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New Reign

Wie Game of Thrones, nur mit Digimon. [Video-Opening online]
von

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König für tausend Jahre


 

Tag 118

 

Es ließ nicht lange auf sich warten.

Seine Trauer klang ab, und für eine Weile saß Ken einfach nur da. Tränen hingen noch zwischen seinen Wimpern und ließen alles verschwimmen, also ließ Ken die holografische Konsole erscheinen und schaltete letztendlich das Licht aus. So saß er dann in der Dunkelheit, allein auf seinem Sessel, und lauschte. Lauschte seinem Herzschlag, seinen Atemzügen, leisem Gemurmel in der Ferne und einem dumpfen Pochen, das er nicht identifizieren konnte. Er wollte seine Gedanken zur Ruhe bringen, wenigstens einmal.

Deemon ließ ihn nicht.

Kaum dass er meinte, sein Atem hätte sich beruhigt und das Zittern und Schluchzen darin wäre versiegt, tauchte es in seinen Gedanken auf. Selbst hier in völliger Dunkelheit sah er seinen Schatten in der Ecke des Raumes stehen. Verschwinde, dachte er müde.

Nicht übel, Ken“, erklang Deemons Stimme in seinen Gedanken. Die Stimme, von der er lange Zeit geglaubt hatte, er hätte sie ausgesperrt, und die sich nur kichernd vor ihm versteckt hatte, lauernd und neugierig. Wie viel von seinen Gedanken kannte das Digimon? „Ich hätte nicht gedacht, dass du dich nach diesem meinem letzten, komplizierten Spielzug noch einmal aufrappeln würdest.

Lass mich in Ruhe.

Bist du etwa mürrisch, Ken? Du hättest allen Grund zur Freude. Deine neuen Helferlein mögen dir aus der Patsche geholfen haben, doch du allein hast die Willensstärke aufgebracht, Nadine gegenüberzutreten. Ich habe dir schon so viel entgegengeworfen, dich mit meinen kunstvollsten Zügen in die Enge getrieben, doch immer bist du mir entwischt. Nichts scheint dich kleinkriegen zu können.

Dann gib doch einfach auf.

Deemons Schatten erzitterte, als es leise lachte. Es war dieses Gackern, das Ken so verabscheute. „Das würde keinen Unterschied machen“, behauptete es. „Ihr Menschen mögt es doch, Dinge auszurechnen und Statistiken aufzustellen. Lass mich dir eines sagen, Ken. Die Wahrscheinlichkeit, dass du über mich triumphierst, beträgt weniger als ein Prozent. Und ich weiß, dass du das Kämpfen leid bist. Ich müsste deine Gedanken gar nicht erst lesen, um zu wissen, dass du auf ein Ende wartest. Du wünschst dir nur, mit deinen Freunden zusammen zu sein, die DigiWelt heil zu sehen, und all das hier vergessen zu können.“ Ken schwieg, also fuhr es fort. „Ich habe nun erkannt, was für eine Verschwendung dein Tod wäre. Du bist klug und hartnäckig. Du schaffst es, ein Reich zu führen und sogar Intriganten aus dem Weg zu räumen. Es wäre eine Verschwendung, wenn wir beide uns weiterhin bekämpfen.

Ken horchte gelinde auf. Was soll das heißen? Was planst du wieder?

Ich kenne deine Gedanken, Ken. Ich kenne all deine Wünsche und Sehnsüchte. Es schadet mir nicht, sie zu erfüllen. Ich kann jemanden wie dich gebrauchen, Ken.

Du konntest mich nicht austricksen, und nun versuchst du es auf die andere Tour?

Im Gegenteil, Ken. Wir profitieren beide davon. Wäre es nicht wunderbar, wenn du einfach nur die Hand nach den Dingen auszustrecken bräuchtest, nach denen du dich so sehr sehnst? Wenn du all deine Wünsche in Schicksal, in Wahrheit verwandeln könntest?

Ich falle nicht auf deine Lügen herein.

Es sind keine Lügen, Ken. Du kennst die Menschen besser als ich. Wenn ich erst wieder in der DigiWelt bin, werde ich mir auch die Menschenwelt unterwerfen. Ich weiß, dass Menschen gerne um ihre Freiheit kämpfen. Wenn sie sich gegen mich auflehnen, wird Blut fließen. Deine Welt wird verwüstet, und du weißt wohl, wie es wäre, über ein Reich ohne Untertanen zu regieren. Ich bin mir sicher, dass du einen besseren Weg finden würdest, sie uns zu unterwerfen. Meinetwegen kannst auch du über die Menschen herrschen, und ich gewähre dir Mitspracherecht hier in der DigiWelt.

Es machte eine Pause, um seine Worte sickern zu lassen, doch Ken wusste, dass er sie einfach abperlen lassen musste. Du willst mit mir gemeinsam herrschen? Du nimmst mich auf den Arm.

Du hast keine Vorstellung davon, wie groß meine Macht sein wird, wenn ich erst wieder in der DigiWelt bin. Diese Macht kann ich mit dir teilen, Ken, wenn du mich von nun an unterstützt. Ich weiß, was du dir wünschst. Du bist Kaiser, aber du musst immer noch fürchten, von denen, die dir nahe stehen, verraten zu werden. Du musst tatenlos zusehen, wie deinen Freunden etwas zustößt. Du bist nicht Herr deines Schicksals. Deswegen wünschst du dir mehr Macht. Ich werde sie dir geben.

Du hast recht – ich kann niemandem mehr trauen! Warum sollte ich also ausgerechnet dir glauben?

Ich schwöre dir, dass ich mein Wort halte.

Ken lachte schrill auf. Du hast mir schon so viele falsche Versprechen gemacht!

Nein. Erinnere dich, Ken. Ich habe dir niemals etwas geschworen, das ich nicht gehalten habe. Ich war bei allen Spielregeln stets ehrlich. Allenfalls habe ich dir etwas vorenthalten oder mit Worten gespielt. Nun tue ich das nicht: Ich schwöre, dass es diesmal keine Hintertüren gibt. Ich werde diese Macht erhalten, und ich werde sie mit dir teilen. Du musst nichts anderes tun, als mir die Treue zu schwören.

Ken wollte etwas erwidern, aber er wusste plötzlich nicht mehr, was. Nicht, weil ihm nichts eingefallen wäre. Hundert verschiedene Gedanken drehten sich in seinem Kopf, aber er war zu müde, um sie in Deemons Richtung abzufeuern.

Ich habe dir zu Beginn unseres Spiels versprochen, dass du eintausend Jahre Zeit haben würdest, um das Spiel zu gewinnen. Erinnerst du dich, Ken?

Ja. Das war der erste Trick, den du gegen mich eingesetzt hast, dachte Ken bitter. In der DigiWelt vergeht die Zeit schneller. Du hast die tausend Jahre auf die Menschenwelt umgerechnet, auf acht Monate, und sie mich dann mit hierher nehmen lassen.

Dieses Versprechen werde ich einlösen. Ich werde dir tatsächlich tausend Jahre geben, ohne dass du je alterst. Wir werden unsterblich. Niemand wird uns töten können. Du kannst für die Ewigkeit über zwei Welten mitherrschen. Du bekommst die Macht, auch deinen Freunden ewiges Leben zu schenken. Du wirst nichts verlieren.

Ich will gar nicht ewig leben.

Es wird kein Leben sein, wie du es kennst. Keine Sorgen, kein Leid mehr. Befreie mich, und ich schenke dir die Macht, mit der Zeit zu spielen, wie du es wünschst. Alle Reichtümer der Welt gehören dir, mehr noch, du wirst deine eigenen Reichtümer erschaffen können. Strecke nur deine Hand nach mir aus. Schwöre mir, dass du gehorchst. Ich weiß, dass du dich nach Frieden sehnst. Es wird Frieden herrschen. Du wirst Digimon wie Menschen wiederbeleben können, wie ich es von hier, jenseits der Feuerwand, aus tat. Du kannst endlich verhindern, dass Unschuldige sterben. Du kannst auch deinem unglücklichen Freund Tai sein verlorenes Auge wiedergeben. Das alles sind Kleinigkeiten.

Ken schluckte. Diesmal ließ er es sich wirklich durch den Kopf gehen. Du sagst mir ständig, wie toll es für mich wäre, wenn ich mit dir zusammenarbeite. Aber was hast du davon, deinen Thron mit mir zu teilen?

Ich dachte, du wärst in Diplomatie besser bewandert, Ken“, meinte Deemon abfällig. „Wie ich schon sagte, wenn wir unsere Kräfte vereinen würden, müssten wir beide weniger Energie aufwenden, um unsere Untertanen erst wiederzubeleben, ehe wir über sie herrschen können. Selbst dann hassen sie uns vielleicht. Ich habe kein Problem damit, wenn ich gefürchtet werde, aber die Art, wie du dein Reich regierst und von deinen Anhängern bejubelt wirst, hat auch etwas Schmeichelhaftes. Wenn du als DigimonKaiser deinen Einflussbereich vergrößerst und dich irgendwann dazu bekennst, einem Gott zu dienen, werden sich deine Untertanen mir ebenfalls zu Füßen werfen.

Du willst der Gott der DigiWelt werden!

Das ist nur ein wohlklingender Titel, Ken. Aber wir wären beinahe auf derselben Stufe. Überlege es dir. Alles, was du tun musst, ist, was du bisher auch getan hast. Du musst Türme bauen, um meine dunkle Macht zu mehren. Ich habe es schon einmal gesagt, ich werde wiederkehren. Egal was du oder deine Freunde tun. Selbst eine DigiWelt ohne Schwarze Türme würde mir irgendwann die Kraft zukommen lassen, durch die Feuerwand zu schreiten. Doch ich bin das Warten leid. Baue mehr Türme für mich, Ken. Du brauchst sie nicht länger in der DigiWelt zu verteilen. Schon wenn du deine Wüste damit spickst, Turm neben Turm, wird meine Wiederkehr in bald in greifbare Nähe rücken. Du müsstest keinen Angriffskrieg mehr führen, Ken. Alles, was du tun musst, ist, dein eigenes Land zu verteidigen. Und du brauchst dir auch keine Sorgen mehr um deine Freunde zu machen. Ich schwöre, dass ich sie verschone. Bin ich erst wieder in der DigiWelt, sind sie nichts als kleine Fische für mich, keinen einzigen Gedanken wert.

Ken kaute auf seinem Daumennagel, während er in der Dunkelheit vor sich hin grübelte. Keine Toten mehr in diesem Spiel? Keine Grausamkeiten?

Es ließ sich nicht vermeiden, dass Deemon seine Gedanken mitanhörte, so aufgewühlt war Ken plötzlich. „So ist es. Und deine Freunde werden ihre Erinnerungen zurückerhalten. Das war doch einer der Aspekte, die du an unserem Spiel so sehr hasst, nicht wahr?

Sie werden sich wieder erinnern … Sie werden mich wiedererkennen und nicht mehr als Feind betrachten … Sie werden aufhören, mich zu hassen. Da durchzuckte es ihn wie ein Blitz. Was war er doch für ein Idiot … Hatte dieses ganze Hin und Her, Verstellen, Verratenwerden und Davonlaufen sein Hirn aufgeweicht? Sie würden es niemals gutheißen, wenn ich mich dir ergebe. Du bist und warst unser Feind!

Er hörte Deemon seufzen. „Nur zu. Bring all deine Einwände vor. Aber denk gut darüber nach: Ich werde wiederkehren, Ken. Ob mit deiner Hilfe oder deinem Widerstand zum Trotz. Ich sagte, deine Chancen lägen bei weniger als einem Prozent – aber das würde nur zutreffen, wenn dein Geist so frisch wäre wie beim Beginn unseres Spiels. Du bist erschöpft, und du weißt das. Du hast nicht die Kraft, mir weiterhin die Stirn zu bieten. Dir sollte klar sein, dass ich noch einige Züge in petto habe, die dich mit Sicherheit in die Knie zwingen und deinen Geist zerstören werden. Vielleicht wirst du es nicht erleben, wie ich triumphiere. Vor allem aber leben deine Freunde gefährlich. Je länger sich das Spiel hinzieht, desto wahrscheinlicher ist es, dass einer von ihnen stirbt. Womöglich bringen sie sich gegenseitig um. Wenn das Spiel endet, egal wie es ausgeht, kehren ihre Erinnerungen zurück. Was denkst du, wie würde sich dein Freund Davis fühlen, wenn er merkt, dass der Mann, den er getötet hat, gar kein Feind, sondern sein Freund Matt ist? Wie würden sie reagieren, wenn sie erfahren, dass der Kaiser, den sie so erbittert bekämpft haben, in Wahrheit ein guter Freund ist? Wenn sie erkennen, dass sie, weil sie dich nicht erkannt haben, mit Schuld an meinem Sieg sind? Ich bin sicher, sie würden sich am liebsten von der nächstbesten Klippe stürzen.

In Kens Kopf rotierten Gedanken, aber es waren nicht mehr nur ablehnende. Was Deemon sagte, war durchaus plausibel. Und es würde auch sicher niemanden von sich aus wieder zum Leben erwecken – das war Kens Aufgabe.

Trotzdem, sie würden es nicht gutheißen. Sie würden mich einen Feigling nennen.

Würden sie das? Denkst du nicht, sie würden verstehen, warum du es getan hast, und dich stattdessen vernünftig nennen? Unterschätze deine Freunde nicht. Sie würden es bedauern, wenn sie durch ihre eigene Schuld meine Rückkehr ermöglicht hätten. Wenn du herrschen würdest, kannst du sie dir gleichwertig machen. Ihr würdet alle leben, es würde wieder wie früher sein. Das willst du doch, oder irre ich mich?

Nur dass du der Herrscher über zwei Welten wärst, dachte Ken, noch nicht überzeugt.

Deemon lachte leise, aber irgendwie klang es ein wenig wehmütig. Ken schwindelte bereits von der langen gedanklichen Konversation. Er war so müde, dass er sich kaum auf Deemon konzentrieren konnte. „Warum glaubst du, ich wäre ein schlechter Herrscher? Ich weiß, dass du mich für böse hältst. Wieso regierst du dann nicht an meiner Seite, um zu verhindern, dass ich unsere Welten tyrannisiere? Es liegt in deiner Hand. Gehorche mir. Befreie mich. Diene mir. Es ist ganz einfach.

Kens Kopf schmerzte. Die Worte wurden immer drängender, das widerstrebte ihm, aber zugleich merkte er, wie ihm die Argumente ausgingen. Und wir würden wirklich über Leben und Tod und die Zeit herrschen können? Apocalymon konnte das nicht – oder?

Die Macht, die man sich auf dieser Seite der Feuerwand aneignen kann, mag für einen Außenstehenden wie dich unvorstellbar sein. Du hast am eigenen Leib erfahren, wie ich die DigiWelt manipulieren konnte. Meine Macht wächst immer noch, und ich werde sie mit mir nehmen, wenn ich die DigiWelt betrete. Und solange ich noch hier bin, werde ich auch dir einen Teil davon übertragen, damit er nicht verloren geht, wenn ich mich durch das Feuer wage. Du siehst, ein Bündnis zwischen uns ist auch mir von Nutzen.

Ken haderte mit sich. Ich darf keine Entscheidung fällen. Nicht, wenn ich nicht voll ausgeruht bin.

Wie du willst. Überlege es dir. Aber tu es bald – ich werde dich nicht kurz vor meinem Sieg einwilligen lassen.“ Deemons Schatten war immer unschärfer und seine Stimme immer hohler geworden, je mehr Kens Konzentration nachgelassen hatte, doch nun kehrte kurz wieder die Kraft darin zurück. „Als Zeichen meines guten Willens verrate ich dir noch etwas über die Spielsteine, Ken. Nadine hat auf meine Anweisungen hin deinen Freund Matt freigelassen, erst gestern. Damals hätte ich nicht gedacht, dass du dich wieder aufraffen könntest, und wollte das Spiel somit in die Länge ziehen. Sie hat ihm sein DigiVice zurückgegen, und vermutlich sind er und Gabumon sofort auf und davon. Bedauerlicherweise kann ich dir nicht sagen, wohin. Er ist keines der Saatkinder.

Das hätte ich auch so herausgefunden, meinte Ken unwillig. Verschwinde endlich. Ich bin müde.

Dann etwas anderes, dass dich mehr interessieren sollte. Takashi, den du Einhornkönig nennst, hat Tai und Sora in die Hände bekommen. Er hat sie wieder ins Nördliche Königreich geschickt. Dein Leibwächter ist tot. Du musst also nicht darauf warten, dass sie wieder von sich hören lassen.“ Deemons Gestalt flackerte kurz, aber Ken konnte nicht sagen, ob es ein belustigtes oder ein bedauerndes Flackern war. „Ich werde dir weitere Informationen über die Saatkinder zukommen lassen. Du siehst, ich bin dir nun wohlgesonnen. Gewinnen wir dieses Spiel gemeinsam, Ken.“ Damit verschwand es.

Ken merkte, dass er schwer atmete. Nun war es tatsächlich für einen Augenblick ruhig – doch kaum dass er meinte, einnicken zu können, wurde er wieder gestört. Während seiner Konversation mit Deemon waren höchstens ein paar Sekunden vergangen, und das Pochen, das er vorhin gehört hatte, stellte sich als schnelle, trampelnde Schritte heraus. Das Licht flammte wieder auf, und er schloss geblendet die Augen, hörte Oikawa etwas rufen, eine blaffende Antwort, und dann ging die Tür auf und jemand trat ein.

Während Kens Augen sich noch an das Licht gewöhnen mussten, erkannte er die Stimme, die zu ihm sprach. „Verflucht nochmal, Kaiser, du lebst ja noch!“

„Wie schön, dich zu sehen, Ogremon“, murmelte Ken unwillig.

„Teufel noch eins! Deine verräterische Menschenfreundin hat gemeint, du wärst schon hinüber!“

„Warst du die ganze Zeit in der Festung?“ Endlich konnte Ken wieder klar sehen. Seine Tränen waren auch endlich getrocknet. Ogremon sah so hässlich aus wie immer. Irgendwie war es ein tröstender Anblick.

„Zur Hölle, ja! Diese kleinen Biester mit ihren Spielzeugwaffen sind mir ganz schön auf die Pelle gerückt, als ich versucht hab, deinen Gefangenen zu bewachen. Ich und ein paar andere haben ein paar Räume besetzt und auf deine Befehle gewartet. Ich wusste nicht, ob du nun erledigt bist oder nicht, also hab ich mich der Königin irgendwann ergeben und so getan, als würd ich nun ihr gehorchen.“ Es klang, als wäre Ogremon stolz darauf, den Schwanz eingezogen zu haben. Ken schüttelte nur müde den Kopf.

„Kennst du dieses Digimon?“ Oikawa war eingetreten. Sicherlich hatte er alles mitangehört.

„Hä?“ Ogremon glotzte ihn feindselig an. „Was ist denn das überhaupt für ein dürrer Kerl?“

Ken war zu müde, um es darauf hinzuweisen, dass neben ihm wohl jeder Mensch dürr aussah, aber vielleicht spielte es eher auf Oikawas Größe an. „Das ist Ogremon, mein erster Ritter. Ogremon, das ist Yukio Oikawa. Er gehört ab sofort zu meinen engsten Vertrauten und Beratern.“

„Soso.“ Ogremon wog seine Keule in den Händen. „Dann wollen wir mal hoffen, dass der mehr taugt als deine letzte Vertraute.“

Es versetzte Ken einen Stich, als es Nadine ansprach. Immer noch. Werde ich mich je davon erholen? Er stemmte sich mühselig an den Armlehnen seines Sessels in die Höhe. „Ogremon, sieh zu, dass in der Festung wieder alles seinen gewohnten Gang läuft. Baut die Türme wieder auf und passt auf, dass keines von Nadines Digimon mehr frei herumläuft. Und repariert die Schäden. Yukio, würdest du Arukenimon bitten, noch ein paar der übrigen Türme in Digimon zu verwandeln? Falls Nadine noch Truppen alarmiert hat oder uns sonst jemand angreift, müssen wir gewappnet sein.“ Das sollte uns hoffentlich Zeit bis morgen verschaffen. Dann kann ich wieder klar denken. „Für den Moment lasst noch nichts über mich oder Nadine verlautbaren. Das hat Zeit bis morgen. Ich werde jetzt schlafen gehen. Ogremon, wenn du alle Befehle verteilt hast, bewachst du meine Kammer.“

„Zu Befehl!“

Oikawa verzog säuerlich das Gesicht, als ihm klar wurde, dass Ken Ogremon mehr vertraute als ihm selbst, doch er nickte nur und versprach, sich um alles zu kümmern.

Als Ken den Lichtregler in seiner Kammer hochdrehte, durchfuhr ihn ein Schauer. Es sah noch alles nach Kampf aus; niemand hatte aufgeräumt. Die Decke lag zerknüllt auf dem Boden, und in der Matratze seines Betts klaffte ein breiter Schnitt. Ein Schauer durchfuhr ihn. Nein, hier konnte er unmöglich schlafen.

Er überlegte, ob er den Mechanismus ausschalten sollte, der die Tür automatisch schließen würde, aus, damit Ogremon später sah, dass er nun doch nicht in dieser Kammer war, entschied sich aber dagegen. Stattdessen nahm er eines der anderen, kleineren Zimmer, die einen Flur tiefer lagen und die er für Diplomaten, Botschafter und Fürsten vorgesehen hatte, wenn sie seiner Festung einen Besuch abstatteten. Hier bin ich wohl am sichersten. Niemand vermutet mich hier. So ist es am besten – wer weiß, ob ich Ogremon überhaupt wirklich trauen kann? Ich wäre wohl dumm, wenn ich es täte.

Er legte sich auf das unberührte Bett. Das nagende, nervöse Gefühl in seinem Magen, das aufgetaucht war, als er Ogremon und Oikawa verlassen hatte, verschwand langsam, und er fiel in tiefen Schlaf.

Nicht einmal jetzt war ihm Ruhe vergönnt.

Er wanderte durch eine wirre Traumwelt, voller tanzender Sandkörner, teils so groß wie Melonen, und voller schwarzer, stacheliger Kugeln wie Treibminen.

Ein grauer Schatten verfolgte ihn. Als er über ihn hinwegglitt, zuckte Ken zusammen, weil er ihn für Deemon hielt, aber es war jemand anders. Und anders als die anderen Dinge, die er in diesem Traum sah, war dieses Digimon nicht unklar, verschwommen und in ständigem Wandel, sondern von geradezu atemberaubendem Detailreichtum.

„Habe ich Euch gefunden, mein Kaiser“, schnarrte MetallPhantomon.

Ken wich zurück. Er hatte keinen Boden unter den Füßen, obwohl er auf festem Grund zu stehen schien. Unter ihm schoss ein Mahlstrom aus Wasser, Schaum, Landflecken und Bäumen vorbei, als flöge er in schwindelerregender Höhe rasend schnell über die DigiWelt. Schweiß trat ihm aus allen Poren. Nicht auch das noch. Ich kann nicht mehr … Er fühlte sich so verletzlich wie schon lange nicht mehr. Wenn es stimmte, was er über MetallPhantomon wusste, war das hier seine Domäne – und Ken war ihm schutzlos ausgeliefert. Nein, zeig keine Angst, keine Angst! Bloß keine Angst zeigen! Doch es war zu spät.

MetallPhantomon legte den Kopf schief. Seine Augen, glühend wie Kohlen, brannten sich in Kens. „Ich wollte Euch nur informieren, wie weit ich in Eurem Namen bereits gekommen bin. Der König der Träume hat weite Teile des Nördlichen Königreichs erobert. Das Gebirge untersteht mir vollkommen. Ihr habt gut daran getan, mir den Thron zu überlassen. Bald ist Santa Caria dran. Ohne ihren König sind die Nordländer schwach.“

Das ist nicht gut. „Ich habe Euch keine Befugnis erteilt, Euer Reich so überhastet auszuweiten.“

„Brauche ich die etwa? Ihr wolltet einen starken König, der Eure Feinde bekämpft. Ihr habt ihn bekommen.“ Es zögerte. Ken hörte Atem durch seine Kehle rasseln, den es sicher nicht brauchte, aber der ihm eine Gänsehaut versursachte. „Habe ich mich in Euch getäuscht?“, knarzte es die Frage, die Ken schon befürchtet hatte. „War es Furcht, die ich eben in Euch spürte? Wer hätte gedacht, dass der große DigimonKaiser sich vor mir fürchten könnte, selbst wenn es nur im Traum ist. Träume offenbaren das wahre Innere – hattet Ihr etwa nur ein großes Mundwerk?“

Verdammt. Tagsüber Deemon, und in der Nacht MetallPhantomon? Was machte es in seinen Träumen? Es wurde aufmüpfig und arrogant. Ken hatte eigentlich gehofft, es würde sich davor fürchten, wie damals bei Sora an Kens angeblich dunklem Inneren zu zerbrechen – oder war es genau andersherum? Glaubte das Digimon, Ken würde diese Schrecken tatsächlich kontrollieren können und schon nicht gegen es einsetzen? Dann spürte es nun sicher, dass seine innersten Gefühle nichts mit dieser finsteren Höhle gemein hatten. Verdammt.

„Hütet Eure Zunge. Ich dachte, Ihr wärt jemand anders.“ Das stimmte sogar. Hoffentlich merkte MetallPhantomon das. „Es gibt nur ein einziges Wesen, das ich fürchte. Für Euch wäre es besser, es nie kennenzulernen.“ Er legte alles, was er über Deemons künftige Macht gehört hatte, hinter diese Worte, und hoffte, dass sie noch überzeugender rüberkamen. „Wenn Ihr noch einmal in meinen Träumen auftaucht, werdet Ihr das bitter bereuen. Und ebenso, wenn Ihr das Nördliche Königreich zu sehr unter Druck setzt, merkt Euch meine Worte. Ein guter König sichert zuerst sein eigenes Land, ehe er sich auf Feldzüge begibt.“

MetallPhantomon gab eine Mischung aus Knurren und Schnauben von sich. „Sagt doch, was Ihr wollt. Ich war viel zu leichtgläubig, als Ihr in meinem Schloss wart. Ich folge meinen eigenen Plänen. Ihr scheint mir plötzlich viel weniger furchteinflößend zu sein.“ Sein flatternder Mantel beruhigte sich etwas, als käme es selbst zur Ruhe. Unter ihnen rasten immer noch Land und Wasser dahin, verschwommen zu endlosen Schlieren. „Mir kamen beunruhigende Gerüchte über Euer Ableben zu Ohren.“

„Wie Ihr seht, ist nichts Wahres dran. Ich bin nur einem langen, komplizierten Plan gefolgt, um einen politischen Gegenspieler loszuwerden. Möchtet Ihr mein Gegenspieler werden?“

MetallPhantomon fauchte und verschwand langsam in der Ferne. „Wir werden sehen, mein Kaiser. Ich habe nicht erblickt, was ich erwartete.“

Das konnte Ken so nicht stehen lassen. „Seid froh darüber“, murmelte er drohend.

Als MetallPhantomons Gestalt verblasste, endeten auch die irrsinnigen Stromschnellen unter Ken, und er glitt endlich von seinem Traum hinüber in einen erholsamen, tiefen Schlaf.

 
 

Wouldn’t it be nice

To reign and to decide

Whatever there’s attracting you

Will give its due to you

(Helloween – The King for 1000 Years)
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das nächste Kapitel wird erst im neuen Jahr kommen, daher wünsche ich euch jetzt schon mal schöne Feiertage/Ferien :)
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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Juju
2017-03-02T16:58:42+00:00 02.03.2017 17:58
Also dieses Kapitel hat mich jetzt irgendwie verwirrt. xD Deemon bietet Ken an, mit ihm zusammen die DigiWelt und die Menschenwelt zu regieren? Und er dürfte selbst entscheiden, wie alt er wird und seine Freunde würden alle Erinnerungen wiederbekommen? Das riecht doch schon total nach Verrat. Er sollte sich darauf nicht einlassen, neeeeiiiiin! Ausgerechnet Deemon kann man doch gar nicht vertrauen. Ausgerechnet Deemon! D: Argh! Ich kann mir nie und nimmer vorstellen, dass das gut geht. Vielleicht tut Ken jetzt auch nur so, als würde er Deemon vertrauen, nur um es dann am Ende hinterrücks um die Ecke zu bringen. Das hätte es verdient, dieser Schuft!
Ich bin wirklich gespannt, wie es jetzt weitergeht und ob Ken nun tatsächlich wieder zum Tyrann wird. O_O
Von:  EL-CK
2016-12-20T19:36:34+00:00 20.12.2016 20:36
Tolles Kapitel, ich hoffe Ken trifft die richtige Entscheidung. ..


Btw: Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch
Antwort von:  UrrSharrador
02.01.2017 20:14
Danke - hoffe, du bist auch gut ins neue Jahr gerutscht :)
Antwort von:  EL-CK
02.01.2017 21:46
Yepp... war ziemlich ruhig die Rutschpartie XD


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