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New Reign

Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
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Jammerlappen und Helden, Geister und Tyrannen


 

Tag 111

 

Der Raum, in den der Gang hinter der elektrischen Wand führte, war halb so groß wie der Ratssaal in Santa Caria und sah nicht im Mindesten königlich aus. Dafür aber gemütlich. Auch hier gab es eine ganze Monitorwand mit einigen Computerkonsolen, aber der Rest wirkte wie ein richtiges Wohnzimmer. Es gab ein Bücherregal, ein Schachbrett auf einem kunstvoll geschnitzten Tischchen, ein Himmelbett, riesige Sitzkissen in den Ecken und sogar ein Tischtennis-Tisch. Außerdem waren da ein Kühlschrank und eine Minibar. Eine breite grüne Couch lud in der Mitte zum Sitzen ein, und auf ihr saß ein Junge, der ebenfalls nichts Königliches an sich hatte, aber trotzdem nur König Takashi sein konnte.

„Endlich seid ihr da“, begrüßte er sie leger. „Datamon, du hast dir echt Zeit gelassen.“

Unimon trabte mit Datamon näher, das sich schweigend auf einen Computersessel schwang. Unimon selbst wurde von goldenem Licht eingehüllt und digitierte zu einem Tapirmon zurück, das sich neben Takashi niederließ. Sein Digimon, ging es Tai durch den Kopf.

„Darf ich euch irgendwas bringen lassen? Haben euch die Cocktails geschmeckt?“, erkundigte sich der Einhornkönig.

„Cocktails?“, fragte Tai.

„Hat euch Datamon nichts angeboten? Der Wagen, mit dem ihr gefahren seid, hat eine eingebaute Cocktailbar. Sehr angenehm, wenn man in der Wüste rumfahren muss. Datamon, das war aber nicht nett. Jetzt halten sie uns für geizig.“

Datamon hatte für seinen tadelnden Tonfall nur ein blechernes Schnauben übrig.

„Dann werde ich euch eben was mixen. Eine kleine Erfrischung tut uns sicher allen gut.“ König Takashi stand seufzend auf, schlenderte lässig zu der Minibar und holte ein paar Saftpackungen und Flaschen mit klarer Flüssigkeit heraus.

Tai kam die Szene immer unwirklicher vor. Träumte er, oder war er tatsächlich in Gegenwart eines Königs? Vielleicht spielte man nur mit ihnen. Soweit er wusste, hatten das Einhorn und seine Vasallen noch keinerlei Bündnisse mit den übrigen Reichen geschlossen. Allerdings konnte viel passiert sein in den Tagen seiner Gefangenschaft … Er beschloss, vorsichtig zu sein. „Majestät“, begann er. „Darf ich fragen, was Ihr mit uns zu tun gedenkt? Eurer Gastfreundschaft nach zu urteilen, seht Ihr uns nicht als Feinde?“

Der König sah ihn einen Moment verdutzt an, dann lachte er, während er zwei Gläser mit Orangensaft füllte. „Okay. Ich stehe auch auf dieses höfliche Getue. Ihr habt recht, Sir. Euer Diplomat war vor einiger Zeit hier. Wir haben einen Pakt besiegelt, um dem DigimonKaiser gemeinsam zu trotzen. Wir sind also sozusagen Verbündete.“

Tai fiel ein Stein vom Herzen. Demnach hatte Wizardmon ganze Arbeit geleistet. „Das heißt, Ihr werdet uns …“

„Ich werde Euch wieder in Euer Reich zurückschicken. Eure Begleitung auch, wenn Ihr Wert darauf legt. Wollt Ihr uns nicht vorstellen? Ich weiß, dass Ihr Taichi heißt, aber …“

Tai warf Sora einen unsicheren Blick zu. Sie sah unbehaglich weg. Wie viel konnte er verraten? Zumindest Datamon hatte gewusst, wer Sora in Wirklichkeit war. Wusste Takashi es auch? „Das ist … Sora“, sagte er nur.

„Angenehm.“ Das war König Takashis einziger Kommentar. Und er zwinkerte Sora zu, als er den beiden ihre Getränke reichte. Agumon bekam nichts. „Hier. Leider ohne Schirmchen, ich finde das kitschig.“

Tai musterte ihn genau. Sie beide waren etwa gleich groß, aber der König war deutlich jünger als er und Sora. Es ging das Gerücht, dass sogar seine beiden Vasallen, die Territoriallords der Goldenen Zone, älter wären als er. Tai war es schleierhaft, wie er sich deren Respekt erkämpft haben sollte – er wirkte so gewöhnlich. Sein braunes, gelocktes Haar stand ähnlich vom Kopf ab wie Tais, seine Augen waren tiefblau.

Er merkte, dass er den König unangemessen lange anstarrte, denn dieser starrte unverwandt zurück. „Autsch“, sagte er und deutete auf Tais Auge. „Muss wehgetan haben. Und ist vermutlich ziemlich unpraktisch so. Ich denke, das wäre ein Grund, sich umzubringen und nochmal neu einzusteigen. Alles, was recht ist.“

Tai blinzelte verwirrt. „Äh, was?“

Takashi hob die Brauen. „Na, dein Auge. Ich hätte mich wohl längst auf einen elektrischen Stuhl gesetzt und neu angefangen. Die Digimon werden sich schon an einen erinnern.“

Tai sah den König nur entsetzt an. Wovon redete er?

„Oh nein“, murmelte Takashi und sein Blick wurde anders, abfälliger. „Sagt bloß, ihr beide …“ Er setzte neu an. „Eine Frage. Seid ihr in der DigiWelt geboren und aufgewachsen und lebt hier, seit ihr denken könnt?“

Tai und Sora tauschten unsichere Blicke, ehe sie nickten. Was war in diesen verschrobenen König gefahren?

„Meine Güte. Hab ich’s doch gewusst.“ Takashi schlenderte zu seiner Couch zurück, warf sich hinein und schlürfte sein eigenes Getränk durch einen gestreiften Strohhalm. „Datamon, das sind auch NPCs, wie du.“

„Fangt Ihr wieder damit an?“ Datamon klang genervt, wandte sich aber nicht um. Es überwachte irgendwelche Daten an einem der Computer.

Tai nippte an seinem Cocktail. Halb erwartete er, Alkohol zu schmecken, doch es war nur eine wilde Mischung aus Zitronensaft und Orangenlimonade, dazu noch irgendetwas anderes, das das Getränk so sauer machte, dass er das Gesicht verzog.

„Setzt Euch schon endlich. Macht es Euch irgendwo gemütlich. Kostet das Gleiche.“ Takashi wies auf die Sitzkissen und die Stühle vor dem Schachtisch. Nachdem seine Gäste zögerlich Platz genommen hatten, sagte er: „Also, ich werde trotzdem den netten Gastgeber spielen. Das wird vermutlich von mir erwartet. Datamon, lass die Küche wissen, dass sie für drei Leute mehr kochen sollen. Morgen arrangiere ich einen Transport in den Norden für Euch, aber jetzt werden wir erst mal ein wenig plaudern.“ Er überschlug die Beine. „Was wisst Ihr über die momentane Kriegslage? Habt Ihr schon erfahren, dass der DigimonKaiser so gut wie erledigt ist?“

Datamon hatte Ähnliches behauptet, aber die Nachricht von einem König und nicht von einem zynischen Dienerdigimon zu hören, traf Tai trotzdem wie ein Schlag. „Was genau ist denn passiert?“

Takashi grinste. „Keine Rose ohne Dornen, sag ich mal. Die Gute hat ihn ans Messer geliefert – ich weiß natürlich nicht, ob das stimmt, aber warum eine Gelegenheit auslassen, um seine Feinde zu verleumden? Angeblich ist er irgendwo in seiner Wüste auf der Flucht. Baronmon ist gerade dabei, sein Heer zu erledigen, dann richten wir unsere ganzen Anstrengungen auf Königin Nadine.“

Also hatte Datamon Taomon belogen, als es vom Tod seines Herrn sprach.

„Ich hab versucht, mit Eurem König in Kontakt zu treten, aber irgendwie höre ich die Antworten immer nur von seinen Lakaien“, fuhr Takashi fort.

„König Leomon ist verreist“, murmelte Tai. „Es kämpft andernorts gegen den DigimonKaiser.“

„Hm.“ Takashis Augen blitzten. „Dabei sollte man meinen, es hätte im eigenen Reich genug zu tun. Das Blutende Herz hat einen Umsturz erlebt. Irgend so ein Geistdigimon hat sich zum König ausrufen lassen. Wie ich höre, ist im Norden die Hölle los.“

Tais Herz verkrampfte sich. MetallPhantomon. Wer sollte es sonst sein? Er musste dringend zurück! Prüfend warf er Sora einen Blick zu. Sie war auf einen Schlag erbleicht. Bisher hatte sie noch kein Wort gesagt, aber nun machte sie den Mund auf. „Wisst Ihr … Genaueres darüber?“

„Nur, dass es vorrangig nachts angreift. Diese zwei Königsreiche liegen schon ewig im Streit. Unser Pakt richtet sich nur gegen den DigimonKaiser, also geht es mich nichts an.“ Takashi leerte sein Glas. „Sora, ja? Hast du kein Digimon?“

Sora sank in sich zusammen. „Ich … Es ist irgendwo dort im Norden“, murmelte sie. „Ich hoffe, dass es ihm gutgeht …“

Tai berührte ihre Hand, die eiskalt war. „Keine Sorge. Wir werden es finden und dort oben aufräumen.“ Sie sah ihn nicht einmal an.

„Wirklich ausgereift, das Ganze. Rührende Einzelschicksale“, kommentierte Takashi. „Da fällt mir ein, stimmt es, dass Euer Digimon bis auf das Mega-Level digitieren kann, Sir Taichi? Man berichtete mir von einem überaus schlagkräftigen WarGreymon.“

„Agumon ist eines der stärksten Digimon in unserem Heer“, bestätigte Tai und Agumon drückte stolz die Brust raus.

„Darf man fragen, warum Ihr dann nicht einfach mit ihm ins Herz des Kaiserreichs geflogen seid und den DigimonKaiser von seinem Thron geschubst habt? Soweit ich weiß, kann er mit nichts Vergleichbarem aufwarten. Eigentlich unfair, wenn NPCs so stark sind.“

Was Takashi mit dem letzten Satz meinte, blieb Tai ein Rätsel. Auf seine Frage konnte er jedoch eine Antwort geben. „Wir hätten es getan, wenn es möglich gewesen wäre. Aber der DigimonKaiser hat ein zu großes Reich und zu viele Digimon, die ihn beschützen und für ihn kämpfen. Und wir müssten jeden Schwarzen Turm auf dem Weg zerstören. WarGreymon würde ermüden und zurückdigitieren.“

„Verstehe.“ Der König ließ einen tiefen Seufzer hören. „Das mit den Türmen werde ich auch nie begreifen. Wieso haben die des DigimonKaisers so viel mehr Pepp als meine eigenen? Er hindert Digimon am Digitieren und kann sie mit Schwarzen Ringen beherrschen. Und unsere? Die sind eher nur zur Zierde. Keiko hat irgendwann sogar aufgehört, welche zu bauen. Und Hiroshi meinte, man sollte sie ein bisschen bunter anmalen. Ich fand die Idee eigentlich ganz lustig, aber einen Turm mit grünen und blauen Kringeln wollte ich dann doch nicht vor der Haustür stehen haben.“

Langsam begriff Tai, warum Takashi so seltsam war. Er nahm das Ganze einfach nicht ernst. Als hielte er diesen Krieg und alles, was damit verbunden war, für bloßen Zeitvertreib. Ein Spiel.

Plötzlich wollte er so schnell wie möglich fort von hier.

„Ich will nicht unhöflich erscheinen“, begann er, „aber wir sind recht müde. Ob Ihr uns wohl unser Quartier zeigen könntet?“

Takashi schnalzte mit der Zunge. „Gern doch. Ich hab mich zwar ziemlich auf ein Gespräch gefreut, aber NPCs sind halt doch nur NPCs. Ich werde wohl die Rose hierher schleifen lassen, wenn wir sie erst erledigt haben, von ihr weiß ich, dass sie ein Mensch ist. Dann kann ich endlich mal ein richtiges Gespräch mit jemandem führen, dessen Antworten nicht vorprogrammiert sind. Es ist zwar so gut gemacht, dass es nicht langweilig wird, aber es ist einfach nicht dasselbe wie eine richtige Unterhaltung.“ Er streichelte Tapirmon über den Kopf, das sich auf der Couch zusammengerollt hatte, und plapperte einfach weiter, als wäre alles, was er sagte, von vornherein verschwendete Luft und Tais Eindruck von ihm egal. „Wirklich schade, dass es nur so wenige Spieler gibt, dass man sie mit der Pinzette rauspflücken muss. Ich hoffe, der Krieg gegen die Schwarze Rose dauert noch ein bisschen. Es macht einfach mehr Spaß, gegen echte Menschen zu spielen.“

 

 

Lange hatten sie nicht mehr geredet. Man könnte meinen, die beiden hätten in Etemons Wagen lange genug geschlafen, aber nach einem gemütlichen Essen hatte der Drachenritter wiederholt, wie müde sie doch wären, und sie hatten sich in ihre Quartiere verzogen. Schlechte KI, vermutete Takashi. Aber das Spiel ist in fast allen Aspekten so ausgereift, vielleicht ist eine kleine Abweichung von der Norm beabsichtigt.

Auch er selbst gähnte ungeniert und streckte sich. Datamon hatte die wichtigsten Nachrichten für ihn aus der Informationsflut seines Netzwerks herausgefiltert und ihm auf den Bildschirm geschickt. Trotzdem waren die meisten langweilig. Der Besuch der zwei Fast-Menschen war bei weitem das Spannendste gewesen, das heute passiert war.

„Wenn die beiden schlafen, fahr mit dem Scanner drüber“, sagte er zu Datamon, das neben ihm an der Konsole arbeitete. „Ich wollte das Teil immer schon ausprobieren. Könnte vielleicht ganz lustig sein.“

„Da bin ich Euch schon einen Schritt voraus gewesen“, meinte Datamon überheblich. „Ich habe sie schon gescannt, als wir mit dem Wagen hierher unterwegs waren.“

„Du hast das Ding in Etemons Wagen eingebaut?“, fragte Takashi erstaunt. Dann lächelte er. „Dazu hattest du eigentlich keine Befugnis.“

Datamon antwortete nicht. Selbst sein Schweigen war überheblich. Das Digimon war überaus nützlich gewesen, als er diesem Clown, der sich vorher hier König genannt hatte, gezeigt hatte, wo es langging, und auch Etemons Netzwerk wusste es hervorragend als Spionagewerkzeug einzusetzen. Wäre Datamon nicht ein so wertvoller Verbündeter, hätte sich Takashi längst seiner entledigt.

Apropos entledigen. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und schloss kurz die Augen, horchte in sich hinein, auf das kleine, dunkle Flimmern am Rand seines Bewusstseins. Als er die Lider wieder hob, schien die Welt den Atem angehalten zu haben. Grau in Grau war sein gemütliches Regierungs-Wohnzimmer, und in einer Ecke flackerte die Gestalt des Spielmeisters.

Gibt es etwas?“, fragte Deemon.

Du klingst, als würdest du dich nicht freuen, dass ich mit dir reden will. Ich dachte immer, du kannst ein Pläuschchen in Ehren nicht verwehren.

Ich habe nichts gegen interessante Gespräche. Doch du belästigst mich oft mit Kleinigkeiten. Was gibt es diesmal, Takashi?

Nur die Ruhe. Ich wollte dich nur fragen, wie es dem DigimonKaiser so geht. Als ich das letzte Mal von ihm gehört habe, war er auf der Flucht in seinem eigenen Land. Ich habe keine Lust mehr, ständig auf Spione und Gerüchte zu hören, also nehme ich die Abkürzung über dich. Mittlerweile sollte er doch schon ausgeschieden sein, oder?

Er lebt“, sagte Deemon.

Nicht schlecht. Und wo ist er?

Ich würde es dir sagen, wüsste ich es.

Tz, tz, tz. Sollte ein Schiedsrichter nicht unparteiisch sein? Und wieso weißt du es nicht? Spuk doch einfach in seinem Kopf rum und sieh nach.

Das hat keinen Sinn. Er weiß im Moment selbst nicht, wo er sich gerade befindet. Irgendwo auf der Ebene, mehr kann ich aus seinen Gedanken nicht herausbekommen. Er hat Hilfe von alten Freunden bekommen, wie es aussieht.

Ach du Schande. Dabei hatte Takashi schon geglaubt, das starre Kräfteverhältnis zwischen den Spielern würde endlich aufweichen. Aber der Kaiser war wohl zäh – zähe Gegner machten prinzipiell mehr Spaß. Wie geht’s eigentlich Hiroshi?

Deemon antwortete eher widerwillig, als wäre Takashi ihm lästig. Das machte ihm nichts aus; Deemon war es gewesen, das ihm angeboten hatte, bei diesem fantastischen Spiel mitzumachen. Aufgedrängt hatte er sich nicht. „Nadine hält ihn in der Wildwest-Stadt gefangen.

Gut zu wissen. Das ist gar nicht so weit weg. Den holen wir da schon wieder raus. Kannst du Keiko was von ausrichten, wenn du schon dabei bist?

Aber Deemon schien die Nase voll von ihm zu haben. Es verzog sich, und die Welt atmete weiter – und Takashi seufzte. Was hatte es denn? Noch vor kurzem hatte der Spielmeister ihnen alle möglichen Tipps gegeben, wie sie mit dem DigimonKaiser fertigwerden konnten. Da war es nur natürlich gewesen, anzunehmen, er würde sie in diesem Krieg unterstützen. Über die Königin der Schwarzen Rose ließ er nichts durchsickern, das mit Hiroshi eben war schon die Krönung der Ausnahmen gewesen. Takashi zuckte mit den Achseln und widmete sich wieder seinen Nachrichten.

Schon die nächste, die er las, trieb ihm wieder das Lächeln ins Gesicht. Die Armee des DigimonKaisers war bis an den Rand der Kaktuswüste zurückgetrieben und dort geschlagen worden. Jetzt stand nichts mehr zwischen ihm und dem Osten.

 

 

Matt hatte seit Ewigkeiten mit niemandem außer Gabumon und Togemogumon gesprochen. Das Spannendste an jedem Tag war das Essen, das man ihnen brachte, und die spannendste Änderung jene, dass es plötzlich nicht mehr von einem Schwarzringdigimon, sondern von einem anderen gebracht wurde, das jedoch kein Wort mit ihnen wechselte. Auch gab es keine drei Mahlzeiten mehr, sondern nur noch zwei.

Vor fünf Tagen hatte es in der Festung Tumulte gegeben. Matt hatte die ausgehöhlten Eingeweide des riesigen Felsens aus der Ferne rumoren gehört, als bewegte sich irgendwo ein großes, schlafendes Ungeheuer. Auch das Licht in seinem Gefängniszimmer war kurz ausgefallen. Was genau passiert war, hatte er nicht in Erfahrung gebracht.

Er und Gabumon schwiegen sich die meiste Zeit an. Es gab nichts, was sich zu bereden lohnte, und Matt war ohnehin nicht der gesprächige Typ. Gabumon kannte mittlerweile jeden Zentimeter ihres Gefängnisses in- und auswendig. Einen neuerlichen Fluchtweg hatte es nicht entdecken können. Togemogumon lag die meiste Zeit in einer Ecke. Vermutlich hatte es immer noch große Schmerzen, aber keins der Digimon, das ihre Zelle betreten hatte, war bereit, jemanden zu holen, der seine Wunde ordentlich behandeln konnte.

Matts einzige Zerstreuung war die Gitarre, die der DigimonKaiser ihm gegeben hatte. Er vertrieb sich die Zeit damit, Lieder zu erfinden, mit denen er gegen den Kaiser rebellierte. Die Musik war das Einzige, das er noch gegen ihn richten konnte. Zuerst war er mit Abscheu vor dem Gedanken zurückgeschreckt, das Geschenk des Tyrannen anzunehmen, aber indem er Stücke komponierte, die seine Entschlossenheit bestärkten und den DigimonKaiser verfluchten, hatte er diesen Ekel überwunden. Als er noch der Anführer seines eigenen Rudels gewesen war, hatte er einige Digimon von Schwarzen Ringen befreit und bei den Ehernen Wölfen aufgenommen. Statt für, hatten sie danach gegen den DigimonKaiser gekämpft. Matt war der Meinung, dass sich die Sache mit der Gitarre genauso verhielt. Es kam ihn so vor, als hätte man ihm das Instrument nur aus dem einen Grund gebracht, den DigimonKaiser zu verhöhnen.

Doch selbst das Saitenzupfen kam ihm irgendwann stumpf, langweilig und kindisch vor. Verhöhnte er sich nicht eher selbst, wie er hier in seiner Zelle dahinvegetierte? So lag die Gitarre in einer Ecke und Matt hing, mit dem Rücken an die Wand gelehnt hockend, seinen Gedanken nach, als sich plötzlich, außerhalb der Essenszeiten, Schritte näherten. Überrascht sah er auf. Die Tür glitt auf, und hoher Besuch trat ein.

Er hatte sie noch nie persönlich gesehen, aber er wusste sofort, wer sie war. Nadine, die Königin der Felsenklaue, deren Banner eine schwarze Rose zeigte. Mit einer beachtlichen Eskorte betrat sie den Raum. Das erfüllt Matt immerhin mit Genugtuung.

Sie sah sich naserümpfend um. „Hier gehört gelüftet“, stellte sie fest. „Sogar in den Saloons der Wildwest-Stadt ist die Luft frischer.“ Matt schwieg. Endlich ließ sie sich dazu herab, ihn anzusehen. „Der Eherne Wolf“, sagte sie mit einem rätselhaften Lächeln. „Schön, dass ich dich endlich zu Gesicht bekomme. Dieses sture Ogremon hat diesen Bereich lange genug blockiert. Hat man dir überhaupt noch was zu essen gebracht?“

Da sie nicht weitersprach, nickte er knapp. Gabumon trat vorsichtig näher. „Was wollt Ihr von uns?“

„Euch etwas mitteilen“, sagte die Königin. „Der DigimonKaiser ist unauffindbar. Tot, vermutlich. Sicher ist es nicht. In seinem Namen muss ich weiterregieren – aber ich hege keinen Groll gegen euch beide. Ihr wart nur die Opfer eines zugegebenermaßen genialen Schachzuges.“ Sie ging mit rauschenden Röcken an ihnen vorbei und schien kurz zu überlegen, ob sie sich nicht auf Matts Bett setzen sollte. Schließlich blieb sie stehen. „Eine neue Ära ist am Anbrechen. Es wird einige Änderungen im Reich geben, jetzt, da der Kaiser nicht mehr ist. Euch gefangen zu halten bringt mir nichts.“

„Uns freizulassen auch nicht“, sagte Matt und ließ es wie eine Warnung klingen.

„Oh doch, es ist weitaus interessanter, wenn wieder ein paar mehr Menschen im Spiel sind. Ken … Der DigimonKaiser hat sie ja gesammelt, wo es nur ging, und sie aus allen Sachen rausgehalten.“ Sie lächelte Matt verschmitzt zu. „Außerdem haben Wölfe gute Nasen. Vielleicht findet ihr den DigimonKaiser ja für mich.“

„Wir haben kein Interesse, mit Euch zusammenzuarbeiten“, sagte Matt reserviert. Er wurde aus diesem Mädchen nicht schlau. Was plante sie? Was sollte diese letzte Andeutung?

„Natürlich nicht. Wie gesagt, mir ist es so oder so lieber, wenn ihr statt hier drin irgendwo da draußen seid. Ihr seid mir nichts schuldig. Ich kann euch einfach so gehen lassen, wenn ihr wollt. Oder, wenn euch das lieber ist, kann ich euch auch … ihr wisst schon. Töten lassen. Wenn euch alles zu ausweglos erscheint.“

Matt blinzelte. Ihre Worte irritierten ihn nicht etwa; er hatte eine Drohung dieser Art erwartet. Es war ihr Tonfall, der klarmachte, dass es eben keine Drohung, sondern ein ehrliches Angebot war. War sie verrückt?

„Was wollt Ihr wirklich von uns?“, fragte Gabumon erregt, das diesen feinen Unterschied nicht zu bemerken schien.

„Das habe ich doch gesagt. Ich lasse euch die Wahl. Freiheit oder Tod. Gefangenschaft bedeutet Stillstand, und das ist alles andere als interessant.“

Verrückt oder nicht. Sollte sie ruhig glauben, dass diese Optionen gleichwertig waren. Matt und Gabumon brauchten nicht zu überlegen.

 

 

Seit er in der DigiWelt war, hatte Ken nie hier vorbeigeschaut. Auch, weil es immer noch neutrales Gebiet war, obwohl sich das Haus wunderbar als Versteck eignete. Genau genommen konnte man es auch als Lager für ein ganzes Heer benutzen.

Das Giga-Haus war, wie man dem Schild davor entnehmen konnte, immer noch zum Verkauf angeboten. Ken hatte sich schon damals gefragt, ob es wohl überhaupt jemandem gehören mochte, oder ob das Schild nur der Absurdität wegen aufgestellt war. Als der Wagen daran vorbeifuhr, beschlich ihn ein nostalgisches – und unangenehmes Gefühl. Viel war in diesem Haus geschehen. Abgesehen davon, dass ihn fast ein Dokugumon gefressen hatte, hatte hier Arukenimon sein wahres Ich gezeigt, und auch Mummymon hatten sie hier kennengelernt. Und er und Cody hatten so etwas wie zaghafte Kontaktaufnahme versucht.

Die beiden Digimon auf den Vordersitzen verloren jedenfalls kein Wort darüber. Sie hielten am Rand des nahen Waldes, dessen Bäume wahre Riesen waren, und versteckten das Auto im Unterholz. Dann gingen sie durch den kurz geschnittenen Rasen – der, den Größenverhältnissen des Hauses entsprechend, schulterhoch war – auf das Blumenbeet zu, das rechts neben dem Eingang angelegt war.

„Das Haus wird offenbar auch von allerlei zwielichtigen Digimon als Rückzugsort benutzt“, erklärte Oikawa mit gedämpfter Stimme. „Wir sollten also darauf achten, nicht entdeckt zu werden.“ Ken warf den dreien einen unbehaglichen Blick zu.

Sie betraten das Giga-Haus nicht, wie er erst erwartet hatte, sondern schlugen sich nur bis zu einem Loch in der Mauer des Hochbeets durch. Dahinter lag eine kleine, mit trockenen Grashalmen ausgelegte Höhle. Wurzelwerk, dick wie das von Bäumen, ragte durch die Decke. Getränkedosen und Papier- und Plastikmüll stapelten sich in einer Ecke. Fetzen ehemals riesiger Laken bildeten eine Art Bettstatt, und als sie eintraten, hüpfte ein kleines, grünes Ding davon auf und trippelte erfreut auf sie zu. „Yukio!“, rief es, als es Oikawa in die Arme sprang.

„Na? Warst du brav?“ Er tätschelte das Digimon, das wie eine grüne Frucht aussah, und lächelte dabei.

Ken konnte sich eines Lächelns ebenfalls nicht erwehren. Offenbar hatte Oikawa sogar seinen Digimon-Partner wiedergefunden, den er vor all den Jahren nur über die Grenze der Welten hinweg hatte sehen dürfen. Er erinnerte sich daran, wie traurig das kleine Digimon gewesen war, als Oikawa sich für die DigiWelt geopfert hatte. Sie nun vereint zu sehen füllte Kens Herz mit Wärme – aber auch mit einem leichten Stich, als er an Wormmon dachte.

„Datirimon, das ist Ken“, stellte Oikawa ihn vor. „Er ist ein Freund von uns.“

„Hallo, freut mich!“, piepste das Digimon.

„Hallo“, sagte er, zögerlich lächelnd.

„Nun denn. Hier sollten wir sicher sein. Such dir einen Schlafplatz aus, wir reden morgen weiter. Dort drüben findest du Essen und Trinken. Arukenimon und Mummymon haben das hier alles zusammengetragen, ehe ich in die DigiWelt gekommen bin.“ Oikawa deutete auf einen ausrangierten Kühlschrank, der in der Ecke der Höhle lehnte. Ken war sich nicht einmal sicher, ob er nicht doch funktioniere.

Er lehnte dankend ab und trottete zum nächstbesten Laken. Schlaf, ja, das brauchte er. Er war mittlerweile sogar zu müde, um sich zu grämen. Und es war ihm egal, ob man ihn im Schlaf erdolchte. Er würde sogar weiterschlafen, wenn er von Nadine träumte, die sich mit ihrem Messer auf ihn stürzte. Arukenimon sagte noch irgendetwas vermutlich Abfälliges, und Mummymon bezog mit seiner Maschinenpistole vor dem Höhleneingang Stellung. Obwohl das Licht hell herein fiel und Wurzelwerk und Steine durch das Bettzeug stachen, schlief Ken ein, kaum dass er sich hingelegt hatte.

Als er erwachte, brodelte in der Mitte der Höhle ein Wasserkocher – wie auch immer der in dieser Höhle funktionieren mochte. Vielleicht versorgten ihn sogar die Wurzeln mit Strom? Draußen war es jedenfalls stockdunkel, und Mummymon war hereingekommen. Eine kühle Brise zog durch die Höhle.

Oikawa hatte seinen Mantel ausgezogen und ihn um Datirimon gewickelt, das friedlich döste. Er selbst war gerade dabei, mit einem Taschenmesser einen Laib Brot zu zerkleinern. Auf einem breiten Stein, der wohl als Tisch dienen sollte, lagen bereits Streifen von Speck und Schinken und Käseecken. Mummymon verteilte eben kleine, hölzerne Unterlagen, die wohl die Teller ersetzen sollten, und Arukenimon goss das kochende Wasser in Tontassen und hängte Teebeutel hinein. Die vier machten richtig den Eindruck einer etwas ärmlichen Familie, auch wenn sie Digimon, Mensch und etwas dazwischen waren.

„Bist du ausgeschlafen?“, erkundigte sich Oikawa, als Ken sich aufsetzte. „Wir wollten gerade essen. Setz dich zu uns.“

„Wie spät ist es?“, war das Erste, was Ken fragte. Dann, als er sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, fügte er hinzu: „Ich … Danke für das Angebot, aber ich sollte lieber gehen. Ich bin euch schon genug zur Last gefallen.“ Egal, was Oikawa gesagt hatte. Er wollte ihn nicht in diese Sache hineinziehen. Er hatte die DigiWelt bereits einmal gerettet, nun war Ken an der Reihe.

„Was denn, du willst schon gehen?“ Oikawa lächelte schief.

„Mach dich nicht lächerlich“, war Arukenimons Kommentar dazu.

„Ihr habt wirklich genug für mich getan, ich …“

„Und du willst dich einfach davonstehlen, ohne dich irgendwie zu revanchieren?“ Mummymon tat, als würde es angestrengt überlegen.

„Nein, natürlich nicht, ich …“ Ken verstummte.

„Dann setz dich und iss erst mal was.“ Oikawa verteilte die Brotscheiben. Fünf an der Zahl.

Also kniete sich Ken zu den anderen an den Steintisch. Zögerlich biss er in die Kruste. Das Brot war alt und zäh, aber er merkte nun erst, wie hungrig er eigentlich war. Sein letztes Essen, war das Willis‘ Bohneneintopf gewesen? Während sein Gewissen immer schlechter wurde, belegte er sein Brot mit Schinken und Käse und schlang es in Sekundenschnelle hinunter, ehe Oikawa ihm eine zweite Scheibe reichte.

Nachdem sie alle gegessen und Tee getrunken hatten, der herrlich nach Kirschen schmeckte, fühlte sich Kens Welt schon wieder ein wenig heller an. „Ich … Danke“, sagte er.

„Nichts zu danken. Der Wagen ist praktisch. Eine halbe Stunde Fahrzeit von hier gibt es einen kleinen Markt. Dort tauschen wir die Dinge, die wir aus dem Giga-Haus stibitzen können, gegen Vorräte ein. Das ist zumindest bis jetzt der Plan“, sagte Oikawa.

Ken presste die Fäuste gegen seine Oberschenkel. „Ich meine nicht das Essen. Ich meine … alles. Was ihr für mich getan habt. Ich war eigentlich immer euer Feind, und ihr …“ Er fixierte Oikawa mit seinem Blick, der die Augenbrauen zusammenzog. „Du hast es geschafft, der DigiWelt wieder Leben einzuflößen, Yukio. Du bist endlich mit deinem Digimon-Partner vereint. Und alles, was ich getan habe, war, die DigiWelt wieder an den Abgrund zu bringen. Ich habe Schwarze Türme gebaut, um das Spiel zu gewinnen, aber letztendlich hat es nur Deemon stärker gemacht, und ich habe wieder alles verloren. Wenn die DigiWelt untergeht, dann einzig wegen mir.“

„Dann sollten wir dich mit allem, was wir haben, unterstützen“, sagte Oikawa ernst.

„Ihr versteht das nicht, es ist zu spät! Ich bin niemand mehr, mit dem man noch rechnen kann. Hier verstecken wir uns, in einer Erdhöhle, aber draußen tobt ein Krieg, den ich nicht mehr gewinnen kann!“

„Du kannst“, meinte Oikawa streng. „Und du wirst. Zum Wohle der DigiWelt. Ich werde auch nicht zusehen, wie sie vor die Hunde geht.“

„Dann solltet ihr euch an jemand anderes wenden. An Davis vielleicht, oder … Izzy. Die Wissens-Armee, sie haben vielleicht noch die Kapazitäten, Deemon aufzuhalten.“ Er konnte nicht anders, er musste sich jetzt alles von der Seele reden. Es war besser, hier und jetzt aufzugeben, als erneut zu hoffen und erneut enttäuscht zu werden. Ganz sicher.

„Nach allem, was du uns erzählt hast, gewinnt Deemon so oder so, wenn man es nicht mit Schwarzen Türmen aufhält“, erinnerte ihn Oikawa. „Daher kommst nur du infrage.“

„Aber ich schaffe es nicht“, meinte Ken mutlos. „Ich habe bereits verloren. Wormmon ist tot, und ich bin auch nicht mehr als ein Geist auf der Flucht.“ In der Ecke seines Verstands hörte er Deemon lachen – oder bildete er sich das ein?

„Geben Sie’s auf“, sagte Arukenimon. „So ein Jammerlappen war er schon immer.“

Oikawa stand auf, trat auf Ken zu und sah ihm fest in die Augen. Die Hand, die er ihm auf die Schulter legte, war weniger väterlich, als vielmehr beschwörend. „Hör mir zu, ich war ein Geist. Zuerst ein böser Geist, der Schaden in der DigiWelt angerichtet hat, ohne jemals hier gewesen zu sein. Dann ein, wie ich hoffe, guter Geist, der nur das auszubügeln versuchte, was er selbst zerknittert hat. Aber du hast bei weitem mehr Erfahrung, was das Bekämpfen böser Digimon angeht, und du hast schon einige brillante Züge als DigimonKaiser hinter dir. Ich rede nicht von damals. Ich glaube an dich, Ken. Sieh mich an!“ Ken war seinem bohrenden, unangenehmen Blick ausgewichen, und sah ihm nun wieder in die Augen. „Arukenimon hat recht. Die DigiWelt braucht keinen Jammerlappen. Was sie braucht, ist ein Kaiser, der es versteht, sie zu regieren. Vielleicht hat man dir eingeredet, dass du verloren hast, oder dass du nicht dafür taugst. Darum geht es aber nicht. Selbst wenn du völlig ungeeignet wärst, du musst es tun. Du bist der Einzige. Du bist hier der Held.“

„So fühle ich mich aber nicht“, meinte Ken niedergeschlagen.

„Ein Held ist jemand, der das schafft, woran er eigentlich zerbrechen sollte. Wenn das hier ein Spiel ist, bist du die Hauptfigur.“

„Der König ist die schwächste Figur im Schach“, murmelte Ken.

„Du drehst mir das Wort im Mund um. Aber gut, wie du willst. Wir sind hier in der DigiWelt, nicht auf einem Schachbrett. Hiroki – der Vater deines Freundes – und ich haben gern Videospiele gespielt. Da hat man sich Stück für Stück zum Endgegner vorgearbeitet. Der Anführer der feindlichen Horden war immer auch der stärkste Charakter. Nur die Spielerfigur war noch stärker, wenn es uns gelungen ist, ihn damit zu schlagen. Du bist beides, Ken. Du bist die letzte Barriere, die die anderen in diesem Krieg überwinden müssen. Und du bist der Einzige, der siegen kann.“ Sein Blick wurde weicher. „Ich liebe diese Welt. Ich will nicht mitansehen, wie sie zerstört wird. Es geht also nicht nur um dich. Du kannst jammern und in Selbstmitleid versinken, so sehr du willst – aber erst, nachdem das Spiel zu Ende ist. Auch wenn ich vielleicht nicht das Recht habe, das zu sagen: Ich werde es dir nie verzeihen, wenn du einfach die Flinte ins Korn wirfst, verstehst du? Wenn nötig, schleife ich dich auf deinen Thron zurück!“

Kens Seufzer wurde von einem Schluchzer begleitet. Er hätte nie gedacht, dass Oikawa so entschlossen sein würde. Er erinnerte sich wieder an Wormmon. An die Digimon, die im Glauben an sein Kaiserreich gestorben waren. An Ogremon, das, wenn auch vielleicht aus purer Sturheit, einen Teil seiner Festung für ihn hielt. An seine Freunde, die er retten musste. Tränen tropften auf seine Oberschenkel. Ohne dass er es gemerkt hatte, hatte er zu weinen begonnen. „Danke“, flüsterte er und presste die Augenlider zusammen. „Euch allen. Ich werde weitermachen. Ich verspreche es. Und ich werde mich revanchieren. Ich weiß noch nicht wie, aber ich … Ja, ich werde euch zu Rittern und Fürsten machen, ich schenke euch Land, ich …“

Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen. Weder Oikawa noch seine Digimon wollten Land oder etwas in der Art, aber er musste es ihnen einfach versprechen. Weil er, um das Versprechen zu halten, wieder auf den Thron kommen musste. Weil es das Einzige war, das er ihnen bieten konnte. Und weil er nicht wieder alleine regieren wollte. Vielleicht konnte er die Bürde teilen. Mit jedem Stück Verantwortung, das er abwälzen konnte, wurde seine Welt heller.

„Das klingt schon eher nach einem Herrscher“, meinte Oikawa zufrieden. Sogar Arukenimon verbiss sich einen Kommentar ob seines Gefühlsausbruchs. Ken lächelte schwach und fuhr sich über die Augen. „Dann sollten wir uns überlegen, wie wir dich auf möglichst denkwürdige Weise wieder ins Amt setzen“, fuhr Oikawa fort.

„Wir brauchen eine Armee. Zumindest eine kleine Truppe, die schlagkräftig genug ist, in die Mobile Festung einzudringen. Dann müssen wir die Kommunikationswege wieder öffnen, damit ich meine anderen Truppen erreichen kann. Ich muss Nadines Einfluss irgendwie zunichtemachen. Wenn alle Welt erfährt, dass sie mich verraten hat …“ Ken brach ab. Dann gab es sicherlich einen Bürgerkrieg … Wieder in das Spiel einzusteigen war leicht gesagt, aber wie sollte er es angehen?

„Wenn Nadine schlau war, wird sie sich sehr betrübt ob deines Ablebens gezeigt haben – wenn sie überhaupt schon verkündet hat, dass du tot bist. Selbst ihr eigenes Volk wird vermutlich jubeln, wenn du wieder auftauchst. Wenn du sie festnehmen kannst, kannst du über ihre Lügen deine eigene Propaganda pinseln“, meinte Oikawa. „Glaubst du, sie ist noch in der Festung? Wenn wir sie dort erwischen, haben wir einen guten Startpunkt. Dann können wir immer noch weitersehen.“

„Aber wie sollen wir die Festung erobern? Sie hat äußerlich nicht viel von den Kämpfen abbekommen, und wenn sie die Überwachungssysteme repariert haben …“ Nein, verlier nicht wieder den Mut, du Dummkopf. Lass dir was einfallen! Der Schlaf und das Essen machten sich bezahlt. Er konnte immerhin wieder bei der Sache bleiben, ohne gleich in den Strudel des Trübsals gezogen zu werden. „Wir brauchen mehr Digimon, darauf läuft es hinaus. Diese Schurken im Giga-Haus, von denen du gesprochen hast, wären die zu kaufen?“

„Versuch es lieber nicht“, warnte Arukenimon. „Denen ist es lieber, schwächeren Digimon Angst einzujagen. Offen kämpfen die gegen niemanden.“

„Außerdem haben wir gehört, sie waren selbst mal ein Teil von Nadines Armee“, fügte Mummymon hinzu.

„Das muss nicht unbedingt ein Nachteil für uns sein“, sagte Oikawa. „Aber ich würde mich auch nicht auf Gesetzlose verlassen. Ich hätte einen anderen Vorschlag. Eine Armee, die hier einfach und schnell zu kriegen ist – wirklich einfach und schnell. Digimon, die dir nicht in den Rücken fallen können und für die du keine Tränen vergießen musst, wenn sie sterben.“

Ken sah ihn erwartungsvoll an. Was meinte er? Das wäre genau das, wonach er schon die ganze Zeit suchte!

„Ich weiß schon, worauf das hinausläuft“, murmelte Arukenimon wenig begeistert.

Ken sah das Digimon mit dem Spinnenhut an – und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Warum war er nicht selbst darauf gekommen? Als Oikawa sein Lächeln bemerkte, lachte er leise. „Glaubst du nun, dass wir dich wieder auf deinen Thron hieven können?“

Anstatt zu nicken, schloss Ken die Augen. Er war bereits wieder im Spiel. Diese Gelegenheit, sie war … wunderbar. Da war immer noch diese Schwere in seinem Herzen, der Druck auf seinen Schläfen, der Dämon, der ihm zuflüsterte, dass er versagen würde und den Sieg ohnehin nicht verdient hätte. Aber Oikawa hatte Recht. Er musste aufhören, sich wie eine Randfigur zu benehmen, und sein Schicksal wieder in die Hand nehmen. Er würde wiederkehren, Held oder Tyrann, er würde wieder und wieder auf das Spielbrett zurückkehren, er würde es erbeben lassen, sodass die Figuren umhersprangen, Seiten wechselten und vom Rand stolperten. In dieser kurzen Euphorie, die ihm Oikawas Angebot bescherte, schwor er sich das.

Doch noch etwas schwor er sich. Er würde niemals wieder jemandem leichtfertig trauen. Auch Oikawa nicht. Er stand in Wahrheit allein gegen die DigiWelt. Er konnte sich Stärke leihen, aber er durfte von niemandem abhängig sein.

Held oder Tyrann. Wenn er diesen einsamen Weg nicht als Held gehen konnte, dann durfte er sich eben nicht länger gegen den Tyrannen in ihm sträuben. Sie würden es schon alle noch sehen. Wenn sie einen von ihnen mit all den Täuschungen, Intrigen und Komplotten gebrochen hatten, dann höchstens den Helden, der immer fair mit ihnen gespielt hatte und sich selbst Regeln aufgebürdet hatte.

Langsam hatte auch der Tyrann in ihm verdient, dass Ken ihm eine Chance gewährte.

 
 

I will expose to you my plan

To get the final war

This is the time to win the game

And purify the world

(Derdian – The Spell)
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich merke gerade, dass in diesem Kapitel ziemlich viel geredet wird. Also ich hoffe, dass es nicht langweilig war/ist, nur weil gerade nicht so viel passiert :) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Juju
2017-03-02T16:48:48+00:00 02.03.2017 17:48
Ah ich hänge mit meinen Kommentaren hinterher. Habe doch schon viel mehr gelesen. :P
Sora und Tai müssen wirklich ganz schön verwirrt sein von Takashi. Kein Wunder. Für ihn ist das ja alles ein Spiel und er ein normaler Junge, während Sora und Tai ja manipulierte Erinnerungen haben.
Oh interessant, mal einen anderen Charakter mit Deemon reden zu sehen. Aber von Takashi scheint Deemon ja eher genervt zu sein. xD
Haha das ist wirklich das Kapitel der verrückten Saatkinder, die die anderen verwirren. Da lässt Nadine einfach Matt und Gabumon frei. :D
Die Szene im Giga-Haus finde ich irgendwie total schön. Ken ist so down (verständlicherweise) und Oikawa schafft es tatsächlich, ihn wieder aufzubauen und ihm neuen Mut zu geben. Ich denke auch wirklich, dass Ken es schaffen kann, wenn er durchhält. Er ist clever genug, um das zu schaffen. Dass er es jetzt in Kauf nimmt, auch Tyrann zu sein, macht mir allerdings Sorgen. Ich hoffe, das nimmt keine zu schlimmen Ausmaße an, denn dann würde er sich selbst verraten. Er ist einfach kein Tyrann. :/
 
 
Von:  EL-CK
2016-11-14T15:22:54+00:00 14.11.2016 16:22
"Langsam hatte auch der Tyrann in ihm verdient, dass Ken ihm eine Chance gewährte." Da darauf bin ich doch mal gespannt XD
Antwort von:  UrrSharrador
14.11.2016 19:15
darfst auch gespannt sein ;)


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