, teils übereinander, besiegt, bedeckt von Asche – nein, einer von ihnen kniete noch, hielt unermüdlich, ungebrochen sein DigiVice in die Höhe. Kari erkannte nicht, wer es war, doch der Schein des DigiVices verteidigte ihre kalten Körper gegen die Nacht. Dennoch schmolzen die Türme rings um sie herum, verflüssigten sich wie Schnee in der Sonne und überschwemmten das Land mit einer schwarzen Flut, überrollten die besiegten DigiRitter, erstickten das Licht des letzten DigiVices, mehr und mehr, schwärzer und schwärzer … Dunkelheit.

Kari erwachte. Dass sie schweißgebadet war, bemerkte sie kaum noch, so sehr hatte sie sich daran gewöhnt. Das Frösteln kam jedoch immer noch, genauso wie dieses elende Gefühl zäher Kraftlosigkeit. Mühsam quälte sie sich aus ihrem Bett und schleppte sich an die Brüstung der Lichtkammer.

Der Tag war so grau wie ihr Traum; wie konnte es auch anders sein? Sie sah T.K. unten am Strand, mit den Schattenwesen, die er wieder drillte, und sie konnte seine zornige Stimme bis hierher hören. Er war nicht mehr gekommen, seit sie gestritten hatten, und seine Laune schien unverändert.

„Du kannst es mir auch sagen“, sagte Gatomon. Kari hatte gar nicht bemerkt, dass es ebenfalls in der Lichtkammer war und über ihren Schlaf gewacht hatte. Wenigstens hatte es sie nicht geweckt; der Traum war sicherlich von Bedeutung gewesen.

„Danke“, sagte sie leise. T.K. würde nur noch verbissener nach einem Weg suchen, von hier fortzukommen, wenn sie ihm von Schlachten oder quellender Dunkelheit erzählte, aber Kari glaubte schon lange nicht mehr, dass sich dieser Wunsch erzwingen ließ. Also berichtete sie vorerst nur Gatomon, was sie gesehen hatte, und beobachtete, wie der Blick ihres geliebten Digimon-Partners düster wurde.

 

 
 

Tag 110

 

Träumte sie, oder war sie kurz wach geworden? Sie fühlte sich immer noch müde – fühlte man sich in einem Traum müde? Sie konnte nicht sagen, was real war und was nicht. Seit sie in dieser Höhle gewesen war, war ihr ihr ganzes Leben wie ein einziger Traum vorgekommen, also was war dies nun?

Sie lag nach wie vor auf ihrem Sessel, aber als sie blinzelte, waren ihre Lider so schwer wie ihre Gliedmaßen. Hatten sie angehalten? Sie meinte, etwas über sich zu sehen, ein Metallgerüst, und fuhr da nicht mit einem leisen Surren etwas ihren Körper entlang? Sie war zu benommen, um zu erkennen, was es war, aber das Geräusch erklang sowohl direkt über, als auch neben ihr.

Sie glaubte, ein einzelnes, blinkendes Auge über sich zu sehen, oder war das ein Kontrolllämpchen der Geräte in dieser fahrenden Kommandobucht? Nein, die Geräte waren doch alle abgeschaltet gewesen, oder? Wahrscheinlich doch nur ein Traum ...

Gerade, als sie sich auf das Blinken konzentrieren wollte, schwoll das Surren bis zu einem Höhepunkt an und kurz blendete sie rotes Licht. Es verschwand so schnell, wie es gekommen war, aber es malte auf ihre Netzhaut und zeigte ihr ein grünes Feld, jedesmal, wenn sie blinzelte. Kurz darauf verstummte das Summen. Sie wäre vielleicht hochgeschreckt, wäre ihr seltsames Verhältnis zu Träumen nicht gewesen.

„Schlaf nur“, drang leise Datamons Stimme an ihr Ohr, als sie den Kopf zu Tai wenden wollte.

„Ist das ein Traum?“, murmelte sie. Das Digimon war doch vorausgeflogen, oder nicht? Demnächst würde sie unverhofft Taomon erblicken, vielleicht sogar MetallPhantomon. Daher war es besser, wenn sie gleich erfuhr, ob sie nur träumte.

„Ja, meine Kleine“, schnarrte das Digimon, blechern wie MetallPhantomon selbst, aber nicht triefend vor Bosheit, sondern triefend vor Hohn.

 

 

Wohin es ging, konnte Ken nicht sagen. Willis hatte ihm einen Jutesack über den Kopf gezogen und seine Hände gebunden. Mit den Worten „Bei dir weiß man ja nie“ hatte er ihm außerdem sein DigiVice abgenommen. Nun trottete Ken zwischen dem Zwillingsritter und seinen Zwillingsdigimon durch eine holprige Dunkelheit. Anfangs hatte Ken noch gefühlt, wie der Sand der Wüste unter seinen Füßen nachgab, und er hatte eine vage Idee von den sich abwechselnden Dünen gehabt. Irgendwann, als der Abend des nächsten Tages nahte, hörte das auf, und unter dem Sack, der ihn höllisch schwitzen ließ, war die Luft irgendwann nicht mehr ganz so stickig. Ken interessierte aber auch gar nicht mehr, was mit ihm passierte. Er war verraten, verloren, zerschlagen, allein. Besser, er brachte es schnell hinter sich. „Was immer du vorhast, warum tust du es nicht gleich?“, fragte er.

„Zu viele Türme hier“, sagte Willis neben ihm. „Halt jetzt den Mund. Wenn du noch einmal sprichst, ohne dass ich dich dazu auffordere, setzt es was.“ Er verpasste ihm einen leichten Faustschlag gegen die Schläfe, um seine Worte zu untermauern.

Immer wenn sie ihr Nachtlager aufschlugen, nahm Willis ihm den Jutesack ab. Ken erkannte, dass die Gegend steiniger geworden war. Hier würde er sich irgendwann die Beine brechen, wenn er nicht genau aufpasste, wohin er seine Füße setzte. Sie lagerten in einer Höhle in den Felsen. Ken konnte in der Ferne tatsächlich den Umriss eines einzelnen Turms sehen, der so weit von der Höhle entfernt war, wie es die Herrschaft für ihn war. Diesmal bekam Ken keine Bohnen und durfte mit knurrendem Magen zusehen, wie Willis, Lopmon und Terriermon sich an ihrem Proviant gütlich taten.

Am nächsten Tag ging die Strapaze weiter. Wieder bekam Ken den Sack über den Kopf gestülpt, und seine bloßen Füße waren von den scharfen Felsen bald wund und blutig. Vielleicht würde jemand die roten Abdrücke sehen und ihm zur Hilfe eilen … Doch nicht einmal das war ihm vergönnt. Gegen Nachmittag begann es in Strömen zu regnen, wie um zu verdeutlichen, dass sie die Wüste endgültig hinter sich gelassen hatten. Der Sack war bald durchnässt, und Kens feuchte Kopfhaut juckte unerträglich, aber der Regen war angenehm kühl auf seiner Haut – und später wurde ihm eisig kalt in den Füßen, als sie durch nasses, langes Gras marschierten.

Einmal hörte Ken eine fremde Stimme, als sie ein Digimon ansprach. „Was hast du denn da für einen?“, grunzte es. Ken konnte nicht sagen, was für ein Digimon es war, aber dem Geräusch nach zog es eine Art Karren mit sich. Sicher ein Händler oder Ähnliches.

„Einen Kriegsgefangenen. Geht dich nichts an“, sagte Willis nur und zerrte ihn weiter. Ken hütete brav seine Zunge

Am späten Nachmittag des dritten Tages wurde Ken erneut von seinem feuchten Gefängnis befreit und schnappte gierig nach Luft. „Ist das hier die Ebene?“, fragte er, als er sich umsah. Seine Stimme krächzte und für einen Moment fürchtete er, Schläge zu bekommen, aber Willis zerknüllte nur den Sack und warf ihn weg.

„Ja. Wir sind hier am Rand deines Reiches. Hier ist es ruhig, es gibt keine neugierigen Zuschauer und vor allem keine lästigen Türme.“

Es war nicht einfach nur die Ebene, das große Grasfeld in der Mitte der DigiWelt, sondern der Ausläufer eines kleinen Gebirges. Sie standen auf einem Hügel, auf dem einige schroffe Felswände aufragten. Dorthinein führte der Zwillingsritter ihn. Die Schlucht war verwinkelt und hatte viele Aus- und Eingänge, aber nichts rührte sich. Willis musterte die Felswände, auf denen sattgrüne Pflanzenranken und Unkraut wucherten, und nickte zufrieden. Er schien nicht zu erwarten, dass Ken plötzlich zu fliehen versuchte, und selbst wenn er es wollte, käme er nicht weit.

„In Ordnung. Bringen wir es hinter uns.“ Willis lächelte, und diesmal hatte es etwas Bitteres an sich. „Zeit für deine Hinrichtung, DigimonKaiser.“

 

Lopmon wurde von Willis‘ DigiVice in einen großen, braunen Affen verwandelt. Das war also Endigomon, gegen das Davis und die anderen einmal gekämpft hatten. Ken schluckte. Allmählich verstand er, warum Willis ihn hierher gebracht hatte. „Jetzt kann sich Endigomon endlich rächen“, sagte Willis bestimmt und bestätigte Kens Vermutung. Er sollte sterben, ganz klar, aber Willis wollte es Endigomon tun lassen, und er wollte kein Aufsehen erregen, indem er wieder das goldene Rapidmon heraufbeschwor und Kens Türme zerstörte, um ihm die Digitation zu ermöglichen.

„Einen letzten Wunsch gewähren wir dich nicht“, erklärte Willis feierlich und Endigomon knurrte, „aber deine letzten Worte hören wir uns gerne an.“

Ken starrte den Jungen, der eigentlich auch sein Freund hätte werden können, und seine Digimon an. Alle drei schienen ihn zu hassen, sogar die beiden Zwillinge, die auf ihrem Rookie-Level doch so niedlich und unbekümmert aussahen. Was hast du ihnen angetan, Deemon. Und mir. „Bringt es hinter euch“, seufzte Ken. Er war dieser ganzen Farce müde.

„Gut“, sagte Willis und legte Endigomon die Hand auf den massigen Arm. „Sei sauber und gründlich.“

Hey! Willis!

Der Zwillingsritter zuckte zusammen. Ken erkannte die Stimme sofort. Konnte das sein?

Yolei lief den Hügel herauf und in die Felsschlucht, gefolgt von einigen anderen Digimon. Außer Hawkmon, das über ihr flatterte, waren da noch einige Ninjamon und Revolvermon. Ken starrte sie ungläubig an. Wäre das hier noch die Wüste, hätte er fest geglaubt, einer Fata Morgana auf den Leim zu gehen.

Willis fluchte. „Ausgerechnet die. Warte“, murmelte er und drehte sich zu ihr um. Yolei sah ziemlich abgekämpft aus und strahlte nicht ganz so herzlich wie sonst immer, und als sie Ken sah, wurde ihr Blick nachdenklich.

„Was für eine Freude, Euch zu sehen, Yolei. Was tut Ihr hier?“, fragte Willis sie nicht unfreundlich, noch ehe sie selbst eine Frage stellen konnte.

Sie wandte den Blick nicht von Ken ab, die Stirn gerunzelt. „Äh, wir sind eben auf dem Weg zum Band. Da dachte ich, ich hätte Euch gesehen. Und was macht Ihr hier? Sagt mal, ist das …“ Schließlich hellte sich ihr Gesicht auf, nur um sich gleich darauf zu verfinstern. „Der DigimonKaiser“, stellte sie mit erschütternder Endgültigkeit fest.

Willis stieß genervt die Luft aus. „Ja. Ich habe ihn zufällig hier aufgegriffen.“

„Da wird Mimi aber erfreut sein! Sie hat uns auch eine Nachricht zukommen lassen.“ Es war merkwürdig, sie schien gut gelaunt, doch immer, wenn ihr Blick Ken streifte, wurde er düster. „Vielleicht müssen wir Kabukimons Plan gar nicht ausführen.“

„Wer ist Kabukimon?“, fragte Willis, winkte dann aber ab. „Egal. Königin Mimi ist nicht bei Euch, nein? Und Michael auch nicht?“

„Nein.“ Yolei schüttelte den Kopf. „Wir sind vorgegangen, um die Umgebung auszuspähen. Mimi und Sir Michael sind einen halben Tagesmarsch hinter uns.“

Ken starrte sie nur an und fühlte sich plötzlich weinerlich. Er kannte Yolei eine gefühlte Ewigkeit, viel länger als Willis oder Nadine oder all die Digimon, die auf seiner Seite standen. Dennoch brachte er keinen Ton heraus. Sie hasste ihn ebenfalls, wie alle in der DigiWelt ihn hassten – bis auf die, die das alles für ein tatsächliches Spiel hielten und denen er gleichgültig war. Am liebsten wäre er in Tränen ausgebrochen, auf die Knie gefallen und hätte Yolei um Verzeihung für all die Untaten gebeten, die er nicht begangen und die Deemon ihnen eingeredet hatte.

„Dann geht schon mal vor. Ich warte hier auf Königin Mimi.“

„Sie werden nicht hier vorbeikommen. Michael hat gesagt, sie wollen sich eher im Hinterland halten, außerhalb des Einflussgebiets des DigimonKaisers.“

„Geht trotzdem schon mal vor. Ich werde dann in Kürze nachkommen.“

„Ihr nehmt den DigimonKaiser mit?“ Sie trat an ihn heran, und Ken wich unwillkürlich zurück. Allein mit Blicken versuchte er ihr sein Bedauern zu signalisieren.

„Kommt ihm besser nicht zu nahe“, warnte Willis.

„Yolei, er ist gefährlich. Geh bitte zurück“, sagte Hawkmon drängend.

„Er sieht ja grauenvoll aus.“ Yolei deutete auf seine geschundenen Füße. „Damals auf dem Stiefel war er wirklich gefährlich, aber so …“

Willis seufzte resigniert. Er schien zu erkennen, dass es keinen Sinn hatte, Yolei abzuwimmeln. Sie würde Mimi brühwarm erzählen, dass der Zwillingsritter Ken gefunden hatte. War es in Ordnung, Hoffnung zu schöpfen? Nein. Das dient alles nur mehr zu Deemons Belustigung. Es ist vorbei, definitiv.

„Ob ich wohl kurz mit Euch sprechen kann?“ Willis berührte Yolei sanft an der Schulter und drehte sie herum. „Ihr da, passt auf ihn auf. Endigomon, du weißt, was du zu tun hast.“

Die Revolvermon salutierten und traten zu dem großen Affendigimon, während Willis und Terriermon mit Yolei, Hawkmon und den Ninjamon die Schlucht entlang gingen, wo am Fuße des Hügels weitere Digimon auf sie warteten. Ken verstand. Die Revolvermon gehörten auch zur Wissens-Armee.

Als sie außer Hörweite waren, knackte Endigomon mit den Knöcheln. „So“, grollte es. Ken hatte gar nicht gedacht, dass dieses Digimon mit seinen Stimmbändern andere Laute als dieses Gurren formen konnte. „Töten wir ihn.“

Die Revolvermon starrten ihn verwundert an. „Ich dachte, wir sollten ihn in die Kaiserwüste bringen?“, fragte eines.

„Willis verlangt, dass wir es tun.“

Die Revolvermon sahen einander an, dann zuckten sie mit den Schultern und zogen ihre Waffen. „Na dann. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte“, sagte eines. Ein anderes kicherte, die Augen eines dritten blitzten vorfreudig.

Ken unterdrückte den Impuls, bis zur Felswand zurückzuweichen. Er würde nicht mehr zu fliehen versuchen. Es hatte ja doch keinen Sinn. Er ballte die Fäuste und schloss die Augen, wartete auf den Tod, der all dies beendete. Könnte er doch nur tatsächlich wieder vor seinem Computer aufwachen, wie Nadine es gesagt hatte. Vielleicht hätte es in Deemons Macht gelegen, die Regeln so abzuändern. Aber das wäre schließlich nur eine nutzlose Dummheit für es gewesen.

Kommt schon. Tötet mich. Ich habe es verdient. Ich habe mein Bestes gegeben, aber alle sehen mich als ihren Feind an. Und die DigiWelt wird untergehen.

Willis würde ohne Zweifel behaupten, die Revolvermon hätten sich nicht im Griff gehabt und wären von Hass überwältigt worden. Ob Yolei seinen Tod bedauern würde? Sie hielt ihn für einen Feind. Er würde sein Gesicht vor seinen Freunden nie reinwaschen können. Der Blick, mit dem Yolei ihn eben gemessen hatte, kam ihm in den Sinn. Als er die Augen noch fester zusammenkniff, spürte er, wie eine einzelne Träne über seine Wange rollte, und plötzlich erkannte er, dass er noch nicht sterben wollte.

Bitte, irgendjemand, rettet mich!

Aber es war niemand mehr übrig, der ihn retten konnte.

Revolverhähne wurden klickend gespannt, und kurz darauf hörte er Schüsse und das Krachen von Endigomons Kanonen. Die erste Attacke erwischte Ken noch vorher an der Hüfte, peitschte grob gegen seine Haut, wickelte sich in einem Sekundenbruchteil um ihn und riss ihn fort.

Er riss die Augen auf. Von links? Der Kugelhagel schlug dort ein, wo er eben noch gestanden war, traf die Felsen dahinter und ließ Steinchen und Erde aufspritzen. Der Druck um Kens Hüfte verschwand und er prallte hart auf dem Boden auf, überschlug sich und knallte gegen einen weiteren Felsen, der seine Rutschpartie aufhielt. Beißender Schmerz fraß sich durch seinen Hinterkopf. Etwas Rotes huschte an Ken vorbei.

Die Revolvermon stießen wüste Rufe aus, als auch schon die nächsten Schüsse aufflammten – diesmal kamen sie von schräg oben. Etwas Gleißendes fegte die Revolvermon von den Füßen und verwandelte sie in digitale Asche, begleitet von einem irren Lachen. Auch Endigomon wurde von einer blitzenden Lichtschlange in die Brust getroffen und fiel geradezu absurd langsam mit einem kehligen Knurren hintenüber, leuchtete auf und digitierte zu Lopmon zurück.

Ken wusste nicht, wie ihm geschah. Verwirrt blinzelnd stemmte er sich auf die Ellbogen hoch. Er hörte, wie jemand von den Felswänden sprang, und kurz darauf trat ein bandagiertes Bein in Kens Blickfeld. Mit einem klickenden Geräusch stellte die Gestalt eine riesige Maschinenpistole neben sich im Gras ab. „Das war ja einfach. Hast du gesehen, wie ich die erledigt habe?“, fragte das Digimon das Spinnenwesen neben sich.

„Die waren alle ein Level unter dir. Spiel dich hier nicht so auf, Blödmann.“

Ken glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Er wollte etwas sagen, als eine weitere Gestalt vor ihn trat. Er sah schwarze Stiefel und einen dunklen Mantel, und als er aufblickte, klappte die Person eben ihren Laptop zu. Ken schnappte nach Luft.

„So fühlt es sich also an, mit beiden Beinen in der DigiWelt zu stehen“, sagte Oikawa.

 
 

Once there was love, now there is only doubt

Feel the anger taking over my faith

I gave you love – I give you hate

I’m counting all my scars

I gave you hope – I give you pain

Your life is war

(Primal Fear – King For A Day)
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
So ... hoffe wieder mal, es hat euch gefallen ;) Und es war mal wieder Zeit für ein bisschen Kari-Träumereien^^ Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Juju
2016-11-11T18:44:36+00:00 11.11.2016 19:44
Gerade habe ich deine Antwort gelesen :) und da fiel mir ein, dass ich das Kapitel hier noch gar nicht kommentiert hatte. Also schnell nachholen!
Ohje, Tai, Sora und Taomon sind also in einen Hinterhalt von Datamon geraten. Ich finde, du hast Tais "Gleichgültigkeit" über diese Aktion gut dargestellt. Aus seiner Sicht ist es ja eigentlich wirklich egal, ob er nun bei dem einen oder dem anderen gefangen ist. Wobei es ihm bei Ken sicher besser ergangen wäre. D: Obwohl, naja, wenn man an Matt denkt, der da wochenlang in einer düsteren Zelle hockt... xD Aber egal, du weißt ja, was ich meine. Und Taomons Tod hat mich dermaßen traurig gemacht! ;_; Das glaubst du nicht. Es ist mir so ans Herz gewachsen mit seiner 100%igen Treue Ken gegenüber. Ich hatte gehofft, es könnte Ken irgendwie finden und ihm helfen oder keine Ahnung. Und dann stirbt es schließlich für ihn. ;_; Ach, ich mochte es.
Mann Karis Träume sind ja wirklich düster und verheißen nichts Gutes. O_O Und sie scheint sich immer mehr darin zu verlieren. Ich hoffe, T.K. bleibt stark und findet irgendeine Lösung. Aber ich finde es gut, dass sie sich Gatomon anvertraut und sich nicht allein damit herumschlägt. Aber sie sollte sich auch an T.K. wenden.
Oh, was stellt Datamon da mit Sora und Tai an? O_O Kopiert es die beiden, so wie es Sora schon in Adventur kopiert hat? Omg, was hat dieses blöde Vieh vor? D:
Ohje, bei Ken war das ja ein hin und her mit der Hinrichtung. Ich habe vergessen, im letzten Kapitel zu erwähnen, wie cool ich Willis in deiner FF finde. Oder habe ich es erwähnt? Ich weiß nicht mehr. Aber irgendwie finde ich ihn total cool, auch wenn er gerade ein bisschen kaltblütig ist. :D Aber im Grunde will er ja nur Gerechtigkeit und denkt, Ken wäre ein Monster. Haha und dann taucht Yolei auf und bringt seine Pläne durcheinander. Uh und lese ich da Mitleid mit Ken bei ihr heraus? :D
Ahhhhhh Oikawa, Mummymon und Arukenimon retten Ken! Mit denen habe ich jetzt irgendwie null gerechnet. :D Das kam mal wirklich überraschend. Und Oikawa hat es in die Digiwelt geschafft!
Jetzt bin ich mal gespannt, wie das geklärt wird, dass die drei auf einmal wieder leben. Und was sie mit Ken vorhaben. Vielleicht stehen sie ja wirklich auf seiner Seite.
 
Antwort von:  UrrSharrador
13.11.2016 22:24
Dann danke nochmal für den Kommi xD
Jep, aus "vernünftiger" Sicht wäre es echt besser gewesen, wenn Tai zu Ken gekommen wäre ... aber so einfach kann ich es dem Guten ja nicht machen^^ Ich hätte aber echt nicht gedacht, dass du Taomon nachtrauern würdest :D
Ich überlege gerade, ob ich zu Kari und T.K. was verraten soll ... nämlich dass T.K. keine Lösung finden wird :D Bam, jetzt war ich fies xD
Aber ich finde es interessant, dass du Willis magst. Hätte nicht gedacht, dass irgendjemand mit ihm sympathisieren könnte, so wie er sich aufführt ;)
Freut mich, wenn mir die Überraschung geglückt ist! :)
Antwort von:  Juju
14.11.2016 17:39
Waaaaaaas? Er findet keine Lösung? Aber er strengt sich doch so an! ;__; Ach, du bist gemein. -_-
Und Willis finde ich einfach irgendwie cool. Er wirkt so unabhängig irgendwie. Und ich glaube, er kann die Mädels gut um den Finger wickeln, wenn er will, weil er bestimmt sehr charmant und witzig sein kann. :D Mag solche Typen. <3
Von:  Maloich
2016-10-12T19:32:42+00:00 12.10.2016 21:32
Master of plotwists. Echt mal ich war am Schluss mit einem Gefühl da, das man mit "what the fuck" beschreiben könnte ^^
Als der Angriff Mummymons kam da ahnte ich schon, dass du noch weitere Spieler einbringst und ich bin ehrlich gesagt froh, dass Arukenimon und Mummymon dabei sind, die runden das ganze auf ihre eigene lustige Art ab. Und Ken scheint wohl immer Glück zu haben, aber als Protagonist ist das ja normal. Jetzt fragt sich nur wie Oikawa zu den einzelnen Fraktionen steht und ob er das Ende von Adventure 02 wie Ken auch "erlebt" hat, oder ob er aus einer anderen Zeitlinie entstammt. Ich wünsche mir aber fast schon mehr die Situation wo Kens Freunde realisieren, bzw diese Barierre durchbrechen und Deemons Illusion durchbrechen.
Zu Taomon: schade dass es erwischt wurde. Von Kens Digimon war mir das das beste.
Antwort von:  UrrSharrador
28.10.2016 18:19
Danke für deinen Kommi! Freut mich, wenn der Twist überraschend kam :) Wie Oikawa & Co zu den Fraktionen stehen, kommt in Kürze raus. Das nächste Kapitel dauert nicht mehr lange ... hoffe ich.
lg
Von:  EL-CK
2016-10-12T14:50:28+00:00 12.10.2016 16:50
>>Er sah schwarze Stiefel und einen dunklen Mantel, und als er aufblickte, klappte die Person eben ihren Laptop zu. Ken schnappte nach Luft.<<
Ich glaub ich kann erahnen wie sich Ken fühlt....
Antwort von:  UrrSharrador
12.10.2016 17:21
Überraschung also gelungen? ;)
Antwort von:  EL-CK
12.10.2016 18:08
definitiv ^^'


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